Zweite Chance (1) – Kapitel 8
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Kapitel 8 – nasse Reinraumschleuse
Ich schwelge noch in meinen Gedanken, da springt Giacomo schon vom Einkaufswagen herunter, und steht dann untätig vor der Kasse. Er starrt in der Gegend herum.
Dass ihm der Windelkauf unangenehm ist, kann ich wirklich gut verstehen. Deshalb dränge ich ihn nun zur Seite, und lade das Windel-Starterset, von welchem ich denke, dass man unmöglich glauben könnte, es sei für mich bestimmt, nacheinander auf die Kasse.
Die Verkäuferin bewegt ihren Handscanner nacheinander über die Windelpackungen, und tippt ab und zu noch etwas in die Zehnertastatur ihres Kassencomputers ein. Bei der ersten Drynitespackung trifft ihr Blick kurz Giacomo, was dieser aber nicht bemerkt. Die Zweite fliegt dann ohne weiteres Zögern unter dem Scanner durch. „Portemonnaie, komm mal bitte!“ gebe ich zu hören, und meine damit meine Mutter, welche Giacomos Anfängerausstattung finanzieren soll. Sie nimmt ihre EC-Karte und steckt sie in den Scanner, die Karte wurde heute bestimmt schon fast so viel belastet wie sonst in einem halben Monat.
„Ähm, könnten wir bitte noch ein paar Tüten haben?“ fragt meine Mutter noch, und bekommt daraufhin gezeigt, wo sich die dünnen, stark nach Kunststoff riechenden Plastiktüten befinden, der Geruch dieser Tüten beweist wie nichts anderes, das Kunststoff aus Öl gemacht wird.
„Ouh, scheiße, sollen wir das jetzt alles durch die Innenstadt bis zum Kaufhausparkplatz schleppen?“ frage ich, wo mir nun klar wird, dass wir uns eben ohne Auto auf den Weg ins Einkaufszentrum gemacht haben.
„Nein mein Sohn, ich habe mitgedacht!“ erwähnt meine Mutter süffisant: „Thomas wartet im Parkhaus, wir können ja schlecht mit DIESEM Einkauf durch die ganze Stadt laufen.“
Entsprechend gehen wir nun auch in Richtung der Rolltreppen statt zu einem der Ausgänge. Zu meiner Verwunderung haben wir bisher niemanden, der mich oder meine Mutter kennt, im Shopcenter angetroffen, ein merkwürdiger Umstand. In dieser Kleinstadt ist es eigentlich unmöglich, beim Einkaufen nicht einen Schulkameraden oder ähnliches zu treffen, erst recht, wenn man wie ich viele Leute kennt. Die vielen Leute die ich kenne, scheinen sich aber entschlossen zu haben, einen Anschlag auf mich nicht im Einkaufszentrum zu verüben, sondern scheinen den digitalen Weg vorzuziehen. Im Klartext bedeutet dass, das mein Handy soeben angefangen hat, zu vibrieren.
„Wann kommst du?“ ist der Inhalt der neuesten Nachricht, welche mir mein Handy nun weiß auf blau auf dem Bildschirm präsentiert. Oh ja, ich war heute eigentlich zu einer Lanparty-Geburtstagsfeier eingeladen, der kleine Bruder eines guten Freundes wird 15, da könnte man sich richtig alt fühlen. Wie alt muss man sein, damit kleine Brüder von Freunden auch schon fast erwachsen sind? „Ouh, ne shit :D“ tippe ich in die Tastatur des Handys ein. Ich fürchte, das wird ungemütlich.
„WAS? Lass mich raten, du kommst zu spät? -.- “ Mein Ruf scheint hinlänglich bekannt zu sein, genau deswegen fängt mein Handy nun auch an, im Dauermodus zu vibrieren. Mittlerweile sind Giacomo, meine Mutter und ich am Ende der zweiten Rolltreppe angelangt und machen uns auf den Weg aus dem Gebäude heraus auf das Parkdeck.
„Guten Tag, wie kann ich ihnen behilflich sein?“ nehme ich den Anruf an und frage in mein Handy hinein, hochgeschwollen zu reden macht wirklich Spaß.
„Wann kommst du?“ blafft mich das Telefon an, Marcel scheint nichts fürs hochgeschwollene Reden übrig zu haben, weshalb ich nun einen ernsthaften Ton anschlage.
„Ne, du … Weißt du, mir ist da was, also besser gesagt wer dazwischengekommen. Ich fürchte, ich werde nicht kommen könn …“ Unterbrechungen scheinen ansteckend zu sein.
„Hast du jetzt ne Freundin, oder was?“ bekomme ich von meinem für Direktheit bekannten Freund zurück. Nun ja, eine Freundin wäre vermutlich weniger anstrengend als Giacomo.
„Ha, nein“ ich lasse meine Plastiktüte aus meiner linken Hand in den Kofferraum gleiten, und gehe dann wieder weg vom Auto. Ich kann einfach nicht anders, als beim Telefonieren zu gehen. „Sagen wir einfach, ich bin jetzt kein Einzelkind mehr.“
„HÄ?“ Bekomme ich nur Druckvoll zu hören.
„Ja, erklär ich dir alles noch, aber ich denke, nicht heute, sorry. Aber ich kann jetzt heute wirklich nicht kommen, tut mir Leid für euch alle“, ich merke schon wieder, wie ich anfange, mehr zu sagen als nötig ist. „Bis Montag.“ Füge ich deshalb nur knapp hinzu und lege auf.
„Kommst du mal?“ fragt mich eine hohe Kinderstimme vom rechten Rücksitz des Autos aus.
„Oh, ja, sofort!“ ich stecke mein Handy in meine Hosentasche, und gehe beschleunigten Schrittes zum Wagen zurück.
„Und, wer wars?“ fragt mich Giacomo nun ohne Umschweife, als ich mich neben ihn niedergelassen habe. Diese Neugier ist in diesem ganz speziellen Fall aber vielleicht noch nicht mal unhöflich, müsste Giacomo nicht das Recht haben, alles über mich, sein Ich aus der Zukunft, zu wissen?
„Ach, das war Markus. Eigentlich feiert sein kleiner Bruder heute Geburtstag und eigentlich war ich auch eingeladen, und hatte das aufgrund von … dir komplett vergessen. Und jetzt musste ich ihm halt absagen.“ Gebe ich zurück, während wir mit dem Auto das Parkhaus verlassen.
„Der hat einen kleinen Bruder? Cool, wie alt ist der?“ Es scheint, als hätte ich Giacomo die Hoffnung auf einen neuen Freund gemacht.
„Oh, ne, der ist 15“, antworte ich ihm mit Bedauern. Giacomos schaut enttäuscht: „Hm. 15? Wie feiert der denn dann? Mit lauter Musik und so?“ Stereotypen von Kindern gegenüber Jugendlichen sind interessant, ich habe früher gedacht, Jugendliche machen den ganzen Tag nur Blödsinn, hängen im Dorf herum und trinken Alkohol. Giacomo scheint zu denken, dass eine Geburtstagsparty von einem Jugendlichen automatisch eine discoartige Veranstaltung ist, vermutlich habe ich in seinem Alter dasselbe gedacht.
„Ne, das wäre eine Lanparty gewesen“, kurz nachdem ich meinen Satz vorläufig beendet hatte, wird mir bewusst, dass ein Elfjähriger aus dem Jahre 2007 vielleicht nicht unbedingt weiß, was eine Lanparty denn nun ist: „Also halt eine Computerspielparty. Man kann ja mit mehreren Computern online gegeneinander spielen, das ist echt total cool, wäre bestimmt auch was für dich!“ Wobei ich mir bei letzterem nicht ganz sicher bin. Wie fast jeder unter achtzehn mag Giacomo natürlich auch Computerspiele, aber Egoshooter-Spiele wären vermutlich eher weniger etwas für ihn. Andererseits wäre die Party bestimmt eine tolle Gelegenheit für Giacomo gewesen, sich in mein und damit sein neues Umfeld einzugewöhnen.
„Machen das deine Freunde häufiger?“ führt Giacomo die Unterhaltung fort. Kinder haben einen unglaublichen Wissensdrang, der von Giacomo übersteigt aber noch einmal alles mir bisher bekannte.
„Ja, eigentlich schon. Aber das hier war ja eh nur die Lanparty des Bruder eines Freundes, die von uns sind meistens noch sehr viel cooler.“ Wenn ich von „uns“ spreche, meine ich meistens mich und zwei andere Freunde, welche zusammen mit mir so etwas wie die produktive Gruppe meines Freundeskreises darstellen, mit welcher ich häufig große Projekte anfange. Webseiten, Filme, Veranstaltungen mit großen Lautsprechern und Bühnen, eigentlich alles, was nachher imposant und laut ist. Laut ist auch der kleine Dieseltriebzug der Privatbahn, welcher vor der Windschutzscheibe soeben über den Bahnübergang gefahren ist.
„Mist, wir sind knapp dran“ murmelt Thomas, als die Schranken nach einigen Sekunden endlich wieder hochfahren.
„Wir sind wichtig genug, dass wir die Wissenschaftler warten lassen können, ich bitte dich!“ Thomas scheint meiner Einschätzung allerdings nicht zu folgen, und fährt von nun an etwas schneller, ganz zu Giacomos Vergnügen. Entsprechend schneller schaffen wir es dann auch zum Forschungszentrum, nach recht kurzer Zeit fahren wir schon durch den kurzen dichten Mischwald vor dem Haupteingang des Forschungszentrums.
„Guck mal da, ein Hubschrauber!“ sagt Giacomo, und deutet mit dem Finger Richtung Dachfenster. Ich lehne mich in die Mitte der Rückbank, und versuche, Giacomos Blickwinkel nachzuvollziehen. Ein blauer, großer Hubschrauber fliegt recht tief über uns hinweg. Er ist sehr groß, wesentlich größer als der Bell UH1 „Venom“, den ich am Computer in Onlinespielen so oft fliege.
„Ja! Oha, der ist groß, was der wohl da macht? Bestimmt jagen die mich!“ scherze ich lachend: „Oder dich?“ füge ich hinzu.
„Mmmmh, weiß nicht“, gibt Giacomo angestrengt zurück, er hat den Kopf gesenkt, und drückt wieder einmal eine Hand in seinen Schritt. Ich zwinkere ihm zu, um zu signalisieren, dass ich bemerke, dass er sich grade wieder in die Windel macht. Er wird immer besser darin, aber wirklich unauffällig macht er das noch nicht.
Das laute Getöse des vorbeifliegenden Hubschraubers wird langsam leiser und zur selben Zeit halten wir aber auch schon vor dem Schlagbaum an der Einlasskontrolle des Haupteingangs.
„Ja, hallo. Wir waren eben schon da … wir haben immer noch einen Termin, mit Professor Ismael?“ frage ich mehr, als eine Aussage zu treffen. Als wir heute Vormittag hier ankamen, hatten wir den vermerkten Termin mit Ismael, aber jetzt? Computersysteme können so trügerisch und anfällig für Sonderfälle sein, deshalb bin ich direkt vorsichtig mit meiner Aussage.
„Giacomo Müller?“ werde ich aber sofort gefragt, anscheinend hat das Einlasspersonal ein gutes Gedächtnis.
„Ja, genau!“ gebe ich erfreut zurück.
„Ausweis bitte“, verlangt einer der zwei Männer im kleinen Kontrollhäuschen zwischen den Schranken, der andere greift zeitgleich zu einem Telefon. Ich gebe meinen Ausweis durch die heruntergelassene Scheibe heraus. „In Ordnung. Folgen sie bitte dem Sicherheitsdienst.“
Auf dem Parkplatz hinter der Schranke, ein paar Meter von uns entfernt, lässt ein weißer SUV mit dem Aufdruck „Werkschutz“ und Blaulichtern auf dem Dach den Motor anspringen, und setzt sich dann vor uns.
„Was habt ihr denn da eben angestellt, dass wir so eine Eskorte bekommen?“ fragt Thomas belustigt, immerhin ist ihm nicht bewusst, dass Giacomo eigentlich nicht in diese Zeit gehört.
„Tja, wenn ich das wüsste“, gebe ich unschuldig zurück, lügen kann ich dank jahrelangem Training bei der Hausaufgabenkontrolle in der Schule mittlerweile ziemlich gut: „Aber mit einem Siebener-BMW in einem Konvoi zu fahren, da kommt man sich doch direkt ganz wichtig vor! Als hätte ich mein eigenes DAX-Unternehmen. Gut, das geht schlecht, würde das Unternehmen mir gehören, dann wäre das ja nicht an der Börse. Aber du weißt was ich meine!“ antworte ich, in dem von mir bekannten schnellen Sprechton, welcher zu dem Erfolg führt, dass Thomas seine eigentliche Frage durch Verwirrung vorerst vergisst.
Nach etwa einer Minute erreichen wir wieder das Institutsgebäude, in welchem wir auch vor ein paar Stunden schon zu Gast waren, der Wagen des Sicherheitsdienstes vor uns bremst mitten auf der Straße. Die Beifahrertür öffnet sich, einer der vermutlich zwei Wachleute aus dem SUV steigt aus, und signalisiert uns mit Handzeichen, dass wir auf einem der Parkplätze links von der Eingangstüre halten sollen.
„Oha“, zeigt sich Thomas erneut verwundert, ich befürchte, ihm werden wir nachher einiges zu erklären haben. Der erste, welcher den Wagen verlässt nachdem wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben, ist Giacomo, meine Mutter und ich folgen nur zögerlich in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände.
„Da sind sie ja!“ ruft uns die sichtlich gestresste Assistentin des Professors zu, während sie in unsere Richtung läuft. Sie wird begleitet von einem mir unbekannten jüngeren, unrasierten Mann: „Bitte kommen sie sofort mit!“
Die Hektik der Assistentin überträgt sich auf uns, entsprechend gehen wir nun auch in einem schnellen Schritt neben den zwei Forschern her. Aufgrund seiner kurzen Beine muss Giacomo allerdings mehr laufen, als gehen, was dank seiner nunmehr passenden Hose allerdings kein Problem darstellt.
„Was ist denn hier los?“ fragt Thomas, welcher wohl zurecht so etwas wie einen Verdacht schöpft.
„Das wissen sie nicht?“ fragt ihn der Forscher, und hält daraufhin abrupt an: „Oh.“ Er hält sich eine Hand an den Hinterkopf und überlegt kurz: „Das tut mir leid, dann müssen sie in der Eingangshalle warten.“ Sagt er dann entschlossen, obwohl er sich in seinem Ton nicht ganz sicher zu sein scheint. Was auch immer seine Aufgabe in diesem Institut ist, offenbar hat er sich an diese noch nicht komplett gewöhnt.
Die Haupteingangstüre weicht wieder einmal vor uns zurück als wir in ihre Nähe kommen, in der Empfangshalle wird Thomas von dem unsicheren Forscher gebeten, sich gegenüber der nun unbesetzten Empfangstheke hinzusetzen. Zu viert gehen wir anschließend weiter durch die Doppeltüren in den schmalen Gang, in welchem wir schon eben waren.
„Es ist unglaublich!“ empfängt uns Ismael unmittelbar, nachdem die Tür wieder zugefallen ist: „Eure DNA ist identisch! Komplett! Alle Stränge! Wir haben zuerst gedacht, wir hätten zweimal dieselbe Probe getestet!“ Im Gegensatz zu dem eben noch leeren und beschaulichen Gang herrscht nun reger Betrieb. Verschiedene Türen sind offen. Auf der rechten Seite des Ganges scheint eine größere Halle zu sein, blaues Neonlicht strahlt von dort aus in den Flur und man hört ein recht intensives Stimmengewirr, seit eben hat sich hier einiges Verändert.
„Entweder, ihr seid Zwillinge, was man wohl ausschließen kann, ihr könnt klonen, oder aber einer von euch ist in der Tat ein Zeitreisender!“ klärt uns eine weitere Wissenschaftlerin voller Euphorie über das auf, was wir schon die ganze Zeit wussten.
„Sag ich doch!“ gibt Giacomo daraufhin vergnügt zurück, die ganze Hektik wie in einer Einsatzzentrale scheint ihm sichtlich zu gefallen. Mir auch.
„Wer ist von euch nochmal der Zeitreisende?“ fragt die Forscherin darauf hin, von hinten drängelt sich gleichzeitig ein jüngerer Angestellter mit einem größeren Transportwagen vorbei, beladen mit verschiedensten elektronischen Geräten, auf den ersten Blick erkenne ich mehrere PCs in Rackeinschüben mit mehreren Dutzend angeschlossenen Kabeln, und ein Massenspektrometer: „Er.“ Antworte ich knapp, und klopfe Giacomo auf die Schulter.
„Dann bist du wohl der, der Besuch von seinem jüngeren Ich bekam? Das muss ja witzig sein, ich hoffe ihr versteht euch gut“, bemüht sie sich, die angespannte Situation zu beruhigen. „Folgt mir bitte, ihr zwei“, instruiert sie uns und führt uns dann in die etwa zehn Meter hohe Halle.
In den Ecken und in der Mitte der Halle befinden sich Stahlkonstrukte mit zwei Etagen, welche Augenscheinlich verschiedenen Arbeitsbereiche darstellen, etwa wie übereinandergestapelte Balkons, nur mit Türen, Treppen und engmaschigen Gittern als Fallschutz im unteren Bereich von jeder Etage. Vom Boden aus kann man mehrere Schreibtische mit Bildschirmen erkennen, aber auch größere Geräte, Regale und einen Konferenztisch auf der ersten Etage des Turmes, auf welchen wir grade zugehen. Links neben dem Turm befinden sich ebenfalls eine L-Formation aus Schreibtischen mit Bildschirmen, Papierbergen und Rechnern, an anderen Punkten des Raumes sieht es ähnlich aus. Schnellen Schrittes folgen wir der Forscherin über den Betonboden, während die Blicke von mir und Giacomo durch den Raum schweifen und alle möglichen Details aufsaugen. Ein Paradies für Technikfreaks.
„Setzt euch ruhig“, rät uns die Forscherin, und deutet auf die Sitzbank in einer Ecke der Plattform, welche aussieht, als wäre sie früher eine Flugzeugsitzreihe gewesen. Wer immer hier arbeitet, der scheint das mit Herzblut zu tun, dieser Bereich hier wirkt recht persönlich eingerichtet, wenn auch eher von mehreren Personen. Weiter oben hört man leisere elektronische Musik, zwei Personen unterhalten sich auf Englisch. Es scheint, als hätten Giacomo und ich eine Menge Leute in Aufruhr versetzt. Gegenüber des Konferenztisches nimmt die Frau, welche uns hier hin geführt hat Platz, und lehnt sich in unsere Richtung.
„Also, erzählt mal. Wie war das? Der Kleine ist einfach so aufgetaucht, wann, wo?“ fragt sie, und ich hole aus, um die bekannte Geschichte ein weiteres Mal zu erzählen, werde aber von Giacomo unterbrochen, welcher mir das Wort aus dem Munde nimmt: „Ja, also, ich kam eigentlich grad aus der Schule, noch im Jahr 2007. Es waren grade einmal ein paar Wochen seit den Sommerferien vergangen. Dann, nach dem Essen wollte ich in mein Zimmer gehen, die Tür war offen, als ich im Flur war“, die Frau hört interessiert zu, und nickt, Giacomo schaut mit den Augen kurz nach oben und überlegt, und redet dann weiter.
„Aber mein Zimmer sah anders aus, nicht wie meines, sondern wie seines“, er schaut zu mir: „und es war auch irgendwie falschherum, die Fenster waren nicht da, wo sie in meinem alten Zimmer waren, sondern da, wo sie in Giacomos Zimmer sind …“ Nun bin ich es, der Giacomo das Wort abschneidet.
„Sie müssen wissen, ich bin in unserer Wohnung 2009 mit meinem Zimmer umgezogen in einen größeren Raum, der liegt neben meinem alten Zimmer. Dementsprechend stimmte auch die Anordnung des Raumes, in den Giacomo aus dem Flur geschaut hat nicht.“
„Hm, ja …“, signalisiert sie uns, um zu zeigen, dass sie uns folgen kann. „Wir sind so weit!“ platzt ein asiatisch aussehender Mann mit Laborkittel und Plastikschutzbrille, welcher auf einer Treppe gegenüber von unserem Tisch steht, heraus. „Ah, ja, gut. Und wie ging es dann weiter?“ werden wir aber wieder gefragt.
„Naja, Giacomo ist in das komische Zimmer, was wohl mein Zimmer war, hineingegangen. Kurz darauf bin ich auch in mein Zimmer gegangen, also im Jahre 2014, und da saß er dann da. Auf meinem Stuhl.“
„Sachen gibt’s. Und als du dann wieder aus dem Zimmer herausgegangen bist, warst du immer noch im Jahre 2014?“ fragt sie noch etwas, was für Giacomo ganz selbstverständlich zu sein scheint.
„Ja, klar, sehen sie doch! Sonst wäre ich ja nicht hier!“ antwortet er, als wäre das ein komplett logischer und erwartbarer Zusammenhang, was unsere Interviewerin zum Lächeln bringt. „Ok, gut, ich glaube, das reicht erstmal. Folgt bitte Kai, wir werden jetzt ein paar Tests mit euch durchführen.“
„Was?“ fragt Giacomo leicht schockiert. Als Schüler ist man gewohnt, dass bei einem Test nichts Gutes auf einem zukommen kann. „Keine Angst, nichts schlimmes, das wird nicht wehtun, und so lang wird das auch nicht dauern.“
„Oooookay“, sagt Giacomo leicht zögerlich, und folgt dann dem jungen Asiaten eine Treppe herunter in einen weißen Container. Er öffnet uns eine Türe, welche sich unmittelbar danach selbst wieder schließt. Der Container ist bis auf ein kurzes Bedienpult und einen Spiegel leer, auf der anderen Seite sieht man eine massive Doppeltür, welche allerdings geschlossen ist. Kai drückt einen roten Pilzknopf, wie er normalerweise häufig als Notschalter in öffentlichen Gebäuden verbaut wird, kurz darauf ertönt ein dezentes Piepsen, die Lüftung fängt gleichzeitig an zu rauschen.
„So, wir müssen jetzt hier zwei Minuten warten. Ihr seid wirklich Zeitreisende? Meinen Respekt!“ fragt uns Kai mit seinem amerikanischen Akzent aus. „Naja, nein, nur er. Wie sie vielleicht erkennen, sind wir uns extrem ähnlich, das liegt daran, dass er ich ist, also ich aus der Vergangenheit. Deshalb konnten wir ja auch so schnell beweisen, dass wir Zeitreisende sind …“ auch der Asiate scheint ebenfalls Spaß daran zu haben, mich zu unterbrechen. Rede ich zu ausschweifend, und brauche zu lang, um auf den Punkt zu kommen, oder wieso tun das alle?
„… denn eure DNA ist logischerweise identisch. Das ist ja praktisch, wenn einer von euch einen Unfall hat, kann der andere ohne jedwede Komplikationen Organe spenden! Das ist ja wie in „The Island!““
„Ja, das ist echt ein toller Film, und der Soundtrack erst!“ beginne ich zu schwärmen, Kai will grade antworten, da unterbricht ihn aber Giacomo, nach dem er sich das Steuerpult angeschaut hat: „Und was machen wir jetzt hier? Werden wir gescannt? Analysieren die uns jetzt?“
„Nein“, antwortet Kai leicht lachend: „Wir sind zwar ein paar Jahre in der Zukunft, aber die Körper von Menschen können wir noch nicht einfach mit einem kurzen Scan mit wasauchimmer analysieren.“ Er stockt kurz: „Also jedenfalls weiß ich davon nichts. Aber ich wusste ja bis vor kurzem auch noch nichts von der Möglichkeit, Zeitreisen durchzuführen. Nein, das hier ist nur eine Art Luftschleuse, wir betreten gleich einen anderen Bereich, die haben da reinere Luft, und diese Luft muss jetzt erst dekontaminiert werden, bevor wir weiter gehen dürfen.“
„Und wie lange brauchen das noch?“ Fragt Giacomo, welcher sichtlich gespannt ist auf die Welt hinter dem Raum.
„Ich hab Hungeeeeer!“ antworte ich, passend zu dem absichtlich gelangweilt-kindlichen Frageton von Giacomo.
„Sind wir bald daaaa?“ führt er das ganze fort.
„Ich muss maaal!“ komplettiere ich das Ganze.
„Ich jetzt nicht mehr!“ antwortet Giacomo daraufhin grinsend, was auch bei mir ein kichern zur Folge hat. Kai schließt sich uns an: „Oh mein Gott! Pinkel mir bloß nicht die Reinraumschleuse voll! Das wäre ein Albtraum!“ appelliert er theatralisch und nicht ernst gemeint an den kleinen Giacomo, ohne zu wissen, dass dieser eine Pampers unter seiner Hose hat.
Wieder einmal ertönt ein Piepen, und die Stahltür am Ende der Schleuse öffnet sich zischend, Giacomo und ich schauen gespannt zur Türe, gespannt, was uns dahinter erwarten wird. Ein weiterer Schleusenbereich, diesmal mit Schutzoveralls. „So, hier müssen wir uns normalerweise Schutzanzüge anziehen, da ihr aber ja die Subjekte unserer Betrachtung seid, könnt ihr glücklichen euch das sparen. Ich glaube, in deiner Größe hätten wir auch gar nichts“, ergänzt er grinsend als er zu Giacomo schaut: „Nur eure Schuhe solltet ihr austauschen, gegen diese modischen Plastiklatschen.
„Die sehen ja aus wie Ballerinas!“ fängt Giacomo an, die Schuhe zu kritisieren.
„Na komm, die sind doch aus Plastik, die sehen doch nie im Leben aus wie Ballerinas! Ich mein, versuch mal mit denen zu tanzen, du wirst kläglich scheitern!“ verteidigt Kai lachend die Schutzschuhe, seine Art ist mir sympathisch. „Welche Schuhgröße habt ihr?“ fragt er uns noch, und händigt uns kurz darauf zwei Plastikschuhpaare, besser gesagt Schuhlappenpaare in Größe 39 und 42 aus.
Ich knie mich hin, und binde meine Schuhe auf, und stülpe die Schuhlappen über meine Socken, um danach festzustellen, dass Giacomo schon längst fertig ist, dank seinen Klettverschlussschuhen. „Wohin jetzt damit?“ frage ich unschlüssig, Kai, welcher sich grad in den Ganzkörperoverall zwängt, antwortet mir: „Achja, äh, die kommen hier in diese Klappe.“ Sagt er, und deutet zu einer weißen Klappe an der linken Seite des Raumes welche der großen Halle zugewandt ist.
„Ich hoffe, das ist nicht wie in den Dekontaminationsschleusen von Atombunkern, wo die Sachen dann verbrannt werden!“ sage ich, als ich meine Schuhe zusammen mit denen von Giacomo durch die Klappe fallen lasse.
„So, feeeeertig!“ verkündet Giacomo stolz und klopft sich seine Hände ab. Kai scheint auch schon mit dem Anlegen seiner Schutzkleidung fertig zu sein, denn die Türen am Ende dieses zweiten Raumes öffnen sich wieder.
Die Luft riecht eigenartig, irgendwie leicht metallisch, aus den Lüftungsschlitzen im Boden und in der Decke des Flures, in dem wir uns nun befinden, dringt mit hörbarem Rauschen frische gefilterte Luft, durch die großen Glasscheiben, eingefasst in Metallrahmen, kann man in andere Räume auf beiden Seiten sehen. Verglichen mit der Werkshalle ist dieser Raum unheimlich hell, und wie zu erwarten sehr steril. Wir werden von mehreren Schutzoveralls mit Menschen darunter erwartet, einer hat einen dicken Tablet-PC mit einem Stift in der Hand.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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