Zweite Chance (1) – Kapitel 10
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Kapitel 10 – Jedem seine Windeln
Als Giaci und ich unsere kleine Diskussion über die Wechselbedürftigkeit seiner Pampers beendet haben, war Kai schon damit fertig, einem Forscherteam zu berichten, dass wir den Reinraum wohl erst einmal verlassen werden, und öffnete uns die Türen in den vorderen Bereich der Schleuse.
„So, ich denke, wir werden dann für heute den Bereich hier verlassen, bisher sieht es ja auch noch nicht so aus, als ob ihr irgendwie krank währt oder so, von daher …“ Kai reicht Giacomo seine dunkelbraunen Klettverschlussschuhe und mir meine, ebenfalls dunkelbraunen, Schnürschuhe: „Nachdem du fertig bist“, er schaut zu Giacomo und uns ist klar, worauf Kai hinauswill: „Könnt ihr mal mit unserer Psychologin reden, die wollte euch auch noch mal anschauen. Dann sind da noch ein paar offizielle welche sich mit euch unterhalten wollten, mit eurer Mutter haben die das mittlerweile wohl getan, und danach“, er holt Luft: „Ist es eigentlich auch schon Abend langsam, es wäre vermutlich das Beste, wenn ihr dann auch irgendwann mal ins Bett gehen würdet, weil das ganze Zeug hier ist ja vermutlich auch anstrengend für euch, und morgen wird es vermutlich nicht besser werden.“
Noch während ich auf dem Boden knie und dabei bin, mir den linken Schuh zuzubinden, antworte ich Kai: „Wer bist du, meine Mutter? Nein, Spaß, ich glaube, du hast recht, ich bin auch fast schon ein bisschen müde“, antworte ich zuerst spöttisch und nachher aber in einem ernsten, nüchternen Ton. Giacomo scheint hierbei aber leicht andere Tendenzen zu haben: „Echt? Jetzt schon? Ich noch gar nicht!“ gibt er entschlossen von sich, ich bezweifele ebenfalls, dass ein Giacomo vor dem Einsetzen der Pubertät so etwas wie Müdigkeit überhaupt kennt.
„Naja, wie auch immer“, gibt Kai leicht resigniert grinsend zurück, während er hauptsächlich damit beschäftigt ist, sich den weißen Schutzanzug abzustreifen. Giacomo widmet sich nun auch dem Anziehen seiner Schuhe und kniet sich genauso hin wie ich, was zur Folge hat, dass man die Windel hinten wieder einmal ein ganzes Stück aus seiner Hose herausschauen sieht. Ich fasse den Entschluss, ihm so bald wie möglich diskret darüber zu unterrichten, in welchen Körperpositionen so eine Windel aus einer Hose herauslugt.
Im Gegensatz zu Giacomo und Kai habe ich nun aber nichts mehr zu tun, weshalb ich mich unschlüssig gegen die Wand hinter mir lehne und in der Gegend umherschaue. In den Kleiderständern gegenüber von mir warten noch unzählige weitere Einmal-Schutzanzüge darauf, angezogen zu werden, der von Kai will aber offensichtlich nicht von ihm herunter. Giacomo ist aber mittlerweile schon fast fertig mit seinen beiden Schuhen, und drückt eben noch die Klettverschlüsse des zweiten Schuhs zu.
Schließlich schafft es auch Kai mit gewaltigem Körpereinsatz, sich von seinem Schutzanzug zu befreien und öffnet uns die Türe zur Luftschleuse. Wenige Sekunden später haben wir uns bereits zu dritt in diesen zweiten Raum hineinbewegt und kurz darauf fällt die Tür bereits wieder automatisch zu.
„Hm, 17 Uhr, oha“, gebe ich nachdenklich von mir, als ich nun wieder zum ersten Mal seit ein paar Stunden auf mein in der Reinraumschleuse abgelegtes Handy schaue. „Ja, die Zeit vergeht subjektiv unterschiedlich schnell. Und du wirst lachen, aber das mit der Psychologin und so dauert schon was, eigentlich müssten wir uns sogar beeilen!“ antwortet mir Kai auf meine ungestellte Frage. Von dem Zeitdruck lässt sich die Reinraumschleuse allerdings wenig beeindrucken, wie schon beim Eintreten in das Reinraumlabor mit einem monotonen Rauschen die uns umgebende Luft austauscht.
Entgegen meiner Erwartung öffnen sich die Türen zur Werkshalle bereits nach weniger als einer Minute, soviel zur Subjektivität des Zeitempfindens: „Oha, das ging schnell.“ Auch darauf hat Kai allerdings wieder eine Antwort in petto: „Ja, das ist aber eigentlich ziemlich logisch, wenn wir reingehen, muss die verschmutzte Luft ja gereinigt werden, aber jetzt wo wir rausgehen ist das ja eigentlich egal, ob uns noch Reinraumluft umgibt. Da wird dann nur der Druck ausgeglichen.“
Während er diese einleuchtende Erklärung abgibt, geht Kai schon langsam aus der Schleuse hinaus, ich und Giacomo folgen ihm. Die Luft hier ist signifikant wärmer als im Reinraumlabor, der Geruch ist selbstverständlich auch ganz anders. Schmierfett und der Geruch von arbeitenden Maschinen weht uns entgegen und jetzt, wo man wieder aus dem Reinraumlabor herausgekommen ist, fühlt man sich wieder etwas freier – immerhin strömt durch die zahlreichen geöffneten Fenster unter der Decke viel Frischluft in den Raum, anders als im Labor.
„Und was jetzt? Ich muss ja ans Auto um die, sie wissen schon was, zu holen“, frage ich Richtung Kai als würde es sich bei den Windeln um Lord Voldemort höchstpersönlich handeln: „Ich, oder wir, wir müssten also mal zu meiner Mutter. Wissen sie, wo sie sich befindet?“ frage ich Kai ohne darüber nachzudenken, ob ich ihn vielleicht duzen darf.
„Ja, ok, ich glaube, die ist immer noch im Empfangstrakt, also da, wo wir herkommen. Findest du alleine hin? Weil ich müsste Giacomo wie erwähnt mitnehmen zu der Psychologin, die kommt sich sonst überrannt vor und hält uns dann vor, wie unsozial wir Forscher uns doch gegenüber Fachfremden verhalten …“ bekomme ich als Antwort, worauf ich kurz nicke, zu Giacomo schaue, welcher scheinbar auch nichts einzuwenden hat und entferne mich dann von den beiden.
Nicht bedacht habe ich dabei allerdings die Größe der Halle und deren Unübersichtlichkeit, weswegen ich einige Minuten brauche, bis ich die Metalltür finde, welche mir Zugang zu dem bekannten, kleinen Eingangsgebäude gewährt. Aber auch hier angekommen wird mir bewusst, dass ich nicht weiß, wo sich meine Mutter nun genau befindet.
Kurz bevor ich den Entschluss fasse, aus Ratlosigkeit einfach alle Räume durchzugehen dringt aus meinem Unterbewusstsein hervor, dass sich in meiner rechten Hosentasche wieder mein Smartphone befindet und fasse den Entschluss, meine Mutter einfach anzurufen um ihren Standort herauszufinden. Zwei Sekunden und zehn Bildschirmdrücker später halte ich mir mein Handy ans Ohr und höre kurz darauf das altbekannte Piepen von Telefonanrufen. Nicht lang allerdings, denn bald nimmt meine Mutter den Anruf an: „Hallo Giacomo. Und, wie ist es so bei dir?“
„Gut. Aber, sag mal, wo bist du? Oder wo ist Thomas, ich müsste mal kurz an den Kofferraum, ich muss da was rausholen“ antworte ich meiner Mutter und hänge direkt eine Forderung hinterher.
Daraufhin weiß meine Mutter allerdings nur eines zu antworten: „Oh“, tönt es aus dem klitzekleinen Lautsprecher des Handys, nach einer kurzen Pause spricht meine Mutter weiter. „Wir sind aber grad in der Mensa, oder der Cafeteria, dem Restaurant hier auf dem Gelände. Als ihr weg wart, hab ich mit verschiedenen Leuten vieles besprochen, was euch angeht, irgendwann gab es aber vorerst nichts mehr und Thomas und Ich haben nach Rücksprache mit dem lieben Professor Ismael den Entschluss gefasst, uns einen schönen Nachmittagskaffe am See zu genehmigen.“
„Oh, Mist. Wollt ihr nicht mal schnell rüberkommen zufällig?“ frage ich nun um mir zwei zehnminütige Fußmärsche zu ersparen, habe dabei aber selbst wenig Hoffnungen.
„Naja, eigentlich erstmal nicht! Aber der Fußweg tut dir bestimmt gut, ein bisschen Sport muss sein!“ bekomme ich als aufmunternde Antwort zurück. Kurz darauf beenden meine Mutter und ich wechselseitig das Gespräch und ich mache mich auf den Weg aus dem von außen unscheinbaren Gebäudekomplex.
„Giacomo Müller?“ werde ich gefragt, als ich mich schon in der kleinen Eingangshalle befinde. Auf einem der Stühle welche zusammen die kleine Wartebank bilden sitzt ein Mann Anfang der dreißiger, blaues Hemd, schwarze Anzughose, randlose Brille und einem vertrauenserweckenden Grinsen.
„Äh, ja? Wieso?“ frage ich den mir unbekannten Mann, während durch die Eingangstür ein zweiter kommt, ohne Grinsen, mit ernster Mimik, schwarzem Bart mit grauen Haaren und einem kompletten Anzug. „Guten Tag, wir müssen mit dir reden, Giacomo. Es geht um eure kleine Zeitreise.“
Im ersten Moment möchte ich eine ironische Bemerkung darüber ablassen, dass ein anderes Thema wohl auch recht unwahrscheinlich gewesen wäre, verwerfe diese Idee allerdings nach einem Blick auf das Gesicht des älteren Mannes wieder und antworte rein sachlich: „Worum im speziellen?“
„Um die Tatsache, dass einer von euch durch die Zeit gereist ist. Auch wenn das wissenschaftlich höchst interessant ist, ist es doch eine Sache, welche nicht sofort einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden sollte. Selbstverständlich ist das auch in eurem Interesse.“ Der ältere Mann, welcher seit seinem Eintreffen als einziger von den beiden spricht, scheint sich mit seinen Aussagen sehr sicher zu sein und ist scheinbar kein Freund vieler Worte.
„Ja, da haben sie wohl recht“, antworte ich sachlich, durch die viele politische Arbeit weiß ich mittlerweile einigermaßen, mit welchem Menschentyp ich mich eher nicht anlegen sollte, weshalb in mir langsam aber sicher der auch Impuls, das Gespräch zu beenden, wächst.
Die andere Seite des Gesprächs scheint dies aber nicht so zu sehen: „Um dies zu gewährleisten müssen allerdings einige Maßnahmen getroffen werden. Einer meiner Kollegen hat eben bereits mit deiner Mutter gesprochen, dein Ich aus der Vergangenheit heißt ja nun nicht mehr Giacomo, sondern Felix. Das ist gut.“ Fährt der ältere Herr fort in einem Tonfall, den ich von den Forschungszentrumsmitarbeitern bisher nicht gehört hatte: „Für den Fall, dass er in dieser Zeit bleiben würde, würde dies allerdings nicht reichen. Felix, welchen du ab jetzt wirklich immer so nennen solltest, würde für diesen Fall von uns alle nötigen Dokumente und eine Hintergrundgeschichte bekommen, welche Außenstehenden sein plötzliches Auftauchen erklären würde.“
Während einer Kunstpause hebt der Mann, welcher sicherlich einen guten autoritären Lateinlehrer der Sechzigerjahre abgegeben hätte, seinen Zeigefinger und spricht dann weiter: „Aber das ist nur eine der Möglichkeiten. Felix hat mit seiner unfreiwilligen Zeitreise etwas strategisch und wissenschaftlich Wichtiges geschafft. Etwas an dem Wissenschaftler im verdeckten noch lange forschen werden bis sie es verstehen. Möglicherweise wird Felix auch vorerst in dieser oder einer anderen Forschungseinrichtung bleiben müssen, je nachdem was man von seinem Körper und Geist von seiner Zeitreise erfahren kann.“
Mir wird bewusst, wie mein Herz mittlerweile stark schlägt. Nicht schnell, nur stark, intensiv. Giacomo soll erst einmal in Forschungszentren bleiben und analysiert werden? Über einen längeren Zeitraum? Nach einigen Sekunden des Stillschweigens und einem auffordernden Blick meines Gegenübers entschließe ich, meine Frage laut auszusprechen „Was? Sie wollen Giacomo quasi hier einsperren?“ frage ich in einem Ton, den ich selber schon anfange zu bereuen, weshalb ich noch in einem leiseren, unsicheren, fragenden Tonfall: „Wie lange?“ hinterhersetze.
„Ich habe nichts vor. Die Entscheidung obliegt komplett meinen Vorgesetzten. Aber du kannst mir glauben, wir sind keine Unmenschen. Selbstverständlich wollen wir auch einem Zeitreisenden eine normale Kindheit ermöglichen, aber wenn das Wohl der Bevölkerung davon abhängt, dann wird es uns nicht schwerfallen, abzuwägen“, beendet der graue Herr seinen Vortrag und scheint damit nicht nur mich sondern auch seinen Kollegen eingeschüchtert zu haben. Ich stehe noch verstört in der Eingangshalle als die beiden Anzugmänner durch die Doppeltüre in Richtung der Werkshalle verschwunden sind. Ob sie sich jetzt bei den Forschern erkundigen, ob Giacos Anwesenheit im Jetzt eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen könnte? Zu welchem Ergebnis werden sie kommen? Wer sind sie überhaupt? Sind das die berühmten Men in Black?
Sichtlich besorgt verlasse ich nun doch den Gebäudekomplex und will mich über die mir noch vom Praktikum bekannten Wege in Richtung der Cafeteria machen, komme von diesem Vorhaben aber abrupt ab, als ich auf den Betonpfad einbiege und fast in meiner Mutter renne.
„Oh“ bringe ich durch meine Überraschung und die Tatsache, dass ich immer noch über die Zukunftsfähigkeit meiner jüngeren Ausgabe nachdenke, nur hervor. Meine Mutter scheint allerdings wortgewandter zu sein.
„Ja, wir waren dann doch auch recht schnell mit dem essen und wollten dann auch mal bei euch vorbeischauen. Wie geht es meinen beiden Kleinen denn so?“
„Hey! Ich bin nicht klein!“ gebe ich zurück, verschränke meine Arme und strecke meiner Mutter meine Zunge entgegen, was diese aber wie beabsichtigt als Ironie erkennt: „Mir geht’s gut. Wie’s Gi-, äh, Felix geht, ja, auch ganz gut, aber äh, ich müsste mal in den Kofferraum! Also was da rausholen.“
Während ich noch spreche, öffnet sich der Kofferraum bereits und gibt den Einkauf preis. Ich stehe kurz ohne einen genauen Plan zu haben rum, da ich nun nicht wirklich weiß, wie ich Giacomo eine neue Pamperswindel bringen soll, ohne dass das ganze Forscherteam diese in meiner Hand sieht. Erstaunlicherweise ist es aber dieses Mal meine Mutter, welche eine Antwort darauf parat hat, noch dazu, ohne, dass ich sie gefragt hätte.
„Nimm dir am besten eine der Kaufhoftüten und tu alles, was ihr erstmal braucht, da rein, ihr werdet ja über Nacht hierbleiben“, ruft sie mir von hinten zu, scheinbar weiß sie wohl auch über das meiste Bescheid. Ob sie auch mit dem autoritären grauen Mann gesprochen hat?
Mittlerweile stehe ich am Kofferraum, kippe eine Kaufhoftüte aus, und fange an, alles vorerst Notwendige in die nun leere Tüte zu stecken. Angefangen mit einer dunkelgrünen Hose, einem weißen Tshirt mit schwarzroter Aufschrift ohne jedweden Sinn und einer orangen Kapuzenstoffjacke, eine Unterhose kann ich mir wohl bei Felix sparen.
Im Gegensatz zu ihm haben wir aber für mich keinerlei Kleidung gekauft und voller Schreck stelle ich hinzukommend fest, dass ich auch mein Handyaufladekabel nicht dabei habe. Wäre jetzt nicht der kleine Giacomo da, würde mir wohl sehr schnell langweilig werden, aber zumindest das dürfte nun kein Problem darstellen. Nachdem noch ein Paar Socken in der Tüte gelandet ist, entschließe ich mich, den hellblauen Bärchenschlafanzug in den mobilen Kleidungstransportbehälter zu stecken, welchen Giacomo entgegen meiner Empfehlung doch gekauft hat.
Als ich nun fertig mit dem Sammeln der Kleidung bin, versuche ich zunächst vergeblich, die grüne Pamperspackung aufzubekommen. Bisher habe ich mir in meinem Leben zwei dieser Pakete gekauft und aufgemacht, so richtig Übung habe ich darin noch nicht. Ein paar Mal drehe ich das Paket herum im Kofferraum, bis ich an einer der schmalen Seiten eine perforierte Linie erkenne, welche ich prompt aufreiße und sogleich von den grünen Punkten auf der Vorderseite der Windel begrüßt werde. In meinem Kopf gehe ich kurz durch, wie viele Windeln ich wohl erst einmal mitnehmen muss und das ganze Paket würde ich ungerne herumschleppen. Es ist jetzt fast fünf, Giacomo braucht noch eine Windel für den späten Nachmittag, vielleicht eine zusätzliche Nachtwindel, und für morgen wohl auch zwei bis drei, weshalb ich entschließe, zur Sicherheit lieber fünf Pampers mitzunehmen.
Ich zähle mit meiner linken Hand die Windeln in der Packung durch, so wie man es normalerweise an der Kasse mit Geldscheinen macht. Zwei, Drei, Vier, Fünf. Ich bin Windelmillionär! Anschließend ziehe ich die Pampers langsam aus der Packung heraus und stecke sie in die Tüte, wo sie sich umgehend anfangen zu entfalten. In der Packung werden die 25 Windeln hochkomprimiert gelagert, jetzt in der für sie wohl kurzen Freiheit bevor sie fast genau so fest an einem menschlichen Körper befestigt werden, plustern sie sich geradezu auf. Ich will die Tüte schon aus dem Kofferraum heraushieven, da entscheide ich mich, noch schnell zwei Drynites hinein zu packen. Für mich. Giaci hat Recht, ich bin fast schon neidisch auf ihn.
„Achja, hab ich dir erzählt, ich hab eben mit zwei netten Offiziellen gesprochen“, überrascht mich meine Mutter von hinten, wobei ich sichtlich zusammenzucke. Schnell beruhige ich mich aber wieder als mir bewusst wird, dass ich für die Drynites wohl ein hervorragendes, elfjähriges Alibi habe. „Die waren sogar vom BND oder so! Ich musste ja auf euch warten während ihr da irgendwo wart und nachdem die Psychologin weg war, haben die beiden mich irgendwann angesprochen. Giacomo heißt jetzt quasi offiziell Felix und bekommt auch bald offizielle Dokumente, sieht aus, als hättest du endlich den Bruder, den du dir immer so gewünscht hast!“
Da hat sie wohl Recht. Und noch dazu habe ich den wohl coolsten kleinen Bruder, den man sich überhaupt nur vorstellen kann, nämlich mich! Meine Mutter hat mit zwei netten Offiziellen vom BND gesprochen, welche Dokumente für Giacomo besorgt haben? Wäre das Prädikat „nett“ nicht gefallen, könnte man meinen, dass sie mit denselben Leuten gesprochen hätte, die mir eben aufgelauert haben. „Und wie erklären die sein plötzliches Auftreten? Ist er durch Stargate gereist, oder was?“ frage ich meine Mutter, welche mittlerweile den Weg zurück in den Gebäudekomplex eingeschlagen hat, wobei Thomas abermals außen vor bleibt.
„Ganz witzig. Felix ist jetzt irgendwie wohl dein Halbbruder, welcher mit seinen Eltern bisher in der Schweiz gelebt hat. Laut dieser Version war er wohl das Kind deines Vaters mit einer anderen Frau, ich wünschte, ich könnte mir eine andere Hintergrundgeschichte aussuchen. Egal, wo war ich? Also, Felix heißt jetzt auch Felix, was wiederum heißt, dass du ihn auch so nennen solltest und hat seinen Geburtstag jetzt am 20. Juni 2003 und witziger Weise wird er wohl sogar eine Schweizer Staatsbürgerschaft bekommen, keine Ahnung, wie die das drehen. Aber vielleicht triffst du die ja auch noch, dann können die dir das alles selbst erzählen, denn das war ziemlich viel, was die geregelt und beschlossen haben“, beendet meine Mutter ihren informativen Monolog zeitgleich als wir zum dritten Mal heute in den kleinen Flur am Anfang des Gebäudetraktes einbiegen. Das Ende ihres Berichtes bekomme ich aber schon gar nicht mehr mit, da ich mir bereits den aufgeregten Assistenten mit dem Dreitagebart geangelt habe, und ihn Frage, wo Giacomo sich denn aktuell befindet. Hier im Gang, dritte Tür rechts. Bei der Psychologin.
Das klingt jetzt vielleicht etwas merkwürdig, aber Giacomo, äh Felix und ich sind wohl recht Psychologenerfahren. Zuerst als jüngeres Kind weil wir auch mit sieben immer noch in die Hose machten, was wohl im Nachhinein gesehen wohl weniger erfolgreich war, und dann drei Jahre später, weil unser Vater starb. Unser. Ich fühle mich merkwürdig stark verbunden mit Giacomo, kann seine Wahrnehmung und seine Gefühle in bisher allen Situationen, die uns beiden gemeinsam wiederfahren sind komplett nachvollziehen. Seine vorsichtige Neugierde gegenüber dem MRT-Scan, wie er sich auf sein neues Zimmer freut und darauf, sich seine neue Stereoanlage zusammenzustellen. Ob ich gleich wohl auch zu der Psychologin gehen muss?
„Hallo, bist du der große?“ werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Schnell wird mir bewusst, dass ich bereits in dem kleinen Gesprächsraum der Psychologin stehe. Ausgestattet mit einer Couch, überraschenderweise keiner Gesprächsliege, ein paar Stühlen aber konträr zum Raum meiner ehemaligen Kinderpsychologin ist er ansonsten recht leer und ermangelt jeglichem Spielzeug.
„Äh, ja, genau“, antworte ich und versuche meine Gedanken schnell zu sammeln. Wieso war ich hier? Achja, ich bin ja Felix‘ Windelbringdienst: „Ja, ich bräuchte den kleinen Giacomo mal kurz.“ Zum Beruf von Psychologen gehört es, neugierig zu sein, und genau das ist die Werkspsychologin auch direkt: „Wofür, wenn ich fragen darf?“
„Ach, ähm, ich brauch ne neue Windel und Giacomo hat die geholt“ kommt mir aber Giacomo zuvor, springt vom Sofa auf welchem er bisher kniete auf, geht in Richtung der Türe und lässt mich perplex im Raum stehen. Anscheinend hat es die Psychologin in der guten halben Stunde, die ich weg war mit Bravour geschafft, Vertrauen zu ihm aufzubauen. Da ich aber geübter Meister in Schockbewältigung bin, komme ich aus meiner leichten Verwunderungsstarre schnell wieder heraus und folge meinem neuen kleinen Bruder auf den Flur.
„Ist was?“ fragt der mich direkt, innerlich vermute ich aber, dass er weiß, was mich so verwundert, weshalb er auch direkt weiterspricht: „Ja, ich hab ihr von meinen Windeln erzählt und damit unser kleines Windelgeheimnis verraten, ich hoffe, das stört dich nicht“, sagt Giacomo, während er sich mit dem Rücken an die Wand lehnt und sich mit den Händen immer wieder von der Wand abstößt und daraufhin zurückfallen lässt.
„Ne, passt schon. Hätt ich ihr sonst wohl auch erzählt. Und außerdem weiß das bald eh jeder, so wie du herumläufst!“ necke ich Giacomo. Immerhin ist der jetzt wohl mein halboffizieller kleiner Bruder, da darf ich doch nicht nett zu ihm sein! Welche Botschaft das denn vom Leben vermitteln würde!
„Was? Sieht man die jetzt so stark?“ fragt er nach meiner Bemerkung aber besorgt, dreht sich mit seiner Wirbelsäule so weit nach hinten wie diese es zulässt und fasst dann vorsichtig mit einer Hand an seinen Po.
„Ja, ne, wenn du so stehst, sieht das nur jemand, der weiß, dass du eine Windel anhast. Ne, ich meine, wenn du dich bückst oder streckst, dann sieht man die schon manchmal rausschauen, wenn du weißt, wie ich das meine. Wie bei Paul halt“, antworte ich ihm wahrheitsgemäß und nehme daraufhin den Sohn von Freunden meiner Mutter als Beispiel, welcher mittlerweile aber auch sein halbes Leben lang keine Windeln mehr trägt. Im Jahre 2007, aus dem Giacomo gestern kam, verhielt sich das allerdings noch anders.
„Oh, ah, achso. Verstehe“, antwortet Giacomo nachdenklich, fügt dann noch ein: „Hm“, hinzu, stößt sich plötzlich stärker von der Wand ab und fängt an, den Gang herunterzulaufen, in Richtung des den Vorraum, in welchen sich auch meine Mutter eben gesetzt hat. Als er mir den Rücken zu dreht, kann ich den Status seiner Windel anhand der Ausbeulung an seinem Po erneut beurteilen, diese ist nun so dick, wie es sein Pullup heute Morgen war, nur dass das bei einer Pampers noch nicht das Saugmaximum darstellt. Trotzdem, die meisten Eltern hätten ihre Kinder wohl längst gewickelt, aber bei Giacomo ist hier einiges anders.
„Halt, Moment mal!“ rufe ich ihm hinterher: „Du hast da was vergessen!“
Giacomo hört mich und beginnt daraufhin, laut hörbar unschuldig zu pfeifen. „Is was?“
Wie ich eben sagte, ich kann Giacomos Gedanken und Gefühle total nachvollziehen und kann mir auch denken, dass Giacomo den Windelwechsel gern ein bisschen nach hinten verschieben würde. Ein großes bisschen. Nur, zumindest hier und heute im Forschungszentrum hege ich da große Bedenken gegen wobei das Problem nun darin besteht, Giacomo auf meine Bedenken hinzuweisen, ohne in der Öffentlichkeit des kleinen Flures das Wort „Windel“ zu benutzen.
„Äh ja, du, du, weißt was ich meine“, umschreibe ich die Windeln erneut auf die Weise, mit welcher auch Lord Voldemord in Harry Potter stets umschrieben wurde, das Abmachen einer kuscheligen Windel ist immerhin vielleicht auch Vergleichbar mit seinen Gräueltaten.
„Oh nöö!“ bringt Felix aber nur hervor: „Die ist soo cooool grade! Komm schon!“
Ich versuche ihm mit meinem Blick zur Vernunft zu bringen, aber ganz im Gegensatz zu Dementoren kann mein Blick leider nur wenig ausrichten, weshalb ich nun erst auf Giacomo zugehe und ihm dann so laut wie notwendig aber so leise wie möglich zuflüstere: „Ja, ich weiß ja, wie cool die ist. Naja, eigentlich weiß ich es sogar nicht, da mir ja die Pampers in meiner aktiven Windeltragzeit nie so gut passten wie dir, aber jetzt hier im Forschungszentrum wäre das wirklich besser, wenn du deine Pampis nicht immer bis zum äußersten Rand ausnutzen würdest, sondern dir das für Zuhause aufsparen würdest.“
Ich hätte meiner kleinen Rede nicht wirklich viel Überzeugungskraft zugetraut, trotzdem lenkt Giacomo nun aber doch ein: „Na, ok, von mir aus! Aber die Nachtwindel behalt ich dann länger an!“ Schlägt er mir als einseitig festgelegten Kompromiss vor.
Ob ich bei meiner Aufforderung, Giacomo solle sich wickeln gehen souveräner hätte vorgehen sollen? In meinen Ohren habe ich mich ja fast wie irgend so ein langweiliger, alter Moralapostel angehört und nicht wie ein großer Bruder. Hätte ich einfach: „Pff, mir egal!“ antworten sollen und den Dingen und Giacomos Urin seinen Lauf lassen sollen? Oder hätte ich mir Giacomo einfach schnappen sollen und ihn mithilfe einer Kitzelattacke in den Wickelraum tragen sollen? Ich glaube, ich brauche noch ein wenig Übung im Bruder-sein.
Deshalb antworte ich Giacomo, während ich eine neue Pampers aus der Plastiktüte krame, nun wieder auf die von mir bei allen bekannte, humorvolle Art: „Ja, gut, von mir aus! Aber ich mach das Bett dann nicht sauber morgen früh!“
Da ich und Giacomo uns naturgemäß ja ziemlich gut verstehen, grinst dieser nun auch schon wieder und scheint meine Aussage genauso aufzunehmen wie von mir beabsichtigt. „Das mit dem selber-wickeln kriegst du diesmal hin, oder?“ frage ich allerdings noch, denn Giacomos Windeln müssen wirklich optimal an ihm dransitzen damit seine Hose solch eine Benutzung ohne Flecken übersteht. Giacomo ist sich hierbei aber scheinbar noch nicht so ganz sicher: „Hm, ja, ich glaube schon.“
Gut, das muss jetzt mal reichen. Ich klopfe meinem kleinen Ich auf die Schulter, informiere ihn darüber, dass ich auch einmal auf die Toilette müsse, und lasse mich dann von ihm auf die Toilette führen. Ich nehme die erste Kabine, Giacomo die daneben. Ich setzte mich auf die geschlossene, kalte Klobrille, ziehe meine Hose aus, und fange danach an, mir eine der Drynites aus der Tüte überzustreifen. Hoffentlich bemerkt das keiner. Obwohl mir das vor Giacomo eigentlich egal sein dürfte, versuche ich, möglichst keine Geräusche beim an- und ausziehen zu machen, wohingegen ich von Giacomo deutlich höre, wie er seine Klebestreifen aufreißt und dann noch kurz leise: „Manno!“ seufzt.
„Ach, komm, das Gefühl kommt wieder! Und du wirst es nicht glauben, aber ab und zu ist eine trockene Windel auch ein echt cooles Gefühl!“ versuche ich, Giacomo von der Richtigkeit des Windelwechsels zu überzeugen.
„Ja, aber nö!“, hat er dazu allerdings nur zu sagen. Trotz der Tatsache, dass ich meine ganze Hose aus und anziehen musste, bin ich vor Giacomo fertig und stehe schon vor seiner Kabine, als dieser grinsend seine ein paar Minuten später verlässt, mit seiner prall gefüllten, gelb verfärbten Pampers unprofessionell zugerollt in seiner linken Hand: „Äh, Mülleimer?“
„Äh, Vorraum“, antworte ich. Giacomo sprintet daraufhin in eben diesen Raum und lässt die Windel theatralisch aus der Höhe in den Korb knallen, was auch noch für mich in einigen Metern Entfernung gut hörbar ist. Ganz so weit entfernt bin ich aber gar nicht mehr, immerhin gehe ich grade auch auf die graue Ausgangstür mit ihrem roten Rahmen zu: „Komm, lass wieder rausgehen. War doch gar nicht so schwer, oder?“
„Ja, aber irgendwie find ich das trotzdem scheiße, das passt gar nicht so. Windeln nasspinkeln ist cool, aber wickeln ist doch nix, was man selber freiwillig machen will!“, antwortet er mir daraufhin leicht enttäuscht.
„Ja, gut, aber was will man machen? Irgendwann muss das einfach gemacht werden …“, antworte ich, ohne eine wirkliche Antwort zu haben.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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