Alles wird besser, vielleicht sogar gut (7)
Windelgeschichten.org präsentiert: Alles wird besser, vielleicht sogar gut (7)
Fast 20 Stunden später stand ich mit Onkel Phil am Hafen der Insel und wartete darauf, dass die MS Albatros es schaffte, ihn stürmischer See anzulegen. Das Unwetter war zwar längst nur noch ein gewöhnlicher Sturm im Spätherbst, für das vergleichsweise kleine Passagierschiff war die schwere See aber dennoch eine Herausforderung. Genauso wie für uns der Weg zum Hafen. Normalerweise dauerte die Fahrt mit dem Auto keine 45 MInuten. Heute waren wir doppelt so lange unterwegs gewesen. Immer wieder hatten und gesperrte Straßen, umgestürzte Bäume, halb weggespülte Fahrbahnen und defekte Ampeln ausgebremst und Onkel Phil zu unzähligen Umwegen gezwungen. Er hatte damit gerechnet und zum Glück ausreichend viel Zeit für die Fahrt eingeplant. Für mich war der Blick auf die vom Sturm rasierte Landschaft ein ziemlicher Schock. “Onkel Phil sah im Rückspiegel, dass mir die Situation zu schaffen machte und versuchte, das ganze einzuordnen. “Das sieht alles viel schlimmer aus, als es ist, Paul! Die Leute hier sind Stürme zu dieser Jahreszeit gewohnt und haben Vorkehrungen getroffen! Das war zwar ein ziemlich heftiger Orkan, aber die Schäden die du siehst, werden in knapp 14 Tagen vergessen sein!” Ich glaubte ihm kein Wort, ahnte aber insgeheim, dass da was dran sein konnte. Denn statt sich in ihren Häusern zu verkriechen, schien die ganze Insel auf den Beinen zu sein. Überall wurden Straßen geräumt, Vorgärten von durch die Gegend geflogenen Stühlen, Eimern, Töpfen sowie sonstigem Unrat befreit, parallel hatten Techniker, Bauarbeiter und Reinigungsteams längst begonnen, die beschädigte Infrastruktur zu reparieren. Die Insel kam mir vor wie ein Ameisenhaufen voller fleißiger Arbeiter in bunten Sicherheitswesten.
Da man nicht direkt am Hafen parken konnte und der Wartebereich des Ausweich-Anlegers nicht mehr war, als ein zugiger Schuppen, hatte Onkel Phil mir Klamotten rausgelegt, mit denen ich auch eine Expedition ins Polarmeer überstanden hatte. Ich trug eine dicke orangefarbenen Frottee-Strumpfhose unterm Overall, obenrum toppte ein langärmliges Wolle/Seide-Unterhemd und einen Thermo-Hoody mit Eisbär-Applikation den Windelbody.. Drüber kam dann der bereits sturmerprobte Thermo-Overall, der mir bereits auf Sylt und Helgoland beste Dienste geleistet hatte. Meine Füße steckten in roten Thermo-Gummistiefeln, die irgendwie zum Haus gehörten. Als ich zu Hause auf dem Wickeltisch gesessen hatte und zusah, wir mir Onkel Phil Schicht für Schicht überzog, hatte ich das alles für deutlich überzogen gehalten. Jetzt war ich sehr, sehr froh über den Michelin-Männchen-Look. Der Orkan hatte nämlich nicht nur alles, was nicht niet- und nagelfest war durcheinander gewirbelt, sondern auch noch einen wolkenlosen Himmel und ein stabiles Hochdruckgebiet zurückgelassen. Und das hieß zu dieser Jahreszeit: Viel Licht, ein strahlend blauer Himmel und eisige Temperaturen, die sich durch den konstant vorhandenen Wind noch deutlich unangenehmer anfühlten. Entsprechend übersichtlich war das Publikum, das mit uns auf die MS Albatros warteten. Fast 20 Minuten brauchte der Kapitän, um das nicht mehr ganz so junge Schiff überraschend sanft parallel zum Anleger zu positionieren und schließlich am Liegeplatz festzumachen.
Nach weiteren 20 Minuten waren dann Juli und der Graf bei uns. Oder besser: Der Graf und das, was von Juli übrig war. Ich hatte schon von weitem gesehen, dass da irgend etwas ganz und gar nicht stimmte. Die beiden hatten ziemlich als Letzte das Schiff verlassen, wobei Juli in eine dieser glänzenden Rettungsdecken eingepackt war, von seinem Großvater vorsicht in unsere Richtung geschoben wurde und überhaupt nicht gesund aussah. Mir war schon klar gewesen, dass die Fahrt in dieser Nussschale bei diesem Wetter kein Spaß für ihn werden würde. Seine Angst vor dem offenen Meer und seinen mehr als empfindlicher Magen hatten wir ja auf Helgoland kennen gelernt. Aber was da aus der überdimensionale Rettungsdecken-Wurst zu uns rüber sah, konnte unmöglich Juli sein. Er war totenbleich, die Augen mit dunklen Ringen eingerahmt. Er schwankte und konnte sich ganz offensichtlich nur schwer auf den Beinen halten. Da Juli nicht wirklich in der Lage war, einen vernünftigen Satz herauszubekommen, übernahm der Graf die Erklärungen. Er war selbst sichtlich mitgenommen. Aber nicht, weil die Überfahrt so schrecklich gewesen war, sondern weil ihn die heftige Reaktion seines Enkels ziemlich erschreckt hatte. Dabei hatte sich Juli die gesamte Fahrt über wohl ganz tapfer geschlagen. Erst kurz vor dem Anlegemanöver, als sich die beiden bereits auf dem Weg zum Ausstieg gemacht hatten, hatte es Juli erwischt. Unter Deck, ohne Fenster und damit ohne echte Orientierungsmöglichkeit, kapitulierte er. Zwei schwere Rollbewegungen der MS Albatros, dann waren alle Dämme gebrochen. Julis Mageninhalt landete größtenteils auf der Treppe und seinen Klamotten. Die waren zu diesem Zeitpunkt aber eh nicht mehr zu retten gewesen. Denn wenige Sekunden zuvor hatte er sich in seiner Panik bereits in die Hose gemacht. Sein Großvater war mit der Situation sichtlich überfordert. Er war Hotelier. Ein versierter Manager, den nichts so schnell aus der Bahn warf. Aber seinen Enkel so zusammenbrechen zu sehen, machte ihm Angst. Und Angst macht bewegungsunfähig. Dass die beiden es dennoch bis zu uns geschafft hatten, war der Crew der Albatros zu verdanken. Für die waren solche Dramen Alltag. Peanuts.
Für Onkel Phil waren die Erdnüsschen aber eine ganz schöne Herausforderung. Er musste sich ja nicht nur überlegen, wie er Juli aus den nassen, versauten Sachen herausbekam, sondern er musste auch den Grafen wieder aufs Gleis setzen. Der sollte, so der Plan, bereits in 30 Minuten wieder zurückfahren, weil er mit Julis Großmutter bereits am nächsten Tag zu einer Messe nach Dresden wollte. Allerdings wollte er seinen Enkel in diesem Zustand erstens auf keinen Fall alleine lassen und zweites es Onkel Phil nicht zumuten, die Sache regeln zu müssen. Da ich Onkel Phil inzwischen mehr als gut kannte wusste ich, dass die Situation für ihn längst klar war: Der Graf musste aufs Schiff, den Rest würden wir zu dritt in den Griff bekommen. Notfallplan, Marke Onkel Phil. Da war er unschlagbar. Auch in diesem Fall. Er schnappte sich den Grafen und verschwand nach einem “Auf ein Wort, Herr Graf …” hinter der nächsten Ecke. Nicht allerdings, ohne mich ganz nah an Juli zu schieben. “Kümmer dich um ihn!”, lautete die eindeutige Botschaft. Und ich tat, was ich konnte. Erzählte ihm von dem Wahnsinns-Haus, von den Plänen für die nächsten Tage und wie sehr ich mich freute, dass er endlich da war. Ehrlich gesagt war ich mehr als skeptisch, ob das alles bei Juli ankam. Der hatte zwischenzeitlich angefangen zu zittern. Die Kälte hatte ihn erreicht und machte ihm offensichtlich zu schaffen. Ich zog ihn weiter in den Windschatten. Mehr konnte ich erstmal nicht tun. Sich hinzusetzen, mit den durchnässten Klamotten, würde die Sache nur noch schlimmer machen.
Eine gefühlte Ewigkeit später kam Onkel Phil mit dem Grafen zurück. Keine Ahnung, was er ihm alles erzählt hatte. Aber es hatte funktioniert. Julis Großvater wirkte wieder gefasst und aufgeräumt. Seine wichtigste Frage war, ob Juli wieder mit zurück wollte. Und die war schnell geklärt. In das Zittern, das mittlerweile Julis gesamten Körper erfasst hatte, mischte sich ein energisches Kopfschütteln. Das war deutlich. Und für den Grafen Bestätigung genug. Er “impfte” Juli die üblichen Verhaltensregeln ein, bedankte sich überschwänglich und ehrlich erleichtert bei Onkel Phil und steuerte festen Schrittes wieder die MS Albatros an. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Onkel Phil einen Zettel mit unzähligen Informationen und Kontaktdaten in eine Tasche seiner dicken Jacke schob und war mir sicher, dass er Julis Großeltern jeden Tag sehr umfassend darüber informieren würde, wie es ihrem Enkel ging. Das machte er ja mit Mama auch nicht anders. Viel wichtiger war aber jetzt erstmal Juli.
Zu meiner Überraschung dirigierte und Onkel Phil aber nicht zurück zu seinem Volvo, sondern steuerte auf eine Reihen von Holzhütten zu, die bei gutem Wetter die an- und abreisenden Touristen mit Souvenirs, Fastfood und Informationen versorgten. Um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter brannte nur in zwei, drei der Buden Licht. Eine davon schien unser Ziel zu sein. Es war, zu meiner und Julis Überraschung, ein Tattoostudio, dessen Tür von einem Riesen-Kerl ohne Haare, feuerroten Pupillen, Lederkutte und allerlei Tattoos und Piercings im Gesicht aufgerissen wurde. Auch ohne es zu spüren wusste ich zu diesem Zeitpunkt sehr genau, was gerade in meiner Windel los war. Der Typ war ein menschlicher Alptraum. Was zur Hölle wollte Onkel Phil hier? Juli schien es nicht besser zu gehen. Zur Kälte kamen jetzt noch Angst und Ungewissheit. Er wimmerte. Und Onkel Phil? Der stand, ein schiefes Grinsen im Gesicht, hinter dem Türsteher aus der Hölle und amüsierte sich ganz offensichtlich bestens. “Pau, darf ich dir Paul vorstellen?” Was? Warum welcher Paul? Ich? “Oder besser: “Paul und seinen Kumpel Juli!” Ich war immernoch hoffnungslos überfordert und bekam deshalb auch nicht wirklich mit, dass das Tattoo-Ungeheuer uns mittlerweile in seine Hütte geschoben hatte. “Rein mit euch, ihr Hosenscheißer! Bei der Kälte holt ihr euch sonst noch den Tod!” Den letzten Teil des Satzes sprach er mit einer tiefen Stimme, bei der ich eine Gänsehaut bekam. Und wenn ich das richtig sah, ging es Juli kein bisschen anders, wobei ich inständig hoffte, dass er seine Blase und seinen Darm noch etwas besser im Griff hatte, als ich. Das Tattoo-Viech funkelte uns immernoch böse aus seinen rotleuchtenden Augen an, nur um einen Wimpernschlag später in schallendes Gelächter auszubrechen: “Maaaaan, Phil! Die beiden sind ja echt knuffig!”, brüllte er in die Richtung von Onkel Phil, während er seine linke Pranke auf die massive Holztheke krachen ließ. Nicht, dass das im Augenblick irgend etwas an meiner Panik geändert hätte, war dieser überraschende Sinneswandel zumindest etwas verstörernd, für mich. Also, für uns. Konnte ja immernoch sein, das “knuffig” in der Sprache der Kinderfresser ein Synonym für “lecker” war. War es aber nicht. Natürlich nicht. Onkel Phil klärte die Sache auf. Paul, so hieß das Tattoo-Ungetüm, war der Besitzer der Bude und lebte ganz gut als seine eigene Litfaßsäule. Onkel Phil hatte vor ein paar Wochen ein paar Models fotografiert, die Paul tätowiert hatte. So hatten sich die beiden kennengelernt. Inzwischen waren sie dicke Kumpels, was sich daran ablesen ließ, dass Paul sehr coole Tattoo-Fotos im Laden und Onkel Phil ein paar sehr beeindruckende Paul-Kunstwerke auf seinem Rücken hatte. Alles eine Frage des Gebens und Nehmens. In unserem Fall ging es vor allem ums Geben. Kein Tattoo, sondern ein Rückzugsort, an dem Onkel Phil Juli aus seinen versifften Klamotten rausbekam, bevor der sich eine Lungenentzündung einfing. Eigentlich hier am Hafen zu dieser Uhrzeit eine unmögliche Aufgabe, wenn man Paul nicht kannte. Der war Onkel Phils einzige Chance gewesen und hatte auf den kurzen Telefonanruf hin sofort seine Unterstützung zugesagt. “Ich habe euch hinten den Kunden-Ruheraum hergerichtet. Da seid ihr ungestört. Handtücher liegen neben dem Waschbecken, wenn ihr was entsorgen müsst, schmeißt das Zeug einfach in die schwarze Mülltonne!”
Paul war ein Knaller. Soviel stand fest. Als er die Tür des dann gar nicht so kleinen Zimmers hinter uns schloss, erwarteten uns wohlige Wärme, ein paar bequeme Sessel, ein schmale Liege und ein Waschbecken in der Ecke, neben dem ein Stapel dunkle Handtücher aufgetürmt war. Onkel Phil schien das alles auszublenden und spulte das Notfall-Programm ab, das uns in solchen Situationen bereits mehrfach geholfen hatte. Nur war es da meistens um mich gegangen. Jetzt war es Juli, der zu allererst Hilfe brauchte. Immerhin hatte er zwischenzeitlich aufgehört zu zittern. Während er Juli aus der Erste-Hilfe-Decke schälte und die Folie auf dem Boden ausbreitete, gab es auch für mich was zu tun: “Zieh bitte den Overall und die Filzklamotten aus, Paul! Sonst schmilzt du hier drin! Und wenn ich mit Juli fertig bin sieht’s in Sachen Wechselklamotten schlecht für dich aus!” Ich kannte Onkel Phil in diesen Situationen sehr genau. Diskussionen waren jetzt keine gute Idee. Ich verzog mich also in Richtung der Sofas und begann, mich aus den warmen Klamotten zu schälen. Als ich dann schließlich nur noch im Eisbär-Hoodie und mit orangener Strumpfhose zurück zu Juli kam, war Onkel Phil gerade dabei, Juli möglichst elegant aus seinem eingesauten dunkelblauen Strickpullover zu bekommen. Der hatte alles abbekommen, was Juli Magen zu bieten gehabt hatte. Das Teil war ein Fall für die Tonne. Die große Kunst bestand darin, Juli da rauszubekommen, ohne die Reste des Erbrochenen großflächig in seine Gesicht zu verteilen. Die gleiche Übung dann nochmal mit dem ebenfalls hoffnungslos eingesauten Longsleeve drunter. Juli half, so gut er konnte, auch wenn es nicht viel war, was er zum Gelingen beitragen konnte. Hauptproblem war, dass eigentlich alles, was er am Körper trug, in Mitleidenschaft gezogen worden war. Selbst das Unterhemd musste dran glauben. Es hatte in Julis hellgrüner Slipboxer gesteckt und hatte sich deshalb bis zum Bauchnabel mit Urin vollgesaugt. Juli hatte ganze Arbeit geleistet. Nach Unterhemd, der beigen Thermo-Cordhose und der dicken weißen Strickstrumpfhose flogen sogar seine sündhaft teuren Lederboots in den Müll. Warum? Weil Juli darin fast bis zu den Knöcheln im Urin stand.
Juli nackt zu sehen, war für uns beide keine einfache Situation. In Strumpfhosen oder Unterwäsche war das bislang kein Problem gewesen. Aber so ganz ohne Klamotten? Ich versuchte angestrengt, nicht zu Juli zu sehen. Er sollte auf keinen Fall das Gefühl bekommen, dass ich Interesse daran hätte, ich nackt zu sehen. Er war mein bester Freund! Ich musste nicht wissen, wie er nackt aussah, zum Teufel. Allerdings ließ sich das auch nicht ganz vermeiden, obwohl Onkel Phil sehr schnell eine unserer Notfall-Decken aus seinem Rucksack gezaubert und Juli damit zugedeckt hatte. Anschließend sammelte er alles zusammen, was sich an Feuchttüchern und Wechselklamotten in seinem Rucksand auftreiben ließ. Das Ergebnis war ernüchternd. Da wir eigentlich nicht sehr lange unterwegs sein wollten, war die Auswahl an Wechselklamotten, die Onkel Phil für mich mitgenommen hatte, überschaubar. Sehr überschaubar. Neben einem gestreiften gelben Body, der Juli viel zu klein war, fand sich noch eine meiner roten Ersatzstrumpfhosen, die ihm ziemlich sicher passen würde. Außerdem waren da noch reichlich Feuchttücher, ein grüner TKKG-Pullover, der ebenfalls passen könnte, sowie vier meiner dicken Nachtwindeln. Juli bekam große Augen, er hatte sicher mit einer größeren Auswahl gerechnet. Er war jetzt den Tränen nahe. Und ich irgendwie auch. Wir konnten Juli doch nicht nackt mit ins Auto nehmen.
So schnell gab Onkel Phil aber nicht auf: “Juli, ich fürchte, wir müssen bei deiner Kleiderauswahl ein bisschen improvisieren!” Das war die Untertreibung des Jahres. Kleiderauswahl? War Onkel Phil noch ganz bei Sinnen? Es gab keine Auswahl. Im Augenblick hatte Juli nicht einmal Schuhe, die er auf dem Weg zum Auto tragen könnte! “Das Problem ist die Kälte”, fuhr Onkel Phil fort. “Mit Pauls Strumpfhose und dem Pulli hättest du immerhin was an. Und wenn wir dich dann in zwei Decken packen, könnte ich dich zum Auto tragen!” Stille. Wir alle konnten sehen, dass Juli versuchte, im Kopf Optionen zu sortieren, die es gar nicht gab. “Also das Problem mit dem Schuhen kriegen wir hin!”, meldete sich plötzlich eine tiefe Stimme von der Tür. Wo kam Paul denn jetzt auf einmal her? War aber auch egal, denn er konnte uns tatsächlich helfen. “Ich hab noch eine zweite Bude, in der ich vor allem Souvenirs verkaufe. Touristen-Kram. Aber eben auch warme Gummistiefel für Leute, die spontan einen Ausflug an den Strand oder ins Watt machen wollen! Und wenn es euch hilft, bringe ich noch ein T-Shirt in Julis Größe mit!” Das half. Und wie das half! Während Paul davonpolterte, machte sich Onkel Phil daran, Juli mit den diversen Feuchttüchern und Einmal-Waschlappen einigermaßen sauber zu bekommen. Das war eine ziemliche Herausforderung, immerhin stand Juli bis vor ein paar Minuten noch in einem Urin-Fußbad und roch entsprechend streng. Nach gut fünf Minuten war die Sache so gut wie erledigt und Juli lag wieder unter der Decke und wartete auf die Rückkehr von Paul. Es blieb das Problem, das Juli insgesamt zu wenig anzuziehen hatte. Und vor allem auch keine Unterwäsche. Zu guter Letzt war es Juli selbst, der den entscheidenden Hinweis brachte: “Uuuuund wenn iiiiich eine von Pauls Wwwwwwindeln drunter ziehe?”, brachte er mühsam heraus und bekam dabei einen knallroten Kopf. Er war extrem angespannt, da war sein Stottern immer besonders schlimm. “Die Idee hatte ich auch schon”, meinte Onkel Phil. “Aber das musst du selbst entscheiden! Unterm Strich ist so eine Windel zwar halt keine Thermo-Unterwäsche. Aber besser als nichts!” Ich hatte mich währenddessen fast nicht getraut zu atmen. Eine Windel? Juli? Das war … krass! Und doch war es genau diese Idee, die bis jetzt gefehlt hatte, um Juli aus seiner Lethargie zu reißen. “Können wir das schnell hinter uns bringen, bitte?”, murmelte er leise an Onkel Phil gewandt. Der nickte. “Los geht’s!”. Den Rest kannte ich. Theoretisch. Denn diesmal lag da nicht ich, sondern Juli. Onkel Phil nahm eine der dicken Windeln, faltete sie auseinander und gab Juli ein Zeichen, seinen Po anzuheben. Dann schob er die Windel unter Juli, der seinen Po ganz automatisch wieder absenkte. Als Onkel Phil begann, das Vorderteil der Windel zwischen Julis Beinen nach oben zu ziehen, schloss Juli die Augen. Routiniert strich Onkel Phil den vorderen Windelbereich nach links und rechts glatt und verschloss das Ganze dann mit den vier Klebestreifen. Fertig.
Juli trug eine Windel. Wahrscheinlich das erste mal, seit vielen, vielen Jahren. Und zu meiner Überraschung saß das Ding trotz seiner Größe erstaunlich gut. Deutlich knapper als bei mir, aber das war völlig okay. Erst jetzt öffnete Juli wieder seine Augen. “Das fühlt sich weich an!”, kommentierte er seine neue Unterwäsche überraschend positiv, während er wieder auf die Beine kam und das erste Mal seit 20 Minuten nicht nackt im Zimmer stand. “Gewöhn dich nicht dran!”, antwortete Onkel Phil ohne lange nachzudenken. “Ein Wickelkind reicht mir völlig!” Ein schneller Blick zu mir der mit sehr eindeutig zu verstehen gab, dass er sich niemals über mich lustig machen würde! “A propos Wickelkind: Paul, du bist dran!” Jetzt blieb mir aber echt die Spucke weg. Warum war ich dran? Mit was? “Du hast die Windel voll, Paul! Riechst du das nicht?”, sagte Juli ruhig, ohne ein wahrnehmbare Gefühlsregung. Früher, also bevor er vor 90 Sekunden ebenfalls auf Windeln “umgestiegen” war, wäre der Spruch deutlich gehässiger ausgefallen. Aber jetzt waren wir irgendwie Brüder im Geiste. Zumindest so lange, bis Juli bei uns zu Hause wieder auf herkömmliche Unterwäsche umsteigen konnte. Eigentlich gemein. So war’s doch auch ganz nett! Wobei ich wusste, dass das Quatsch war. Juli hatte aus Panik in die Hose gemacht und nicht, weil er aus medizinischen Gründen nicht anders konnte. Also reiß dich zusammen, Paul!
Erst jetzt fiel mir übrigens wieder ein, dass ich ja vorhin selbst der Meinung gewesen war, dass Pauls intensive Begrüßung nicht ohne Folgen geblieben sein konnte. Und genau so war es gewesen. Und erst jetzt bemerkte ich, dass ich natürlich roch, was Sache war. Aber aus irgend einem Grund war für mich völlig klar gewesen, dass Juli diesmal der Verursacher gewesen war. Gott, bist du bescheuert, Paul, sagte ich zu mir selbst und legte mich auf die knisternde Erste-Hilfe-Folie, die vor wenigen Augenblicken noch Juli als Wickelunterlage gedient hatte. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür und der “große” Paul stand im Raum, in der Hand ein paar knallgelbe Gummistiefel, die vorne jeweils mit einem grünen Krokodil bedruckt waren. Das Innenfutter bestand aus grünem Fleecematerial, war also entsprechend warm. Abgesehen vom Krokodil eigentlich genau der richtig Schuh für dieses Wetter. Außerdem hatte Paul noch ein weißes Langarmshirt in den Pranken, auf dem wir ein Wiedersehen mit dem Krokodil von den Gummistiefeln feierten. “Sorry!”, kam es von Paul etwas zerknirscht, aber “in Julis Größe kann ich nur noch damit dienen!”. Juli war das offensichtlich nicht wirklich wichtig, was er denn da anziehen musste. Hauptsache, es war warm und er hatte überhaupt etwas an. “Dann hab ich ja Glück gehabt”, grinste Paul und verschwand wieder in seinem Laden. “Kannst du dich schonmal so weit anziehen?”, wandte sich Onkel Phil über seine Schulter an Juli. “Ich sorge hier so lange mal eben für frische Luft!” Und schon legte er routiniert los. Erst zog er mir mein Strumpfhose aus, öffnete anschließend mit einer schnellen Handbewegung meinen Body und dann die Klebestreifen der Windel. Als er das mit Urin vollgesogene Vorderteil der Windel zurückklappte zeigte sich, dass ich das gute Stück mal wieder an den Rand seiner Belastbarkeit gebracht hatte. Diesen Schuh zog ich mir aber nicht alleine an! Das war ja wohl alles Pauls Schuld! Ohne seinen Kinderfresser-Auftritt sähe es in der Windel sicher deutlich anders aus. Onkel Phil ließ sich durch die Sauerei schon lange nicht mehr aus der Ruhe bringen. Er wischte meinen Windelbereich sehr gründlich sauber, cremte mich sorgfältig ein und verklebte die frische Windel routiniert genau so, dass sie nicht zu locker oder zu eng saß. Anschließend half er mir in die Strumpfhose und zog mich auf die Beine. Ich kam genau neben Juli zum Stehen und verschmolz (mal wieder) mit ihm zu einem ziemlich skurrilen Doppelbild: Zwei Jungs, ähnlich alt, aber in der Höhe fast zwei Köpfe und in der Breite zwei Öltanks voneinander entfernt, standen mit ziemlich ähnlichen Klamotten nebeneinander. Juli in der roten Strumpfhose, ich in der orangenen. Beide mit einem gut gepolsterten Windelpo ausgestattet. Onkel Phil fand’s rasend komisch. Wir freuten uns mit ihm. Irgendwie. Also vor allem freuten wir uns beide wirklich darüber, dass Juli wieder einigermaßen vorzeigbar war. Mit unseren Outfits wären wir zumindest in allen Kleinkind-Krabbelgruppen auf diesem Planeten die absoluten Superstars.
Bevor wir dann endlich in Richtung Auto aufbrechen konnten, bestand der große Paul noch darauf, mit Onkel Phil noch einen doppelten Espresso zu trinken. Außerdem hatten die beiden wohl noch was Geschäftliches zu besprechen. Wie öde! Immerhin gab es für Juli und mich jeweils ein XXL-Glas Kakao mit doppelt Sahne UND Schokostreuseln. Wir lümmelten lässig am Tresen von Pauls düster-stylischen Tattoo-Bude, löffelten Schoko-Sahne von unseren Bechern und kamen uns dabei sehr cool vor. Vor allem Juli war dabei aber noch sehr deutlich anzusehen, dass ihn die Überfahrt und die gesamte Klamotten-Windel-Aktion im Anschluss schon ziemlich mitgenommen hatte. Aber immerhin war nach dem halben Becher Kakao ein Teil seiner gesunden Gesichtsfarbe wieder da und als er den letzten Rest der dunkelbraunen Kalorien-Bombe aus dem Becher schlürfte sah ein Blinder mit Krückstock, dass er die Sache ohne weitere Schäden überstehen würde. Er musste sich allerdings erst um den Rest meines Kakaos kümmern. Ich hatte bereits nach einem Drittel der Menge das Gefühl gehabt, grade einen Eimer voll Schlick getrunken zu haben und konnte mir nun ungefähr vorstellen, wie aus einem normalen Paul das Tattoo-Ungeheuer hatte werden können. Wahrscheinlich trank er einfach jeden Tag eine Badewanne voll Kakao. Du weißt schon, dass du mal so endest wie Paul, wenn du so weitermachst, unternahm ich einen ersten leisen Versuch, Juli zu necken. “Du solltest dich lieber bei mir bedanken!”, antwortete er, während er sichtlich zufrieden in meinem Becher herumstocherte. “Ich glaube, die letzten beiden Kinder, die hier ihren Kakao nicht leergetrunken haben, hat Paul gefressen! Er legt großen Wert auf seine Qualitäten als Gastgeber und dazu gehört eben auch, dass seine Gäste aufessen. Und leertrinken. Ich habe uns also das Leben gerettet!” Ja, okay. Er war fast wieder der Alte.
Autor: DerBeobachter (eingesandt via E-Mail)
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Klar! Sehr gerne! Aber bitte versucht, im Rahmen der Geschichte zu bleiben. Es geht um eine Geschichte in der Windeln eine gewisse Rolle spielen, nicht die Hauptrolle!
Er trifft seine „Freundin“ wieder.
Es vergeht Zeit, er macht die Op und ist geilt, dennoch sehnt er sich nach der alten Zeit.
Er ist erwachsen geworden, und heiratet Tilda.
Seine Mutter ist irrsinnig stolz auf ihn usw usw
Schöne Geschichte, die beste die ich bisher gelesen habe.