Zwischen Gestern und Morgen (5)
Windelgeschichten.org präsenriert: Zwischen Gestern und Morgen (5)
Jemand drehte mich auf den Rücken. „Benni, du hast ganz blaue Lippen! Ich brauche hier Hilfe!” Ich sah den Schock in Katjas Gesicht. Sie schien zu schreien, während sie mich hochriss und losrannte.
Ab diesem Zeitpunkt wurde es dunkel.
Das Nächste, was ich wahrnahm, waren verschiedene rhythmische Pieptöne. Ich spürte einen dumpfen Schmerz in der Brust. Etwas klebte an meinem Gesicht, und an meinem Hals war ebenfalls etwas angebracht.
Mein ganzer Körper fühlte sich trotz der Schmerzen irgendwie taub an, generell war alles surreal. Hatte ich vielleicht einen Unfall gehabt? Bin ich aus einem Koma erwacht, zurück in mein wirkliches Leben? Kennt ihr das, wenn ihr aus einem Traum aufwacht und denkt: Schade, es war irgendwie ein schöner Traum, selbst wenn er noch so skurril war? Genau so fühlte ich mich in dem Moment, und mit diesem Gedanken dämmerte ich wieder weg.
Jemand hantierte neben mir – nein, er hantierte an mir. Ich wurde gerade Gewickelt. Ich wurde mit einem feuchten Tuch gesäubert. Es fühlte sich sehr seltsam an. Während ich das Geschehen beobachtete, registrierte ich, dass noch jemand neben mir stand. Es war nicht zu erkennen wer es war, aber ich konnte ihre Nähe spüren. Sie schien nach meiner Hand zu greifen, Ihre war ganz warm und meine so kalt. Mir ist kalt, mit dieser Erkenntnis dämmerte ich wieder weg.
Als ich das nächste Mal erwachte, war nur gedämpftes Licht im Zimmer. Die Geräuschkulisse hatte sich verändert. Waren es beim letzten Mal noch viele Pieptöne, die sich im Hintergrund abwechselten, so hörte ich jetzt nur noch einen, und dieser war ziemlich leise. Diesmal war ich schon viel klarer im Kopf.
Mein erster Gedanke galt meinem Körper. Ich erkundete ihn soweit es mir im Liegen möglich war, da ich nicht die Kraft fand, mich aufzurichten. Meine Haut und auch das was ich von meinem Körper ertasten konnte, fühlte sich genauso an wie es sollte, ich war in meinem Körper. Mit der Zunge ertastete ich immer noch das einer meiner Schneide Zähne Fehlt. Ich hatte zwar immer noch einige schmerzende stellen aber eine Erleichterung durchströmten meinen Körper.
Als Nächstes erkundete ich mit den Augen das Zimmer, soweit es eben ging. Es war nicht das Zimmer, in dem ich die letzten Tage verbracht hatte. Es schien funktional, mit leichten Kopfbewegungen, was mir bis auf ein ziehen und dem Gefühl das immer noch etwas in meinem halssteckte erstaunlich leicht viel schaute ich mich weiter um.
Neben mir stand ein Stuhl, aber er war leider leer. Auf der anderen Seite befand sich ein Vorhang. Man konnte unter dem Vorhang sehen, dass dort ein weiteres Bett stand. Es gab eine Ruftaste, aber diese hing soweit vom Bett entfernt, dass ich gar nicht erst versuchte, sie zu erreichen. Langsam schlief ich wieder ein.
Gefühlt hatte ich meine Augen gerade erst geschlossen, als ich wieder von einem penetranten Piepen aus dem Schlaf gerissen wurde. Der Raum war diesmal deutlich heller, die Beleuchtung eine andere.
Ich versuchte herauszufinden, woher das Piepen kam. Als ich registrierte, dass es vom anderen Bett kam, war es auch schon wieder weg, und eine ältere Krankenschwester kam hinter dem Vorhang hervor.
Sie war auf dem Weg aus dem Zimmer und warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, bis sie bemerkte, dass ich sie ansah.
„Benjamin, du bist ja schon wach! Ich bin gleich bei dir, ich habe Katja versprochene sie sofort zu rufen, wenn du wach bist.“
Sie war kaum eine Minute aus dem Zimmer und kam sofort wieder zu mir. „Ich bin Schwester Drechsler, aber du darfst mich auch Michaela nennen. Katja ist bestimmt gleich hier. Wie geht es dir?”
Mein Mund war sehr trocken, aber ich antwortete trotzdem mit rauer, angestrengter Stimme: „Mein Hals… und mein Bauch tun ein bisschen weh.” Michaela reichte mir einen Becher mit Wasser an den Mund, den sie auf einem Tisch neben mir gefüllt hatte. „Das glaube ich dir, es sollte bald besser sein, das ist völlig normal. Du hattest eine schwere allergische Reaktion. Diese haben wir aber dank Katjas schneller Reaktion ganz gut in den Griff bekommen.”
Ich erinnerte mich an die Situation im Park und die Hilflosigkeit, die ich in dem Moment empfunden hatte – kein schönes Gefühl. Und ich erinnerte mich daran, so etwas schon einmal erlebt zu haben, nur dass ich damals nicht das Bewusstsein verloren hatte. Ich war mit meinen Eltern in einem Zoo und wurde von einer Wespe gestochen. Innerhalb kürzester Zeit wurde mir übel, und ich hatte das Gefühl zu ersticken, bis mein Vater mir mit einem Adrenalin-Pen eine Injektion verpasste. Auch damals musste ich ins Krankenhaus, aber es war nicht so extrem wie dieses Mal.
Katja kam sehr zügig zur Tür herein. Sie hatte dunkle Augenringe und sah insgesamt nicht sehr gut aus, aber sie lächelte trotzdem, als sie mir in die Augen sah.
Sie trat sofort ans Bett und streichelte mir den Kopf. Ich sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. „Ich hatte echt Angst um dich, Benjamin”, sagte sie, schien aber nicht in der Lage zu sein, mehr zu sagen, da sie mit ihrer Fassung kämpfte. Sie setzte sich ans Kopfende des Bettes und streichelte mich weiterhin.
In diesem Moment hätte ich sie gerne getröstet, aber ich wusste nicht wie. Ich wollte nicht, dass Katja traurig ist, und erst recht nicht wegen mir.
„Mach noch ein wenig die Augen zu. Die Visite kommt erst in ein paar Stunden, und der Schlaf wird dir gut tun”, flüsterte Katja mir zu.
Ihre Tränen schienen versiegt, und ich versuchte, ihr ein Lächeln zu schenken, was mir wahrscheinlich eher schlecht gelang. Aber sie lächelte zurück und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf jetzt, kleiner Sonnenschein.” Danach setzte sie sich neben mich auf den dort stehenden Stuhl.
Ich schloss die Augen wieder, beruhigt in dem Wissen, dass Katja bei mir war.
Nach einer gefühlt kurzen Weile schien Katja neben mir zu telefonieren. Ich machte die Augen nicht auf und war einfach nur froh, dass sie noch da war.
„Ja, er war vorhin kurz wach” – „Nein, nicht ganz, aber er sieht schon deutlich besser aus, und Michaela meinte, sie glaubt nicht, dass er irgendwelche Schäden davontragen wird” – „Nein, lieber nicht. Kannst du bitte später bei mir zu Hause vorbeifahren? In meinem Arbeitszimmer steht eine Notfalltasche, die könnte ich gut gebrauchen.” – „Nein, ich habe schon mit Herrn Obermeyer gesprochen. Ich habe jetzt erst mal Urlaub und soll mich melden, wenn er etwas für mich tun kann” – „Und Thomas, ja, machen wir es so. Ruf bitte Frau Landgraf an. Du hast einen besseren Draht zu ihr als ich” – „Ja, absolut sicher. So sicher wie lange nicht mehr.” – „Nein, ja, das ist mir egal.” – „Kannst du mir bitte Anja nochmal geben?”
Den Rest des Gesprächs bekam ich nicht mehr mit, da ich wieder eingeschlafen war.
Ich werde von einer männlichen Stimme geweckt: „Guten Morgen zusammen“ Der Mann Blickte irritiert zu Katja „Frau Hofmeister, was machen Sie denn hier?“
Ich betrachte die Szenerie: Es stehen drei Männer und vier Frauen im Raum, alle im weißen Kittel und mit Tablet-Computern bewaffnet. Der älteste von ihnen hat einen komplett ergrauten Vollbart. Er ist derjenige, der das Gespräch eröffnet hat und gerade zu Katja schaut, die scheinbar auch gerade erst aufgewacht ist. Sie steht langsam auf und wendet sich an den Mann: „Guten Morgen, Herr Eger. Benjamin,“ sie deutet auf mich, „war bis gestern bei uns auf der Station. Da er keine Eltern zu haben scheint, habe ich mich in den letzten Tagen um ihn gekümmert. Wir waren im Park, als er den anaphylaktischen Schock erlitt.“
Herr Eger schaut skeptisch. „Okay, das heißt, Sie haben keine Vormundschaft für ihn, oder?“
Katja scheint kurz nachzudenken, bevor sie antwortet: „Nein, Herr Eger, die habe ich nicht, aber ich fühle mich in besonderer Weise für ihn verantwortlich.“
„Ja, dann tut es mir leid, aber Sie müssen bitte kurz das Zimmer verlassen.“
„Herr Eger, bitte! Wir sind doch im selben Team. Ich möchte doch nur…“ Sie hält kurz inne. „Es geht um ein rein professionelles Interesse. Wenn er wieder bei uns auf der Station ist, müssen wir wissen, vor welchen Allergenen wir ihn schützen müssen. Natürlich könnten wir auch Einsicht in die Akten nehmen, aber müssen wir es wirklich so kompliziert machen?“
Herr Eger scheint nicht begeistert. „Meinetwegen.“
Katja wirkt erleichtert. „Danke!“
Er wendet sich an die anderen Ärzte: „Kann bitte jemand zusammenfassen?“
Eine junge Frau im weißen Kittel liest von ihrem Tablet ab: „Stenzel, Benjamin. Alter unbekannt, schätzungsweise zwischen sechs und acht Jahren. Kam gestern 10.45 Uhr nachdem er von Frau Hofmeister nahe der Bewusstlosigkeit im Freigelände aufgefunden wurde mit schweren anaphylaktischen Schock in die Notaufnahme. Verdacht auf Insektenstich. Nach der Gabe von 250 Mikrogramm Adrenalin in den Oberschenkel trat keine Besserung ein. Dr. Behrens ordnete eine Intubation und eine gründliche körperliche Untersuchung auf Einstichstellen an. Der Patient blieb instabil. Weitere Gabe von 250 Mikrogramm Adrenalin und 2,5 mg Antihistaminika über zentralen Venenkatheter. Die Vitalfunktionen des Patienten besserten sich anschließend. Zur Stabilisierung der Vitalwerte wurde eine Kochsalzlösung verabreicht.“
„Hat man eine Einstichstelle gefunden?“
„Ja, am linken Becken.“
„Danke, Frau Yenice.“
Er schaut mich an. „So, Benjamin, ich würde sagen, du hast großes Glück gehabt. Das hätte auch anders ausgehen können. Du kannst Frau Hofmeister dankbar sein, dass sie sofort erkannt hat, was mit dir nicht stimmt. War dir bekannt, dass du eine Insektengiftallergie hast, oder ist dir so etwas schon einmal passiert?“
Ohne groß nachzudenken und völlig überrumpelt, antworte ich leise mit kratziger Stimme: „Ja.“
Er sieht mich weiter an. „Wie alt warst du da?“
„Zehn.“ Das wusste ich noch genau. Es war mein zehnter Geburtstag, wir waren im Zoo, und ich hatte mich versehentlich auf eine Wespe gesetzt.
Herr Eger schaut kurz irritiert und sieht zu den anderen Ärzten. „Notieren Sie: anaphylaktischer Schock, durch Vorerkrankung bestätigt, erstes Auftreten im Alter von zehn Monaten.“ Dann sieht er wieder zu mir. „Okay, du solltest immer ein Notfallset mit einem Adrenalin-Pen in Reichweite haben. Ist das klar?“
Ich war mir nicht sofort im Klaren darüber, welche Informationen ich da gerade preisgegeben hatte. Aber Katja schaut mich mit großen Augen an.
Die Ärzte machen sich Notizen auf ihren Tabletcomputern und gehen zum nächsten Patienten, was weder mich noch Katja zu interessieren scheint.
Sie schaut mich fragend an. Als ich nicht reagiere, fragt sie mich: „Benjamin, du hast dich gerade an etwas aus deiner Vergangenheit erinnert? Kannst du mir noch mehr erzählen?“, fragt sie ermutigend. Davon lasse ich mich sofort anstecken und sage gedankenlos: „Ja, es war mein zehnter Geburtstag, wir waren im Zoo.“
Katjas Blick verändert sich. Er geht von ermutigend zu unschlüssig, dann zu irritiert.
Plötzlich schaut sie mich ernst an. „Benjamin, wie alt bist du?“ Jetzt wird mir klar, was ich gerade gesagt habe. Was mache ich jetzt? Sie wird es nicht verstehen! Ich will sie nicht anlügen. Sie wird mich allein lassen. Panik steigt in mir auf, und ich bringe kein Wort heraus. Tränen laufen mir die Wangen hinunter.
„Benjamin, bitte erklär es mir!“ sagt sie mit einer Stimme, die zwischen Verzweiflung und Wut schwankt. Ich kann nicht. Meine Gedanken rasen. Thomas, Thomas kann mir helfen. Ich muss es ihr erzählen. Sie wird mir nicht glauben, aber vielleicht Thomas.
Mit kratziger, schluchzender Stimme sage ich: „Thomas.“
Sie schaut mich fragend an. „Was ist mit Thomas?“ Ich bringe außer einem Schluchzen nichts heraus.
„Was ist mit Thomas? Was hat er damit zu tun?“ Ich schüttle nur leicht den Kopf, nicht wissend, was ich sonst tun soll.
„Soll ich Thomas anrufen?“
Ich schaue sie an und nicke leicht. Sie steht auf, nimmt ihr Telefon und geht nach draußen. Ich kann ihre aufgebrachte Stimme hören.
„Hallo Anja, gib mir bitte Thomas. Ja, es ist wichtig… Hallo Thomas, es geht um Benjamin. Kannst du mir erklären, warum er einem Arzt gerade gesagt hat, dass er sich an ein Ereignis mit zehn Jahren erinnern kann?“ – „Ja, ich weiß, dass du Schweigepflicht hast. Verdammt, Thomas, du hast mir noch geraten, mich um ihn zu kümmern, und jetzt kannst du mir nicht sagen, was du weißt? Obwohl es hier um wichtige Informationen geht?“ – „Nein, das mache ich nicht. Okay, bis gleich.“
Katja hat einen roten Kopf und sieht mich unschlüssig an. Sie ist definitiv sehr aufgebracht. Sie setzt sich auf den Stuhl neben mir, lässt mich aber nicht aus den Augen. Was geht gerade in ihr vor? Ich habe Angst. Angst, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Angst, allein zu sein. Mein Blick verschwimmt, und die Tränen laufen ungehindert meine Wangen hinunter.
Es vergeht eine Ewigkeit, und die Kälte im Raum ist kaum auszuhalten. Plötzlich wünsche ich mir, dass es doch alles nur ein Traum ist.
Thomas betritt das Zimmer und sieht erst mich, dann Katja an. „Katja, ich muss erst mit Benjamin allein sprechen. Kannst du bitte kurz vor die Tür?“ Katja steht kommentarlos auf und geht nach draußen.
Thomas schaut erst hinter den Vorhang zum zweiten Bett, kommt dann aber gleich wieder und hockt sich neben mein Bett, damit er mir besser ins Gesicht sehen kann. Die Gruppe der Ärzte hat das Zimmer schon nach kurzer Zeit, ohne von unserem Gespräch Notiz zu nehmen, verlassen. „Hallo Benjamin schön das es dir besser geht. Du hast uns allen einen Mächtigen Schrecken eingejagt.“ Er machte eine Kurze Pause und vergewisserte sich nochmal das niemand das Zimmer betreten hat „Es sieht nicht so aus, als wäre der Mann neben dir bei Bewusstsein. Eine bessere Lösung finden wir so schnell wohl auch nicht. Also, erzähl mir bitte, was passiert ist.“
Unter Tränen antworte ich: „Der Arzt hat mich gefragt, ob ich schon mal eine allergische Reaktion auf einen Insektenstich hatte und wann das war. Da habe ich ihm gesagt, mit zehn. Danach wollte Katja wissen, ob ich mich an mehr erinnern kann. Ich habe ihr einfach erzählt, dass es mein zehnter Geburtstag war. Ich hatte es gerade noch so vor Augen, die Erinnerung ist im Park einfach hochgekommen.“
Er scheint zu verstehen und überlegt kurz. „Ich denke, du musst Katja erzählen, was du weißt. Früher oder später hättest du das auch so gemusst. Ich kann dir helfen, wenn du mich von meiner ärztlichen Schweigepflicht entbindest – natürlich nur gegenüber Katja.“
Ich nicke sofort. Ich würde alles tun, wirklich alles, damit Katja nicht mehr böse auf mich ist. Und vor allem wollte ich auch keine Geheimnisse vor ihr Haben.
„Du musst es mir schon sagen, nicken reicht leider nicht.“
Ich sehe ihn an. „Ja.“
Er scheint nicht zufrieden. „Du musst sagen: ‚Thomas, ich entbinde dich von deiner Schweigepflicht gegenüber Frau Hofmeister, also Katja.’“
Ich sehe ihn an und wiederhole: „Thomas, ich entbinde dich von deiner Schweigepflicht gegenüber Frau Hofmeister, also Katja.“
Thomas muss kurz lachen, geht aber zur Tür. „Katja, kommst du bitte?“
Als Katja das Zimmer betritt, fange ich vor Angst an zu zittern. Thomas scheint meinen Gemütszustand zu registrieren. „Katja, setz dich am besten dort auf den Stuhl neben Benjamin.“ Er lehnt sich selbst gegen die Wand, sodass er uns beide im Blick hat.
„Das wird jetzt eine längere Unterhaltung. Katja, bedenke bitte: Alles, was du jetzt hörst, ändert nichts an dem, wer Benjamin ist. Er ist dasselbe Kind, das du in den letzten Tagen in dein Herz geschlossen hast, und es ist nicht zu übersehen, dass er panische Angst vor Zurückweisung hat. Des Weiteren hat er mir alles, was ich dir jetzt erzählen werde, unter ärztlicher Schweigepflicht anvertraut. Auch wenn ich dich kenne und genau weiß, dass du das nie jemandem erzählen wirst, es sei denn, Benjamin möchte es oder sein Leben hängt davon ab, muss ich das betonen. Und zu guter Letzt: Das, was du jetzt hörst, klingt völlig verrückt, und wenn nicht so viele Fakten dafürsprechen würden, die ich selbst in den letzten Tagen überprüft habe, würde ich es auch nicht glauben. Ich kann dir aber nicht erklären, wie so etwas funktioniert – da tappe ich selbst noch im Dunkeln. Also, bist du bereit?“
Katja schaut mich nachdenklich an und dreht sich dann zu Thomas: „Leg los.“
Thomas beginnt, in einer guten Stunde zusammenzufassen, was er von mir gehört hat und was er vermutet. Auch erwähnt er, dass er nicht glaubt, dass der Benjamin in meinen Erinnerungen und ich dieselbe Person sind. Seine verworfenen Theorien, ob es sich bei der Person in meinen Erinnerungen um meinen Bruder oder vielleicht meinen Vater handelt, lässt er ebenfalls nicht unerwähnt.
Katja hatte sich anfangs sehr unschlüssig gezeigt, aber als sie nach den ersten 20 Minuten meine Hand ergriff, musste sie gemerkt haben, dass ich am ganzen Körper zitterte. Sie setzte sich zu mir aufs Bett und drückte mich mit einer Umarmung fest an sich, die Decke hielt sie dabei um mich gewickelt. Es dauerte eine Weile, bis die Kälte aus mir wich, und die Angst war noch lange nicht weg. Ein schlechtes Gewissen machte sich in mir breit, weil ich sie nicht schon früher eingeweiht hatte.
Thomas schloss seinen Satz mit: „…und durch die Recherchen vorgestern konnten wir zumindest bestätigen, dass Benjamin sich das nicht alles einbildet. Der andere Benjamin scheint bzw. schien tatsächlich existiert zu haben.“
Katja sah mich an, während mein Kopf in ihrem Schoß lag. Ihre Gesichtszüge waren jetzt wieder deutlich weicher. „Zuerst möchte ich, dass du weißt, dass ich dir glaube und dich immer noch ganz lieb habe.“ Mir fiel kein Stein, sondern ein ganzes Gebirge vom Herzen. Katja sprach weiter: „Wenn man sich diese Geschichte so anhört, klingt sie sehr unglaubwürdig. Ich wüsste nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte. Aber du hast dich definitiv nicht falsch verhalten. Ich finde es schon sehr erstaunlich, dass du dich Thomas so leichtfertig anvertraut hast.“
Jetzt verspürte ich den Drang, etwas zu sagen. „Ich hab dich lieb“, flüsterte ich und kuschelte mich an Katja. Meine Augen wurden wieder feucht.
Katja drückte mich fester an sich und wandte sich an Thomas: „Danke, dass ihr mich ins Vertrauen gezogen habt. Manchmal frage ich mich, wie du es immer wieder schaffst, dass Kinder so schnell Vertrauen zu dir fassen“, sagte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
Thomas schmunzelte. „Das Geheimnis ist Lego. Ich lasse es mir demnächst patentieren“, sagte er scherzhaft, „nein, ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht genau. Es ist von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Bei Benjamin hat die Chemie einfach gestimmt, und er hat schnell begriffen, dass er nichts zu verlieren hat. Das versuche ich meist zu vermitteln, und manchmal klappt es.“
Dann richtete Thomas seinen Blick wieder auf mich. „Nun noch mal zu dir: Wieso hast du mir nichts von deiner Allergie gegen Insektenstiche erzählt? Das ist doch wichtig! Dein Leben kann davon abhängen! Ich hätte einfach gesagt, wir machen mal einen Allergietest – so zur allgemeinen Anamnese.“
Ganz klar, weil ich es selbst verdrängt hatte. „Ich habe es einfach verdrängt, es war doch so lange her. Außerdem war es doch gar kein Wespenstich. Es war der dunkle Mann, der mich geschubst hat.“
Katja riss mich förmlich nach vorne, um mir ins Gesicht zu sehen. Ihre Mimik veränderte sich schlagartig. „Welcher Mann?“ Auch Thomas kam ein paar Schritte näher und hockte sich vor uns. „Na, der Mann mit den dunklen Sachen, der mich gestoßen hat.“
Katja wurde rot. „Ein Mann hat dich gestoßen, und dann ging es dir schlecht? Du musst uns das noch einmal genau erzählen – Schritt für Schritt. Es ist jetzt ganz wichtig, dass du uns alles erzählst, was du weißt, egal wie unwichtig es dir vorkommt!“
Ich nickte und versuchte, das Geschehen so gut wie möglich wiederzugeben. „Ich habe mit den anderen Kindern Fangen gespielt. Nachdem mich der große blonde Junge mit der grünen Jacke gefangen hatte, war ich an der Reihe. Also habe ich zuerst versucht, ihn zu fangen. Aber er war viel zu schnell, also bin ich dem Mädchen mit der blauen Jacke hinterher. Doch bevor ich sie erreichen konnte, kam dieser Mann angerannt, er hat mich geschubst, obwohl da noch ganz viel Platz war. Das tat ganz schön weh, aber ich wollte das Mädchen fangen. Dann tat es weh, und mir wurde schwindelig. Als ich hingefallen bin, habe ich keine Luft mehr bekommen. Und dann warst du da.“
Während ich sprach, wechselte Katjas Gesichtsfarbe von Rot zu Weiß. Thomas mischte sich ein. „Du hast vorhin ‚der dunkle Mann‘ gesagt? Hast du ihn schon mal gesehen oder kannst du beschreiben, wie er aussah?“
Ich dachte kurz nach. „Nein, ich hab‘ ihn noch nie gesehen. Er war ganz schwarz! Er hatte ’ne schwarze Mütze auf, ’ne schwarze Jacke, ’nen schwarzen Schal und ’ne schwarze Hose.“
Katja stand auf, hob mich aufs Bett und schob das Krankenhaushemd hoch. Man konnte meine ziemlich volle Windel sehen, was im Moment aber niemanden zu interessieren schien. „Zeig mir bitte, wo es weh tat.“
Ich zeigte grob in die Richtung, und Katja befühlte ganz vorsichtig die Einstichstelle. „Er ist eigentlich viel zu klein für einen Insektenstich. Ohne die blaue Verfärbung ringsherum hätte ich ihn gar nicht bemerkt. Wie sie das in der Notaufnahme gefunden haben, hätte ich gern mal gewusst. Es könnte tatsächlich ein Nadelstich sein. Wenn sich eine Wespe oder ein anderes Insekt unter deine Kleidung verflogen hätte, wäre es bestimmt nicht bis dahin gekommen.“
Sie schien kurz nachzudenken. „Du hattest ein Unterhemd und einen Pullover an, und an dieser Stelle musste auch noch die Latzhose sein. Darüber dann die Matschhose und die Jacke. Es ist merkwürdig, dass mir das nicht schon früher aufgefallen ist.“
Sie schaute mit sehr ernstem Blick und weißer Gesichtsfarbe zu Thomas. Sie schien gerade die Fassung zu verlieren und sagte mit hysterischer Stimme zu ihm: „Ist dir klar, was das bedeutet?“ Thomas nickte langsam und sprach mit sehr ruhiger Stimme: „Das war kein Insektenstich, das war ein Anschlag auf Benjamins Leben.“
Katja fragte halb flehend: „Aber warum? Wer macht so etwas? Und auch noch bei einem Kind, bei Benjamin?“
Thomas wirkte sehr konzentriert und kontrolliert. „Wir müssen ab hier die Polizei informieren. Wenn ich mir alles anschaue, komme ich zu folgendem Schluss: Benjamin wurde gezielt abgepasst, und man wollte, dass es wie ein Unfall aussieht. Ein Insektenstich beim Spielen, der ausgerechnet ein Kind trifft, das eine Insektengiftallergie hat. Wie viel mehr Zeit hätte es gebraucht, bis die Schäden irreversibel gewesen wären?“
Katja antwortete mit belegter Stimme: „Nicht mehr viel. 5 bis 10 Minuten hätten schon gereicht.“
Katja zog mir mit zittriger Hand das Hemd wieder herunter und nahm mich wieder auf den Schoß. Ihre Umarmung war sehr fest. „Ich beschütze dich. Egal, wer dir was antun will!“ Thomas fragte immer noch mit ruhiger Stimme: „Du hast mir von einem Polizisten erzählt, der ihm mit diversen Fragen ganz schön zugesetzt hat. Wie hieß der noch gleich und wo habt ihr seine Telefonnummer?“
Katja, die sich langsam wieder unter Kontrolle zu haben schien, antwortete: „Die sollte unten am Stations-Empfang im Visitenkartenbuch sein. Er heißt Hauser.“
Thomas stand auf. „Wir dürfen Benjamin jetzt keine Sekunde mehr allein lassen. Wir wissen nicht, ob es noch einen weiteren Versuch geben wird.“ Damit verließ Thomas das Zimmer.
Bei mir hatte sich die Anspannung schon etwas gelegt. Ich hatte die Aufregung der beiden mitbekommen, aber irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment so sicher. Meine Angst war eher, dass Katja etwas passieren könnte – nicht mir.
Danke an die bisherigen Kommentarschreiber. Mein Urlaub neigt sich dem Ende zu, und ich weiß nicht, ob ich es dieses Wochenende schaffe, den nächsten Teil fertigzustellen. Aber es geht auf jeden Fall weiter. Feedback ist wie immer gerne gesehen.
Fortsetzung Folgt…
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Sehr Interissant, schonmal darüber nachgedacht, dies außerhalb von Windelseiten zu posten?
:)!
Danke schön das es dir gefällt! Ich denke dafür ist das Thema zu speziell 😉
Wirklich eine richtig gut geschriebene Geschichte. Auch wenn der dritte Teil fehlt.
Mach langsam aber genauso gut weiter.
Da ist etwas beim Hochladen schief gegangen, ist aber mittlerweile Korrigiert. Danke schön das es dir gefällt!
Eine gut geschriebene Story
Danke schön das es dir gefällt!
Vielleicht solltest du vor einem neuen Teil erstmal schauen das die Geschichte sich nicht im Kapitel wiederholt
Klingt nur KI
Das war ein versehen Sorry!
Ich bin so gespannt auf die Fortsetzung schreibt bitte weiter so.
Danke schön das es dir gefällt!
Sehr interessant, bei weitem die interessanteste Story die ich hier seit einer Weile gelesen habe. Allerdings scheint zwischrn Kapitel 3 und Kapitel 4 etwas zu fehlen, ich habe keine Ahnung wann Thomas als eine der Hauptpersonen dazukam…
Ja das ist tatsächlich in Teil 3 erklärt worden. Ist wie oben schon erwähnt ein Upload Fehler meinerseits gewesen. Ist aber jetzt Online.
Danke schön das es dir gefällt!
Boah, jetzt wo es interessant wird, endet es und keine Fortsetzung in Sicht, bitte schnell weiterschreiben.
Danke schön das es dir gefällt!
Hab ich doch schon 🙂
Ich hab jetzt alle Teile am Stück gelesen und bin absolut begeistert. So eine gute Geschichte in dieser Qualität, die dazu auch noch spannend ist, gibt es hier leider nur sehr selten. Benjamin ist auch mir jetzt schon sehr ans Herz gewachsen und ich freue mich schon sehr auf den nächsten Teil. Vielen Dank!
Du hast einen kleinen Fehler gemacht!
Wieso hast du die Teile so schnell verschickt???
Besser wäre es gewesen die Teile in wöchentlichen Abstand zu Posten.
8.10.
15.10.
22.10
29.10.
5.11.
usw
Dann hättest du genügend Vorlauf und die Spannung wäre größer
Ich sage dir ganz erlich du kannst die windeln weglassen und das als richtiges buch veröffenlichen.
Das nimmt ja langsam richtig krimmimäßige Züge an die Geschichte. Spannend. Freu mich schon auf den nächsten Teil.
Was für eine coole Geschichte. Ich fiebere richtig mit Benni mit und auch Katja scheint ganz toll zu sein.
Weiss gar nicht, was ich lieber wäre, der kleine Benni, welcher nochmals Kind ist oder an der Stelle von Katja, zu welcher Benni eine innige Beziehung aufbaut… Weiter so, danke viel vielmals für die tolle Geschichte!
Bis jetzt habe ich die ersten 5 Teile gelesen. Gefällt mir sehr gut! Dabei wollte ich es erst gar nicht lesen, weil es zur Kategorie „Jungs“ gehört, und das interessiert mich im Windel-Zusammenhang absolut nicht. Aber diese Geschichte ist ja ein richtig spanneder Krimi. Hoffentlich geht es so weiter!