When 2 become 1 (11)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (11)
Hier kommt der nächste Teil. Und wie immer: Kommentare unbedingt erwünscht?
Das Team des Krankenhauses hatte unser Frühstück bereits neben der Zimmertür in einem Rollwagen zur Verfügung gestellt. Nic konnte ruhig im Schlafanzug frühstücken, ich wollte mich allerdings vorher fertig machen. So konnte ich den Rest der verbleibenden Zeit effektiver mit Nic nutzen. Viel Zeit im Bad brauchte ich nicht. Ich trug die Haare kurz. Ein Allerwelts-Schnitt, der mit einer Bürste an jedem Ort der Welt auch ohne Spiegel und in wenigen Sekunden in Form zu bringen war. Und wenn ich nicht geschäftlich unterwegs war, beschränkte sich meine Garderobe grundsätzlich auf eine helle Chino, ein schwarzes T-Shirt und einen Kapuzenpullover, dessen Dunkelblau die Basis für das Logo meiner Stiftung bildete. Meine Mitarbeiter kannten mich nicht anders. Und nur mein engster Freundeskreis wusste, dass ich in einem zweiten Kleiderschrank auch noch diverse Anzüge und Business-Outfits hängen hatte. Aber Nic war privat. Er kannte mich von meinen Besuchen und den Skype-Telefonaten nur im Kapuzenpulli. Entsprechend schnell war ich angezogen. Meine Einheits-Garderobe hatte einen weiteren Vorteil: Ich konnte bei der Farbzusammenstellung nichts falsch machen. Dafür hatte ich so gar kein Gespür. Um meinen Business-Look kümmerte sich Sarah Flannigan, eine garantiert 200 Jahre alte Schneiderin, die ich gefühlt seit einer halben Ewigkeit kannte, aber bis heute siezte. Sie hatte mir damals den ersten Firmenlook für meine Skilehrer zusammengestellt und dabei so gar kein Problem gehabt, dass ich sie erst sechs Wochen später bezahlen konnte. Seitdem sorgte sie dafür, dass ich stets einen Auswahl moderner Business-Outfits im Schrank hatte.
Außerdem hatte sie gemeinsam mit Stephens Frau den ersten Schwung Klamotten für Nic zusammengestellt. Das Wenigste war neu. Die meisten Sachen stammten von Stephens Kindern. Kinderklamotten gab es im achtköpfigen Haushalt meines Anwalts und Freundes mehr als genug, vieles davon kam aber nicht von der Stange, sondern war selbst genäht, bzw. aus gebrauchten Teilen zu neuen Kleidern zusammengefügt. Beim Thema Upcycling war Stephens Frau Raissa Profi. Raissa stammte aus Kasachstan und war der Gegenentwurf dessen, was sich alle anderen erfolgreichen Anwälte in Nordamerika als Frauen “zulegten”. Raissa war nicht der Typ “ehemaliges Magermodel”, sondern eine herausragend attraktive Frau, deren Anziehungskraft auf ihrer Ausstrahlung basierte. Nicht auf gekaufter Faltenfreiheit. Raissa hatte in Kanada Betriebswirtschaft studiert und sich nach dem Studium mit dem Verkauf von Upcycling-eBooks eine goldene Nase verdient. Nähen hatte sie von ihrer Mutter in Kasachstan gelernt, die ihre 8 Kinder alleine großgezogen hatte, nachdem der Vater früh bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Statt sich nach ihrem Erfolg in Kanada einen ebenfalls reichen Kerl zu angeln, hatte sie einen damals noch sehr mittellosen Jura-Studenten geheiratet und nach Abschluss von Stephens Studium und dessen ersten Jahren in einer großen Kanzlei fast ihr gesamtes Upcycling-Vermögen in den Aufbau von Stephens eigener Kanzlei investiert. Auf den ersten Blick ein irrwitziges Risiko, unterm Strich aber für beide ein sehr, sehr gutes Geschäft. Finanziell waren die beiden inzwischen genauso unabhängig wie ich. Mindestens. Die Klamotten für ihre Kinder nähte Raissa dennoch selbst. Was den eigenen Kindern nicht mehr passte, wurde an Freunde weitergegeben. Und das Thema Kleidung war nur ein Aspekt, in dem sich Stephens Familie radikal von dem unterschied, was in den so genannten “besseren Kreisen” um uns herum angesagt war. Ich bewunderte, wie konsequent Raissa und Stephen darin waren, ihr eigenes Leben zu leben. Sie waren Vorbilder für mich, auch wenn ich selbst nicht längst nicht so konsequent, nachhaltig, fair und bescheiden lebte. Bislang zumindest nicht. Aber jetzt war ja Nic da. Jemand, dessen Leben von nun an untrennbar mit meinem verbunden war. Dem ich Vorbild sein wollte. In jeglicher Hinsicht.
Inklusive Katzenwäsche hatte die gesamte Aktion keine zehn Minuten gedauert. Anschließend schon ich den Frühstückswagen zu dem kleinen Tisch neben der Spielecke und begann, alles vorzubereiten. Teller, Tassen, ein Teller mit Wurst und Käse. Ein bisschen Rührei. Honig. Nuss-Nugat-Creme. Marmelade. Müsli. Frisches Obst. Vollkornbrot. Damit könnte man sich in jedem Hotel sehen lassen. Ich selbst frühstückte seit Ewigkeiten nur Obst und Kaffee. Aber Nic sollte die volle Auswahl haben. Er konnte jedes zusätzliche Gramm Körpergewicht sehr gut gebrauchen. Wenn ich das gestern richtig gesehen hatte, lag sein Körpergewicht etwas über zwei Kilo unter dem Wert, ab dem man bei einem Kind mit seiner Größe vom Normalgewicht sprach. Ich gab mir große Mühe, den Tisch so attraktiv wie möglich zu bestücken. Ich wollte dieses erste gemeinsame Frühstück genießen. Wollte, dass sich Nic daran noch lange gerne erinnerte.
Immerhin war er inzwischen wach. Und sogar schon auf den Beinen. Er gab sich große Mühe, das vor mir zu verbergen. Hatte die Decke Millimeter für Millimeter von sich weggeschoben und war dann in Zeitlupe aus dem Bett auf die Beine geglitten. Er war gut. Aber er hatte die polierte Vase nicht gesehen, die auf dem Frühstückstisch stand. Die funktionierte wie ein Spiegel und hatte es mir möglich gemacht, ihn im Auge zu behalten und gleichzeitig so zu tun, als hätte ich nicht den Hauch einer Ahnung davon, dass sich da gerade jemand von hinten an mich heranpirschte. Selbst durch die leicht verzerrte Vasen-Perspektive konnte ich sehen, wie gut Nic die Nacht getan hatte. Er wirkte wacher als gestern. Irgendwie lebendiger. Und natürlich hatte er seinen Schnuller im Mund. Damit würde ich wohl eine Weile leben müssen. Mal sehen, wie wir da zueinander fanden. Inzwischen hatte Nic die Hälfte der Strecke zum Frühstückstisch zurückgelegt. Ich war gerade dabei, ihm ein große Tasse mit heißem Kakao zu füllen, als ich ihn nicht nur im Vasenbild sehen konnte, sondern ihn auch das erste Mal zwischen all den Frühstückstisch-Anrichtegeräuschen hinweg hören konnte. Ich hörte das Schlurfen seiner Stoppersocken. Und war mir sicher, zwischen den Schlurfern auch das Knistern und Rascheln seiner Windel hören zu können. Das konnte aber auch Einbildung sein. Sehr real war aber die Tatsache, dass er inzwischen nur noch eine Armeslänge von mir entfernt stand. Ich hatte nicht wirklich vor, ihn ernsthaft zu erschrecken. Aber so einen kleinen Spaß konnte ich mir schon erlauben, fand ich. Und deshalb drehte ich mich auch nicht zu Nic um, sondern streckte nur den rechten Arm nach hinten, die offene Handfläche zu Nic hin ausgerichtet. “Guten Morgen Nic!”, legte ich für ihn sehr überraschend los. “Ich glaube, wir haben ausgemacht, dass der Schnuller nur zu den Schlafenszeiten zum Einsatz kommt, oder?” Eine kurze Pause, dann konnte ich in meinem Vasen-Display sehen, wie Nics Gesicht kurz zur Maske wurde. Ich hatte ihn erwischt. Das überraschte ihn. Irritierte ihn. Machte ihm aber keine Angst. Das konnte ich sehr eindeutig in seinen Augen sehen. Er zögerte. Ging im Kopf offensichtlich seine Optionen durch. Wahrscheinlich war da bereits ein winziges Stück Vertrauen in mich. Aber eben auch noch ein großes schwarzes Loch aus Angst, Demütigungen und Unsicherheit. Er entschied sich, mir zu vertrauen. Allerdings etwas anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Statt mir den Schnuller in die Hand zu geben, machte er auf dem Sockenabsatz kehrt und flitzte zum Bett. Dort nahm er das Ding dann endlich aus dem Mund, versteckte es wieder sorgfältig in Dieter und platzierte das Stofftier dann unter seinem Kopfkissen. Auch gut. Ich hatte nichts gegen einen Kompromiss, bei dem wir beide gut wegkamen. Ein paar Augenblicke später stand Nic wieder neben mir. Er wirkte ohne den Schnuller jetzt wieder viel verletzlicher. Viel verlorener in einer Situation, die nach wie vor fremd für ihn war. “Hast du gut geschlafen”; fragte ich ihn, während ich in die Knie ging, um mit ihm auf Augenhöhe sprechen zu können. Er nickte vorsichtig. “Wollen wir dann zusammen Frühstücken?” Diesmal brauchte es kein Nicken. Seine Augen hatten längst die Nuss-Nugatcreme auf dem Tisch fixiert. Und garantiert auch jedes andere Detail registriert. Er hatte Hunger.
Das Team des Professors hatte einen der vier Stühle am Tisch durch einen dieser Tripp-Trapp-Dinger ausgetauscht und die Sitzhöhe auf Nics Größe eingestellt. Er konnte also bequem am Tisch sitzen. Allerdings stand sein Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. Und genau das schien meinen Bruder zu stören. Er zerrte kurzerhand den Stuhl neben mir weg vom Tisch und schob seinen hellgrünen Kinderstuhl neben mich. Als er dann final neben mir saß, war da für einen Augenblick ein komplett anderer Nic als der, den ich gestern ins Bett gebracht hatte. Ein mutiger, kleiner Kerl. Voller Lebensfreude. Voller Energie. Da war genau dieses Funkeln in den Augen, das ich von ihm kannte. Das ich von meinen wenigen Besuchen und den Gesprächen am Video-Bildschirm kannte. Noch musste dieses Funkeln schnell wieder einem dunklen Schleier aus Angst und Distanz weichen. Aber: Es war wieder da. Und nur darauf kam es an.
Abgesehen davon, dass Nic durch seine koordinativen Einschränkungen noch nicht ganz in der Lage war, so zu frühstücken, wie man das von einem Achtjährigen erwarten konnte, genossen wir diesen gemeinsamen Moment. Und spätestens nach dem dritten Nutellabrot und dem zweiten Becher Kakao war klar, dass Nic im Anschluss definitiv ein Fall für die Wanne war. Hinzu kam war der Duft, der seit ein paar Minuten von ihm ausging. Ein sehr eindeutiger Geruch. Nics Windel war voll. Und entweder, er spürte wirklich nichts, oder sein Bewusstsein hatte es geschafft perfekt auszublenden, was in seiner Blase und in seinem Darm vor sich ging. Der Professor und ich tippten auf eine Kombination aus körperlichen Ursachen und psychischer Trauma-Reaktion. Unangenehm war es so oder so. Nic war 8. Was bei ihm in der Windel landete war nicht mit dem zu vergleichen, was ein Baby bzw. ein Kleinkind “produzierte”. Also, schnell ins Bad. Ich schickte Nic vor, so viel Selbständigkeit bekam er hin. Da war ich mir sicher. Während er langsam in Richtung Wickeltisch und Badezimmer, ging verhärtete sich mein Verdacht, dass Nics Inkontinenz auf jeden Fall körperliche Ursachen haben musste. Patienten, deren Windeln ähnlich voll waren, wie die von Nic, gingen üblicherweise recht breitbeinig und im Watschelgang. Nic lief durch die Gegend, als hätte er eine frisch gewaschene Unterhose unter seinem Schlafoverall, und keine komplett gefüllte Windel.
Ein Problem war das nicht wirklich. Ich würde mehr als genug Zeit haben, mit dem Professor und seinem Team zu besprechen, wann und wie wir das Windel-Thema bei Nic angehen würden. Jetzt musste er erstmal aus der Windel raus und dann in die Wanne. Wir hatten heute Vormittag eine ganze Reihe von Untersuchungen vor uns. Je pünktlicher wir die ganzen Stationen abarbeiteten, desto besser. Als ich um die Ecke in den Sanitärbereich kam, hatte es Nic bereits fest geschafft, sich aus dem Pflegeoverall zu schälen. Ohne Hilfe war das ein echtes Gefummel. Ich vermied es dennoch ganz bewusst, ihm sofort zur Seite zu springen. Statt dessen begann ich gegenüber vom Wickeltisch Wasser in die kleine Sitzbadewanne einzulassen, in der man Patienten auf 1000 verschiedene Arten waschen konnte. Im Stehen, im Liegen, im Sitzen, mit Unterstützung, ohne Hilfe. Fast alles ging. Ich wollte versuchen, Nic so viel wie möglich alleine machen zu lassen. Schlimm genug, dass ich ihm beim Wickeln so nah auf die Pelle rücken musste. Da sollte er wenigsten in der Badewanne die Chance haben, sich wie ein normaler Achtjähriger zu fühlen. Privatsphäre inklusive.
Ein erleichterter Schnaufer holte mich aus meinen Gedanken. Nic hatte es tatsächlich geschafft, den Overall loszuwerden und streckte mir das Ding strahlend entgegen. Da war es wieder, das Funkeln in seinen Augen. Ich sah Stolz. Sah einen winzigen Funken Hoffnung. Gut so. Nur nicht nachlassen, kleiner Mann! Ich bot ihm meine Hand zum “High-Five” an, erntete aber zu meiner Überraschung nur einen verstörten Blick. Ich brauchte gefühlt 5 Sekunden zu lange um zu verstehen, woher Nics emotionale Vollbremsung kam. Die erhobene Hand. Natürlich. Er hatte Angst vor meiner Hand, die ich ohne Vorwarnung und für ihn völlig überraschend in die Höhe gerissen hatte. Langsam, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen, ließ ich Hand und Arm sinken, trat einen Schritt zurück und hoffte, dass diese Geste ausreichen würde, ihm die Angst zu nehmen. Ich versuchte mit gleichzeitig an einem Lächeln, war mir aber sicher, dass das mehr als dürftig rüber kam. Genau genommen reichte es gerade einmal dafür, dass er seinen Blick wieder auf “anteilslos” umschaltete. Nicht das, was ich hatte sehen wollen, ganz klar. Aber eben auch nicht zu ändern. Ich wusste, dass diese großen und kleinen Rückschläge bei Traum-Patienten an der Tagesordnung waren. Ärgerlich war die Sache dennoch. Vor allem, weil ich selbst so unbedacht agiert hatte. Mit einem Schwenk zur Tagesordnung versuchte ich, die Sache wieder in den Griff zu bekommen.
“Ich setze dich jetzt auf den Wickeltisch, ziehe dich aus und mach’ dich grob sauber. Danach kannst du in Ruhe baden. Alleine, wenn du möchtest!?” Wieder dieser unsichere Blick. Er war für mich nicht ersichtlich, warum Nic selbst an diesem Punkt so verängstigt war. Ich hatte eine grobe Idee. In dieser Idee ging er vor allem darum, wie rauh und hart der Alltag in Kinderheimen, bzw. Wohngruppen für die dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen war. Vor allem dann, wenn sie wie Nic traumatisiert waren. Offensichtlich war das Thema Baden, Duschen und Körperhygiene für ihn mehr oder weniger ei Alptraum gewesen. Das Problem: Das waren reine Vermutungen. In den Unterlagen, die uns über Frau Endermann zur Verfügung gestellt wurden, fanden sich darauf keinerlei Hinweise. Im Nachhinein war klar, dass uns das hätte stutzig machen sollen. Aber jetzt war es eh zu spät. Nic musste Baden. Oder mindestens unter die Dusche. Also versuchte ich es weiter. “Oder magst du lieber schnell unter die Dusche?” Immerhin kam diesmal ein eindeutiges Kopfschütteln. Also Badewanne. Immerhin. Bevor ich weitersprechen konnte, nahm Nic meine Hand. Und zeigte mit der anderen Hand auf die Badewanne. Ah, okay. Ich SOLLTE mitkommen. Er wollte nicht alleine sein, während er in der Wann saß. “Okay, du willst das ich mitkomme?” Ein erleichtertes Aufatmen. Gut, konnte er haben. Der Rest war dann fast schon Routine. Ich legte ihn vorsichtig auf die weiche Wickelunterlage, öffnete die drei Knöpfe seines Bodys und bekam ihn ohne großen Kampf aus dem enge Teil raus. Dann vier Klebestreifen öffnen, mit der Vorderseite der Windel die gröbsten Spure entfernen und mit Feuchttüchern nacharbeiten. So würde es gehen. Zuletzt zog ich ihm schnell die Strümpfe aus, stellt ihn vor dem Wickeltisch auf die Beine und folgte ihm dann ums Eck zur kleinen Badewanne, die inzwischen gut mit warmem Wasser gefüllt war. Fehlte nur noch der Badezusatz: “Rot, gelb oder grün?” fragte ich ihn, während ich ihm drei bunte Kugeln entgegen streckte. Die Dinger würde sich im Wasser unter großem Getöse auflösen, das Wasser einfärben, farbigen Schaum produzieren und ganz zum Schluss einen kleinen Schwamm in Form eines Tieres freigeben. Der Renner bei eigentlich allen Kindern, wie mir Stephen versichert hatte. Und auch Luc schien die Farbkugeln zu kennen. Und zu mögen. Er griff zielsicher zu grün und warf das Teil ohne viel nachzudenken ins Wasser. Dann zog er mich zu dem kleinen Hocker, der direkt neben der Badewanne stand. Hier sollte ich also warten. Anschließend kletterte er in die Wanne. Nicht so schwungvoll, wie das Kinder in seinem Alter tun sollten. Aber relativ sicher. Es war ganz offensichtlich, dass sein Gehirn sehr genau wusste, was sein Körper zu tun hatte. Ihm fehlten aber noch die Kraft sowie die Sicherheit, solche Bewegungen routiniert auszuführen.
Damit kam ich aber ganz gut klar. Ungleich schwerer zu ertragen war der Zustand, in dem sich Nics Körper befand. Weil er deutlich untergewichtig war, zeichnet sich jeder noch so kleine Knochen auf seinem Rücken ab. Gepaart mit den unzähligen Narben, die sich über seinen Rücken und vor allem seine Hüfte zogen, wirkte mein kleiner Bruder so unfassbar zerbrechlich, dass es mir fast die Tränen in die Augen trieb. Und die blanke Wut. Wut auf die, die zugelassen hatten, dass dieser kleine Mensch nach dem Unglück und dem Verlust seiner Eltern fast ein Jahr seines Lebens alleine gelassen wurde. Alleine mit all seinen Ängsten. Seinem Schmerz. Seiner Trauer. Sie würden dafür bezahlen. Wir würden einen Weg finden, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Das war ic Nic schuldig. Und allen anderen, denen Menschen wie Franziska Endermann übel mitgespielt hatten.
Es war Luc, der mich mal wieder aus meine düsteren Gedanken holte. Er “angelte” unterm grünen Schaum nach dem kleinen Schwämmchen und quietschte glücklich, als er das Ding zu fassen bekam. Es war eine kleine Schildkröte, die er sofort in sein Spiel mit dem Schaum mit integrierte. Ansonste schien er vor allem die Ruhe und das warme Wasser zu genießen. In der Wanne fielen ihm alle Bewegungen leicht, die er auf dem Trockenen mühsam steuern und “planen” musste. Ich hätte ihm stundenlang zuschauen können. Ein winziges Stück Normalität in dem ganzen Wahnsinn, den Nic in den letzten Monaten erlebt hatte. Aber wir hatten heute noch ein straffes Programm vor uns. Noch einmal “funktionieren”, dann würden Nic und ich alle Zeit der Welt haben, um auch mal einen Tag einfach zu verbummeln. Baden, spielen und die Seele baumeln lassen. Aber leider noch nicht heute. “Kannst du dir die Haare selbst waschen, oder soll ich helfen?”, fragte ich Nic leise und holte ihn damit aus seiner Schaumwelt. Er sah auf die Packung mit Kinder-Shampoo, die ich ihm hinhielt. Und griff danach. Schien also zu gehen. Während er sich die kurzen Haare einschäumte, stellte ich die Brause an, prüfte die Wassertemperatur und registrierte zufrieden, dass Nic mir praktisch zur gleichen Zeit die Hand hinstreckte, um sich das Ding zu greifen. Sekunden später waren Kopf und Haare wieder vom Schaum befreit. Was blieb, war ein dezenter Duft nach Erdbeeren. Kinder-Shampoo halt.
Dann öffnete ich den Ablauf der Wanne und gab Nic zu verstehen, dass die Badestunde leider zu Ende war. Er trug’s mit Fassung und stand vorsichtig auf, als die Wanne zur Hälfte leergelaufen war. Ich nahm ein großes, warmes hellblaues Kapuzenhandtuch vom Heizkörper hinter mir, wickelte ihn darin ein und trug das frisch duftende Paket langsam zurück zum Wickeltisch. Nic fühlte sich immernoch viel zu leicht an. Aber längst nicht mehr so verkrampft, wie noch vor 18 Stunden. Wieder so ein kleiner Moment der Hoffnung. Ich hatte vorher die Wärmelampe über dem Wickeltisch eingeschaltet. Entsprechend angenehm war es für Nic, jetzt dort anzukommen. Er kuschelte sich tief ins Handtuch ein und gab mir zu verstehen, dass er kein Problem damit haben würde, hier noch eine Weile zu liegen. Und das war auch gut so. Bevor es weitergehen konnte, wollte ich nicht nur Nics Narben und die letzten leicht gereizten Hautpartien in seinem Windelbereich mit der Spezialcreme des Professors behandeln, sondern das ganze Kind eincremen. Nics Haut hatte es nötig. Ich wickelte ich also langsam aus dem Handtuch und drückte ihm einen Klecks Pflegecreme in die linke Handfläche. Er sollte ruhig mithelfen. Ich begann, seine Füße und Beine gründlich einzucremen, er erledigte die Arme und den Oberkörper. Nicht ganz so gründlich, aber das war im Moment auch nicht so wichtig. Ich übernahm dann noch seinen Rücken und wechselte dann zur Spezialcreme, die ich jetzt auch großzügig auf den Narben verteilte, die vor allem Nics Rücken und die Hüfte überzogen. Jetzt musste das Ganze nur noch fünf Minuten einziehen. In dieser Zeit konnte ich in aller Ruhe die Kleidung raussuchen, die wir heute brauchen würden.
Aus einer der unteren Schubladen des Wickeltischs zog ich einen kompakten Rucksack, den Stephens Frau schon vor ein paar Wochen genäht hatte. Es war die exakte Kopie der Tasche, mit der sie seit Jahren unterwegs war und die alles enthielt was man so brauchte, wenn man mit kleinen Kindern unterwegs war: Windeln, Pflegeprodukte, Feuchttücher, eine unfassbar klein zusammenfaltbare Wickelunterlage, Trinkflaschen, Pflaster, Medikamente, Wechselklamotten. Bis auf die Wechselklamotten und zwei kleine Wasserflaschen war der Rucksack bereits gepackt. Ich angelte einen gelben Body aus der Box, ein paar bunte Ringel-Kniestrümpfe, eine grün-grau gemusterte Strumpfhose, ein grünes Longsleeve-Shirt mit Sesamstraßen-Aufdruck und eine blaue Jeans-Latzhose, die Raissa mit bunten Applikationen zu einem echten Unikat aufgemöbelt hatte. In Nics Hosen-Fach gab es eine ganze Reihe von diesen Latzhosen. Alles Unikate, die Raissa für ihre eigenen Kinder genäht hatte. Speziell für Nic hatte sie die meisten aber mit einem Extra-Feature versehen: Die Beine der Latzhosen konnten an den Innenseiten mit einem dünnen Reißverschluss geöffnet werden. Ein Detail, das sie auch bei ihren Kindern genutzt hatte, um das Thema Windelwechsel noch effizienter zu gestalten. Für Nic hatte sie das Ganze eben auf die größeren Hosen übertragen. Die zweite Latzhose legte ich neben Nic auf den Wickeltisch. Ein schickes dunkelgrau-meliertes Tweed-Teil mit grellgrünen Applikationen, das ich mit einem ebenfalls grünen Body und einem weißen Longsleeve kombinieren würde. Drunter kam entweder eine knallbunte Ringel-Strumpfhose oder eine hellblaue Version mit Tom&Jerry-Motiven. Das sollte ruhig Nic entscheiden. Auch die war typisch für das, was aus Raissas Kinderklamotten-Fundus stammte. Bei sechs Kindern war es ausgeschlossen, immer die zueinander passenden Socken und Strümpfe zu erwischen. Außerdem tauschten die Kinder die Sachen permanent untereinander. Deshalb hatte Raissa bereits nach der Geburt der Zwillinge begonnen, alle Klamotten, Accessoires, Schuhe, Mützen und Taschen auf Unisex-bunt umzustellen. Das galt auch für Socken und Strumpfhosen, die immer sehr farbenfroh waren und damit grundsätzlich zu allem passten, was man drüber zog.
Tasche gepackt, Klamotten hergerichtet. Ich war ziemlich zufrieden mit mir. Auch das Timing passte, denn inzwischen war auch die Creme auf Nics Haut eingezogen. Ich holte also eine frische Seni-Windel aus dem Windelfach und schob sie unter Nic Po. Der tat nicht viel, um mir die Sache leichter zu machen. Aber eben auch nichts, was die Aktion verkomplizierte. Der eigentlich enge Body saß bei Nic sehr luftig. Immerhin war es so nicht schwer, ihn in das Ding rein zu bekommen. Kurze Abstimmung in Sachen Strumpfhose. Wenn ich das richtig deutete, konnte er der warmen Unterwäsche nicht viel abgewinnen. Konnte ich verstehen. Aber wir waren in Canada. Und die Winter hier war nicht denen zu vergleichen, die er aus Schleswig-Holstein kannte. Er entschied sich für Tom&Jerry. Auch gut. Ich im Fall der Strumpfhose war es nicht schwer, seine dünnen Beinchen da hinein zu bekommen. Immerhin hier war die dicke Windel für irgend etwas gut. Ohne bräuchte er wahrscheinlich sogar Hosenträger für die Strumpfhose. Dann kam der Longsleeve, gefolgt von der Latzhose. Die entsprach ganz offensichtlich schon eher Nics Geschmack. Zum Schluss holte ich aus dem untersten Fach des Wickeltisches noch blau-rote Hüttenschuhe. Wir würden bis zum späten Nachmittag nur hier im Haus sein. Feste Schuhe waren deshalb unnötig. Außerdem konnte Nic die weichen Hausschuhe selbst an- und ausziehen. Ich stellte in vorsichtig vor dem Wickeltisch, trat einen Schritt zurück und war selbst überrascht von der Veränderung. Der Nic, der da jetzt vor mir Stand und sich selbst ziemlich zufrieden im großen Wandspiegel betrachtete, hatte nichts mehr mit dem Kind zu tun, das ich gestern von Frau Endermann übernommen hatte. Die ruhige Nacht, ein bisschen gutes Essen, ein Bad und ordentliche Klamotten. Klang nicht nach einer Kombination aus Wundermitteln. Hatte aber genau diese Wirkung. Keine Frage, der Weg, der vor uns lag, war noch sehr, sehr lang. Aber wir hatten die ersten Hürden definitiv mit Bravour gemeistert. “Gefällt dir, was du siehst?”, fragte ich in Nics Richtung. Der sagte wie üblich nichts, sondern griff nach meiner Hand. Auch eine Art zu sagen, dass es losgehen konnte.
Wir marschierten gemeinsam zurück ins Zimmer. Dort steckte ich noch eine Trinkflasche in den Nic-Rucksack und stieg in meine bequemen Sneakers. Zeit für ein erstes Briefing. Nic hatte sich in der Zwischenzeit kurz in Richtung Bett abgesetzt, wandte mir den Rücken zu und war ganz offensichtlich dabei, seine Bettdecke ordentlich zu falten. Er gab sich große Mühe, das Ganze so glaubwürdig wir möglich zu gestalten. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass er vor allem versuchte, unauffällig an Dieter heranzukommen. Ich gönnte ihm dieses kleine Geheimnis und ignorierte deshalb geflissentlich die Beule in seiner Hosentasche, als er zurück zum Tisch kam. “Wir treffen jetzt gleich erstmal Professor Eissler!”, versuchte ich Nic langsam auf das vorzubereiten, was in den nächsten Stunden auf ihn zukommen würde. “Der erklärt dir dann ganz genau, welche Untersuchungen heute gemacht werden müssen!” Untersuchungen. Alleine das Wort reichte aus, um in Nic zu verunsichern. “Das wird sicher nicht immer Spaß machen, aber es muss leider sein! Ich verspreche dir aber, dass ich immer im gleichen Raum sein werde. Immer! Und wenn es dir zu viel wird, können wir auch immer eine Pause einlegen, okay?” Nic schwieg. Aber er dachte nach. Und nickte dann sehr zögerlich. “Heute Nachmittag geht’s dann zu den Physiotherapeuten. Die werden uns Übungen zeigen, damit du schnell wieder beweglicher wirst!” Kein Nicken, diesmal. Aber so etwas wie Neugier. Gut so. Sehr gut. Es war offensichtlich, dass Nic heute viel “wacher” war, also noch gestern Abend. Laut Medikamenten-Plan, den uns die Endermann dagelassen hatte, hätte Nic bereits zum Frühstück zwei verschiedene Präparate einnehmen müssen, um einigermaßen gut durch den Tag zu kommen. Medikamente, mit denen man Kinder und Jugendlichen “half”, sich besser konzentrieren zu können. Egal wie man das Zeug heutzutage nannte. Es waren schlicht starke Psychopharmaka mit einer massiv bewusstseinsverändernden Wirkung. Und nichts davon hatte etwas in Nics Körper zu suchen.Genau genommen gab es meiner Meinung nach eigentlich fast keine Rechtfertigung, das Zeug überhaupt einzusetzen. Diese Haltung war unter anderem der Grund dafür, dass ich nicht nur fast durchs Psychologie-Studium gerasselt wäre, sondern dass ich auch nie wirklich in dem Beruf gearbeitet hatte.
Und auch wenn es erst knapp zwei Stunden waren, die ich mit dem “wachen” Nic verbringen konnte: Mir war ein aktiver Nic definitiv lieber, als ein zugedröhnter Kinder-Zombie. Ob Nic selbst die Veränderung bewusst wahrnahm, war schwer zu sagen. Wach hieß ja nicht, dass alles, was ihm in den letzten Monaten zugestoßen war, sich in Luft aufgelöst hatte. Die Angst, die Demütigungen, die Schmerzen, das alles war noch da und konnte, nein durfte jetzt an die Oberfläche. Das würde nicht immer einfach werden. Aber es war der einzige Weg, diesem Kind wieder eine Zukunft zu geben. “Können wir los?” Wir konnten. Ich hatte kaum ausgesprochen, da stand Nic bereits neben mir und griff wieder meine Hand. Ja, er war neugierig. Aber er würde definitiv keinen Schritt ohne mich machen. Dieses Stück Sicherheit musste sein. Und dieses Stück Sicherheit sollte er sehr gerne bekommen!
Autor: DerBeobachter (eingesandt via E-Mail)
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einfach nur wow die Story ist soo schön mitfühlen hinreissen einfach nur wunderschön immer nur weiter so da fühlt man wirklich mit den nic mit
Bin wie nach jedem neuen Part absolut begeistert und kann es kaum erwarten das wieder ein neuer kommt.
Ganz besonders gefällt mir den fachlichen Part (es kommt glaubhaft rüber) und auch das du es langsam angehst aber nicht zu langsam. Du hast genau den richtigen Anteil an Details in deiner Geschichte. Ich hoffe du verstehst was ich meine 🙂
Verbesserungsvorschläge kann ich dir keine geben weil es meiner Meinung nach supper so ist
Bitte schreib möglichst schnell weiter
Ich schliesse mich meinen vorrednern an, habe die ganze Zeit wieder geschaut das eine gute Geschichte weiter geht, deine Geschichte gehört zu den wie ich finde 2 besten Geschichten die ich hier lesen kann, und ich wurde mal wieder nicht entäuscht, Danke
Diese Geschichte hilft mir, mein Leben aus anderen Augen zu sehen. Ich hab auch Dinge erlebt die dieser Tiefe sehr ähnlich sind(in diesem Moment wirds mir wahnsinnig heiß und ich krieg Gänsehaut und glasige Augen)
Das ganze hier hilft mir psychisch, ist also wirklich wichtig für mich dass es weiter geht..
Lass diese Geschichte bitte ewig weiter gehen. <3 Ich glaube dass es nur mir so geht aber ich kann mich ja auch täuschen: Ich verbinde diese Geschichte extrem mit dem Lied "Stressed Out – Twenty One Pilots", falls es jemanden gibt der Musik auch anders hört, z.B. diese Ernsthaftigkeit/Tiefe der Geschichte mit der Hintergrundbass Melodie in den Strophen(: "mmmm, mmm, mmm, m!" )verbindet antwortet bitte auf meinen Kommentar hier.
Liebe Grüße
Individum
……. Hintergrundbass Melodie ab dem 2. Refrain……
Sehr schoene Geschichte, freue mich immer, wenn ich hier einen neuen Teil vorfinde… Ebenso wie bei deiner anderen Geschichte, ich hoffe, diese wird auch fortgesetzt…
Deine beiden Geschichten und die von giaci9 (Zweite Chance) sind sehr lesenswert, weil es eben keine Geschichten UEBER Windeln sind, sondern MIT, eine erfrischende Abwechslung und ich freue mich, dass ich sie lesen kann…
warum eigentlich manchmal Luc? war das nicht Nic?
Aber sonst gute geschichte!