When 2 become 1 (7)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (7)
Kurz bevor der Professor leise neben mich trat, deckte ich Nic mit einem vorgewärmten Badetuch zu. Es war ihm sicher nicht mehr kalt, aber in der letzten Besprechung vor seiner Ankunft hatte der Kinderpsychologe in Professor Eisslers Team darauf hingewiesen, dass wir Nics Intimsphäre auf jeden Fall zu schützen hatten. Außer mir sollte sich ihm erstmal niemand ohne seine ausdrückliche Erlaubnis nähern dürfen. Dazu zählte auch, dass er selbst entscheiden sollte, wer ihn unbekleidet sehen durfte, und wer nicht. Eigentlich Selbstverständlichkeiten. Aber im Leben von Nic war nichts mehr selbstverständlich. Seine Familie existierte nicht mehr. Alles was im Halt und Sicherheit gegeben hatte, war nicht mehr da. Und was an Selbstbewusstsein und Selbstachtung noch übrig gewesen war, hatten Franziska Endermann und ihre Truppe zerstört.
Nics Reaktion auf den Professor war eindeutig: Er schloss die Augen, versteifte sich und begann, flacher zu atmen. Er hatte Angst. War unsicher. Weil er wusste, dass der Professor ihm gleich Schmerzen zufügen würde. Sie im zufügen musste. Noch mehr Schmerzen. Noch mehr Leid. Aber es gab keine Alternative. Das schien auch Nic zu wissen. Denn statt in Panik zu verfallen, oder gar aggressiv zu werden, schloss er einfach die Augen und schottete sich ab. Ich nahm ihn vorsichtig hoch und setzte ihn auf meinen Schoß. Dann schloss ich die Arme um ihn und achtete darauf, dass lediglich sein rechter Arm frei zugänglich war. Den Rest von ihm schirmte ich mit meinem Körper ab. Ich nickte dem Professor zu. Konnte losgehen. Der Mediziner arbeitete ohne ein Geräusch zu machen und sagte kein Wort. Schnell und mit routinierten Handgriffen desinfizierte er Nics Handrücken und platzierte die Nadel des Zugangs. Ein schneller Stich, dann war alles vorbei. Mehr als ein kurzes Zucken war es nicht, was der Stich bei Nic auslöste. Schnell beruhigte sich seine Atmung. Die Spannung verließ seinen Körper. Mit einer schnellen Handbewegung zeigte der Professor auf einen Medikamenten-Wagen, an dem zwei Infusionsbeutel hingen. Flüssigkeit, in Form einer Salzlösung und eine Speziallösung, die zusätzliche Mineralien und Vitamine direkt ins Blut transportierte. Die würden in den nächsten zwei Stunden durchlaufen, während Nic und ich hoffentlich die erste gemeinsame Mahlzeit einnehmen konnten. So weit war er aber noch nicht. Erst kamen die Klamotten. Ich ließ Nic auf meinem Schoß sitzen und zeigte ihm einen Pflegebody von dem ich nicht sicher war, dass er den anziehen würde. Die Teile waren super-praktisch für alle, die Windeln wechseln mussten. Aber für denjenigen der sie anziehen musste, keine wirklich coole Sache. Nic blieb aber ruhig. Und das änderte sich auch nicht, als ich ihm dann nacheinander warme hellgrüne Anti-Rutsch-Strümpfe, eine dünne aber warme blauweiß-geringelte Thermo-Leggings sowie seine grünes Langarm-Shirt vor die Nase hielt. Die Klamotten waren alle neu und frisch gewaschen. Mehr schien für Nic erstmal nicht wichtig zu sein. Und so lag er keine zehn Minuten später frisch gewaschen und neu eingekleidet auf dem Wickeltisch. Wer nicht wusste, dass da eigentlich ein Achtjähriger lag, hätte Nic maximal auf sechs geschätzt. Der Professor hatte es so erklärt: “Nics Körper hat in den letzten 14 Monaten alle Energie dafür eingesetzt, die Verletzungen zu zu überwinden. Da war einfach nichts mehr übrig, um zu wachsen oder sich zu entwickeln!”. Und die Klamotten und das wirklich auffällige Windelpolster in der Körpermitte verstärkten den Eindruck noch, dass hier kein Zweitklässler lag, sondern ein etwas zu groß geratenes Kleinkind. Aber darum würden wir uns später kümmern. Immerhin sah er nicht mehr aus wie ein heruntergekommenes Landstreicher-Kind.
Weil ich das Gefühl hatte, dass es gerade wichtig für ihn war, nahm ich ihn wieder auf den Arm und trug ihn zu seinem Bett, dessen Matratze so eingestellt war, dass Nic mehr saß, als lag. Die ideale Position für die Infusionen. Außerdem konnten wir so gleich versuchen, zu essen. Ich stöpselte die erste Infusion an und stellte den Diffusor auf eine mittlere Geschwindigkeit. Wir hatten Zeit. Auch wenn er viel besser aussah als noch vor 60 Minuten war Nic anzusehen, dass ihn die Kombination aus Windelwechsel, Zugang legen und Umzug ins Bett viel Kraft gekostet hatte. Jetzt musste erstmal die Infusion Wirkung zeigen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, holte ich die insgesamt vier Tablets mit unserem Abendessen ins Zimmer und platzierte alles auf einem ausklappbaren Rolltisch. Dann setze ich mich neben ihn auf die Bettkante und streichelte sanft über seine Stirn. Ich wollte Nic vorher noch ein paar Minuten geben, um die letzte Stunde zu verarbeiten.
Auch wenn er die Augen geschlossen hatte dauerte es kaum 15 Minuten bis selbst ein Laie sehen konnte, dass die Infusion erste Ergebnisse brachte: Nics Haut wurde langsam wieder rosig. Und der kalte Schweiß, der ihm die ganze Zeit auf der Stirn gestanden hatte, verschwand. Positive Signale. Aber noch nicht mehr. Wir hatten noch einen extrem weiten Weg vor uns. Wichtig in den nächsten 48 Stunden: Die Medikamente, die Nic in den letzten Monaten jeden Tag bekommen hatte, mussten aus seinem Körper raus. Deshalb würde er in der Nacht auch jeweils weitere Infusionen bekommen und tagsüber große Mengen an Flüssigkeit zu sich nehmen müssen. Die Entgiftung war wichtig, weil wir Nic wach bekommen mussten, um zu ihm selbst, seiner verletzten Seele vorzudringen. Über ein Tablet, das neben Nics Bett auf einem kleinen Tisch lag, trug ich sorgfältig die Beobachtungen der letzten 120 Minuten ein. Dokumentation war ein entscheidender Faktor, um später vielleicht den deutschen Behörden vor Gericht an den Karren fahren zu können. Meine Aufzeichnungen und die des Professors und seinem Team waren dabei nur ein sehr kleiner Baustein. Parallel wurden regelmäßig Bluttests durchgeführt, morgen standen diverse Untersuchungen im Computertomographen an. Und selbst der Inhalt der Windeln, die Nic verbrauchte, wurde auf den Gehalt von ausgeschwemmten Medikamenten hin untersucht.
Ich war noch nicht ganz fertig als mir auffiel, dass ich nicht mehr “alleine” war. Nic sah zu mir. Fokussierte mich. Suchte Blickkontakt. Den ich ihm gerne gewährte. Ich achtete sorgfältig darauf, ihn nicht zu analysieren. Sondern gab meinen Blick frei für ihn und spürte bereits nach wenigen Sekunden, dass auch er ganz offensichtlich das Talent unserer Mutter geerbt hatte, Menschen mit den Augen zu scannen. Er war noch weit davon entfernt, das so zielgerichtet einzusetzen, wie ich das mittlerweile tat. Es war vielmehr ein Herumstreunen in der Seele des anderen. Aber ich ließ es zu. Er musste von Anfang an sehen, dass ich es nicht nur gut mit ihm meinte, sondern dass ich auch keine Geheimnisse vor ihm hatte. So etwas war anstrengend. Für den, der Informationen sammelte und für mich. Weil ich künstlich sämtliche eingebauten Sicherheitsmechanismen im Zaum halten musste. Nics schlechter Allgemeinzustand spielte mir in die Karten. Er hatte schlicht noch nicht die Kraft, das allzu lange durchzuziehen. Keine Minuten später musste er die Verbindung bereits wieder abreißen lassen. Aber ich war mir sicher, dass er alles gefunden hatte, was er wissen wollte. Ich lächelte ihn an: “Na, Großer? Bist du zufrieden mit dem, was du gesehen hast?” Er war nicht wirklich überrascht, dass ich ihn auf seinen kleinen Ausspähversuch ansprach. Und doch hatte ich ihm sicher einen Schrecken eingejagt. Deshalb versuchte ich sehr schnell, daraus keine große Sachen werden zu lassen: “Nic, es ist alles gut. Alles, was mein Team und ich hier vorbereitet haben hat das Ziel, dich wieder gesund zu machen. Ich habe keine Geheimnisse vor dir. Wenn es dir dabei hilft, mir etwas zu vertrauen, dann kannst du alles, was ich sage, auf diese Art und Weise nachprüfen! Du musst nicht mehr in die Wohngruppe zurück. Nie mehr! Das hast du gesehen, oder?” Ein zäher Moment der Stille. Und der Bewegungslosigkeit. Dann ein scheues Nicken. “Und es ist okay für dich, was du gesehen hast und wie wir dich in den letzten Stunden behandelt haben?” Kein Nicken diesmal. Dafür ein ausgestreckter Daumen. Er hob die linke Hand. Daumen hoch! Und mir standen fast die Tränen in den Augen. Er war angekommen. Er war bei “uns”. Mit allen Sinnen. So schnell hatte ich damit nicht gerechnet!
Unter offensichtlich großen Mühen und mit zugekniffenen Augen schob er sich in seinem Bett langsam nach oben, um noch etwas aufrechter zu sitzen. Keine ganz einfache Aktion, schließlich war die rechte Hand durch den Zugang fast außer Gefecht. Aber er wollte sich auch nicht helfen lassen. Und ich respektierte diesen Wunsch. Sehr einfach zu deuten war dann der Blick, den er auf die vier Tablets richtete. Dafür musste man kein Hellseher sein, oder in den Augen von Menschen lesen können: Nic hatte Hunger. Auch kein ganz schlechtes Zeichen. “Geht gleich los, ich muss nur noch dieses Klapptisch-Dings auseinandergefaltet bekommen!”, erklärte ich Nic, ohne ihn wirklich anzusehen, während ich wirklich mit diesem Rollwagen-Tisch-Monster kämpfte. Zwei eingeklemmte Finger und genauso viele Flüche später war das Teil dann tatsächlich so stabil, dass ich es übers Bett zu Nic schieben konnte. Der war noch ein ganzes Stück davon entfernt, mein Gehampel witzig zu finden. Aber es hatte ihn auch nicht irritiert. Noch ein Punkt für mich.
Bevor ich die hellblauen Abdeckhauben von den Tablets nahm, versorgte ich Nic noch mit einer saugfähigen Unterlage, die ich zwischen der Tischkante und seinem Kopf ausbreitete. Das war reiner Selbstschutz. Nic war ausgehungert und noch ziemlich zittrig. Diese Mahlzeit würde also entsprechende Spuren hinterlassen. Und ich hatte keine Lust, gleich nach dem ersten Essen das gesamte Bett und Nic neu zu beziehen, bzw. umziehen zu müssen. Es zeigte sich schnell, wie richtig diese Vorsichtsmaßnahme gewesen war. Nic aß mit Links, weil ja in der rechten Hand die Infusionsnadel steckte. Und in Kombination mit dem Zittern, das auch jetzt, fast am Ende der ersten Infusion längst noch nicht verschwunden war, wurde aus der Mahlzeit eine echte Sauerei. Ärgerlich war das alles nicht. Im Gegenteil. Weil niemand gewusst hatte, in welchem Zustand Nic bei uns eintreffen würde, hatte die Küche Schonkost vorbereitet. Es gab ein bisschen Rührei, Aufstrich, eine leichte Suppe und einen Pudding. Für uns beide. Ich hatte allerdings nicht viel davon. Nic dafür umso mehr. “Du hast während der Flüge nichts gegessen, oder?”, fragte ich ihn betont beiläufig, als er gerade den letzten Rest Suppe zum Mund zitterte. Ein schnelles Nicken. Ein weiteres Detail, das der Endermann noch auf die Füße fallen würde. Zwischendurch versorgte ich Nic immer wieder mit frischem Tee. Die übliche Krankhaus-Mischung. Er trank tapfer. Wohl auch, weil er wirklich Durst hatte. Es war Nic in diesem Augenblick ganz offensichtlich ziemlich egal, was er vorgesetzt bekam. Hauptsache, es machte satt. Er hörte erst auf, als wirklich jeder Teller komplett leer war. Das machte mir etwas Sorgen. Aus psychologischen und aus physiologischen Gründen. Das Essen und die Flüssigkeit halfen nur, wenn sie auch in ihm drin blieben. Und ganz abgesehen davon war ich mir sicher, dass das penible Aufessen seine Ursache in den Regeln der Wohngruppe hatte. Alleine beim Gedanken daran, lief mir ein Schauer über den Rücken.
Autor: Der Beobachter (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
Suche
Weitere Teile dieser Geschichte
- When 2 become 1 (19)
- When 2 become 1 (18)
- When 2 become 1 (17)
- When 2 become 1 (16)
- When 2 become 1 (15)
- When 2 become 1 (14)
- When 2 become 1 (13)
- When 2 become 1 (12)
- When 2 become 1 (11)
- When 2 become 1 (10)
- When 2 become 1 (9)
- When 2 become 1 (8)
- When 2 become 1 (7)
- When 2 become 1 (6)
- When 2 become 1 (5)
- When 2 become 1 (4)
- When 2 become 1 (3)
- When 2 become 1 (2)
- When 2 become 1 (1)
Archiv
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- Joerg Zach bei Besuch bei der Tante
- nappybaby bei Florians Schatten (2)
- Tobi bei Florians Schatten (4)
- Michael Two bei Zwischen gestern und Morgen (21)
- Michael Two bei Florians Schatten (4)
- Joerg Zach bei Niko (4)
- Phil bei Florians Schatten (4)
- Jojo bei Florians Schatten (4)
Die Geschichte ist immer noch wirklich gut, ich kann die Teile nur leider nicht immer am Stück lesen, weil ich sonst einfach zu deprimiert werde. :/
immer wenns spannend wird kommt der cut 😀
freu mich aufjedenfall auf die nächsten teile
Salü Beobachter
Besten Dank für diese Geschichte. Ich bin versucht die Adjektive super, toll, schön zu gebrauchen. Diese Adjektive scheinen mir aber dem Inhalt der Geschichte nicht angemessen. Es ist toll zu sehen, wie einfühlsam Du die Geschichte schreibst. Obwohl die Handlung bis jetzt eher traurig aber mit einigen Blitzen von Hoffnung und Zuversicht auf ein besseres Leben ist, kommt es mir wie ein super gelungener Film vor. Die Handlungen folgen einem weichem Fluss.
Wie alle Vorschreiber warte auch ich gespannt auf die weiteren Teile.
Besten Dank für Deine bisher und die noch bevorstehende (Schreib-)Arbeit.
so sollte auch eigentlich auch eine geschichte sein. schließlich ist eine geschichte nichts anderes als ein Film in Schriftform^^
Ach du heilige ………
Sehr sehr berührend, ich sitz hier mit Tränen und laufender Nase, ich war fast schon hypnotisiert.
Unfassbar intensive Atmosphäre
Ich bitte den Autor ganz herzlichst, weiter zu schreiben… ich bin wirklich sehr gerührt.
Meine ich vollkommen ernst. Ausgesprochen krass.