Zwischen Gestern und Morgen (8)
Windelgeschichten.org präsenriert: Zwischen Gestern und Morgen (8)
Ihr Kennt das Spiel. 🙂
Feedback ist weiterhin erwünscht und neben der Freude an der eigenen Geschichte die größte Motivation.
Dann brach ich in Tränen aus und schluchzte.
Katja fragte besorgt: „Woran erinnerst du dich?”
„Ich hatte Angst… das Taxi… aber ich konnte es nicht richtig fassen. Wir müssen hier weg.”
Ich sah wieder zum Bahnhof und die Taxis, die dort standen. Ich wurde wieder sehr unruhig, fing erneut an zu schreien und um mich zu schlagen, als ich versuchte, aufzustehen.
Thomas schrie Herrn Richter an: „Fahren Sie weiter, es ist dieser Ort! Wir müssen hier weg!”
Herr Richter trat aufs Gas, und nach wenigen Sekunden war der Bahnhof nicht mehr zu sehen.
Ich saß in meinem Sitz zusammengesunken und schluchzte. Diese Bilder… das Taxi… der Fahrer… mehr konnte ich einfach nicht fassen. Diese panische Angst…
Katja nahm mich aus dem Sitz und streichelte mir über den Rücken. „Hey, es ist vorbei. Du bist nicht dort, woran du dich gerade erinnerst. Wir sind bei dir. Ich bin bei dir. Du bist in Sicherheit.”
Frau Grünwald gab Anweisungen: „Wir gehen erstmal auf unser Zimmer. Herr Richter, gehen Sie bitte zum Empfang und organisieren Sie zwei Zimmer für die drei. Schauen Sie bitte, dass sie nicht so weit weg von unserem sind.”
Katja folgte der zügig laufenden Frau Grünwald, mich auf dem Arm. Ich war in Gedanken und versuchte, die Ereignisse, die sich in meinem Kopf aneinander reihten, zu verarbeiten.
Im Zimmer angekommen, setzte sich Katja auf einen Sessel, nahm mich auf den Schoß und umarmte mich fest.
Thomas setzte sich auf eine Couch, die ebenfalls im Zimmer stand, und blickte sorgenvoll zu mir. „Katja, ich muss jetzt mit Benjamin darüber reden. Ich möchte ihn nicht verärgern, aber nur so können wir ihm helfen. Benjamin, du hast eben gesagt, dass du dich erinnerst. Auch wenn es schlimm ist, versuch einfach, aufzuzählen, was dir einfällt, auch wenn es für dich keinen Sinn ergibt. Wir sind bei dir, es kann dir nichts passieren.”
Ich kämpfte mit mir. „Ich will das nicht.”
Thomas sagte: „Benjamin, ich weiß, dass du das nicht willst, und ich würde dir das gerne ersparen, aber wir müssen jetzt darüber reden.”
Katja mischte sich ein: „Muss das wirklich jetzt sein? Er ist völlig aufgelöst.”
„Wenn wir es jetzt nicht machen, wird seine Angst davor immer schlimmer, und seine Reaktion könnte beim nächsten Mal vielleicht noch heftiger ausfallen. Im schlimmsten Fall tut er…”, bei den letzten Worten wurde Thomas nachdenklicher und sprach leiser.
Ich schwieg weiterhin. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken.
Thomas versuchte es erneut. „Benjamin, was hast du gesehen?”
Ich sprach leise: „Das Taxi.”
„Okay, deine Erinnerung steht also in Verbindung mit einem Taxi?”
„Ich will das nicht, bitte, ich will das nicht.”
„Benjamin, willst du, dass es aufhört? Dann müssen wir jetzt damit anfangen, etwas dagegen zu tun.”
Ich wollte das es aufhört aber ich wollte es nicht sehen, nicht fühlen, aber ich versuchte, mich zu sammeln.
Ich hatte immer noch Angst dann wurde ich von einer Ruhe erfasst und erzählte:
Der Bahnhofsvorplatz war leer. Vor mir stand ein Taxi, aber ich konnte kaum klar denken. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen, und ich wusste nicht einmal, wo ich herkam. Alles, was ich wollte, war nach Hause. Warum war es so schwer, sich zu erinnern? Der Schmerz war unerträglich. Ich musste einfach nur nach Hause.
Ich stieg ins Taxi. Der Fahrer drehte sich zu mir um, sein Blick bohrte sich in mich.
Warum starrte er so? „Fahren Sie mich zur Franz-Körner-Straße 15.“ Meine Stimme klang seltsam fremd in meinen Ohren.
Der Fahrer musterte mich skeptisch. „Bist du alleine unterwegs?“
Was sollte das? „Spielt das eine Rolle?
Fahren Sie mich jetzt zur Franz-Körner-Straße 15 oder nicht?“
Der Druck in meinem Kopf wuchs, als würde alles in mir zerreißen. Ich wollte nur nach Hause.
Der Fahrer sah mich komisch an, seine Augen funkelten seltsam. „Ganz schön frech, was?“
Er startete den Motor, und wir fuhren los. Doch der Schmerz wurde schlimmer, zog sich wie ein scharfes Band durch meinen Kopf. Ich schloss die Augen. Vielleicht würde es aufhören, wenn ich einfach nur schlief…
Als ich die Augen wieder öffnete, war alles anders. Der Wagen rollte langsam durch eine enge Straße, umgeben von dichten Bäumen. Ein Wald? Vom Hauptbahnhof bis zu mir nach Hause gab es keinen Wald. Der Schmerz hämmerte wieder in meinen Kopf. „Wo sind wir hier?“ Meine Stimme zitterte.
„Wir sind gleich da“, sagte der Fahrer, seine Stimme tief und unheimlich ruhig. Er bog von der Straße auf einen dunklen Waldweg ab, der von den Scheinwerfern schwach erleuchtet wurde.
Eine kalte Welle von Panik durchströmte mich. „Was soll das?“ Meine Worte klangen hilflos, doch er reagierte nicht. Wir hielten an.
„Wir sind da!“ Er stieg aus, ging zur Beifahrertür und öffnete sie.
„Steig aus!“ Seine Stimme war jetzt fordernd, fast bedrohlich.
„Was soll das?“ Ich zitterte, mein ganzer Körper war wie gelähmt, als er mich am Arm packte und aus dem Auto zog. Ich blickte zu ihm auf – oder besser gesagt, hinauf. Er war riesig, ich fühlte mich plötzlich so klein, wie ein Kind. Nichts ergab mehr Sinn. Warum fühlte sich alles so falsch an?
Katja hielt mich unterdessen sehr fest, ich konnte sie schluchzen hören.
„Zieh die Hose aus!“
Sein Befehl traf mich wie ein Schlag. Panik durchzuckte mich. Das konnte nicht real sein. „Was passiert hier?“ Aber es gab keinen Ausweg. Der Wald war dunkel, ich hatte Angst vor Ihm.
„Zieh jetzt deine Hose aus! Oder ich mach das!“ Sein Blick wurde gierig, seine Hand zuckte zu seinem Gürtel. Der Schmerz in meinem Kopf mischte sich mit der aufsteigenden Angst. Keine Chance, körperlich gegen ihn anzukommen, das wusste ich sofort.
Doch ich würde nicht aufgeben. Irgendwie musste ich Zeit gewinnen. Mit zitternden Händen begann ich, meine Schuhe zu öffnen, setzte mich auf den Waldboden.
„Wird’s bald?“, schrie er und griff an seine Hose. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich keine Zeit mehr hatte.
Kaum hatte ich die Schuhe ausgezogen, ging ich in die Hocke, spannte jede Faser meines Körpers an und sprang mit aller Kraft hoch. Ich rammte meine Schulter zwischen seine Beine. Ein Schrei, tief und schmerzhaft, erfüllte die Luft. Er krümmte sich, griff nach unten.
Das war meine Chance. Ohne nachzudenken, drehte ich mich weg und rannte in den dunklen Wald, mein Herz schlug wie verrückt, der Schmerz in meinem Kopf war erdrückend. Ich rannte bis es nicht mehr ging…
Danach überkamen mich die Emotionen mit voller Wucht. Erst jetzt begriff ich, was geschehen war und vor allem, was hätte geschehen sollen.
Ich brach erneut in mich zusammen und konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Katja, die ebenfalls weinte, zog meinen Kopf fest an sich und wiegte mich sanft hin und her.
Nach einer unbestimmten Zeit beruhigte ich mich langsam und schlief schließlich ein.
Am nächsten Morgen erwachte ich in einem großen Bett, den Daumen im Mund – eine beruhigende Geste, die mir ein Gefühl von Geborgenheit gab. Katja hatte ihre Arme fest um mich geschlungen, sie schien noch zu Schlafen.
In Gedanken ordnete ich die Ereignisse des Vorabends. Es tat nicht mehr so weh. Ich war dankbar, dass es endlich heraus war.
Auch wenn ich wusste, dass noch längst nicht alles überwunden war, es hatte mir geholfen.
Die Sonne schien durch ein großes Fenster. Das Zimmer war in einem warmen Gelb gestrichen. Ich versuchte, mich aus Katjas Umarmung zu lösen, doch sie hielt mich fest.
„Alles gut, Benjamin?“ flüsterte sie mir liebevoll ins Ohr. Ihre Umarmung ließ jetzt genügend Spielraum, sodass ich mich drehen konnte. Man sah ihr an, dass sie geweint hatte. Das machte mich traurig. Ich umarmte sie zurück und flüsterte:
„Ich hab dich lieb.“ Katjas Gesicht hellte sich auf. Obwohl ihr erneut eine Träne die Wange hinunterlief, konnte ich sehen, dass sie sich freute.
„Wollen wir aufstehen, mein kleiner Sonnenschein?“
Ich nickte. „Ja, ich möchte etwas essen.“
Katja ließ mich nicht los und rückte mit mir auf dem Schoß bis zur Bettkante vor. Vor dem Bett lag eine ziemlich volle Windel. Katja musste mich gestern Abend noch frisch gemacht haben. In diesem Moment spürte ich, wie es erneut aus mir herauslief. Meine Augen wurden feucht, und ich sah zu Katja, die anscheinend wusste, was gerade passierte.
„Hey, alles gut. Dafür ist die Windel da“, sagte sie und streichelte mir beruhigend über den Rücken. „Geht’s wieder?“ fragte sie nach einem kurzen Moment.
Ich nickte. „Können wir die wegmachen? Sie ist so nass.“ In letzter Zeit fühlte sich die Windel immer unangenehmer an, wenn sie nass war – fast so, als würde man auf einem nassen Waschlappen sitzen.
„Das machen wir. Leg dich am besten gleich hier hin.“ Dabei setzte sie mich auf das Bett und drückte mich sanft nach hinten, bevor sie mir die Hose herunterzog.
„Oh ja, die ist wirklich fällig. Die Qualität der Windeln, die wir hier im Krankenhaus bekommen, ist auch nicht die beste. Bei den Kleinen nehmen die Windeln im Verhältnis viel mehr auf.“
Während sie mich mit Feuchttüchern reinigte, schien sie nachzudenken. „Wobei ich mich frage, warum wir bei dir überhaupt die medizinischen Windeln genommen haben. Eine Pampers in den größeren Größen hätte dir bestimmt auch noch gepasst.“
Sie zog mich an den Armen in eine sitzende Position. „So, ist das jetzt besser?“
Ich nickte. „Ja, viel besser. Gehen wir jetzt essen?“
Katja lächelte kurz. „Ja, das machen wir. Ich hüpfe nur schnell ins Badezimmer. Mal sehen, was es hier zum Frühstück gibt.“
Als Katja im Badezimmer verschwand, beschloss ich, zum Fenster zu gehen. Draußen konnte man einen riesigen Fluss sehen, auf dem große Schiffe fuhren. Ich war fasziniert.
„Das ist ein schöner Ausblick, oder?“ Ich erschrak, da ich so in den Anblick vertieft war, dass ich nicht bemerkt hatte, wie Thomas hinter mir stand. Ich zuckte zusammen und drehte mich um.
„Oh, ich wollte dich nicht erschrecken, Benjamin. Ich hätte mich wohl vorher bemerkbar machen sollen.“
Ich nickte, noch leicht erschrocken.
Thomas fuhr fort: „Das ist die Donau. Man nennt Passau auch das Dreiflüsseeck. Wusstest du das?“ Ich hatte nie großes Interesse an solchen Dingen, und falls ich es mal gewusst hatte, war es wohl nicht wichtig genug, dass ich mich jetzt noch daran erinnerte.
Ich schüttelte den Kopf und wandte mich wieder dem Fenster zu. Warum hatte ich mich nie für so etwas Faszinierendes interessiert? Im Moment konnte ich meinen Blick nicht von der Donau lösen. Man konnte richtig sehen, wie das Schiff, schwer beladen mit Gestein, gegen die Strömung ankämpfte.
„Ein Stück weiter flussabwärts münden die Ilz und auf der anderen Seite der Inn in die Donau.“
„Wo fließt die Donau hin?“
„Die Donau ist der zweitlängste Fluss Europas. Sie mündet ins Schwarze Meer.“
„Und wo beginnt die Donau?“
Thomas lachte: „Ich glaube, dein Kopf ist noch lange nicht voll mit Wissen. Es freut mich, dass du trotz deines vielen Wissens die kindliche Wissbegierde beibehalten hast. Die Donau beginnt bei uns in Deutschland, im Schwarzwald. Kennst du den?“
„Ja, der ist doch in Baden-Württemberg, oder?“
„Genau, da ist er.“ Dabei klopfte er mir sanft auf die Schulter. Wir schauten weiter aus dem Fenster. Seine Kinder haben wirklich Glück – er kann ihnen viel erzählen.
„Hallo Thomas, ich habe gar nicht gehört, dass du reingekommen bist.“
„Das ging nicht nur dir so. Ich habe Benjamin aus Versehen erschreckt. Eigentlich wollte ich nur kurz die Schlüsselkarte abgeben, die ich noch von gestern Abend hatte. Ich war extra leise, falls ihr noch schlaft, aber dann habe ich Benjamin fasziniert aus dem Fenster blicken sehen.“
Ich hatte nicht vor, meinen Blick von dem Anblick draußen zu lösen, bis Katja die Worte sagte: „Wollen wir jetzt frühstücken gehen?“ Ab diesem Moment war alles andere unwichtig.
Als wir das Zimmer verließen, blickte ich auf einen langen Flur. Am Ende des Ganges hantierte eine Frau mit einem Wagen voller Handtücher, und ein Staubsauger stand vor einer Tür. Wir gingen direkt auf einen Fahrstuhl zu.
Kurz darauf betraten wir einen großen, offenen Raum, in dem viele Menschen unterwegs waren – einige mit Koffern. Sie schienen uns jedoch keine Beachtung zu schenken. Trotz der vielen Menschen war es angenehm leise.
Eine Mutter mit ihren beiden großen Kindern lächelte mich an, als ich mit Katja an der Hand das Restaurant betrat.
„Wo wollen wir uns hinsetzen, Benjamin?“
Ich zeigte sofort auf die Seite mit den großen Fenstern, von wo aus man die Donau wieder sehen konnte.
„Was möchtest du essen, Benjamin?“ fragte Katja, als wir am Tisch saßen.
„Schoko-Cornflakes.“
Katja lächelte: „Bist du dir sicher? Schau mal, dort vorne gibt es ein großes Buffet mit vielen leckeren Sachen. Wollen wir zusammen hingehen und schauen, ob du vielleicht etwas probieren möchtest, an dessen Geschmack du dich nicht mehr erinnern kannst?“
Auf diesen Gedanken war ich gar nicht gekommen, aber ich nickte voller Vorfreude. Ich sprang sofort auf, um Katja zum Buffet zu ziehen. Die Auswahl war überwältigend, allein die vielen Düfte am Buffet – ich war völlig überfordert und wollte alles probieren. Katja schaffte es jedoch mit viel Mühe, mich davon zu überzeugen, dass ein Stück Wassermelone, drei scheiben Kiwi plus ein paar Erdbeeren, etwas Rührei und ein Brötchen erst einmal genug für den Anfang wären.
„Möchtest du wieder einen Kakao dazu?“ Die Antwort fiel eindeutig aus.
Zurück am Tisch musste ich feststellen, dass mein Teller viel bunter war als der von Thomas und Katja.
„Warum esst ihr nur Brötchen und etwas Rührei, wenn es so viele tolle Sachen gibt?“
Thomas antwortete: „Ich denke, es ist die Gewohnheit. Der Entdeckerdrang, den Kinder verspüren, wird im Alter leider immer kleiner.“
„Dann will ich nicht mehr groß werden.“ Katja zog mich zu sich und umarmte mich.
„Das lässt sich leider nicht vermeiden. Aber ich will, dass du dafür ganz viel Zeit bekommst und wir diesen Weg gemeinsam beschreiten. Damit du die Kindheit bekommst, die dir zusteht.“
Beim Essen wollte ich wie immer alles so schnell wie möglich vom Teller Tilgen, doch Thomas ermahnte mich: „Iss langsam, Stück für Stück. So kannst du den Geschmack viel besser genießen und die einzelnen Früchte besser zuordnen.“ Trotzdem war ich als Erster fertig – und es hatte gut geschmeckt. Ich schaute wieder aus dem Fenster, während die beiden ihr Frühstück beendeten.
„Wie geht es jetzt weiter?“ fragte Katja.
„Ich bin schon eine Weile wach und habe vorhin mit Herrn Richter und Frau Grünwald einen Kaffee getrunken. Herr Richter ist kurz danach zum Bahnhof aufgebrochen. Wir waren uns einig, dass Bennis Erzählung sich auf diesen Bahnhof hier in Passau bezog. Er will nachsehen, ob es Kameraaufzeichnungen aus diesem Zeitraum gibt. Frau Grünwald erwartet uns später im Polizeirevier, wenn wir so weit sind.“
„Wie kommen wir dorthin?“ fragte Katja.
„Herr Richter meinte, wir sollten ein Taxi nehmen, aber Frau Grünwald und ich haben uns schnell darauf geeinigt, dass sie uns jemanden schickt. Wir müssen mit Benni irgendwann einmal eine Taxifahrt machen, um ihm die Angst davor zu nehmen, aber im Moment halte ich es noch für zu früh.“
„Okay, ich würde gerne mit Benni einkaufen gehen. Er braucht ein paar Dinge. Außerdem fände ich es schön, wenn er sich mal ein Spielzeug aussuchen kann.“
„An welche Läden hast du gedacht?“
„Auf jeden Fall eine Drogerie und ein Geschäft, in dem er etwas findet, was ihm Spaß macht.“
„Dann lass uns doch die Stadtgalerie nutzen. Sie ist gleich um die Ecke, und wir können dem Bahnhof aus dem Weg gehen. Wenn wir fertig sind, lassen wir uns abholen.“
„Okay, dann haben wir einen Plan. Ich gehe noch mal schnell mit ihm hoch, um die Frühstücksspuren zu beseitigen – oder besser, gleich duschen.“
Mit diesen Worten verließen wir das Restaurant. Im Zimmer angekommen, lotste mich Katja direkt ins Badezimmer.
„Auf geht’s, Zähneputzen ist wichtig!“ sagte Katja und drückte mir die Zahnbürste in die Hand.
Als ich damit fertig war, kam sie mit einem Stapel Kleidung und einer frischen Windel zurück. Sie half mir beim Ausziehen, und nachdem die Windel, die diesmal nur wenig beansprucht war, entfernt wurde, ging es ab unter die Dusche. Anschließend zog sie mir eine Jeanslatzhose und einen Pullover mit vielen Dinos darauf an – der war wirklich toll.
Das Ganze dauerte keine 15 Minuten. Auf dem Weg nach unten trafen wir wieder auf Thomas.
„Ich habe mit Frau Grünwald Telefoniert und ihr Bescheid gegeben, dass wir in anderthalb Stunden eine Mitfahrgelegenheit an der Stadtgalerie brauchen. Weil wir noch ein paar Kleinigkeiten für Benjamin besorgen müssen. Sie hat gesagt, dass wir unbedingt zusammenbleiben und gut aufpassen sollen.“
„Das klingt ja fast, als würde eine Mutter mit ihren Kindern sprechen,“ sagte Katja lächelnd.
Thomas lachte. „Ja, das könnte man meinen. Aber sie sieht wohl, dass einiges zusammenkommt, was Benjamin betrifft.“
Draußen war es angenehm – die Sonne schien, und ich lief zwischen den beiden, an Katjas Hand, die Straße hinunter. Man konnte wieder die Donau sehen. Am liebsten hätte ich mich jetzt auf eine Bank gesetzt und die Beine baumeln lassen.
Im großen Einkaufszentrum, auf dem in roten Buchstaben „Stadtgalerie“ stand, suchten wir als Erstes eine Drogerie. Thomas blieb die ganze Zeit hinter uns. Katja schob mit einer Hand einen kleinen Einkaufswagen und hielt mit der anderen meine Hand. Wir steuerten auf die Kleinkindabteilung zu und stoppten bei den Windeln. Sie sah sich die verschiedenen Pakete an und entschied sich für eine Packung Pampers in Größe 8.
Ich war etwas erstaunt. Aufgrund meiner Vergangenheit und meines Interesses an Windeln kannte ich mich ziemlich gut mit dem Markt aus. Kinderwindeln waren leider nie wirklich eine Option, denn selbst wenn man sich als Erwachsener in sie hineinquetschen kann, sind sie nicht für Erwachsene ausgelegt, sondern für Kinder. Aber eine Pampers in Größe 8 gab es 2017 noch nicht – damals wurde gerade erst die Größe 7 eingeführt. Ich war nun doch ein bisschen neugierig, ohne dass es mit Gefühlen von damals zusammenhing.
Als Nächstes nahm sie eine Packung DryNites in die Hand, schaute mich an, schüttelte dann leicht den Kopf und murmelte: „Später vielleicht.“ Sie stellte die Packung zurück. Weiter ging es zum Kleinkindzubehör, wo Katja eine Packung Schnuller einpackte. Anschließend holte sie noch Feuchttücher und Kindershampoo, bevor wir das Geschäft verließen.
Wir steuerten auf ein Spielwarengeschäft zu. Hier wurde ich von den Eindrücken fast erschlagen. Es gab so viel Lego, dass ich nicht wusste, wo ich zuerst hinschauen sollte. Katja hockte sich vor mich und sagte: „Du kannst dir etwas aussuchen, egal was. Vielleicht kannst du nachher ein wenig damit spielen, wenn wir wieder bei Frau Grünwald und Herrn Richter sind.“
Wir gingen zusammen durch die Regale, aber es war einfach zu viel. Irgendwann schaute ich Katja fragend an, da ich von der riesigen Auswahl überfordert war.
„Ist nichts dabei, was dir gefällt?“ fragte sie.
„Doch, es ist nur so viel. Ich kann mich nicht entscheiden.“
„Das glaube ich dir. Das ist auch nicht schlimm. Zeig mir einfach ein paar Dinge, die dir besonders gut gefallen, und wir schauen dann zusammen, was wir nehmen. Den Rest heben wir uns für eine andere Gelegenheit auf. Es ist ja auch nicht mehr so lange bis Weihnachten.“
Weihnachten. Natürlich wusste ich, was das für ein Fest ist – sowohl der kirchliche Ursprung als auch das, was es heute für die meisten Menschen bedeutet: Zeit mit der Familie, Gemütlichkeit, Freude. Aber als ich versuchte, ein Gefühl zu finden, das ich früher damit verbunden hatte, war da nichts – keine positiven, aber auch keine negativen Erinnerungen. Waren überhaupt Gefühle in meinen Erinnerungen an mein früheres Leben? Wenn ja, hatte ich sie noch nicht gefunden.
Mit Katjas Hilfe entschied ich mich schließlich für einen Schaufelradbagger von Lego City. Auf der Verpackung stand „8+“, also sollte er nicht so schwer sein wie der Bagger in Thomas‘ Behandlungszimmer.
Bevor wir das Einkaufszentrum verließen, kaufte Katja noch einen Rucksack und sagte: „Den könnte ich in Zukunft öfter gebrauchen.“
Herr Richter holte uns mit dem Bus von gestern Abend ab. Diesmal konnte ich erkennen, dass es sich um eine schwarze V-Klasse handelte. Extra für mich war ein Kindersitz eingebaut worden. Die Fahrt verbrachte ich wieder damit, aus dem Fenster zu schauen, während Herr Richter andeutete, dass er einige interessante Videoaufzeichnungen bekommen hatte, die wir uns im Polizeirevier ansehen würden.
Am Polizeirevier angekommen, öffnete Katja die Packung Windeln und packte einen Stapel sowie die Feuchttücher in den Rucksack. Jetzt wusste ich zumindest, was sie damit vorhatte. Sie dachte einfach an alles.
Wir stiegen aus und ich gingen, an Katjas Hand, nach oben in das Zimmer vom Vorabend. Es roch nach Desinfektionsmittel – man hatte wohl nach meinem gestrigen Unfall alles gründlich gereinigt.
Frau Grünwald sah mich mitfühlend an. „Hallo Benjamin, wie geht es dir heute?“
Ich schaute sie an und dachte an gestern Abend, was ich bis eben verdrängt hatte. „Geht so, es ist nicht mehr so schlimm,“ sagte ich, dann schaute ich zu Katja hoch, weil ich nicht weiter darüber sprechen wollte.
Katja übernahm das Wort für mich: „Ich denke, für den Moment kommt er ganz gut damit klar.“
Thomas fügte hinzu: „Wir werden uns in Zukunft noch ein paar Mal darüber unterhalten müssen, aber für den Moment sollten wir es dabei belassen. Es braucht Zeit. Und ich fürchte, das ist leider noch nicht das Ende von dem, was wir noch herausfinden werden.“
Katja legte das Paket mit dem Lego-Bagger auf den Tisch und hob mich hoch. „Ich bin immer bei dir, okay? Egal, was noch kommt – wir schaffen das.“
Frau Grünwald nickte bedächtig. „Ja, da werden Sie sicher recht behalten, Herr Huber.“ Sie deutete auf den Fernseher im Raum. „Herr Richter hat einige Aufzeichnungen von den Überwachungskameras gesichtet. Auch wenn es für Benjamin sicherlich nicht einfach wird, das jetzt anzusehen, fände ich es wichtig. Vielleicht erkennt er Personen auf den Videos wieder.“
Katja schaute fragend zu Frau Grünwald. „Aber wenn man auf den Videos den Fahrer sehen kann, der das Fahrzeug steuert, in das Benjamin eingestiegen ist, reicht das nicht zur Identifikation? Muss er sich das wirklich nochmal ansehen?“
Auch Thomas meldete sich zu Wort: „Ich muss Frau Hofmeister zustimmen, das sollte doch nicht wirklich nötig sein, oder?“
Frau Grünwald nickte. „Wenn es nur darum ginge, würde ich Ihnen zustimmen. Aber es gibt noch mehr zu sehen. Die Frage ist nur, ob wir ihm alles zeigen oder nur die Teile, die neue Informationen beinhalten.“ Dabei schaute sie zu mir.
Ich sah wieder zu Katja, die mich noch immer auf dem Arm hielt. „Ich möchte alles sehen,“ sagte ich. Vielleicht hilft es mir, mich an mehr aus meiner Vergangenheit zu erinnern.
„Was sagen Sie, Herr Huber?“ fragte Frau Grünwald.
„Wenn er sich das zutraut, sollten wir ihm die Entscheidung überlassen,“ antwortete Thomas.
„Willst du das wirklich, Benjamin?“ fragte mich Katja besorgt.
Ich nickte langsam. „Ja, ich will es sehen.“
Frau Grünwald wandte sich an alle: „Dann nehmen Sie bitte Platz. Herr Richter, starten Sie bitte die Wiedergabe.“
Die Uhr auf der ersten Aufzeichnung zeigte 0:11 Uhr. Das Video zeigte, wie ich aus einem Waggon stieg und mich unschlüssig umsah. Ich trug eine Jacke, die mir viel zu groß schien. Da es sich um eine Schwarz-Weiß-Aufnahme handelte, waren keine Farben zu erkennen. Mit einigen Pausen, in denen ich einfach nur stehen blieb, lief ich schließlich zielstrebig aus dem Kamerabereich.
Herr Richter kommentierte: „Dieser Zug kam aus Plattlingen, hatte eine Verspätung und sollte ursprünglich um 23:41 Uhr eintreffen. Die nächste Kamera, die ihn erfasste, war am Eingang. Der Rest der Kameras war zu dieser Zeit so ungünstig eingestellt, dass wir ihn auf den weiteren Aufzeichnungen nicht sehen konnten.“
Aufzeichnung 2, Haupteingang, 0:19 Uhr: Sie zeigte, wie ich ohne Unterbrechung zielstrebig auf ein Taxi zuging, einstieg und um 0:22 Uhr verließ das Taxi das Sichtfeld der Kamera.
Herr Richter kommentierte wieder: „Wir haben die Identität des Fahrers bereits geklärt. Wir konnten ihn eindeutig früher in der Aufzeichnung identifizieren, als er vor seinem Taxi stand und rauchte. Nach ihm wird derzeit gefahndet. Ob das etwas bringt, müssen wir noch sehen.“
Aufzeichnung 3, Haupteingang, 2:31 Uhr: Das Taxi fuhr erneut vor, und der Fahrer, den ich wiedererkannte, stieg aus. Er lief etwas merkwürdig, was jedoch verständlich war. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Um 2:42 Uhr raste eine sportliche Limousine am Taxi vorbei und hielt davor. Zwei Personen stiegen aus, beide groß gewachsen. Sie liefen zielstrebig auf das Taxi zu. Einer sprach mit dem Fahrer, der andere sah sich das Taxi an, sogar darunter. Der Taxifahrer gestikuliert mit dem Mann. Schließlich stiegen beide in das Taxi, das dann wegfuhr. Der andere stieg zurück in die Limousine und folgte ihnen.
Fortsetzung Folgt….
Vielen Dank für eure zahlreichen Kommentare.
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Großartige Geschichte bitte unbedingt weiter machen, das ist eine der besten Geschichten seit langem.
Schreib bitte weiter so ich bin schon auf der nächsten Folgen gespannt
Ja die Geschichte ist Mega Interessant, bitte nicht solange warten bis zu den nächsten Teilen 5 Sterne von mir.
Sehr spannend geschrieben. Gratuliere!
Eine der besten Geschichten, die ich bisher gelesen habe! Kanns kaum erwarten mehr zu lesen!
Ich konnte die anderen Teile nicht kommentieren, da ich so in den Text beim lesen vertieft war. Wirklich schöne Geschichten! Wer har nicht schön davon geträumt nochmal Kind sein zu können mit dem Wissen eines Erwachsenen. Bin gespannt wann alles aufgeklärt wird und was Benjamin noch erleben wird.
Ich bin echt kein Bücherleser. Aber, diese Geschichte, kannst du wirklich als Buch veröffentlichen. Mega gute Story und ich bin wirklich gespannt auf die Fortsetzung.
Höchst interessant! Ich glaube, Das ist eine der originellsten Storys die ich hier gelesen habe – keine Ahnung warum nicht öfter Kriminalromane oder SciFis mit Windelgeschehen am Rande geschrieben werden, sondern alles immer nur Alltagserzählungen sind….
Jedenfalls sehr gut, weiter so! Mir liegt allgemein nichts an Kindern als Hauptpersonen, weswegen ich die meisten Geschichten der Art links liegen lasse, aber du schafft es das mit diesem originellen Konzept wettzumachen!
Eigentlich mag ich Geschichten müt Junx nich so. Aber eigentlich ist eigentlich, ein eigentlich doofes Wort, eigentlich….
Echt spannend und nicht 0-8-15. Das ist keine typische Windelgeschichte, sondern ein Krimi in dem Windeln vor kommen.
Wow, echt cool. Danke fürs schreiben und teilen und die Zeit. Hoffe natürlich auf neue Kapitel.
Danke Julius
*knicks* Tina