Die Verwandlung (2)
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Die Verwandlung
Day Two – Auf dem Weg nach ZurĂĽck
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Autorenbemerkung:
In diesem Kapitel geht es, unterstĂĽzend zu Finns Stimmung, viel um Musik. Falls jemanden die Lieder um die es im Kapitel geht, interessieren, hier habe ich eine Playlist mit den Songs zusammengestellt: klick
So, los gehts!
„Bis dann, Mom!“, rief Finn seiner Mutter noch zu, lies die Longboard-Vorderseite auf den Asphalt fallen, stützte sich mit seinem rechten Fuß auf dem Board ab und beschleunigte dasselbe mit den linken Fuß. Während er um die erste Kurve herumfuhr, fischte er sein Smartphone aus der Hosentasche und öffnete seine Musikstreaming-App. Den Blick hochfrequent zwischen der leeren Vorortsstraße und seinem Handy hin und her flippend navigierte er durch die Menüs und drückte schließlich im Playlist-Tab auf „Sweet Electro Onion“. Zu seinem Geburtstag vor ein paar Monaten hatte er sich von seinen Eltern unter anderem eine Bluetooth-Box gewünscht, von seiner Tante dazu aber noch das Jahresabo des Musikstreamingdienstes, welchen er nun nutzte, dazubekommen. Das eröffnete eine ganz neue Welt für Finn und hatte sich in der Retrospektive als das viel wichtigere Geschenk erwiesen. Natürlich, Musik gehörte vorher auch schon zu fast allem im Leben des Zwölfjährigen dazu, aber nun verbrachte Finn manche Stunden damit, auf seinem Bett zu liegen und Playlisten zu erstellen und zu pflegen. Nun musste er nicht mehr Werbung ertragen, sondern konnte potentiell jedes Lied hören, wann und wo er wollte. Es gab so viel unterschiedliche Musik für so unterschiedliche Stimmungen und Finn war grade erst dabei, das alles zu Entdecken.
Als eine seiner liebsten Playlists war „Sweet Electro Onion“, benannt zum Teil nach der gleichnamigen Sauce von Subway-Sandwiches. Den Namensteil „Sweet Electro“, hatte die Playlist bekommen, weil sie ein mannigfaltiges Potpourri von fröhlich klingenden Elektrosongs beinhaltete. Onion war nur dazu gekommen, weil es gut passte.
Während der Bluetooth-Lautsprecher im kleinen Beutel auf seinem Rücken anfing, „Midnight Sky“ von „Sol Calor“ zu spielen, lies Finn sein Handy wieder in seine linke Hosentasche rutschen, richtete seinen Pony und konzentrierte sich darauf, dass Longboard mit seinem linken Fuß zu beschleunigen. Angenehm warme Luft wehte ihm entgegen, so langsam merkte man tatsächlich, dass es Hochsommer war. Er roch den frischen Asphalt der noch im Bau befindlichen Umgehungsstraße welche er grade als absolut einziges Fahrzeug, in der Mitte der vier Fahrbahnen befuhr. Rechts, etwas unter ihm lag die kleine, altertümliche Universitätsstadt und links verlor sich das Auge in Feldern. Er spürte, wie sein Handy vibrierte, setzte seine Energie aber weiter dafür ein, die Steigung der Straße zu überwinden. Er fing an zu schwitzen, wegen der Hitze, aber auch durch die Anstrengung. Der Lohn dafür war aber wie immer wunderbar. Finn sauste über die bislang nur teilweise für die Baufahrzeuge geteerte Brücke und blickte nach unten auf vier Kilometer leer Straße die nur Bergab führten. Kreuzungsfrei. Die Musik wechselte zu „Windfall“ von „TheFatRat“ und Finn fischte sein Handy aus der Hosentasche um herauszufinden, was es ihm eben sagen wollte: Eine Message von Luca war angekommen. „Wo bist?“, lautete die Frage. „15 Min“, tippte Finn zurück und steckte das Handy zurück. Kommunikation konnte manchmal so einfach sein.
Ja, dafür dass er seinem besten Freund vor etwa einer Stunde gesagt hatte, er wäre in einer halben Stunde da, war er ziemlich spät dran. Er hatte sich irgendwie vertrödelt, ohne es zu merken. Hatte viel Zeit damit verbracht, im Gras vor der Terrasse zu liegen und seine „Steine“-Playlist durchzugehen. Erst einfach so, später scrollte er währenddessen noch seine Instagram-Timeline durch. Verträumt hatte er dann irgendwann in die rechte obere Ecke des Displays geschaut und erschrocken festgestellt wie spät es mittlerweile geworden war. Zwei Minuten später hatte er sein Zeug in den Rucksack geworfen und war mit seinem Longboard davon gedüst. In 15 Minuten müsste er eigentlich bei Luca ankommen.
Die Luft pfiff ihm durch die Haare, während er immer schneller wurde. Jetzt hatte er den steilsten Teil des Abstiegs erreicht, nachdem die Umgehungsstraße die Brücke überquert hatte, sank sie wieder rapide ab um auf Normalhöhe zu kommen – und dementsprechend rapide beschleunigte der Zwölfjährige nun. Würde seine Mutter oder irgendein Erwachsener sehen, wie Finn gerade mit sicherlich 60 Stundenkilometern die Straße herabraste, die Knie- und Handgelenkschoner sowie der Helm, von dem Finn seine Mutter erst überzeugen musste dass sie im Gegensatz zum Skateboardfahren beim Longboarden quatsch waren, wären direkt wieder an ihm dran.
Sah aber keiner. Dementsprechend fing Finn nun an, routiniert über die gesamte Fahrbahn Schlangenlinien zu kurven um sein Tempo zu kontrollieren und lachte übers ganze Gesicht. Wenn es im Deutschunterricht um Definitionen ging, das hier war die Definition von Freiheit. Eine Minute lebensgefährliche, rasante Freiheit.
Der Geruch vom frisch gemähten Gras im Grünstreifen zwischen der neuen Straße und den sie umgebenden Feldern kroch in Finns Nase und er realisierte langsam, dass er eigentlich endlos weiterfahren wollte. Wieso eigentlich nicht? Finn hatte nun sechs Wochen Zeit, mehr oder weniger zu tun, was er wollte. Die flirrenden Elektroklänge von FatRat verstummten und die Musik wechselte zu „Levels“ von „Avicii“. Langsam wurde das Abrollgeräusch der kleinen Rollen leiser, der Wind pfiff nicht mehr so stark um seine Ohren und die Landschaft bewegte sich langsamer und während der steile Teil der Abfahrt nun vorbei war drifteten Finns Gedanken welche er nun nicht mehr darauf verwenden musste, keinen Unfall zu bauen, in eine vollkommen andere Richtung ab.
Wenige Sekunden, nachdem Paul aufgeregt aus seinem Zimmer gelaufen war, kamen Antonia und seine Mutter ins Zimmer, erst noch lachend und dann, als sie bemerkten, dass der Fünfjährige keinen Unsinn erzählt hatte, vor allem erstaunt. „Finn!“, sagte seine Mutter nur erstaunt und blickte herab auf ihren in einer komplett durchnässten Hose auf dem Autoteppich hockenden Sohn. Höchstens 45 Sekunden hatte Finn Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie er mit dieser Situation umgehen sollte, nachdem Paul nach draußen gerannt war: „Ich … Mama …“, sagte er, leicht stockend und auf den kleinen Kreisverkehr vor seinen Füßen starrend. Seine Mutter nannte er normalerweise fast nie Mama, er hatte irgendwann beschlossen, dass „Mom“ einfach cooler klang, und hatte seine Mutter seitdem nur noch so angesprochen: „Es ist einfach nass geworden plötzlich!“, sagte er ganz leise, blickte immer noch auf den Boden. Seine Hose wurde langsam kalt und Finn traute sich nicht, sich zu bewegen. „Ach Finni“, sagte seine Mutter und hockte sich zu ihm auf den Boden: „Wie ist denn das passiert? Ist alles in Ordnung bei dir? Fühlst du dich krank?“ Plötzlich sorgte sich seine Mutter um ihn. Finn hockte am Boden und sagte gar nichts. Wenig später stand er im Bad, zerrte seine nass-klebrige Jeans von seinen Beinen und war erstaunt. Seine Mutter war überhaupt nicht verärgert. Sie war besorgt, aber das, was sie immer wieder wiederholte, war nur „Ist doch nicht schlimm!“. Ist doch nicht schlimm, dass er sich in die Hose gemacht hatte. Hatte keine negativen Konsequenzen. Also außer, dass er, unten nur mit Pauls Bademantel bekleidet, nach Hause fahren musste, aber bei den aktuellen Temperaturen war das nun wirklich nicht schlimm gewesen. Hatte ja auch niemand mitbekommen. Genau wie seinen gesamten Unfall, niemand hatte es mitbekommen. Gut, außer natürlich Antonia, seine Mutter und Paul, aber in Finn keimte der Gedanke auf, dass diese Tatsache gänzlich Egal war. Für Paul war er sowieso ein Achtjähriger, dann halt ein Achtjähriger, der sich in die Hose gemacht hatte. Und für seine Mutter war er einfach ihr Sohn. Niemand, der das nicht hätte mitbekommen dürfen, hatte es mitbekommen. Und das war der wichtigste Gedanke, den Finn seit langem gefasst hatte.
Währenddessen wurde Finns Longboard immer langsamer und irgendwann neigte Finn schließlich seinen Oberkörper nach rechts, bog auf die Bushaltebucht der Haltestelle für die neue Schnellbuslinie ein und ließ den Vans-Sneaker an seinem linken Fuß leicht über den Boden schliefen um komplett zum Stillstand zu kommen. Elegant beugte er sich nach vorne und hob in der gleichen Bewegung das Longboard auf, flippte es einmal durch die Luft und nahm es unter seinen rechten Arm. Er sprang den erhöhten Bordstein hoch, lehnte das Longboard gegen den Eckpfeiler des Haltestellenhäuschens, legte sich mit seinem Unterkörper auf die drei Metallgittersitze der Haltestelle und lehnte seinen Oberkörper an der Glaswand des Häuschens an. Ein eigentümliches Bild erzeugte der schmächtige Zwölfjährige nun von außen gesehen, scheinbar gelangweilt lümmelte er an der Bushaltestelle und schien auf den Bus zu warten, der hier frühestens in ein paar Monaten abfahren würde. Aber Finn war nur äußerlich gelangweilt, sein Kopf arbeitete auf Hochtouren. Das aus der Bluetoothbox währenddessen „In the Clouds“, erneut von „Daxten“, spielte, blendete er komplett aus.
Was für ein wundervolles Gefühl es Gewesen war, gestern in der nassen Hose. Wie der Druck plötzlich nachließ und alles schön warm wurde. Und auch, wie seine Mutter und Antonia damit umgegangen waren. Natürlich, in Finns Fantasie hätte das Ganze auch so ausgehen können, dass er danach eine von Pauls Windeln anbekommt in Ermangelung von Wechselkleidung, aber das blieb Wunschdenken. Aber trotzdem, es war überhaupt nichts Schlimmes passiert. Er hatte keinen Ärger bekommen, eher im Gegenteil. Und so war Finns Staudamm gestern nicht nur einmal übergelaufen, sondern hatte für immer Risse bekommen. Das Schleusenmanagment hatte festgestellt, dass eine gelegentliche Überlaufkatastrophe die Aufmerksamkeit der übergeordneten Instanzen auf den Staudamm lenkte und so dem Staudamm und seinen Belangen mehr Gewicht verlieh. Und die Schleusenarbeiter hatten ihrerseits ebenfalls festgestellt, dass der Schleusenüberlauf keine negativen Folgen hatte und hatten sich am darauffolgenden Spektakel erfreut.
Finn wird es wieder tun, da war er sich sicher. Mehr noch. Vor seinem geistigen Auge ließ er die kurze, aber zumindest für ihn äußerst interessante Unterhaltung zwischen seiner Mutter und Antonia Revue passieren: „Ach, trägt Paul immer noch Windeln?“, hatte seine Mutter gefragt. Antonias resigniert klingende Antwort darauf lautete: „Tja, das ist eine endlose Geschichte. Du glaubst gar nicht, was ich alles versucht habe, aber Paul geht einfach nicht auf Toilette. Und wenn ich ihn dazu zwinge, dann sitzt er da und macht nicht und kaum ist er aufgestanden, ist die Hose nass!“ Nach einem kurzen Blick zum mit einem großen Plastiklastwagen auf dem Wohnzimmerteppich neben ihm spielenden Paul fügte sie schmunzelnd hinzu: „Naja, früher oder später klappt das schon. Er hat ja noch Zeit!“ Seine Mutter stimmte ihr lachend zu.
Paul geht einfach nicht auf Toilette. Kluger Paul, dachte Finn sich insgeheim, während er an der Wand, etwas zurück zwischen den beiden Frauen und Paul lehnte und auf den spielenden kleinen Jungen mit der aus der Hose herausschauenden Pampers blickte. Was sollte Antonia da schon machen? Ein fünfjähriges Kindergartenkind, dem es nicht einmal selbst überlassen ist, ob es bei kaltem Wetter draußen eine Jacke anziehen muss, trifft so eine weitreichende Entscheidung am Ende komplett allein. Außer Paul konnte niemand mit Sicherheit sagen, ob er einfach nicht merkte, wenn er aufs Klo musste und deshalb alles immer in der Hose landete oder ob er einfach lieber weiterspielte und aus Bequemlichkeit lieber in die Hose machte. Oder ob er es vielleicht sogar mochte. Solange er das niemandem verriet, wusste das nur Paul.
Den Erwachsenen blieb dann eigentlich nicht mehr viel übrig. Vielleicht haben sie ihre Vermutungen, wieso der Fünfjährige nicht auf Toilette geht, aber in letzter Konsequenz war das Zweitrangig. Wenn Paul einfach nicht auf Toilette geht, bedeutet das für den Fall, dass man schließlich einmal versucht, die Pampers wegzulassen, dass die Hose nass wird. Erst einmal, dann nochmal, andauernd. So brauchte Paul dann ohne Windeln schnell mal mehr als ein halbes Duzend Hosen am Tag und man hatte auf Dauer keine andere Wahl als ihn in Windeln zu stecken. Wer immer in die Hose machte, der brauchte Windeln. Das hatte Finn bereits herausgefunden.
Was er grade herausfand war, dass es ähnlich der Risikoabschätzung zwei Faktoren gab, die jemanden wie Paul oder sogar ihn selbst dazu brachten, sich so oft in die Hose zu machen bis man Windeln bekam. Auf der einen Seite stand die Frage nach den Nachteilen des Windeltragens. Für Finn waren diese riesig. Ein cooler Jugendlicher wie er auf einmal mit einer Windel wie ein Kleinkind? Obermegapeinlich. Für Paul hingegen war es egal. Ihn kannte man sowieso mit Windel, es war kein plötzlicher großer Rückschritt dass er wieder Windeln brauchte, sondern er blieb einfach so wie er war. Seine Freunde im Kindergarten wurden vielleicht trocken, aber ihn kannten ja alle als Windelkind und so machte es ihm nichts aus, mit prallvoller, stinkender Pampers mit einem anderen Jungen zu spielen, denn so war er halt.
Auf der anderen Seite stand der Vorteil. Welche Vorteile hatte das Windelntragen für Paul? Auf jeden Fall Bequemlichkeit, mehr konnte Finn nicht sagen. Bei Ihm hingegen, er liebte Windeln. Was würde er dafür geben. Alles. Sie bedeuteten die Welt. So ergab sich also bei Paul ein kleiner Nachteil mit einem kleinen Vorteil und bei Finn ein riesiger Nachteil mit einem verdammt großen Vorteil und damit war Finn nicht bereit, als Zwölfjähriger die Nachteile für den Saugstoff zwischen den Beinen in Kauf zu nehmen, Paul hingegen schon. Nachteile überwogen, Vorteile überwogen. Bis gestern jedenfalls.
Denn, was der verglichen mit dem Fünfjährigen Windelträger nicht viel größere bald-Siebtklässler gestern herausgefunden war, dass diese Nachteile in dem Moment komplett wegfielen, wo sie nur ein kleiner Kreis mitbekam. Wenn zum Beispiel nur seine Eltern und Paul, vielleicht noch seine Großeltern, mitbekamen, dass er es nicht aufs Klo schaffte und deswegen Windeln bekam, dann hatte er dadurch eigentlich nichts verloren. Denen musste er nichts beweisen. Finn hatte sich fest entschlossen. Er würde ins Bett machen. Der Klassiker. Hatte er selbst oft genug als Windelgeschichte gelesen, ins Bett machen um wieder Windeln zu bekommen. Nun starrte er durch die schmutzige Glasscheibe des Haltestellenhäuschens in den Wald hinter den Feldern und verstand zum ersten Mal, dass es für ihn keinen Grund gab, es nicht zu tun. Was würde passieren? Tröstende Worte von seiner Mutter, Aufmerksamkeit, sein Bett würde nass werden, seine Schlafanzughose sowieso. Das waren alles überhaupt keine Nachteile. Das war nun der Plan, den Finn grade ausheckte, während die Playlist in der Zwischenzeit sicherlich acht Lieder gespielt hatte. Er würde nun ins Bett machen. Jede Nacht. Nicht mehr aufstehen Nachts, das war eh ziemlich scheiße. Aus dem warmen Bett raus und zur Toilette laufen. Grade jetzt in den Sommerferien, wo er länger schlief und dementsprechend meist zweimal raus musste. Stattdessen würde das Bett zweimal nass werden. Und er gleich mit. Das würden seine Eltern vermutlich mit besorgtem Verständnis aufnehmen, aber nicht lange mitmachen. Dann mussten sie ihm Windeln geben, sie konnten sein Ding da unten schließlich nicht einfach zukleben. Früher oder später. Und in der Zwischenzeit war einpinkeln ja auch ohne Windel ganz cool. Wie und ob er tagsüber zu Windeln kommen wollte, das überlegte er grade noch.
Bis ihn die Vibration seines Handys aus den Gedanken riss. Einmal, nochmal und nochmal. Das waren keine Messages, das war ein Anruf! Eillig zog Finn sein Smartphone aus der Hosentasche, wischte mit dem linken Daumen nach rechts und hielt sich das Gerät ganz altmodisch ans Ohr.
„Gehört dein Longboard der Deutschen Bahn? Du hast nämlich Verspätung!“, rief Luca am anderen Ende der Leitung. Luca machte immer Scherze und lachte oft selbst am lautesten darüber.
Finn musste aber ebenfalls kichern: „Nein. War am chillen, Sorry!“
„Woow!“, sagte Luca nur.
„Jaja, ich bin gleich da! Gib mir fünf Minuten!“
Finn hörte, wie Luca am anderen Ende der Leitung auflegte, ließ seine linke Hand mitsamt Handy sinken und blickte noch kurz, ohne sich zu regen in Richtung des Waldes. Dann sprang er plötzlich ruckartig auf, tippte kurz auf seinem Handy herum um die Playlist zu wechseln, schnappte sich sein Board, ließ es auf den Asphalt knallen und fuhr weiter, diesmal begleitet durch die ekstatischen und repetitiven Egitarrenklänge von Volbeats „Thanks“. Eines von Finns Lieblingsliedern. Kompromisslos fröhlich, so wie er es auch oft war. Das fünfzehnsekündige Einstiegs-Gitarrensolo wirbelte wild aus der Box auf Finns Rücken heraus und machte direkt klar, dass dieses Lied vollkommen anders war als die seichten Elektroklänge zuvor. Ab jetzt änderte sich alles, bei der Musikauswahl und in Finns Leben. Und niemand wusste es, nur er selbst ahnte es.
Mit einem lauten Klacken ließ Finn bald darauf das vordere Ende seines Longboards gegen die Betonstufe vor der Haustüre eines rotbraun verklinkerten Reihenhauses krachen und betätigte kurz darauf die Klingel.
„Wow, auch mal da?“, fragte ein kurz danach die Haustüre öffnender Luca gelangweilt während er seinen Rucksack schulterte und ironisch-grimmig auf Finn herabblickte: „Das ist echt ein neuer Rekord, ich glaub du wolltest vor einer Stunde schon da sein!“
„Jaja“, murmelte Finn so leise, dass es neben der Musik aus seinem Lautsprecher kaum zu hören war, legte den Kopf schief und antwortete verschmitzt: „Hättest ja nicht schon alleine ins Schwimmbad fahren können oder so!“
„Ja neee, aus diversen Gründen völlig unmöglich!“, scherzte Luca sarkastisch während er das Garagentor hochfahren ließ: „Wo kommen wir denn da hin?“
„Ins Schwimmbad! Und zwar früher!“ feixte Finn, während Luca sein Fahrrad aus der Garage kramte, sich auf selbiges schwang, Finn wieder auf sein Board stieg und beide wieder auf die Straße einbogen.
„Wers denn sonst schon da?“, fragte Finn seinen zwölfjährigen besten Freund und strich seine durch den Wind verwirbelten Haare mit einer routinierten Handbewegung wieder grade. Ein relativ eigentümliches Bild ergaben die beiden Fast-Siebtklässler nebeneinander. Finn, einer der kleinsten in seiner Klasse und dazu noch recht dünn und daneben Riesen-Luca. Einen Meter und Sechzig Zentimeter, Luca war schon immer ein ziemlicher Riese. Und ein verdammter Scherzkeks: „Na alle! Alle sind schon da!“, kurze Pause: „Alle verfickten 7 Milliarden Menschen! Du hast ihnen ja auch ziemlich viel Zeit gelassen, vor uns da zu sein!“ Luca konnte sich gut künstlich aufregen und das war dann meist auch noch ziemlich witzig. Laut scherzend fuhren die beiden beinahe-Teenager durch enge verkehrsberuhigte Straßen, überquerten die Hauptstraße und merkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging bis sie schließlich an einem Maschendrahtzaun am Waldanfang anhielten und Luca sein Rad an Ebenjenen schloss.
Dicht an dicht gepresste Fichten hinter dem Maschendrahtzaun verbargen neugierigen Blicken, was sich hinter dem unscheinbar wirkenden, leicht rostigen Zaun versteckte. Nur die Mischung aus Kindergeschrei und Chlorgeruch machte relativ schnell klar an welchem Ort man sich befand: Im Waldbad, so etwas wie Finns inoffiziellem Sommer-Zweitwohnsitz.
Das relativ simpel gehaltene Freibad der kleinen Stadt, nur bestehend aus ein paar metallenen Schwimmbecken, einer kleinen Rutsche und einer riesigen Liegewiese mitsamt Spielplatz und Volleyballfeld. Das Waldbad war nicht grade etwas, was spontane Begeisterungsstürme auslöste. Es war definitiv kein Schwimmbad für eine Youtube-Compilation mit dem Titel „Die 10 krassesten Schwimmbäder der Welt“. Aber es hatte einen entscheiden Vorteil: Das blaue Band an Finns rechten Handgelenk. Das Schülerabo. Es gewährte dem Zwölfjährigen Eintritt ins Schwimmbad und zwar den gesamten Sommer lang, zu einem Spottpreis. Und das nicht nur ihm, sondern auch Luca und eigentlich fast allen anderen von seinen Freunden und vielen seiner Klassenkameraden. Es war seit Jahrzenten so etwas wie der eigene kleine Kosmos der mehr oder weniger privilegierten Mittelstandsjugend dieser Stadt, ausgestattet mit Dauerkarte und von ihren Eltern durch eine Bezahlschranke getrennt und dementsprechend mit Unabhängigkeit ausgestattet.
Denn war das Schülerabo subventioniert und lohnte sich dementsprechend bereits ab ein paar Schwimmbadbesuchen im Jahr, waren die Erwachsenentickets ungleich teurer. Und Finn dementsprechend schon lange ohne Eltern im Schwimmbad. Viele seiner Freunde hatte er in den vergangenen Sommerferien hier kennengelernt, hatte sich früher das Knie aufgeschlagen beim unerlaubten Rennen am Beckenrand und war stets auch noch Stunden, nachdem er das Wasser bereits verlassen hatte, geblieben. Vor wenigen Jahren hatte er im großen Sandkasten auf der Anhöhe oberhalb der Schwimmbecken noch riesige Burgen gebaut und seit letztem Jahr alberte er mit seinen Freunden auf der Liegewiese herum und redete über alles Mögliche.
Eillig huschten Luca und Finn am Eingang vorbei, streckten nur kurz ihre Hände Richtung Kassenhäuschen und rannten in die kleinen beigen Umkleidekabinen unter dem rustikalen Holzvordach, während aus Finns Lautsprecher immer noch Musik brummte. „Pretend we’re Dead“ von „L7“, einer der Bands die ihm Lucas großer Bruder Alex empfohlen hatte.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Die Geschichten des Autors sind genial, bitte mehr davon! 🙂
Die Geschichte ist super schreib bitte weiter ?????????
Ich mag Deinen Stil und die Art, wie Du die Charaktere beschreibst. SĂĽĂź fand ich auch, wie Finn mit dem kleinen Paul spielte und dabei ganz vergaĂź wie „alt und cool“ er eigentlich schon ist. Dass die FĂĽrsorge fĂĽr den kleinen Pauli in Finn den Wunsch nach mehr Geborgenheit weckt, ist auch realistisch. Sein Plan, wieder einzunässen, muss aber LANGSAM reifen. Mal eine Nacht nass, dann länger nicht – langsam immer öfter.
„Unfälle“ am Tag anfangs noch seltener, erst ganz langsam und in Augenblicken, wo es realistisch vorstellbar ist, dass Finn es nicht lange genug aushalten konnte. Zum Beispiel auf längeren Autofahrten, im Bus, …
Freue mich schon sehr auf die nächsten Teile!! ABER: lass Dir Zeit und schreib lieber mehr, als immer nur Stückchen zu posten. Das stört nämlich den Handlungsverlauf und die Kontinuität der Geschichte.
DU HAST ECHT TALENT! 🙂 🙂
Was ich bislang gelesen habe, war echt gut.
Weiter so.
An die ganzen Rechtschreib und Grammatikatlhleten hier auf der Plattform, lest euch das durch und nehmt euch ein Beispiel, sowas macht eine gute Geschichte aus.