Zweite Chance (1) – Kapitel 2
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Kapitel 2 – Temporärer Aufenthalt?
So interessiert, wie Giacomo eben noch aufgeregt am liebsten alles gleichzeitig fragen wollte, was mein, unser Leben in den letzten sieben Jahren betraf, so still ist er nun. Er erwartet eine Antwort von mir, eine Antwort, auf die ich auch warte. Ich überlege, ob es mir Zeitreisentheorien überhaupt gestatten, mir selbst Windeln zu geben. Ich komme zu dem Schluss, dass ohnehin alles zu spät ist, wenn es darum geht, die Gegenwart möglichst nicht zu verändern. Ich ringe mich nun durch, etwas zu sagen.
„Ja.“ Mein Blick trifft meinen Blick. Auf Giacomos Gesicht bildet sich ein Lächeln, so ein Lächeln, welches man beim Aufwachen am 24. Dezember hat, wenn man genau weiß was man an diesem Tag bekommen wird. „Willst du welche?“ Frage ich direkt hinterher.
Giacomo zögert einen Moment, reißt sich dann aber zu einem nicken hin. Er fügt ein „Jetzt!“ hinzu, daraufhin wirft er noch eillig ein „bitte?“ leise hinzu.
Nun grinse ich. Interessant, ich war mal höflich in meiner Vergangenheit. Ich rapple mich vom Boden auf, auf den ich mich im Schneidersitz in Ermangelung anderer Sitzgelegenheiten, Giacomo blockiert ja meinen Schreibtischstuhl, niedergelassen habe, Knie mich auf mein Bett und neige mich zu meinem Windelversteck unter eben diesem Bett. AMD Slip Maxi M? Nein, die könnte bei Giacomo wohl fast als Bettunterlage dienen, so viel zu groß ist die. Giacomo ist eher ein Fall für XS. Die Pampers würden ihm vermutlich passen, wie knuffig wäre das denn! Aber wo sind die? Ich bin mir recht sicher, dass ich noch welche habe, aber während ich hier so über Kopf unter meinem Bett krame, finde ich einfach keine. Überhaupt, was habe ich da unten alles? Die unglaubliche Enge meines Windelverstecks hatte dort unten ein totales Chaos ausgelöst und meine Unordentlichkeit hatte ihr übriges getan. Aber was ist das? Meine rechte Hand trifft eine merkwürdige, raue Plastikverpackung. „Die Drynites!“ rufe ich laut aus, so wie ein Wissenschaftler „Heureka“ ruft, nachdem er den Messfehler in seinem Experiment gefunden hat.
„Hast du sie?“ Kommt von meinem Schreibtisch zurück.
„Jap“, sage ich, und werfe die halbvolle Drynitespackung zu meinem Schreibtisch. Da Giacomo kein guter Fänger ist, knallt die Packung gegen meinen rechten Monitor. Das registriert dieser nicht mal, seine komplette Aufmerksamkeit ist schon auf die Windelpackung gerichtet, er zieht eine Drynites heraus, will sie auffalten, und scheitert an den Seiten.
„Hä?“ Sagt er, und zeigt mir die Windel, wobei er das Vorderteil vom Hinterteil wegzieht und dabei die elastischen Seitenbündchen anschaut. „Wo sind da die Klebestreifen?“
„Oh, ja. Stimmt. Ja, genau. Das ist keine richtige Windel, das ist ein Pullup. Das sind so …“ Weiter komme ich nicht.
„Achso, das ist ja doof!“ bekomme ich als entschlossene Antwort zurück.
„Gib ihnen mal ne Chance. Ich mochte sie als Kind auch nicht, aber die sind wirklich praktisch, weil man sie einfach hoch und runterziehen kann wenn man …“ Mir wird das Wort abgeschnitten. Meine Eltern haben sich früher immer darüber aufgeregt, wenn ich ihnen in eine Unterhaltung reingeredet habe, aber so langsam beginne ich mich daran zu gewöhnen.
„ACHWAS!“ Gibt Giacomo zurück, und beginnt dabei zu lachen. „Du mochtest die als Kind auch nicht? Was für ein Zufall!“ Oh. Stimmt. Unweigerlich fange ich an, mitzulachen. „Wir müssen Verwandt sein!“ Giacomo kullert sich vor Lachen, vielleicht übertreibt er es dabei ein kleinwenig.
„Jahaaa!“ antworte ich, und muss dabei immer noch grinsen. „Aber wirklich, gib ihnen mal eine Chance. Immerhin muss man bei denen sich nicht selbst wickeln können, das ist ein Vorteil, glaub mir.“
„Ich kann mich selbst wickeln!“ gibt Giacomo selbstbewusst zurück. Ich belasse es dabei, obwohl ich sicher weiß, dass er die Kunst des Wickelns da wohl etwas unterschätzt. Giacomo rollt mit dem Schreibtischstuhl zurück, springt auf, und läuft mit dem Pullup in der Hand aus dem Zimmer, schlittert um die Kurven auf den Fliesen im Flur, und lässt die Badezimmertür zuknallen. Ungläubig starre ich ihm hinterher.
Wie soll das hier eigentlich weitergehen? Der kleine Junge ist anscheinend Giacomo aus der Vergangenheit, also ich. Aber bleibt er jetzt hier? Wie soll ich das meiner Mutter und meinen Freunden erklären? Und er muss ja zur Schule gehen, wie soll das gehen? Er existiert ja behördlich gar nicht. Bleibt er überhaupt dauerhaft, oder wird er wieder verschwinden wie er gekommen ist. Vielleicht verschwindet er grade jetzt, wo er im Bad ist. Aber wenn er bleibt, dann braucht er doch ein eigenes Zimmer, zumindest ich brauche ein eigenes Zimmer, auch wenn ich Giacomo noch so gern mag. Wird mir das ganze überhaupt irgendwer glauben? Gut, wir haben die selbe DNA und vermutlich auch die selben Fingerabdrücke. Oder sollte ich sagen die gleiche? Gibt es ein Amt für Zeitreisen? Oder wen kontaktiere ich, wenn ich Zeitreisender bin, und in der Zukunft gestrandet bin? Die örtliche Polizeidienststelle? Das Innenministerium? Die CIA? Freimaurer?
Bevor ich noch selbst von meinen Gedanken verwirrt bin, kommt Giacomo zurück, unbekleidet bis auf die Drynites und seine Socken. Vielleicht ist seine Kleidung schon wieder in der Zeit zurückgereist, aber zumindest er selbst ist noch da.
„Ta-Daaaaaa!“ stolz breitet er beide Arme aus, und neigt seinen Kopf leicht nach oben als hätte er grade einen Wettkampf gewonnen. Ich schaue zu seinem Pullup und bin dabei unweigerlich erstaunt, wie groß der ist. Nicht groß, weil er voll wäre, nein, der Pullup ist natürlich noch gänzlich unbenutzt, sondern groß, weil Giacomo klein ist. Mir passen die Drynites mehr schlecht als recht, Giacomo hingegen sind sie eher zu groß als zu klein. Immerhin sollten sie nicht sofort an den Seiten auslaufen wie bei mir, da könnte man glatt neidisch werden.
„Super!“ gebe ich ihm als Rückmeldung, mein Gesicht ist immer noch im Dauergrinsmodus. „Aber … zieh dir mal besser wieder was an, oder meinst du nicht?“ Füge ich in fragendem Ton hinzu.
„Jau, sofort. Ich wollte nur mal fragen, ob ich alles richtig gemacht hab.“ Schon ist er wieder weg. Nicht zurück von da wo er hergekommen, sondern wieder im Badezimmer. Wäre er nicht Giacomo, hätte ich vermutlich eine schnippische Bemerkung hinterhergesetzt, dass man beim Pullupanziehen ja nicht so viel falsch machen kann. Aber waren wir denn nicht alle unsicher bei unserer ersten Windel? Ich drehe meinen Kopf wieder zu meinem Schreibtisch. Giacomo hat den Windows Store geöffnet, stelle ich fest. Meine unschlagbare Neugier. Hm, für den wird das wohl eine Überraschung, Windows 8 nach Windows 7 nach Windows Vista. Smartphones. Oder generell, die Wohnung, in den letzten sieben Jahren hat sich so viel verändert, viel mehr als in den elf Jahren davor. Andererseits, wenn man auf die Straßen schaut, die Automodelle die auf den Straßen fahren sind größtenteils die selben. Die Bundeswehr ist immernoch in Afghanistan, und wir haben immernoch, besser gesagt wieder eine große Koalition. G8 ist immer noch nicht beseitigt, aber immerhin Empfangen wir mit dem DVB-S-Receiver mittlerweile Kika.
Ich ziehe die kleine schwarze Tastatur an mich heran, und gebe „Zeitreisen“ in den Browser ein. ZEIT Reisen, die Reisen-Redaktion der Wochenzeitung „Zeit“. Nein, das ist nicht das, was ich suche. Wikipedia? Eine Kollumne der faz zum Thema Zeitreisen? Nein, bitte nicht. „US-Forscher suchen Zeitreisende im Netz“, na da kann sich Giacomo ja mal melden! Der Link stellt sich aber als unnütz da, er berichtet über eine Methode, mit der US-Forscher im Internet nach Zeitreisen aus der Zukunft suchen. Eine offizielle Meldestelle für Zeitreisende scheint es hingegen nicht zu geben. Soll ich Doctor Who anrufen? Das Fringe-Team? Massive Dynamic?
„Die ist schön weich! Aber dünner als die die ich kenne, das ist voll doof!“ sagt Giacomo, der seine Freude über seinen Pullup mit mir teilen möchte.
„Das kommt daher, dass die noch leer ist, das ist ganz normal, das war bei den Windeln, die wir mit drei hatten auch nicht anders. Wenn man reinpinkelt, fühlt sich das danach ganz anders an,“ beginne ich mit meinen Ausführungen zur Windelaufquelltheorie.Ich könnte ja noch mit dem Mischverhältnis zwischen Fließ, Zellstoff und Superabsorber anfangen, aber Giacomo antwortet bereits auf meine Begründung.
„Das ist ja super, ich mag nasse Windeln!“ . „Wo ist überhaupt meine Mutter?“ fügt er mit einem raschen Themenwechsel hinzu.
„Unsere Mutter!“ Nun fange ich an mit der Lachen. „Jajaha!“ Bekomme ich daraufhin als Antwort. „äh, keine Ahnung. Ich kann sie ja mal anrufen. Lauftraining, oder vielleicht ist sie beim Bäcker.“ „Das macht sie immer noch?“ „Ja, klaro“, rufe ich noch in mein Zimmer, während ich schon im Flur auf dem Weg zum Telefon bin. Ich nehme das Telefon von der Basisstation, und gehe in mein Zimmer zurück.
„Cool, das ist ja schnurlos!“ Und da hat Giacomo auch schon das Mobilteil des Telefons in seiner Hand. „hat das auch ein Adressbuch?“ „Ah, hier!“ Er hält sich das Mobilteil ans rechte Ohr, und setzt sich unter meiner Posterwand auf den Parkettboden. Früher hatten wir eine schwarze Telefon-Anrufbeantworterkombination, mit einem leisen Klingeln und einer kurzen Schnur. Ich habe mich dann beim Telefonieren immer auf den Teppich vor dem Telefon gesetzt. Oder während längeren Telefonaten auch gelegt, und die Schnur um meine Finger gewickelt. Giacomo hat allerdings keinen Teppich, sondern nur den harten Parkettboden und die Poster an seinem Rücken. Aber sein Po ist ja immerhin gepolstert.
„Hallo Mamchen!“ Giacomo spricht in das Telefon. Moment, was macht der grade? Ich muss grinsen, und stelle mir die Reaktion meiner Mutter vor. Da ruft sie ein Kind an, nennt sie Mamchen, und sie hat keine Ahnung, was da grade los ist. Ich setzte mich rechts neben Giacomo auf den Boden um mitzuhören, was meine Mutter sagt. „Hallo?“ kommt eine Stimme zurück. „Giacomo, bist du das?“ Das ging aber schnell. „Juppdibupp, richtig geraten!“ kommt zurück von Giacomo Nummer 2. Oder ist er Nummer 1? Nein, das bin immer noch ich.
„Giacomo, du hörst dich grade an, als wärst du sechs Jahre alt, ist alles in Ordnung?“ Ich pruste los. „Eeeey!“ Meine Schulter erhält einen leichten Stoß von Giacomo Nummer 2. Ich strecke ihm die Zunge raus. „Na, du bist aber auch nicht besser“, erwiedert er grinsend.
„Hallo, bist du noch da? Ist bei dir alles in Ordnung?“ „Ja, nein, also …“ Ich reiße mir mal das Telefon an mich. „Ja, hallo Mama.“ Von Giacomo kommt Gegenwehr. „Gib das wieder her!“, ich drücke ihn etwas zur Seite, halte meinen Finger vor meinen Mund, und signalisiere ihm, mal grade kurz leise zu sein. Erfolg erwarte ich dabei nicht, denn ich kenne mich. „Hallo Giacomo. Wer war das? War das eines von deinen Programmen?“ „Naja, das ist … ne, das erklär ich dir, wenn du da bist. Wo bist du?“ Ich drücke mir den Telefonhörer gegen mein Ohr.
„Ich hab doch Chorprobe, hab ich dir doch gesagt!“ Giacomo hat den Widerstand überraschend aufgeben, und hört unserem Telefonat zu. Als Belohnung flüstere ich ein „Danke“ in seine Richtung. In den Telefonhörer antworte ich hingegen „Ja, und wann kommst du zurück?“ „Um 19 Uhr, das weißt du doch!“
„Ok, tschüss“, antworte ich, wohl wissend, dass das Gespäch dadurch nicht beendet sein wird. Meine Mutter ist teilweise extrem anhänglich, das ist wirklich nervend. Immerhin kann sich ihre Anhänglichkeit in Zukunft vielleicht auf zwei Personen verteilen. „Ist auch wirklich alles in Ordnung? Hast du Hunger? Soll ich dir was mitbringen?“ „Nein, wir haben einen Külschrank, da ist essen dr…“ „Ja!“ Beantwortet Nummer 2 die Frage. „Was sagst du?“ „Ja, bring bitte etwas mit, etwas von dem Kuchen oder so. Tschüss?“ „Nagut, bis gleich!“.
Puh, geschafft. Telefongespräche mit meiner Mutter finde ich wirklich sehr nervtötend.“Wieso bist du so fieß zu Mama?“ fragt mich Giacomo daraufhin anklagend. Ich drehe meinen Kopf zu ihm, und sehe wie er mit seiner linken Hand die Außenseite seiner Hose über dem Pullup abfährt.
„Ach weißt du, die nervt ziemlich … aber das wirst du auch noch verstehen. Da bin ich mir ziemlich sicher.“ Ich grinse, und wuschle ihm durch die Haare, danach stoße ich mich von der Wand ab, und stehe unschlüssig im Raum herum.
„Was jetzt?“ frage ich mich, ihn, uns.
„Erzähl mir mal von deinem Leben! Also jetzt, wie ist das so? Was ist das überhaupt für ein Zimmer, das kenne ich garnicht? Hast du meine Sachen noch? Meine Modellbahn? Das Lego? Was mach ich jetzt überhaupt hier? Bleibe ich hier? Was ist mit …“ Giacomo stockt kurz, aus seinem Blick kann man ein „Oh“ lesen. „Meine Freunde! Die sind ja alle schon fast Erwachsen jetzt!“ Zum ersten Mal, seit er in meinem Zimmer angekommen ist, wirkt Giacomo etwas traurig. Ob es wohl so etwas wie Zeitheimweh gibt?
„Oh.“ Das Oh kam nun von mir. Ich fürchte, das wird ein langer Abend werden.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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