Florians Schatten (2)
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Und weiter geht’s…
Als ich an diesem Morgen das Klassenzimmer der 2b betrat, fiel mein Blick sofort auf Florian. Er saß wie immer in der ersten Reihe, neben seinem Klassenkameraden Paul, den Kopf gesenkt und mit einem Ausdruck von Unsicherheit, der mich mittlerweile fast täglich beschäftigte. Florian wirkte schmal und verloren in seiner viel zu großen Kleidung, die oft abgetragen und verwaschen aussah. Es schien, als würde er nicht nur in seiner Kleidung verschwinden, sondern auch in der Klasse – kleiner und unscheinbarer als die anderen, selbst die meisten Erstklässler überragten ihn um mindestens einen Kopf.
Florian machte insgesamt einen verwahrlosten und unterernährten Eindruck. Seine Haut war blass und seine Arme und Beine wirkten erschreckend dünn. Sein Blick war müde, und seine Haltung verriet eine tief sitzende Angst, jemandem zur Last zu fallen. Hinzu kam, dass er nie etwas zum Essen dabei hatte. Für das Schulessen hatte seine Familie ihn nicht angemeldet, aber nach Rücksprache mit dem Rektorat hatten wir eine Lösung gefunden: Die Schule und ich übernahmen die Kosten, sodass Florian zumindest eine warme Mahlzeit am Tag erhielt. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, finanzielle Unterstützung vom Land zu beantragen, aber dafür hätten seine Eltern tätig werden müssen – ein Schritt, der von ihnen nie kam.
Mehrfach hatte ich versucht, Florians Eltern zu erreichen, da ich mir ernsthafte Sorgen um das Wohl des Jungen machte. Doch meine Bemühungen stießen auf taube Ohren. Nur zweimal war mir eine kurze Begegnung mit seiner Mutter auf Elternabenden gelungen, und jedes Mal blockte sie meine Gesprächsangebote mit einem knappen „Keine Zeit“ ab. Die wenigen Worte und die Kälte in ihrer Stimme hinterließen in mir das beklemmende Gefühl, dass Florian zu Hause nicht die Fürsorge erhielt, die ein Kind in seinem Alter dringend benötigt.
Auch in den letzten Tagen war mir Florians Zustand immer wieder aufgefallen. Am Montag nach den Weihnachtsferien hatte ich ihn in der Klasse gefragt, was er in den Ferien unternommen hatte. Sofort bereute ich meine Frage, weil ich spürte, dass ich ihn damit möglicherweise bloßstellte. Ich hoffte, dass er vielleicht nur zu schüchtern war, etwas zu erzählen, aber sein leises „Nichts Besonderes“ durchbohrte mich regelrecht. Es tat mir in der Seele weh zu hören, dass er nicht einmal ein schönes Weihnachtsfest gehabt hatte, keine Geschichten von leuchtenden Kerzen oder liebevoll gepackten Geschenken.
Gestern im Sportunterricht saß er dann einfach still auf der Bank, völlig in sich gekehrt und ohne jedes Anzeichen von Energie. Er hatte weder eine Sport befreiung noch eine Notiz von seinen Eltern, die seine Teilnahme hätte entschuldigen können. Doch als ich ihm in die Augen sah, wusste ich, dass er einfach nicht in der Lage war, mitzumachen, selbst wenn er es gewollt hätte. Seine kleine Gestalt wirkte zerbrechlich, und es war offensichtlich, dass ihm jede Kraft fehlte.
Als er im letzten Jahr in die erste Klasse kam, war er zwar auch schon etwas blass und seine Kleidung oft nicht neu, aber es fiel nicht so sehr ins Gewicht. Es gibt viele Familien, die es finanziell schwer haben, und solange alles sauber ist und das Kind umsorgt wirkt, ist das kein Grund zur Sorge. Doch mit der Zeit wurde es bei Florian anders. Was ich jetzt sah, war nicht nur ein Kind aus bescheidenen Verhältnissen, sondern ein Junge, der mit jedem Monat mehr wie ein Schatten seiner selbst wirkte. Ein langsamer, stiller Prozess, in dem er immer dünner, blasser und stiller wurde, als hätte sich eine unsichtbare Last auf seine Schultern gelegt.
Und dann die heutigen Ereignisse. Als ich heute erneut blaue Flecken an Florian entdeckte, konnte ich es einfach nicht mehr ignorieren. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit in seinen Augen sprachen Bände – er war in Not und schien nicht zu wissen, wie er sich selbst helfen könnte. Dieser stille, tapfere Junge trug eine Last, die kein Kind tragen sollte. Wenn ich jetzt nicht handelte, hatte ich Angst, dass ihm etwas noch Schlimmeres widerfahren könnte. Es wurde mir klar, dass ich nicht länger zögern durfte; ich musste für ihn eintreten und alles tun, um ihn zu schützen.
Nachdem Paul zu uns in das Büro gekommen war und klar wurde, dass Florian nicht sprechen wollte, sagte ich zu Herrn Müller als wir vor dem Zimmer standen: „Ich denke, wir sollten das Jugendamt informieren. Es ist nicht das erste Mal, dass mir solche Dinge bei Florian auffallen.“
Herr Müller nickte ernst. „Da stimme ich dir zu. Ich werde sofort Kontakt aufnehmen.“
Während Herr Müller telefonierte, blieb ich bei Florian. „Du bist nicht allein“, sagte ich sanft zu ihm. „Wir sind hier, um dir zu helfen.“
Einige Zeit später traf Frau Peters vom Jugendamt ein. Als sie an die Tür klopfte, ging ich kurz raus auf den Flur, um sie zu begrüßten. „Danke, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte ich.
„Selbstverständlich“, antwortete sie. „Erzählen Sie mir bitte genauer, was vorgefallen ist.“
„Florian zeigt deutliche Anzeichen von Vernachlässigung und möglicherweise Misshandlung“, erklärte ich. „Er hat blaue Flecken an den Armen und reagiert sehr ängstlich. Außerdem habe ich schon mehrfach versucht, seine Eltern zu kontaktieren, aber sie sind kaum erreichbar und blocken Gesprächs versuche ab.“
Frau Peters nickte. „Danke für die Informationen. Ich werde jetzt mit Florian sprechen.“
„Er ist sehr verschlossen“, warnte ich sie. „Aber vielleicht können Sie sein Vertrauen gewinnen.“
Nachdem ich mit Frau Peters das Büro von Herrn Müller betreten hatte und wir ihr alle relevanten Informationen zu Florians Situation gegeben hatten, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Florian saß still auf dem Stuhl, seine Augen waren auf den Boden gerichtet. Paul stand neben ihm, offensichtlich besorgt um seinen Freund.
Frau Peters lächelte freundlich und sah dann kurz zu mir und dann zu Paul.
Ich wandte mich an Paul. „Paul, vielleicht möchtest du jetzt zurück in die Klasse gehen, damit Florian und Frau Peters in Ruhe sprechen können.“
Paul schaute zwischen mir und Florian hin und her. „Aber… kann ich nicht bei ihm bleiben?“ fragte er leise.
Ich legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Frau Peters möchte allein mit Florian sprechen. Ich begleite dich zurück ins Klassenzimmer, okay?“
Widerwillig stimmte er zu. „Na gut.“
Als wir das Büro verließen, spürte ich, wie sehr die Situation Paul mitnahm. Er ging still neben mir her, den Blick nach unten gerichtet. Im Flur hielt ich kurz an und kniete mich zu ihm herunter. „Paul, ich weiß, dass du dir Sorgen machst“, sagte ich sanft. „Florian ist in guten Händen, und wir tun alles, um ihm zu helfen.“
Er sah mich mit traurigen Augen an. „Wird er wiederkommen?“
„Ja, natürlich“, versicherte ich ihm. „Und ich bin sicher, er wird froh sein, dich zu sehen.“
Er nickte langsam. „Okay.“
Gemeinsam betraten wir das Klassenzimmer. Als wir eintraten, verstummten die Gespräche der anderen Kinder. Alle Augen waren auf uns gerichtet, eine gespannte Stille erfüllte den Raum. Ich begleitete Paul zu seinem Platz und wartete, bis er sich gesetzt hatte.
Ich trat vor die Klasse und lächelte aufmunternd. „Ich habe für euch einige Übungsaufgaben vorbereitet“, sagte ich. „Bitte arbeitet sie in Ruhe durch. Wenn ihr Fragen habt oder etwas nicht versteht, könnt ihr euch jederzeit melden.“
Die Schüler holten leise ihre Materialien hervor und begannen zu arbeiten. Es war ungewöhnlich still im Raum. Selbst die sonst so lebhaften Kinder verhielten sich ruhig und konzentriert. Keine tuschelnden Gespräche, keine spitzen Bemerkungen—nur das leise Rascheln von Papier und das Kratzen der Stifte waren zu hören.
Während ich durch die Reihen ging, bemerkte ich, wie ernsthaft alle bei der Sache waren. Es schien, als hätten sie gespürt, dass etwas Besonderes vor sich ging, und aus Respekt vor Florian und der Situation entschieden, sich angemessen zu verhalten. Ein Gefühl des Stolzes durchströmte mich. Meine Klasse zeigte eine Reife und Empathie, die mich tief beeindruckte.
An Pauls Platz angekommen, sah ich, dass er gedankenverloren auf sein Heft starrte. „Alles in Ordnung, Paul?“ fragte ich leise.
Er blickte auf und zuckte mit den Schultern. „Ich mache mir nur Sorgen um Florian“, gab er zu.
Ich lächelte verständnisvoll. „Das kann ich gut verstehen. Aber ich bin sicher, dass es ihm bald besser gehen wird. Du kannst ihm eine große Unterstützung sein, indem du einfach für ihn da bist.“
Er nickte. „Ja, das werde ich.“
„Ich möchte ihm seine Sachen bringen, möchtest du mich vielleicht nochmal kurz zu ihm begleiten?“
Paul griff nochmal kurz an seinen Schulranzen und entfernte einen kleinen Anhänger. Dan nickte er und lief mit mir zum Büro von Herrn Müller.
Später, Zurück an meinem Pult, beobachtete ich die Klasse. Die Kinder arbeiteten konzentriert, einige hatten die Stirn in Falten gelegt, während sie über den Aufgaben brüteten. Ab und zu hob jemand die Hand, und ich ging hinüber, um Fragen zu beantworten. Doch niemand erwähnte Florian oder stellte neugierige Fragen. Es war, als hätten sie stillschweigend beschlossen, das Thema zu respektieren.
Die Zeit verging, und bald läutete es zur Pause. „Ihr könnt jetzt eure Sachen wegräumen“, kündigte ich an. „Denkt daran, dass wir nach der Pause mit dem Sachunterricht weitermachen.“
Die Kinder standen auf und begannen leise zu plaudern, während sie ihre Hefte und Stifte einpackten. Einige warfen mir fragende Blicke zu, doch keiner sprach das Offensichtliche an.
Im Klassenzimmer herrschte eine ungewohnte Stille, als der Sachkundeunterricht begann. Die Kinder arbeiteten ruhig an ihren Aufgaben, nur Paul schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Ich konnte ihm das nicht verdenken; die Ereignisse des Tages hatten auch mich bewegt. Doch die Klasse blieb den restlichen Vormittag über ruhig und konzentriert, und ich spürte eine gewisse Erleichterung, als der Schultag sich dem Ende neigte. Schließlich verabschiedete ich die Kinder, froh, sie für heute nach Hause entlassen zu können.
Nachdem die Schüler den Raum verlassen hatten, blieb ich einen Moment allein zurück. Ich ließ den Blick über die leeren Tische schweifen und dachte über den Tag nach. Die Reaktion der Kinder erfüllte mich mit Zuversicht. Sie hatten gezeigt, dass sie in der Lage waren, Mitgefühl und Verständnis zu zeigen, selbst in schwierigen Situationen.
Auf dem Heimweg dachte ich erneut über die Ereignisse des Tages nach. Es war ein langer und emotionaler Tag gewesen, aber ich war dankbar, dass wir Florian helfen konnten. Und ich war stolz auf meine Schüler, die gezeigt hatten, dass sie Verständnis und Rücksicht nehmen konnten.
Mit dem Wissen, dass wir das Richtige getan hatten, machte ich mich bereit für den nächsten Tag, in der Hoffnung, dass die Zukunft für Florian heller aussehen würde.
Als Frau Peters das Büro betrat, wusste ich, dass es jetzt ernst wurde. Mein Herz klopfte heftig, und als Frau Siegel zusammen mit Paul den Raum verließ, fühlte ich mich noch unsicherer und allein. Frau Peters setzte sich mir gegenüber an den kleinen Tisch und lächelte freundlich.
„Hallo Florian, ich bin Frau Peters“, stellte sie sich vor. „Du kannst mich aber auch gerne Elke nennen, wenn du magst.“ Ich hielt den Blick gesenkt und sah sie nicht an.
Sie fuhr mit sanfter Stimme fort: „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für dich gerade schwer ist zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Und dass du bestimmt ziemlich Angst davor hast, wie es jetzt weitergeht.“ Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten.
„Mir ist wichtig, dass du weißt, dass ich und auch deine Lehrerin dir helfen wollen“, sagte sie einfühlsam. „Aber die Entscheidung, was wir jetzt machen und was du uns erzählst, liegt ganz bei dir.“ Sie machte eine kurze Pause. „Möchtest du mir erzählen, was zu Hause passiert ist?“
Ich schüttelte ganz leicht den Kopf, ohne sie anzusehen. Eine Träne rollte über meine Wange.
„Okay, das kann ich gut verstehen“, sagte sie verständnisvoll. „Darf ich mir deine Arme einmal ansehen?“ Wieder reagierte ich nicht.
Sie wartete einen Moment und fügte hinzu: „Ich würde gerne deine Ärmel etwas nach oben schieben, um mir anzuschauen, was Frau Siegel berichtet hat. Wenn du das nicht möchtest, kannst du gerne ‚Nein‘ sagen.“
Ich zuckte kaum merklich mit den Schultern, unfähig, eine klare Antwort zu geben. Sie nahm mein Zögern als Zustimmung und schob vorsichtig meine Ärmel nach oben. Ich hörte, wie sie scharf die Luft einsog, als sie die blauen Flecken auf meinen Armen sah.
„Kannst du mir sagen, wie das passiert ist?“ fragte sie behutsam. Ich schüttelte erneut den Kopf, die Tränen flossen nun unaufhaltsam.
„Okay“, sagte sie leise. „Ich stelle jetzt ein paar Vermutungen in den Raum, und du brauchst nur mit dem Kopf nicken oder ihn schütteln, wenn ich richtig oder falsch liege. Ist das in Ordnung?“ Ich reagierte nicht, mein Blick blieb auf den Boden gerichtet.
„Hast du dich mit größeren Jungs in der Schule oder in der Nachbarschaft gestritten?“ fragte sie sanft. Ich schüttelte leicht den Kopf.
„War es ein Geschwisterkind?“ Auch hier schüttelte ich den Kopf.
„Hast du dir die Verletzungen selbst zugefügt?“ Ich zögerte einen Moment. Irgendwie fühlte ich mich ja schuldig, vielleicht hatte ich es verdient. Ich zuckte mit den Schultern.
„Florian, wie hast du das gemacht?“ fragte sie vorsichtig. Ich hob die Schultern, ohne eine Antwort zu geben, mein Kopf blieb gesenkt.
„Waren es vielleicht deine Eltern?“ fragte sie behutsam. Ich reagierte nicht, doch ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Die Tränen liefen nun unkontrolliert.
Sie rückte ein wenig näher. „Florian, egal was zu Hause passiert ist, wirklich egal was“, sagte sie mit fester, aber sanfter Stimme. „Du sollst wissen, dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, was man dir angetan hat, egal was deine Eltern dir einreden. Du bist nicht schuld. Es ist mir wichtig, dass du das weißt.“
Ich spürte eine Wärme in ihren Worten, etwas, das ich lange nicht mehr gefühlt hatte. Die Last auf meinen Schultern schien für einen Moment leichter zu werden, doch die Angst blieb.
„Du bist nicht allein“, fügte sie hinzu. „Wir sind hier, um dir zu helfen und dich zu schützen.“
Ein leises Flüstern entkam meinen Lippen: „Ich hab Angst.“
„Das verstehe ich vollkommen“, antwortete sie sanft. „Aber ich verspreche dir, wir werden alles tun, damit es dir besser geht. Darf ich dir helfen?“
Ich nickte zögernd, unsicher, was das bedeuten würde, aber irgendwo tief in mir hoffte ich auf eine Veränderung.
„Vielen Dank für dein Vertrauen“, sagte sie lächelnd. „Möchtest du vielleicht etwas trinken oder eine kleine Pause machen?“
„Ein Glas Wasser wäre gut“, flüsterte ich.
„Sehr gerne“, erwiderte sie und stand auf. „Ich hole uns etwas.“
Als sie den Raum verließ, atmete ich tief durch. Die Stille umhüllte mich, doch zum ersten Mal fühlte sie sich nicht erdrückend an. Vielleicht, dachte ich, gibt es doch jemanden, der mir helfen kann.
Kurze Zeit später kehrte Frau Peters mit zwei Gläsern Wasser zurück. Sie reichte mir eines und setzte sich wieder zu mir. „Hier, bitte schön.“
„Danke“, sagte ich leise und nahm einen kleinen Schluck.
„Florian“, begann sie erneut, „es ist wirklich mutig von dir, dass du hier bist und mit mir sprichst. Das zeigt, wie stark du bist.“
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also schwieg ich.
„Ich möchte dir gerne vorschlagen, dass wir gemeinsam einen Weg finden, wie es für dich besser werden kann“, fuhr sie fort. „Es gibt Familien, die Kinder wie dich aufnehmen und ihnen ein liebevolles Zuhause geben. Wie würde dir das gefallen?“
Die Vorstellung war fremd und machte mir Angst, aber mir war auch klar das es so nicht weiter gehen kann. „Ich weiß nicht“, gestand ich.
„Das ist völlig in Ordnung“, sagte sie. „Wir müssen nichts überstürzen. Wichtig ist, dass du dich sicher und wohl fühlst.“
Ich nickte langsam. „Werde ich dann noch zur Schule gehen können? Paul ist mein Freund.“
„Natürlich“, bestätigte sie lächelnd. „Wir werden dafür sorgen, dass du weiterhin zur Schule gehen kannst und deine Freunde sehen kannst.“
Eine Weile saßen wir schweigend da. Irgendwie fühlte ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit ein wenig erleichtert.
„Florian, gibt es noch etwas, das du mir sagen möchtest?“ fragte sie schließlich.
Ich überlegte kurz und flüsterte dann: „wie können sie wissen das ich wirklich nicht schuld bin?“
Sie schaute mich fest an. „Nein, du bist nicht schuld. Kein Kind verdient es, so behandelt zu werden. Egal was es falsch macht, und ich denke das du nichts falsch gemacht hast.“
Eine Träne rollte über meine Wange, aber diesmal war es eine Mischung aus Traurigkeit und Erleichterung.
Langsam hob ich meinen Blick und sah ihr zum ersten Mal in die Augen. In ihrem Blick lag keine Wut, keine Enttäuschung, sondern nur Mitgefühl und Verständnis. Mit leiser und gebrochener Stimme fragte ich: „Wie geht es jetzt weiter?“
Frau Peters lächelte sanft. „Ich muss jetzt kurz telefonieren“, erklärte sie. „Wir brauchen vom Familiengericht ein Dokument, das uns erlaubt, dir zu helfen. Aber keine Sorge, das geht ganz schnell.“
Ich nickte langsam und versuchte, die Informationen zu verarbeiten. Während sie den Raum verließ, fühlte ich mich erneut allein, doch ihre Worte gaben mir einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Nach einigen Minuten kehrte sie zurück. „Alles erledigt“, sagte sie mit einem beruhigenden Lächeln. „Für heute Abend wirst du zu einer Bereitschafts pflegefamilie kommen. Sie sind darauf spezialisiert, Kindern in solchen Situationen ein sicheres Zuhause zu bieten und haben viel Erfahrung. Sie werden sich gut um dich kümmern.“
Ich schaute sie unsicher an. „Und was ist mit danach?“ fragte ich zögernd.
„Wir suchen so schnell wie möglich nach einer Familie, die dich dauerhaft aufnehmen kann“, erklärte sie. „Morgen werde ich mit einer netten Familie sprechen, die ein Kind aufnehmen möchte. Aber es ist wichtig, dass wir alles in Ruhe angehen, damit du dich wohl fühlst.“
Ich senkte den Blick. „Muss ich dann die Schule wechseln?“
„Nein, das ist nicht geplant“, antwortete sie freundlich. „Du kannst weiterhin zur gleichen Schule gehen.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Frau Siegel trat ein. Sie reichte mir meine Schultasche. „Hier sind deine Sachen, Florian“, sagte sie sanft. Dann wandte sie sich an Frau Peters: „Paul würde sich gern von Florian verabschieden. Wäre das in Ordnung?“
„Natürlich“, antwortete Frau Peters.
Kurz darauf kam Paul herein. Er wirkte besorgt und unsicher. „Hey“, sagte er leise. „Alles okay?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich muss heute Nacht woanders schlafen.“
„Wo denn?“, fragte er.
„Bei einer anderen Familie“, erklärte ich. „Aber Frau Peters sagt, dass ich weiterhin zur Schule kommen kann.“
Er nickte langsam. „Das ist gut. Dann sehen wir uns morgen?“
„Ich glaube schon“, antwortete ich hoffnungsvoll.
Frau Peters unterbrach uns kurz mit einfühlsamer Stimme: „Florian ich denke nicht das du schon morgen wieder normal zur Schule gehst, aber nach etwas Eingewöhnungszeit, wirst du wieder hier her kommen okay?“
Ich Nickte und auch Paul schien es zu verstehen.
Paul zog etwas aus seiner Tasche. „Hier, das wollte ich dir geben“, sagte er und reichte mir einen kleinen Schlüsselanhänger mit einem Fußball darauf. „Damit du weißt, dass wir Freunde sind.“
Ich nahm das Geschenk entgegen und spürte, wie meine Augen feucht wurden. „Danke, Paul. Das bedeutet mir viel.“
Er lächelte schwach. „Pass auf dich auf, ja?“
„Du auch“, sagte ich leise.
Frau Peters legte eine Hand auf meine Schulter. „Florian, bist du bereit zu gehen?“
Ich atmete tief durch und nickte. „Ja.“
Als wir auf dem Flur waren, merkte ich plötzlich, dass ich nochmal dringend auf die Toilette musste. Das Wasser, das ich getrunken hatte, drängte schon wieder. Ich drehte mich kurz zu Frau Peters um und fragte, ob ich schnell ins WC gehen dürfe. Sie nickte und blieb draußen stehen, um auf mich zu warten.
Drinnen auf der Toilette stellte ich fest, dass meine Unterhose schon einen kleinen feuchten Fleck hatte. Das passierte mir oft, weil ich fast immer sofort muss, nachdem ich etwas getrunken habe. Wenn ich dann nicht schnell genug zur Toilette komme, geht es nicht anders – dann kommen immer kleine Spritzer in die Unterhose. Ich habe mich daran gewöhnt, das passiert einfach. Und wenn ich dann immer noch keine Gelegenheit habe, aufs Klo zu gehen, wird es schlimmer und es geht alles in die Hose. Zum Glück ist das schon eine Weile nicht mehr passiert, abgesehen von gestern Abend, aber da war es wohl einfach zu spät.
Normalerweise achte ich sehr darauf, nicht zu viel zu trinken, damit ich nicht so oft muss. Ich will um jeden Preis vermeiden, was passieren könnte, wenn ich zu Hause mit nasser Hose auftauche. Das Donnerwetter, das ich dann zu hören bekäme, würde ich lieber nicht riskieren.
Als wir beim Jugendamt ankamen, stieg ich aus dem Auto und blickte auf das große Gebäude vor mir. Es war ein mehrstöckiges Haus mit grauer Fassade und vielen Fenstern. Menschen gingen ein und aus, einige wirkten eilig, andere warteten vor dem Eingang. Die schweren Glastüren öffneten sich automatisch, als wir näher kamen.
Frau Peters lächelte mir aufmunternd zu. „Komm mit, Florian. Es ist nicht mehr weit.“
Im Inneren empfing uns ein heller Empfangsbereich mit glänzendem Boden und einer hohen Decke. Die Wände waren in warmen Farben gestrichen, doch trotzdem fühlte ich mich etwas verloren in der Weite des Raumes. Stimmen hallten leicht wider, Telefone klingelten, und hinter einem langen Tresen arbeiteten mehrere Personen an Computern.
Wir gingen an der Rezeption vorbei zu einem Aufzug am Ende der Halle. Während wir warteten, beobachtete ich die Menschen um uns herum. Einige schienen müde, andere besorgt. Der Aufzug kam mit einem leisen Ping an, und wir traten ein. Frau Peters drückte den Knopf für den vierten Stock.
Die Fahrt nach oben war kurz. Als sich die Türen öffneten, betraten wir einen langen Flur mit weichem Teppichboden. Die Wände waren mit Bildern von lächelnden Kindern und bunten Zeichnungen geschmückt. Trotzdem konnte ich ein flaues Gefühl in meinem Magen nicht unterdrücken.
Wir gingen den Flur entlang, vorbei an Türen mit kleinen Namensschildern. Die Atmosphäre war gedämpft, nur das leise Summen der Beleuchtung war zu hören. Schließlich blieb Frau Peters vor einer Tür mit der Aufschrift „Untersuchungsraum“ stehen.
„Hier sind wir“, sagte sie sanft und öffnete die Tür für mich.
Der Raum dahinter erinnerte mich an ein Behandlungszimmer beim Arzt. An der rechten Wand stand eine Liege mit frischem Papier überzogen. Daneben befand sich ein Wickeltisch, auf dem bunte Tieraufkleber klebten. Ein Waschbecken mit einem Spiegel hing an der gegenüberliegenden Wand, daneben ein Spender für Seife und Papierhandtücher.
In der Ecke stand ein großer Schreibtisch mit einem Computer und mehreren Monitoren. Auf dem Schreibtisch lagen Stapel von Akten und Notizen. Entlang der Wände reihten sich hohe Schränke mit undurchsichtigen Türen, vermutlich gefüllt mit medizinischen Utensilien oder Dokumenten.
„Setz dich doch bitte einen Moment“, sagte Frau Peters und wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch. Ich ließ meinen Blick weiterhin durch den Raum schweifen. Alles wirkte sauber und ordentlich, aber auch etwas kühl und steril.
Auf dem Schreibtisch bemerkte ich ein kleines Spielzeugauto, das irgendwie fehl am Platz wirkte. Es schien, als hätte jemand es dort hingelegt, um den Raum freundlicher zu gestalten. Trotzdem fühlte ich mich unwohl und nervös.
Frau Peters setzte sich neben mich. „Der Arzt wird gleich da sein“, versicherte sie mir. „Er ist sehr nett und wird sich gut um dich kümmern.“
Ich nickte stumm, meine Hände spielten nervös mit dem Saum meines Pullovers. Das leise Summen des Computers und das Ticken einer Uhr waren die einzigen Geräusche im Raum.
Nach ein paar Minuten klopfte es an der Tür, und ein freundlicher älterer Herr mit grauem Haar trat ein. „Hallo, du musst Florian sein“, sagte er mit einem warmen Lächeln. „Ich bin Dr. Meier.“
„Hallo“, murmelte ich leise.
„Schön, dich kennenzulernen“, fuhr er fort. „Ich werde nur ein paar Untersuchungen machen, das geht ganz schnell und tut nicht weh.“
Frau Peters stand auf. „Ich warte draußen auf dich, Florian. Wenn du irgendetwas brauchst, bin ich gleich hier vor der Tür.“
Ich schaute sie kurz an und nickte. Dr. Meier begann, ein paar Unterlagen auf dem Schreibtisch zu ordnen. „Setz dich doch bitte auf die Liege, und ziehe bitte dein oberteil aus damit wir beginnen können“, sagte er freundlich.
Ich nickte leise und setzte mich auf die Liege. Dr. Meier begann, Fotos von meinen blauen Flecken zu machen und dokumentierte auch die Striemen auf meinem Hintern und Rücken. Er bat mich, mich auf eine Waage zu stellen, und begann, meine Größe und mein Gewicht zu vermessen. „116 cm und 16 kg“, murmelte er und trug die Werte in eine Tabelle ein. „Florian, du bist untergewicht. Deine Größe ist nicht optimal, aber noch im Rahmen.“
Er schaute mir mit einem Holzstäbchen in den Mund und fragte: „Wann war das letzte Mal, dass du beim Zahnarzt warst?“ Ich konnte ihm nicht sagen, da ich mich nicht daran erinnern konnte, überhaupt einmal dort gewesen zu sein.
„Wie läuft es mit dem Essen zu Hause?“, fragte er weiter. Ich sagte nichts, fühlte mich unwohl und wusste nicht, wie ich antworten sollte.
Dr. Meier notierte alles sorgfältig in den Computer und stellte weitere Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Die Untersuchung war gründlich und fühlte sich gleichzeitig beängstigend und notwendig an.
Nachdem die Untersuchung abgeschlossen war, lächelte er mich erneut an. „Du warst sehr tapfer, Florian. Hast du noch Fragen an mich?“
Ich schüttelte den Kopf und stand langsam von der Liege auf. Frau Peters war bereits draußen und wartete auf mich.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.
„Ja“, antwortete ich leise, obwohl ich mich innerlich noch immer unsicher fühlte.
„Dann lass uns weiterfahren“, sagte sie und führte mich zum Auto. „Wir werden jetzt zu der Bereitschafts Pflegefamilie fahren. Sie sind sehr erfahren und kümmern sich liebevoll um Kinder in deiner Situation.“
Als wir das Jugendamt verließen, setzte ich mich mit Frau Peters wieder ins Auto. Die Ledersitze waren kühl, und ich spürte, wie mir vor Aufregung und Unsicherheit die Hände zitterten. Während sie sich anschnallte, warf Frau Peters mir einen aufmunternden Blick zu. „Alles in Ordnung, Florian?“ fragte sie sanft.
Ich nickte, obwohl sich in mir alles zusammenzog. Die Fahrt begann, und ich schaute aus dem Fenster, wo die kleinen Straßen und Gebäude an uns vorbei zogen. Die Vertrautheit der Stadt, auch wenn sie mit unangenehmen Erinnerungen behaftet war, verblasste langsam hinter uns. Je weiter wir fuhren, desto mehr fühlte es sich an, als würde ich mein altes Leben endgültig zurücklassen.
Wir verließen die Stadt und fuhren durch einige kleine Dörfer. Rechts und links sah ich Felder, einige Bauernhöfe und Häuser, die immer weiter auseinander lagen. Die Straßen wurden schmaler, und die Lichter der Stadt verblassten allmählich. Ich beobachtete die Landschaft, wie sie sich vor mir ausbreitete – ein Wechsel aus Wiesen, vereinzelt stehenden Bäumen und schmalen Straßen, die sich durch die Dörfer schlängelten.
Frau Peters warf hin und wieder einen kurzen Blick zu mir, ließ mich aber in meiner Stille und Unsicherheit. Sie schien zu verstehen, dass ich Zeit brauchte, um all das zu verarbeiten.
Nach einer Weile erreichten wir eine Neubausiedlung. Die Häuser hier waren alle groß, modern und wirkten fast wie aus dem Katalog. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass hier Menschen lebten, die bereit waren, ein fremdes Kind wie mich aufzunehmen. Als Frau Peters das Auto parkte und mir die Tür öffnete, stieg ich zögerlich aus. Das Haus vor uns war ein großes Einfamilienhaus mit hellgrauer Fassade und großen Fenstern.
„Komm, Florian“, sagte Frau Peters sanft und nahm meine Hand. Ihre warme Hand gab mir etwas Halt, während wir zur Haustür gingen. Die Kälte in meinen Fingern ließ ein wenig nach, aber die Unsicherheit blieb.
Als wir an der großen, weißen Tür klingelten, hörte ich nach einem Moment Schritte von innen. Die Tür öffnete sich, und eine Frau mit leicht ergrautem Haar und freundlichen Augen stand vor uns. Sie trug ein weiches, warmes Lächeln auf den Lippen.
„Hallo, Frau Peters, wir haben alles vorbereitet“, sagte sie mit einer sanften Stimme, die beruhigend auf mich wirkte. Sie musterte mich kurz und schenkte mir ein warmes Lächeln. „Und du musst Florian sein“, sagte sie freundlich. „Ich bin Diana. Du kannst mich ruhig beim Vornamen nennen.“
„Hallo“, murmelte ich leise und schaute schüchtern zu ihr auf. Ihr Lächeln schien ehrlich und voller Verständnis, und ich spürte, dass sie sich Mühe gab, mich willkommen zu heißen.
Diana wandte sich kurz an Frau Peters und schmunzelte. „Ich glaube, die Sachen, die ich für ihn raus gesucht habe, sind mindestens drei Nummern zu groß. Da muss ich bestimmt noch einmal umdisponieren“, sagte sie mit einem Augenzwinkern.
„Kein Problem“, erwiderte Frau Peters lächelnd. „Ich bin sicher, du wirst etwas Passendes finden.“
Diana nickte und wandte sich wieder an mich. „Komm doch erst einmal herein, Florian. Hier drin ist es warm, und wir können dir gleich alles zeigen.“
Ich folgte ihr ins Haus, wobei ich mich noch immer an Frau Peters festhielt. Drinnen war es angenehm warm und roch nach frisch gebackenen Brot und etwas Süßem, vielleicht Kuchen. Das Haus war gemütlich eingerichtet, mit hellen Möbeln und weichen Teppichen. Überall hingen Bilder von glücklichen Menschen – eine Familie beim Lachen und Umarmen, Fotos von Kindern, die auf Spielplätzen tobten.
„Das hier ist dein Zimmer für die nächsten Tage“, sagte Diana und führte uns den Flur entlang in ein gemütliches Zimmer. Es war liebevoll eingerichtet, mit einem großen Bett, einem Schrank und einem kleinen Tisch. Ein paar Spielzeuge lagen auf einem Regal, und auf der Fensterbank stand ein kleiner Kaktus in einem bunten Topf. Alles wirkte so einladend und warm.
„Ich hoffe, es gefällt dir“, sagte Diana lächelnd. „Und wenn du etwas anderes brauchst, sag einfach Bescheid.“
„Danke“, flüsterte ich leise und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
„Du kannst dich hier ganz in Ruhe einleben“, sagte Frau Peters sanft. „Diana und ihre Familie werden gut auf dich aufpassen.“
Diana nickte. „Wir freuen uns, dass du hier bist, Florian. Es ist dein Zuhause, so lange, wie du es brauchst.“
Während ich die beiden ansah, begann ich zu verstehen, dass ich hier für einen Moment sicher sein würde. Die Wärme des Hauses und die Freundlichkeit der Menschen um mich herum gaben mir einen winzigen Funken Hoffnung. Vielleicht würde ich hier ein wenig zur Ruhe kommen können, fernab von den Erinnerungen und der Unsicherheit.
Frau Peters kniete sich zu mir herunter und sprach mit leiser, sanfter Stimme: „Ich werde dich jetzt hier bei Diana lassen, okay? Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, aber keine Sorge, ich komme morgen auf jeden Fall noch einmal vorbei.“ Sie lächelte aufmunternd und legte mir die Hand sanft auf die Schulter. „Vielleicht kannst du morgen sogar schon deine zukünftige Pflegefamilie kennenlernen. Es wird alles gut werden.“
Ich nickte unsicher, spürte jedoch, wie mir alles ein bisschen über den Kopf wuchs. Die vielen neuen Informationen, die unbekannte Umgebung, und das Warten auf eine Pflegefamilie – es war einfach viel zu verarbeiten. In meinem Kopf schwirrten so viele Fragen und Gedanken durcheinander, dass ich kaum wusste, woran ich mich festhalten sollte. Ich fühlte mich klein und verloren.
Diana führte mich durch das Haus, nachdem sie mir mein Zimmer gezeigt hatte. Wir gingen zuerst in die Küche, die hell und einladend war. Die Schränke waren aus hellem Holz, und auf der Anrichte standen Schalen mit Obst und eine Vase voller frischer Blumen. Es roch nach etwas Frischem, leicht Süßem – der Duft von Brot und vielleicht ein Hauch Vanille von dem Gebäck, das sie wohl vorbereitet hatte.
„Hier in der Küche wird bei uns oft gemeinsam gekocht und gebacken“, erklärte Diana lächelnd. „Wenn du irgendwann Lust hast, mitzuhelfen, bist du herzlich eingeladen. Aber du darfst natürlich auch einfach nur zusehen oder probieren.“
Ich nickte leise. Die Vorstellung, in einer Küche willkommen zu sein, klang fast unwirklich, aber auch ein wenig schön.
Als Nächstes führte sie mich ins Wohnzimmer. Ein gemütliches, großes Sofa füllte die Mitte des Raumes, und auf dem Tisch lag eine Decke, die bunt gemustert und offensichtlich handgemacht war. An den Wänden hingen Bilder von Reisen und Ausflügen, lachende Gesichter, Tiere und Landschaften. Ein Regal voller Bücher und Brettspiele nahm eine ganze Wand ein, und ein kleiner Fernseher stand in der Ecke.
„Hier verbringen wir oft die Abende zusammen“, sagte Diana sanft. „Wir spielen manchmal Spiele oder schauen uns einen Film an. Du kannst jederzeit dazu kommen, wenn du magst.“
Ich nickte erneut und versuchte, mir das alles vorzustellen – wie es wäre, hier zu sitzen und an diesem gemeinsamen Leben teilzuhaben.
Auf dem Weg durch den Flur kamen wir an zwei weiteren Türen vorbei, an denen in bunten Buchstaben „Anna-Lena“ und „Nathanael“ stand. Diana bemerkte, dass mein Blick an den Tür schildern hängen blieb.
„Das sind die Zimmer unserer anderen Pflegekinder“, erklärte sie lächelnd. „Anna-Lena und Nathanael sind Geschwister und seit fünf Jahren bei uns. Die beiden werden dich bestimmt gern kennenlernen.“
Ich schaute sie unsicher an. Der Gedanke, andere Kinder zu treffen, die vielleicht ähnliches erlebt hatten wie ich, war sowohl beruhigend als auch nervenaufreibend.
Diana bemerkte meine Unsicherheit und fügte sanft hinzu: „Du musst sie natürlich nicht sofort kennenlernen, wenn du das nicht möchtest. Sie sind neugierig auf dich, aber wir verstehen es, wenn du lieber etwas Zeit für dich brauchst. Zum Abendessen bist du willkommen, egal ob du mit allen zusammensitzen oder lieber nur mit mir und meinem Mann Manfred essen möchtest.“
Ich nickte. „Vielleicht… ich weiß noch nicht“, murmelte ich leise. Der Gedanke, mit anderen am Tisch zu sitzen, fühlte sich gleichzeitig schön und beängstigend an.
„Das ist vollkommen in Ordnung“, sagte Diana freundlich. „Es soll dir hier gut gehen, und du sollst dich sicher fühlen. Wenn du nach und nach andere Dinge ausprobieren möchtest, sind wir für dich da. Du kannst dich jederzeit entscheiden, wie du dich am wohlsten fühlst.“
Schließlich führte sie mich ins Badezimmer, das sauber und freundlich eingerichtet war. Bunte Handtücher hingen ordentlich an der Wand, und im Regal neben dem Waschbecken standen Zahnpasta, Seife und alles, was man brauchte. Eine kleine Pflanze im Fenster brachte etwas Farbe in den Raum.
„Hier kannst du dich frisch machen, wann immer du willst“, erklärte Diana sanft. „Wenn du etwas brauchst, was hier nicht steht, sag einfach Bescheid.“
Ich sah mich im Badezimmer um. Es war ordentlich und irgendwie beruhigend – ein Raum, der darauf ausgelegt war, sich wohl zu fühlen.
Nachdem wir alles besichtigt hatten, kehrten wir in mein Zimmer zurück. Diana zeigte mir noch, wo ich meine Sachen verstauen konnte, und erklärte, dass ich mich einfach melden könnte, wenn mir noch etwas fehlte. Ihr Lächeln war ruhig und geduldig, als sie mir die kleinen Details erklärte, die das Haus zu ihrem Zuhause machten.
„Du kannst dich jetzt ein wenig ausruhen oder einfach im Zimmer bleiben, wenn du das möchtest“, sagte sie. „Wir lassen dir die Zeit, die du brauchst.“
Ich setzte mich aufs Bett und ließ meine Finger über die Decke gleiten, die sich weich und warm anfühlte. Die ganze Atmosphäre des Hauses, von der Wärme bis zur Freundlichkeit der Menschen, fühlte sich an wie eine warme Decke, die mich umhüllte – fast, als könnte ich die ganzen Sorgen für einen Moment ablegen.
„Danke“, murmelte ich schließlich, wobei ich mich bemühte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Die Worte kamen leise, aber ich wusste, dass sie wichtig waren.
„Gern geschehen, Florian“, sagte Diana sanft. „Du bist hier willkommen.“
Nachdem sie gegangen war, legte ich mich aufs Bett und starrte an die Decke. Ich hörte leise Geräusche aus dem Flur – Stimmen und Schritte, die Leben im Haus erahnen ließen.
Nach etwa einer halben Stunde hörte ich ein leises Klopfen an der Tür, und Diana trat vorsichtig ins Zimmer. Sie hielt einen Wäschekorb in den Händen, der randvoll mit Kleidung gefüllt war, und lächelte mich sanft an. „Ich hoffe, ich störe dich nicht“, sagte sie freundlich.
Ich schüttelte den Kopf, überrascht, dass sie so behutsam fragte. In Gedanken fragte ich mich, warum sie das überhaupt sagte. Schließlich war ich hier doch nur der Gast – sie musste sich doch nicht bei mir entschuldigen.
Diana stellte den Korb vor dem Schrank ab und begann, die Kleidungsstücke nacheinander heraus zunehmen und auf dem Schreibtisch zu stapeln. Bunte T-Shirts, weiche Pullover und ein paar Hosen in verschiedenen Farben kamen zum Vorschein. Die meisten Kleidungsstücke waren mit fröhlichen Mustern verziert, von kleinen Autos über Tiere bis zu Streifen und Punkten.
„Ich habe hier leider nur Sachen in deiner Größe, die sehr kindlich gehalten sind“, erklärte sie ein wenig entschuldigend. „Ich hoffe, es ist dir nicht unangenehm.“
Wieder schüttelte ich den Kopf und versuchte, ein kleines Lächeln zu zeigen. Es war mir wirklich egal, was ich anzog – Hauptsache, die Sachen waren sauber und ganz. In Gedanken dachte ich, dass ich ohnehin nie wählerisch gewesen war. Ich war froh, wenn ich überhaupt etwas zum Anziehen hatte, das nicht schon völlig abgenutzt oder kaputt war.
Diana lächelte, während sie weiter die Kleidung auf den Tisch stapelte und dann begann, sie ordentlich in den Schrank einzuräumen. „Sag mir gern, wenn du noch etwas brauchst“, meinte sie sanft und ordnete jedes Kleidungsstück mit Sorgfalt ein.
Nach einer Weile drehte sie sich wieder zu mir um und fragte: „Hast du dir schon Gedanken gemacht, ob du mit allen zusammen essen möchtest?“
Ich senkte den Blick und fühlte, wie eine Welle der Unsicherheit über mich schwappte. „Ich möchte lieber alleine essen“, antwortete ich leise, fast flüsternd. Die Vorstellung, mit so vielen fremden Gesichtern am Tisch zu sitzen, machte mir Angst. Was, wenn sie mich musterten oder Fragen stellten, auf die ich keine Antwort wusste? Es war zu viel auf einmal.
Diana bemerkte meine Unsicherheit, hörte auf, die Kleidung einzuräumen, und hockte sich auf Augenhöhe vor mich. Ihre Stimme war warm und voller Verständnis. „Okay, Florian, das ist völlig in Ordnung“, sagte sie beruhigend. „Es ist dein erster Tag hier, und ich kann gut verstehen, dass du dich mit so vielen neuen Menschen noch überfordert fühlst.“
Sie hielt kurz inne und lächelte mich ermutigend an. „Möchtest du hier im Zimmer ganz alleine essen, oder traust du dir zu, unten in der Küche zu essen, wenn nur ich dir Gesellschaft leiste?“
Ich zögerte, während ich ihre freundlichen Augen musterte. Die Idee, in der Küche zu essen, klang irgendwie schön – es war ein Gedanke, der mich an etwas Geborgenes erinnerte, das ich bisher kaum gekannt hatte. Gleichzeitig fühlte ich mich wohler dabei, nur Diana als Gesellschaft zu haben, als alleine oben zu sitzen.
Schließlich nickte ich langsam. „Ich glaube, mit dir zusammen in der Küche… das wäre okay.“
Diana schien sichtlich erfreut über meine Entscheidung und nickte verständnisvoll. „Das klingt wunderbar. Dann bereite ich alles vor, und du kommst einfach nach unten, wenn du soweit bist, in Ordnung?“
„Ja“, antwortete ich leise, aber ich spürte, dass ich das Richtige gewählt hatte. Diana gab mir einen Moment der Sicherheit, und vielleicht würde das Essen in der Küche ein erster Schritt sein, sich in diesem Zuhause etwas wohler zu fühlen.
Nachdem Diana das Zimmer verlassen hatte, wartete ich einen Moment, um sicherzugehen, dass ich allein war. Mein Blick glitt zur Tür, die gegenüber meinem Zimmer lag – das Badezimmer. Mir fiel ein, dass ich dringend auf die Toilette musste. Also schlich ich mich rasch über den Flur und huschte hinein.
Das Badezimmer war sauber und hell. Die Fliesen an den Wänden waren in einem sanften Blau gehalten, das beruhigend wirkte. Ich schloss die Tür hinter mir, fühlte mich für einen Augenblick geschützt und ließ die Anspannung kurz nach. Nachdem ich fertig war, trat ich ans Waschbecken und drehte das warme Wasser auf. Der Seifenspender neben dem Becken war mit etwas Duftendem gefüllt, vielleicht Lavendel oder Vanille – der Geruch war angenehm und beruhigend.
Sorgfältig wusch ich mir die Hände, wobei ich zusah, wie das Wasser das Seifen stück auf meinen Fingern glitschig machte und Schaum auf meinen Handflächen bildete. Ich nahm mir Zeit, wusch jeden Finger einzeln, so wie ich es manchmal in der Schule gelernt hatte. Das sanfte Plätschern des Wassers hatte etwas Beruhigendes, und als ich fertig war, griff ich nach einem der flauschigen Handtücher, die ordentlich neben dem Waschbecken hingen.
Mit dem sauberen Gefühl in den Händen atmete ich tief durch und öffnete langsam die Badezimmer Tür. Ich lauschte einen Moment und versuchte, Stimmen oder Schritte zu hören. Es war still im Haus, und ein kleines Gefühl der Erleichterung durchströmte mich. Ich wollte so unauffällig wie möglich in die Küche gelangen, ohne jemandem auf dem Weg zu begegnen.
Langsam und vorsichtig ging ich den Flur entlang zur Treppe. Die weichen Teppiche dämpften meine Schritte, und ich konnte das Gefühl der Unsicherheit in meinem Magen spüren. Doch der Gedanke an Dianas freundliches Lächeln und ihre ruhige Stimme beruhigten mich etwas, und ich hoffte, dass ich es bis in die Küche schaffte, ohne jemandem in die Arme zu laufen.
Unten angekommen, spähte ich vorsichtig um die Ecke und stellte erleichtert fest, dass die Küche leer war – nur Diana stand an der Anrichte, eine dampfende Schüssel in der Hand, die sie gerade auf den Tisch stellte. Sie hatte den Tisch liebevoll gedeckt: ein Platz set mit kleinen Blumenmustern, ein Glas Wasser und ein Teller, der fast einladend auf mich wartete.
Als ich leise eintrat, drehte sich Diana zu mir um und schenkte mir ein warmes Lächeln. „Da bist du ja, Florian. Schön, dass du gekommen bist.“
Ich nickte schüchtern und setzte mich an den Platz, den sie für mich vorbereitet hatte. Die Küche war gemütlich beleuchtet, und ein leichter Duft von warmem Essen erfüllte den Raum. Es fühlte sich an, als würde ich für einen Moment in eine sichere, friedliche Welt eintauchen.
Diana setzte sich mir gegenüber und fragte freundlich: „Möchtest du mit etwas ganz Einfachem anfangen? Ich habe Kartoffelpüree und Gemüse vorbereitet. Und ein bisschen Soße – falls du magst.“
Ich nickte und griff nach der Gabel. Die Wärme des Essens und Dianas ruhige Präsenz halfen mir, die Unsicherheit ein wenig zu vergessen.
Das Essen schmeckte erstaunlich gut. Der Kartoffelpüree war warm und cremig, und das Gemüse war perfekt gekocht – nicht zu weich und nicht zu hart. Jeder Bissen fühlte sich wie eine kleine Umarmung von innen an, etwas Beruhigendes, das mir half, für einen Moment die Sorgen zu vergessen. Diana saß mir gegenüber und lächelte nur hin und wieder aufmunternd, ohne ein einziges Mal zu drängen oder mich auszufragen. Es war angenehm, einfach in Ruhe zu essen, ohne das Gefühl zu haben, irgendetwas sagen zu müssen. Diese Stille war nicht bedrückend oder unangenehm, sondern einfach nur wohltuend.
Nachdem ich fast meinen ganzen Teller geleert hatte, fragte Diana freundlich: „Brauchst du noch irgendetwas für die Nacht, Florian?“
Ich schüttelte den Kopf und murmelte ein leises „Nein, danke“. Es fühlte sich immer noch ungewohnt an, dass jemand wirklich darauf achtete, ob ich alles habe, was ich brauche.
„Ich möchte dich noch bitten, vor dem Schlafengehen kurz ins Badezimmer zu gehen“, fügte sie sanft hinzu. „Eine kleine Dusche und das Zähneputzen wären sicher eine gute Idee.“
Ich nickte, ohne sie anzusehen, und spielte mit meiner Gabel. Sie sagte es so ruhig und selbstverständlich, dass ich das Gefühl hatte, sie wolle mir einfach eine angenehme und saubere Nacht ermöglichen.
Diana lehnte sich leicht vor und fragte aufrichtig: „Braucht du bei irgendetwas Hilfe? Egal was es ist – mir soll nichts unangenehm sein, und dir muss es auch nicht peinlich sein.“
Ihre Stimme klang so ehrlich, dass ich kurz nachdachte, ob ich etwas annehmen sollte. Doch ich schüttelte den Kopf und antwortete leise: „Ich komme zurecht.“ Ich konnte mich nicht erinnern, jemals Hilfe beim Zubettgehen bekommen zu haben. Im Gegenteil, es war immer ein Moment gewesen, an dem ich froh war, alleine zu sein und keinen Ärger zu bekommen.
Diana nickte verständnisvoll und sagte nur: „In Ordnung. Falls sich irgendetwas ändert, bin ich jederzeit hier.“
Ich spürte die Wärme in ihrer Stimme und wusste, dass sie es ernst meinte. Aber dennoch war es schwer, das Angebot anzunehmen. Das war ich nicht gewohnt. Mein Blick wanderte in dem Moment zum Fenster, und ein unangenehmes Gefühl schlich sich in meinen Magen – die Angst, heute Nacht ins Bett zu machen. Der Gedanke quälte mich, aber ich konnte mir nicht vorstellen, das laut anzusprechen. Es war mir einfach zu peinlich.
„Wenn du fertig bist, kannst du einfach hochgehen und dich Bett fertig machen“, sagte Diana und stand auf, um den Tisch ab zu räumen. „Falls dir noch etwas einfällt, weißt du, wo du mich findest.“
Ich nickte wieder und lächelte ein kleines bisschen. Die Ruhe, die sie ausstrahlte, machte es leichter, aber die Angst blieb trotzdem ein wenig. Ich hoffte einfach, dass die Nacht friedlich verlaufen würde und dass sie mich nicht enttäuscht ansah, wenn doch etwas schiefging.
Ich öffnete vorsichtig den Schrank, den Diana für mich eingeräumt hatte. Als die Türen aufschwangen, sah ich Stapel von Kleidung – T-Shirts, Pullover, Hosen, sogar Socken und Unterwäsche. So viele Sachen nur für mich! Der Anblick war irgendwie überwältigend. Ich hatte nie so viel Kleidung auf einmal besessen, schon gar nicht, dass sie so ordentlich und sauber für mich bereitlag.
Meine Hände zitterten ein wenig, als ich überlegte, welches Stück ich für die Nacht nehmen sollte. Die Auswahl fühlte sich fast ungreifbar an, und ich wusste nicht, wohin ich zuerst greifen sollte.
In diesem Moment klopfte es leise an der Tür, und Diana steckte ihren Kopf herein. „Ich wollte nur kurz sehen, ob du alles findest“, sagte sie sanft und lächelte mich an.
Sie bemerkte meinen unschlüssigen Blick und kam näher. Ihre Augen musterten den Schrank, und mit einer natürlichen Leichtigkeit griff sie nach einem Set, das ich übersehen hatte. „Hier, die Schlafanzüge sind gleich hier“, sagte sie und zog ein weiches blaues Oberteil und eine rote Hose hervor. Sie reichte sie mir und fügte hinzu: „Ich dachte, dieser hier könnte dir gefallen.“
Ich nahm die Sachen entgegen und sah das Bild auf dem Oberteil genauer an. Ein Hund war darauf abgebildet, aber nicht irgendein Hund – er trug ein Superhelden kostüm, mit einer kleinen Maske und einem flatternden Cape. Er sah lustig aus und irgendwie freundlich, als wäre er bereit, sich mit mir in die Nacht zu stürzen und über mich zu wachen.
Ein schwaches Lächeln huschte über mein Gesicht. „Ich… ich kenne den Hund irgendwoher“, murmelte ich, unsicher, wie ich es sagen sollte. Es fühlte sich fast so an, als würde er aus einem Teil einer Welt stammen, die ich nie richtig erlebt hatte. Fernsehen hatte ich nur selten gesehen, und schon gar keine solchen Figuren.
Diana bemerkte mein Lächeln und sagte aufmunternd: „Ja, er ist ganz schön berühmt! Die Kinder hier lieben ihn. Er ist immer mutig und hilft anderen, und wenn du magst, begleitet er dich heute Nacht.“
Ihre Worte klangen so ruhig und sanft, als sei es ganz normal, dass ich in einem Schlafanzug mit einem Superhelden Hund ins Bett gehen würde. Ich drückte die weichen Stoffe in meinen Händen und nickte leise.
„Danke“, sagte ich kaum hörbar, doch sie hörte es und lächelte.
Mit dem Schlafanzug in den Händen begleitete mich Diana noch einmal ins Badezimmer. Sie zeigte auf eine große, schlichte Truhe in der Ecke. „Hier kannst du deine getragenen Sachen hineinwerfen, damit ich sie waschen kann“, erklärte sie freundlich.
Dann öffnete sie einen Schrank, in dem ordentlich gestapelte Handtücher lagen. Sie nahm ein weiches, flauschiges Handtuch heraus und reichte es mir. „Und hier findest du die Handtücher. Deins kannst du nach dem Duschen dort zum Trocknen aufhängen.“ Sie deutete auf eine Heizung mit waagerechten Röhren, an denen das Handtuch hängen und gut trocknen konnte.
Anschließend öffnete sie einen kleinen Schrank über dem Waschbecken und holte eine noch eine eingeschweißte Zahnbürste hervor. „Hier ist deine Zahnbürste“, sagte sie und zeigte auf den Schrank. „Die Zahnpasta findest du gleich hier.“
Zuletzt beugte sie sich zu einem Schrank unter dem Waschbecken und nahm eine bunte Flasche heraus. Darauf waren bunte Fußbälle abgebildet. „Und hier“, sagte sie und reichte mir die Flasche, „ist Duschgel. Das kannst du verwenden.“
Ich nickte und nahm all die Dinge entgegen. Diana schenkte mir ein warmes Lächeln. „Ich lasse dich jetzt allein. Wenn du noch etwas brauchst, kannst du mich jederzeit rufen. Ansonsten wünsche ich dir eine gute Nacht.“
„Danke“, murmelte ich leise, unsicher, ob ich wirklich alles brauchte, aber irgendwie erleichtert, dass sie so ruhig und geduldig war.
Sie schloss leise die Tür hinter sich, und ich stand einen Moment still da, um die Ruhe um mich herum aufzusaugen. Es war das erste Mal, dass jemand alles für mich so ordentlich vorbereitet hatte. Ich fühlte mich ein wenig wohler, als ich das Handtuch und die Zahnbürste in den Händen hielt – fast so, als hätte ich endlich einen kleinen Platz, der mir gehörte.
Die Dusche war angenehm, und das warme Wasser prasselte sanft auf meine Haut. Das Duschgel, das Diana mir gegeben hatte, roch wunderbar frisch und leicht süßlich, wie eine Mischung aus Zitrone und Vanille. Während ich mich einseifte, stieg der Duft in meine Nase und gab mir ein Gefühl von Geborgenheit. Es war ein seltsames, aber schönes Gefühl, einmal so gut riechende Seife zu haben, und ich ließ mir extra Zeit, um alles gründlich abzuspülen.
Nach der Dusche griff ich zur Zahnbürste, auch wenn ich das Zähneputzen eigentlich nicht mochte. Doch Diana hatte mir extra alles dafür bereitgelegt und so geduldig erklärt, dass ich es einfach machen wollte. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Mit kleinen, vorsichtigen Bewegungen schrubbte ich meine Zähne, und das frische Gefühl danach war irgendwie besser, als ich erwartet hatte.
Als ich in den Schlafanzug schlüpfte, fühlte ich, wie weich der Stoff auf meiner Haut lag. Der leichte Duft der frisch gewaschenen Kleidung hüllte mich ein, fast wie eine zarte Umarmung. Es war ein Gefühl, das ich kaum kannte – ein Schlafanzug, der sauber und weich war und angenehm roch. Ich streifte das Oberteil über und betrachtete den kleinen Superhelden Hund darauf. Seine fröhliche, mutige Ausstrahlung brachte mich zum Lächeln.
Zurück in meinem Zimmer schaltete ich das Licht aus. Doch die Dunkelheit war nicht vollständig – draußen leuchtete eine Straßenlaterne so hell, dass ihr Licht durch das Fenster fiel und das Zimmer in ein sanftes, schwaches Glimmen tauchte. Es war genug, um die Umrisse der Möbel zu erkennen, aber nicht zu viel, um störend zu wirken. Das Zimmer fühlte sich dadurch beruhigend an, als wäre ich nicht ganz allein.
Langsam schlüpfte ich ins Bett und ließ mich auf die weiche Matratze sinken. Sie war erstaunlich bequem, viel weicher, als ich es gewohnt war. Das Bett fühlte sich hoch an, fast wie auf einer Wolke zu liegen. Die Decke und das Kissen dufteten frisch gewaschen, und ich atmete diesen angenehmen Geruch ein. Doch so angenehm das Bett auch war, ich konnte nicht anders, als mich nervös zu fühlen. Was, wenn ich heute Nacht wieder ins Bett machte? Der Gedanke ließ mich einfach nicht los. Hoffentlich würde das heute nicht passieren.
Um mich zu beruhigen, schob ich meinen Daumen in den Mund und saugte leicht daran. Es war ein kleines, vertrautes Ritual, das mir half, mich sicherer zu fühlen. Doch in dieser fremden Umgebung fiel es mir schwer, wirklich zur Ruhe zu kommen. Alles war so anders – die weiche Matratze, die Wärme, die fast einhüllende Höhe des Bettes. Es machte mir fast ein bisschen Angst, und ich wälzte mich unruhig hin und her, immer auf der Suche nach einer Position, in der ich einschlafen konnte.
Nach einer Weile dachte ich sogar daran, einfach auf den Fußboden zu gehen und mich dort hinzulegen. Vielleicht wäre es angenehmer, nicht so hoch über dem Boden zu sein. Oder ich könnte die Matratze herunterziehen, um mich wieder ein wenig näher an die gewohnte Härte zu bringen. Doch ich blieb, wo ich war, und versuchte, mich an die neue Umgebung zu gewöhnen.
Auch das Gefühl, mit einem vollen Magen ins Bett zu gehen, war neu für mich. Es war angenehm, aber gleichzeitig ungewohnt und machte mich irgendwie unruhig. Ich wälzte mich hin und her, versuchte, eine bequeme Position zu finden, doch die weiche Matratze, das warme Bett und die Höhe des Schlafplatzes ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Nach einer ganzen Weile hörte ich plötzlich, wie sich die Tür leise öffnete. Ein wenig Licht fiel in den Raum, und ich konnte die Umrisse von Diana erkennen. Schnell zog ich meinen Daumen aus dem Mund und versteckte meine Hand unter der Decke – es war mir unendlich peinlich, dass sie mich so gesehen haben könnte.
Diana trat leise näher und bemerkte, dass ich noch wach war. „Ist alles gut bei dir, Florian?“ fragte sie sanft.
Ich nickte vorsichtig, und als sie näher kam, knipste sie eine kleine Lampe neben meinem Bett an. Das warme Licht strahlte sanft und nahm dem Raum die Dunkelheit, die mir plötzlich bedrückend vorkam.
„Ich… ich kann nicht einschlafen“, murmelte ich leise. „Es ist alles so ungewohnt.“ Die Worte kamen langsam, und ich traute mich nicht, mehr zu sagen. Ich wollte ihr nicht erzählen, dass ich zu Hause kein richtiges Bett hatte oder dass ich Angst hatte, heute Nacht vielleicht ins Bett zu machen. Trotzdem nickte sie verständnisvoll, fast so, als könnte sie meine Gedanken lesen.
„Das ist oft so bei Kindern, die zum ersten Mal an einem neuen Ort schlafen“, sagte sie in einem ruhigen Ton. „Das ist völlig normal.“
Sie hielt kurz inne und fragte dann sanft: „Soll ich dir einen beruhigenden Tee machen?“
Ich zuckte mit den Schultern. Tee? Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Tee mir helfen sollte, einzuschlafen. Im Kindergarten hatte ich ab und zu Tee getrunken, aber einen, der beim Einschlafen helfen sollte? Das war mir neu.
Diana lächelte sanft. „Wir haben auch eine Tonie-Box mit Einschlafgeschichten, wenn du magst“, bot sie an. „Oder ich könnte dir sogar eine Geschichte vorlesen, wenn dir das hilft.“
Mein Herz machte einen kleinen Sprung bei der Vorstellung, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann das jemals jemand für mich getan hatte. Doch die Idee, dass ich jemanden um so etwas bitten müsste, war mir peinlich. Ich schüttelte den Kopf und murmelte ein kleines „Nein“. Es war nicht so, dass ich es nicht schön gefunden hätte – aber das Gefühl, so etwas für mich anzunehmen, war einfach ungewohnt.
Diana nickte verständnisvoll, ohne mich drängen zu wollen. „Das ist auch in Ordnung“, sagte sie leise. „Sollte sich etwas ändern, bin ich gleich nebenan. Du kannst jederzeit klopfen.“
Sie legte ihre Hand kurz auf meine Schulter und schenkte mir ein warmes Lächeln. „Versuch, dich einfach ein wenig zu entspannen. Es braucht manchmal Zeit, bis man in einem neuen Bett zur Ruhe kommt.“
Dann löschte sie das Licht und ließ die Tür einen kleinen Spalt offen, sodass ein Streifen Licht vom Flur hereinfallen konnte. In diesem Moment fühlte ich mich tatsächlich ein wenig beruhigter. Der Gedanke, dass jemand auf mich achtete, jemand, der mir nichts übel nahm und mich nicht unter Druck setzte, war neu für mich – und irgendwie schön.
Nach einer ganzen Weile, in der ich immer noch wach lag und den Daumen wieder im Mund hatte, öffnete sich die Tür erneut leise. Ich erkannte die Silhouette von Diana im schwachen Licht des Flurs. Schnell zog ich meinen Daumen heraus und versteckte die Hand unter der Decke, voller Sorge, dass sie es bemerkt haben könnte.
Sanft flüsterte sie von der Tür zu mir: „Kommst du immer noch nicht zur Ruhe, oder?“ Ich schüttelte leicht den Kopf, und auch aus der Entfernung schien sie es zu bemerken.
„Ich mache dir jetzt einen Tee“, sagte sie sanft. „Vielleicht hilft er dir ja ein wenig.“
Damit verschwand sie leise nach unten, und ich lauschte dem entfernten Klappern in der Küche. Die Zeit verging, und ich konnte nicht genau sagen, wie lange es dauerte. Aber nach einer Weile hörte ich ihre Schritte im Flur und sie kam mit einer dampfenden Tasse zurück.
Diana stellte den Tee behutsam auf einen kleinen Untersetzer auf meinem Nachttisch und knipste das kleine Licht wieder an. „Trink ihn langsam. Er ist warm, aber nicht mehr heiß“, sagte sie und lächelte ermutigend. „Ich hoffe, er hilft dir.“
Vorsichtig nahm ich die Tasse in die Hände und nippte an dem Tee. Der Geschmack war ungewohnt – leicht süßlich, mit einem sanften, beruhigenden Duft, den ich nicht ganz einordnen konnte. Vielleicht war es Kamille oder etwas anderes, das man trinkt, um zur Ruhe zu kommen. Ich trank langsam, bis die Tasse leer war, und reichte sie ihr zurück.
Diana lächelte. „Sehr schön, Florian. Ich werde dich jetzt nicht mehr stören. Versuch, ein wenig zu schlafen. Morgen starten wir ganz in Ruhe, okay? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen – es gibt keinerlei Verpflichtungen oder Erwartungen an dich.“
Ich nickte und spürte eine Welle der Erleichterung, als sie mir diese Worte sagte. „Wenn du irgendetwas brauchst, ich bin direkt nebenan. Du brauchst nur an die Tür zu klopfen, okay?“
„Okay“, murmelte ich leise.
„Schlaf gut, Florian“, sagte sie noch zum Abschied, bevor sie das Licht wieder löschte und die Tür einen Spalt offen ließ. Der sanfte Lichtstreifen aus dem Flur blieb wie eine stille Begleitung in meinem Zimmer.
Ich versuchte es erneut, schloss die Augen und legte mich bequem hin. Ohne es richtig zu merken, wanderte mein Daumen wieder in den Mund, und ich begann leicht daran zu saugen. Diesmal spürte ich, wie die Müdigkeit langsam, aber sicher die Oberhand gewann. Die Anspannung löste sich, und mit dem beruhigenden Geschmack des Tees und Dianas freundlichen Worten im Hinterkopf, glitt ich endlich in den Schlaf. Der Schlaf hatte gesiegt, und die Nacht hüllte mich in eine sanfte Ruhe.
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Ich war gerade dabei, den Tisch fürs Abendessen zu decken. Die Teller klirrten leise, und der Duft von frisch gebackenem Brot erfüllte die Küche. Markus war im Wohnzimmer und las die Nachrichten, während ich noch Besteck und Gläser auf den Tisch stellte. Da klingelte plötzlich das Haustelefon. Ich hielt inne, mein Herz machte einen kleinen Sprung. Es war eine unübliche Zeit für Anrufe, und sofort huschte mir der Gedanke durch den Kopf, dass vielleicht etwas mit Sebastian sein könnte.
Als ich das Telefon in die Hand nahm und die Nummer auf dem Display sah, wurde mir klar, dass es nicht Sebastian war. Es war Frau Peters vom Jugendamt. Wir hatten sie extra unter „Frau Peters Jugendamt“ eingespeichert, für den Fall, dass es Neuigkeiten gab. Mein Herz begann, schneller zu schlagen, diesmal aus einer ganz anderen Aufregung heraus.
„Wagner?“ meldete ich mich, die Stimme leicht angespannt.
„Hallo, Frau Wagner, hier ist Frau Peters vom Jugendamt“, kam die ruhige, freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Haben Sie morgen früh Zeit für mich? Ich würde gerne mit Ihnen über ein Kind sprechen, das eventuell für Sie in Frage kommt.“
Ein Schwall von Gefühlen überkam mich – Freude, Nervosität, eine leichte Unsicherheit. Mein Herz schlug jetzt heftiger. „Ja… ja, natürlich“, stammelte ich, während ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln. „Wann?“ Mehr brachte ich vor lauter Aufregung im Moment nicht heraus. Natürlich hatte ich gewusst, dass es schnell gehen konnte, aber jetzt, wo der Anruf tatsächlich kam, fühlte ich mich plötzlich überwältigt und irgendwie unvorbereitet.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich gerne gegen sieben Uhr bei Ihnen“, schlug Frau Peters vor.
Ich atmete tief durch, sammelte mich und sagte: „Ja, das wäre überhaupt kein Problem. Wir sind frühes Aufstehen gewohnt.“ Ich konnte es kaum fassen – morgen früh, und dann würden wir tatsächlich mehr über ein Kind erfahren, das vielleicht Teil unserer Familie werden könnte.
„Das freut mich sehr“, antwortete Frau Peters mit einem warmen Ton in ihrer Stimme, der mich ein wenig beruhigte.
„Sollen wir… sollen wir irgendwas vorbereiten?“ fragte ich immer noch aufgeregt. Ein Teil von mir wollte unbedingt, dass alles perfekt war, doch ich wusste nicht genau, was erwartet wurde.
„Nein, das ist nicht nötig“, versicherte Frau Peters. „Ich komme morgen früh zu Ihnen, und wir besprechen in Ruhe alles. Ich werde Ihnen ein wenig von dem Kind erzählen, und dann können Sie entscheiden, ob Sie sich das zutrauen oder nicht. Danach sehen wir weiter.“
„In Ordnung“, sagte ich, bemüht, ruhig zu klingen, auch wenn ich innerlich noch immer aufgeregt war. „Dann… dann sehen wir uns morgen früh.“
„Ja, bis morgen, Frau Wagner. Vielen Dank.“
Ich legte auf und blieb für einen Moment einfach still stehen, das Telefon noch in der Hand, während mein Herz langsam wieder zur Ruhe kam. Dann, als die Bedeutung des Gesprächs in mir einsickerte, legte ich das Telefon ab und schaute zu Markus, der von der Couch aus zu mir herüber blickte. Er schien zu ahnen, dass der Anruf wichtig war.
„Das war Frau Peters“, sagte ich leise, doch die Aufregung in meiner Stimme war deutlich. „Sie kommt morgen früh, um mit uns über ein Kind zu sprechen.“
Ein Lächeln breitete sich auf Markus’ Gesicht aus, und er kam zu mir herüber, nahm meine Hand und drückte sie fest. „Das ist wunderbar, Annette“, sagte er ruhig und mit einem warmen Blick. „Es wird alles gut werden.“
„Ja, das ist wirklich toll“, sagte ich zu Markus, während die Freude über den morgigen Besuch in mir aufstieg. Doch im gleichen Moment kam mir ein anderer Gedanke, der die Freude dämpfte: Wenn wir morgen über ein Kind sprechen würden, dann bedeutete das auch, dass dieses Kind bisher nicht so viel Glück gehabt hatte. Vielleicht hatte es eine schwere Zeit hinter sich, und auch für die Eltern musste es eine schlimme Situation sein, wenn ihnen das Kind entzogen wurde.
Ich sah zu Markus, der meinen nachdenklichen Blick bemerkte und sanft fragte: „Alles gut? Musst du dich vielleicht setzen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es ist alles gut“, sagte ich leise. Dann ließ ich meine Gedanken laut werden und erzählte ihm, was mich gerade beschäftigte. Dass ich, jetzt, da es ernst wurde, zum ersten Mal wirklich darüber nachdachte, was es für das Kind und seine Eltern bedeutete.
Markus nickte verständnisvoll und legte beruhigend seine Hand auf meine Schulter. „Ja, du hast vollkommen recht“, sagte er ruhig. „Aber wir sind nicht schuld an der Situation des Kindes. Unsere Aufgabe ist es, ihm zu helfen und ihm ein Zuhause zu geben. Und wie sie es uns in den Schulungen erklärt haben: Langfristig kann es auch möglich sein, dass das Kind zurück zu seiner eigenen Familie kommt. Es geht darum, dass es sicher ist und jemanden hat, der für es da ist.“
Ich sah ihm in die Augen und spürte die Wärme und das Verständnis in seinen Worten. Er hatte recht – wir waren hier, um zu helfen, nicht um zu urteilen. Seine Worte gaben mir Ruhe, und gleichzeitig erfüllte mich die Vorstellung, dass dieses Kind vielleicht nur für eine Weile bei uns sein würde, mit einer leisen Angst. Doch auch diese Unsicherheit gehörte dazu.
„Ja“, sagte ich schließlich und atmete tief durch. „Das ist gut so.“
Markus nahm meine Hand in seine und lächelte. „Wir schaffen das, Annette. Für das Kind und für uns.“
Mit diesen Worten ließ ich meine Sorgen ein wenig los und konzentrierte mich auf das, was wirklich zählte: dass wir ein sicheres, liebevolles Zuhause bieten konnten – für so lange, wie das Kind es brauchte.
Das Abendessen schmeckte gut, doch die Aufregung ließ mir kaum etwas davon genießen. Auch Markus schien es ähnlich zu gehen – er schob das Essen auf dem Teller hin und her und aß nur kleine Happen. Als wir schließlich zusammen den Tisch abräumten, ging er kurz ins Arbeitszimmer, um sein Mobiltelefon zu holen. Bei uns galt seit jeher die Regel, dass am Tisch keine Handys, kein Fernseher und auch sonst keine elektronischen Geräte erlaubt waren. Ausnahmen machten wir nur, wenn Gäste zu Besuch waren.
Als Markus zurückkam, begann er, unsere beiden Angestellten anzurufen. Er wollte ihnen Bescheid geben, dass wir beide morgen früh nicht in den Ställen sein würden und sie sich nicht wundern sollten. Ich hörte ihm zu, während ich die letzten Teller und Gläser in die Spülmaschine räumte. Die Routine beruhigte mich ein wenig, aber die Gedanken an den morgigen Termin ließen mich nicht los.
Nachdem Markus mit den Anrufen fertig war, blieb es still in der Küche, und die Aufregung war förmlich greifbar. Ich spürte, dass es mir schwer fiel, noch irgendetwas anderes zu tun, und wusste, dass ich heute keine Ablenkung mehr finden würde. Also beschloss ich, mich bettfertig zu machen und hoffte, dass der Schlaf ein wenig Ruhe in meine Gedanken bringen würde.
Markus tat es mir gleich, und gemeinsam gingen wir ins Schlafzimmer. Es war seltsam, wie vertraut dieser Raum war und gleichzeitig alles anders erschien – als ob sich mit dem Anruf von Frau Peters etwas Grundlegendes in unserem Leben verschoben hatte. Wir legten uns ins Bett, und ich schloss die Augen, doch mein Kopf war voller Fragen, voller Bilder und Vorstellungen davon, wie unser Leben morgen aussehen könnte.
Ich drehte mich zu Markus und sah, dass auch er noch wach war. Wortlos nahm er meine Hand, und wir lagen da, Hand in Hand, in Gedanken bei dem Kind, das vielleicht schon bald ein Teil unseres Lebens sein würde.
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Ich erwachte mit einem vertrauten, unangenehmen Gefühl von Nässe. Langsam dämmerte es mir, dass ich nicht zu Hause war, sondern bei der Pflegefamilie – in dem wunderbaren, weichen Bett, das Diana mir so liebevoll vorbereitet hatte. Doch als ich schließlich realisierte, was passiert war, schockierte mich die Tragweite dessen, was ich gerade „angerichtet“ hatte. Ich lag in meinem nassen Schlafanzug, die Decke und das Laken waren ebenfalls nass, sogar das Kissen hatte etwas abbekommen. Der Gedanke, dass ich ausgerechnet in diesem schönen Bett ins Bett gemacht hatte, ließ mir das Herz schwer werden.
Langsam stand ich auf und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Die Emotionen überwältigten mich. Was würde Diana sagen, wenn sie das entdeckte? In meinem Kopf hallten die Worte meiner Mutter nach: „Ein richtiges Bett hast du erst verdient, wenn du es schaffst, trocken zu bleiben.“ Das Gewicht dieser Worte drückte mich nieder, und die Tränen begannen, mir die Wangen hinunter zu laufen. Ein leises Schluchzen entwich mir, während ich mich verzweifelt fragte, was ich tun sollte.
Ich wusste nicht einmal, wo die Waschmaschine war, geschweige denn, wie ich die Matratze retten sollte. In meiner Hilflosigkeit schaltete ich das kleine Licht neben dem Bett an und betrachtete das Durcheinander, das ich angerichtet hatte. Mein schöner Schlafanzug war durch und durch nass, das Bettlaken und die Decke waren ruiniert, und die Matratze würde wahrscheinlich auch nicht mehr zu retten sein. Mein Kopf war voller Sorgen – diese Familie würde jetzt extra wegen mir eine neue Matratze kaufen müssen, nur weil ich nicht in der Lage war, nachts trocken zu bleiben.
Die Tränen liefen immer schneller über meine Wangen, und ich biss mir auf die Lippen, als ich den Reißverschluss des Bettbezugs öffnete, um wenigstens irgendetwas zu tun. Doch genau in diesem Moment wurde das Zimmer plötzlich hell. Erschrocken drehte ich mich um und sah Diana im Türrahmen stehen. Panik ergriff mich, und ich zog mich zurück in eine Ecke des Zimmers, die Arme um mich geschlungen, den Blick zu Boden gesenkt. Vor lauter Scham und Angst brachte ich kaum ein Wort heraus. „Ent… entschuldigung“, stammelte ich unter Tränen.
Doch Diana schimpfte nicht. Sie machte keinen lauten Ton, zeigte keine Wut, keine Enttäuschung. Stattdessen kam sie leise auf mich zu, hockte sich direkt vor mir und schaute mich mit einem warmen, sanften Blick an. Ihre Stimme war beruhigend, als sie sagte: „Hey, Florian, es ist alles gut. Das kann passieren und ist überhaupt nicht schlimm, okay?“
Ich war wie erstarrt und rührte mich nicht. Ich verstand nicht, warum sie so ruhig und freundlich blieb, wo ich doch so einen riesigen Fehler gemacht hatte. Mein ganzer Körper begann vor Anspannung zu zittern, und die Fragen in meinem Kopf drehten sich schneller: Wieso schimpfte sie nicht? Warum war sie so ruhig?
Diana legte eine Hand auf meine Schulter, sanft und tröstend. „Ich mache dein Bett frisch, und du gehst kurz unter die Dusche, ja? Wenn du zurückkommst, ist alles wieder in Ordnung.“ Ihre Stimme war so ruhig und selbstverständlich, als wäre das alles wirklich kein Problem.
Ich sah sie an, fassungslos und voller Verwirrung. Meine Lippen zitterten, und die Tränen ließen nicht nach. Doch Dianas sanftes Lächeln schien mir zu sagen, dass alles wirklich in Ordnung war, dass ich nicht bestraft oder abgewertet wurde.
Langsam nickte ich und stand zögerlich auf, immer noch unsicher, ob das alles wirklich wahr sein konnte. Diana begleitete mich bis zur Badezimmer Tür und sagte beruhigend: „Nimm dir ruhig Zeit. Wenn du wieder rauskommst, ist alles vorbereitet.“
Ich nickte ein weiteres Mal und trat ins Badezimmer, immer noch überwältigt von dem, was gerade passiert war.
Als ich aus der Dusche trat, bemerkte ich sofort den frischen Schlafanzug, den Diana auf einem Hocker für mich bereitgelegt hatte. Er war genauso toll wie der vorige – dieses Mal waren leuchtend bunte Autos darauf abgebildet, und ich konnte den Schriftzug „Hot Wheels“ entziffern. Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich hinein schlüpfte. Der Stoff war weich und angenehm, und es fühlte sich fast wie eine Umarmung an.
Langsam ging ich zurück in mein Zimmer. Auf dem Stuhl lag ein frisch bezogenes Kissen und eine neue Decke. Diana war gerade dabei, die Matratze mit einem feuchten Lappen abzuwischen. Die Matratze schien eine Art Schutzbezug aus einem gummiartigen Material zu haben, der sie trocken und sauber hielt.
Als ich den Raum betrat, schaute Diana auf und lächelte. „Oh, du bist ja schnell“, sagte sie verständnisvoll. „Ich bin gleich fertig, dann kannst du wieder ins Bett und weiterschlafen.“
Ich nickte, doch mein Blick blieb auf den Boden gerichtet. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass sie nicht böse auf mich war. Alles in mir war darauf eingestellt gewesen, eine Strafe oder zumindest ein paar scharfe Worte zu bekommen. Stattdessen wirkte sie einfach nur ruhig und gelassen, als wäre das, was passiert war, völlig normal.
Diana bemerkte meine Verlegenheit und sprach mit beruhigender Stimme: „Weißt du, das passiert vielen Kindern in deiner Situation. Eine neue Umgebung, die Erschöpfung… und auch das, was du bisher erlebt hast. Außerdem habe ich dir einen Tee gebracht, ohne noch einmal zu fragen, ob du zur Toilette gehen möchtest. Da kann so etwas schon mal passieren.“
Ich sagte nichts, aber ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Es war mir so peinlich, dass ich meinen Kopf nicht heben konnte. Diana schien das zu bemerken, denn sie beugte sich zu mir und legte sanft eine Hand auf meine Schulter. „Es ist wirklich nichts, wofür du dich schämen musst“, sagte sie leise. „Manchmal braucht der Körper einfach ein bisschen Zeit, um sich an neue Dinge zu gewöhnen.“
Ihre Worte und das warme Lächeln gaben mir ein kleines bisschen Trost. Es fühlte sich seltsam an, so bedingungslos akzeptiert zu werden, doch gleichzeitig schaffte es Diana irgendwie, dass ich mich nicht mehr ganz so allein und beschämt fühlte.
Während ich zusah, wie Diana die letzten Handgriffe machte, gingen mir plötzlich Gedanken durch den Kopf. Ob es Paul wohl auch manchmal so ging wie mir? Klar, er hatte sicher auch zu Hause diese Pull-Up-Windeln, die er jetzt in der Schule trägt, und seine Eltern schienen verständnisvoll zu sein. Sie schimpften nie, sondern halfen ihm, wenn er einen Unfall hatte. Es machte mich ein bisschen neidisch und gleichzeitig beruhigte es mich, zu wissen, dass es noch andere gab, die mit solchen Dingen kämpften.
Diana beendete ihre Arbeit und lächelte mir sanft zu. „So, jetzt kannst du dich wieder hinlegen“, sagte sie und deutete auf das frisch gemachte Bett. Vorsichtig legte ich mich hin, und die Decke war wieder warm und duftete frisch. Sie zog die Decke behutsam bis zu meinen Schultern und wünschte mir leise eine gute Nacht.
Als sie das Zimmer verließ und das Licht ausschaltete, blieb nur der schwache Schimmer der Straßenlaterne draußen, der den Raum sanft beleuchtete. Die Müdigkeit überkam mich schnell, doch ein kleiner Rest Angst blieb. Ich fürchtete, morgen früh vielleicht wieder in einem nassen Bett aufzuwachen. Mit diesem Gedanken und dem Daumen leicht an die Lippen gelegt, schloss ich die Augen und spürte, wie der Schlaf mich langsam einhüllte und meine Sorgen für die Nacht verblassen ließ.
Fortsetzung folgt….
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Die Geschichten werden wirklich immer interessanter und spannender. Gerade den neuesten Teil von Benjamin gelesen und jetzt Florian. Man kann sich gut in die Personen hineinversetzen. Immer weiter so. 👍 🙌 👏
Wie immer sind das 2 sehr schöne Geschichten. Die du schreibst Ich hoffe, dass du an beide noch in so schön weiterschreiben tust. Vielen Dank.