When 2 become 1 (14)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (14)
Anmerkungen vom Autor
Ich freue mich jederzeit über Kritik, brauche aber keine Vorschläge, wie sich die Geschichte, bzw. die Charaktere entwickeln könnten. Weil das Storyboard wie gesagt bereits fertig ist.
Beginn der Geschichte
Nic hatte mit dem Thema Kleidung die allerwenigsten Probleme. So richtig überraschend war das nicht, wenn man gesehen hatte, in welchen Fetzen er hier angekommen war. Ich wusste aber aus Gesprächen mit meiner Mutter, dass der kleine Kerl eigentlich großen Wert auf seine Klamotten gelegt hatte. Nicht, weil er besonders eitel gewesen wäre, sondern weil er ein Fan seines Vaters war. Als Landwirt lief der eigentlich fast immer in robuster, funktionaler Arbeitskleidung herum. Und genau so hatten sie Nic eben auch ausgestattet. Moderne Arbeitsklamotten in XXS. Ich würde ihm die auch noch besorgen. Aus Psychologischer Sicht war es aber zunächst nicht ratsam, ihn mit Erinnerungen an sein altes Leben zu überfrachten. Wir würden Stück für Stück damit beginnen, seinen Verlust, seine Trauer aufzuarbeiten. Jetzt musste Nic erstmal hier ankommen. Ich griff zu einem Paar schlichter hellgrüner halbhoher Schnür-Stiefel aus weichem Leder mit jeweils einem grauen Stern auf der Seite. Auch sie stammten aus dem Fundus von Stevens und Raissas Kindern. Die Drillinge trugen genau solche Schuhe, deshalb hatte Nic davon jetzt gleich drei Paar in verschiedenen Farben im Schrank. Keine coolen Trend-Treter, sondern weiche und bequeme Lederschuhe. Raissa hatte kein Verständnis dafür, das Menschen (und schon gar nicht Kinder), im Alltag Turnschuhe trugen. Da war sie bei ihren Kindern eisern. Und selbst Emma hatte lange betteln müssen, bis ihr ihre Eltern ein Paar Sneakers genehmigt hatten. Aus Leder natürlich. Mir war das ehrlich gesagt egal. Ich würde auf mich zukommen lassen, welche Vorlieben Nic in Sachen Schuhwerk entwickeln würde. Für den Anfang war die Lederstiefelchen aber ideal, weil sie problemlos mit medizinischen Einlagen ausgestattet werden konnten. Die hatten der Doktor und Juri für Nic anpassen lassen, um seine schiefe Hüfte ausgleichen zu können. In einer Orthopädischen Werkstatt, die direkt an unsere Klinik angedockt war. Das das hatte keine halbe Stunde gedauert.
Als ich Nic neben mich auf den Boden stellte, blickte er etwas überfordert zu seinen Füßen. Es waren nicht seine “neuen” Schuhe, die ihn ganz offensichtlich irritierten, sondern die Einlagen darin. Die waren zwar sicher nicht unbequem, aber eben ungewohnt. “Das passt schon, Tiger!”, erklärte ich ihm. “Die Einlagen helfen dir, auf Dauer noch besser laufen zu können!” Offensichtlich reichte ihm das erstmal. Sein müder Blick blieb. Es war früher Nachmittag und das Programm, das wir heute abgespult hatten, war selbst für einen gesunden Erwachsenen anstrengend. Emotional und körperlich. Und Nic war weit davon entfernt gesund und bei Kräften zu sein. Wir hatten darauf spekuliert, dass Nic um diese Uhrzeit müde werden würde. Wir brauchten fürs Endermann-Theater einen müden, phlegmatischen Nic, der zumindest so ähnlich aussah wie das mit Drogen ruhig gestellte Wesen, das Franziska Endermann hier vor zwei Tagen abgeliefert hatte. Das lief also im Moment wie geplant. Jetzt durfte Nic nur nicht einschlafen. In etwas mehr als zwei Stunden durfte Nic schlafen. So lange er wollte.
Die Sekretärin des Professors winkte uns in sein Büro durch, als wir durch die Tür kamen. Wir lagen quasi auf die Minute im Zeitplan. In 45 Minuten würde uns ein Shuttle zu der Lounge am Flughafen bringen, die wir auch für die Ankunft genug hatten. WIr würden für die Fahrt keine 20 Minuten brauchen. Franziska Endermann wäre zu dem Zeitpunkt aber bereits seit über zwei Stunden unterwegs. Stau, Baustellen, gesperrte Straßen. Es war die Hölle. Zumindest dann, wenn man sich nicht kannte. Bzw. die Tour genau so gelegt hatte. Eigentlich waren für die Übergabe fast zwei Stunden Zeit angesetzt. Zu viel Zeit für Nic und die Charade, die wir inszeniert hatten. Einer oberflächlichen Überprüfung würde die Sache Stand halten. Einem detaillierten Blick auf aber auf keinen Fall. Also mussten wir dafür sorgen, dass die Endermann statt zwei Stunden nur 20 Minuten Zeit hatte. Das würde gerade so für die Formalien reichen. Und genau deshalb würde die arme Frau leider über eine Stunde in diversen Staus verbringen. Und dann noch 20 Minuten an der Sicherheitskontrolle. Außerdem würde es dann noch ein paar Nachfragen zu ihrer Sitzplatzreservierung geben (Mittelplatz, leider). Das wäre als Paket schon belastend genug gewesen. Parallel würde aber Steve permanent bei ihr nachfragen, wo sie den bliebe. Natürlich würde sie keine Ahnung haben, dass weder Steve, noch Nic oder ich zu dem Zeitpunkt am Flughafen waren.
Unmittelbar nach uns kam Padme ins Büro des Professors. Sie hatte die Nachricht also bekommen, die ich ihr hatte zukommen lassen. Ich hatte sie spontan mit ins Übergabe-Team beordert. Weil ich gesehen hatte, wie intensiv Nic auf sie reagiert hatte. Sie erfasste die Situation sofort und setzte sich auf ein wahnsinnig bequemes Sofa, das schräg hinter dem Schreibtisch des Professors stand. Ich führte Nic an meiner Hand zu ihr und sah erleichtert, dass er ohne zu zögern auf Padme zuging, aufs Sofa kletterte und sich eng an sie schmiegte. “Na, hast du alles geschafft?”, kam es von Padme. Nic nickte. Und sprach wie immer kein Wort. Ich konnte aber in seinen Augen sehen, dass etwas an dieser Mauer weiter vor sich hin bröckelte. Sah, dass er Padme gerne erzählen wollte, was er alles erlebt hatte, seit wir ihren Behandlungsraum verlassen haben. Er schaffte es aber nicht. Noch nicht. Padme hatte das natürlich ebenfalls bemerkt und versuchte nicht, etwas an der Situation zu ändern. Bedrängte Benjamin nicht. Sie wusste, dass er auf keinen Fall einschlafen durfte. Noch nicht. Und ging deshalb sehr schnell zu einer Art Unterhaltungsprogramm über. Zeigte ihm Fingerspiele und versuchte, Benjamin mit einer Partie Schnick-Schnack-Schnuck abzulenken. Sie tat, wie schon bei Nics Untersuchung, genau das Richtige. Diese Frau war der Wahnsinn.
“Ich habe mir schon gedacht, dass Sie gut mit Padme auskommen würden!”, holte mich eine sanfte Stimme aus dem Beobachtungsmodus. Professor Eissler grinste. Weil er mich erwischt hatte. Im doppelten Wortsinn. Und ich bekam tatsächlich rote Ohren. Wie unsouverän. Dem Professor schien zu gefallen, was er sah. Nic, Padme und meine feuerroten Ohren. Er führte mich zu einem kleinen Besprechungstisch, nahm mir gegenüber Platz und füllte erstmal Wasser in zwei Gläser. Das verschaffte meinen Ohren gerade genug Zeit, um wieder ihre normale Farbe anzunehmen. Dann griff er zu seinem Glas und prostete mir zu. “Glückwunsch, Joshua! Das war ein heißer Ritt. Aber Sie haben es geschafft. Nic hat es geschafft. Wir haben es geschafft!” Ich nickte und kämpfte ehrlich gesagt mit den Tränen. Nicht wegen der letzten zwei Tage. Sondern weil wir nur noch eine Handbreit davon entfernt waren, Nic aus der Hölle zu holen. Ich ihm wieder eine Familie bieten konnte. So viele Monate Kampf. So viel Druck. So viel Anspannung. So viel Leid. Es tat gut zu sehen, dass es dem Professor ähnlich ging. Auch er musste schlucken, als er sah, wie nah sich Padma und Nic waren. Wie nah er sie an sich heran ließ. “Wir haben noch viel zu tun, Josh. Sehr viel. Ich hätte ehrlich nicht gedacht, dass Nic körperlich in einem derart schlechten Zustand sein würde!” Ich nickte. Denn ich wusste, dass der Professor nicht von Knochenbrüchen oder Narben sprach. Er sprach davon, dass Nic systematisch Schaden zugefügt wurde. Zu wenig Essen. Viel zu wenig Flüssigkeit. Starke Medikamente. “Es grenzt an ein Wunder, dass er sich bei seiner Ankunft überhaupt auf den Beinen halten konnte!”, ergänzte Professor Eissler. “Keine Sorge, Professor. Das habe ich nicht vergessen. Und das werde ich nie vergessen!”, antwortete ich knapp und dachte dabei an den Privatschnüffler, der im selben Flieger sitzen würde, wie die Endermann. Er sah in meine Augen. Nickte zufrieden. Und aktivierte das dünne Tablet, das vor ihm auf dem Tisch lag. “Wir haben noch 30 Minuten Josh. Nicht viel Zeit für so viele Diagnosen!”
Was dann kam, spielte sich außerhalb von Raum und Zeit ab. Ich hörte, was der Professor sagte. Sah, dass er seinen Mund bewegte. Speicherte MRT-Bilder, Screens und Kurven in Gedanken ab, die er mir auf seinem Tablet zeigte. Und doch schaffte ich es kaum, das gesamte Bild zu erfassen, das der Professor von Nics Verfassung zeichnete. Das fällt mir auch im Rückblick noch ungeheuer schwer. Grob hatten die Ärzte und Therapeuten Nics Verletzungen und Probleme in vier Bereiche geclustert: 1. Unmittelbare Folgen der Explosion. 2. Mittelbare Folgen der Explosion. 3. Folgen der Therapie unter Franziska Endermann. 4. Langzeit-Folgen/Psychische Auswirkungen. Je nachdem, wie man emotional gestrickt ist, konnte man die Ergebnisse auf zweierlei Weise interpretieren: Als niederschmetternd oder aufmunternd. Ich hatte mich schon vorgestern für die zweite Option entschieden. Nic war am Leben. Er war hier in Canada. Und es gab in einigen Bereichen Hoffnung. Das war mehr, also ich zu hoffen gewagt hatte, als ich vor einigen Monaten in dem schwarzen Schutthaufen stand, der mal sein zu Hause gewesen war.
Die nach wie vor beste Nachricht war, dass die von den Notärzten in Deutschland durchgeführten Maßnahmen Nics Leben gerettet hatten und zunächst keine weiteren dringenden Eingriffe nötig waren. “Das wäre Stand heute auch keine gute Idee!”, schloss der Professor diesen Teil seines Vortrags. “Nics Körper würde keine Vollnarkose überstehen! Unser vorrangiges Ziel muss also sein, ihn aufzupäppeln. Erst wenn er wieder das für sein Alter und seine Größe übliche Normalgewicht hat, können wir die anstehenden Korrekturen und Eingriffe vornehmen!” Ich nickte stumm. Hatte mit so etwas gerechnet. Nic war 8 Jahre alt, wog aber gerade so viel wie ein normal entwickelter Vierjähriger. Ich würde ihn also essenstechnisch verwöhnen. Das war kein Problem. Ich war ein lausiger Hausmann. Aber kochen konnte ich! “Juri wird ab nächster Woche einen Monat lang jeden Mittwoch zu euch hoch kommen, und mit Nic arbeiten. Das wird alle Bereiche abdecken: Motorik, Feinmotorik, Kraft. Nic hat überall Nachholbedarf. Du müsstest dann nur dafür sorgen, dass die entsprechenden Übungen auch jeden Tag fortgesetzt werden. Haken dran, auch kein Thema. “Wie du die Sache aus psychologischer Sicht angehst, weißt du selbst am besten. Vertrauensaufbau. Trauerbewältigung. Die Liste ist lang!” Auch das war mir bewusst. Nic sprach nicht. Obwohl er es konnte. Weder sein Sprachzentrum im Gehirn, noch seine Stimmbänder waren bei der Explosion in Mitleidenschaft gezogen worden. An dieses Trauma musste ich ran. Einfühlsam. Aber professionell. Kein wirklicher Spaß, wenn der Patient gleichzeitig dein Bruder ist. “Padme steht jederzeit bereit, um dich zu unterstützen!”. Ich sah kurz zu ihr rüber. Sah, wie nah sich Nic und Padmé bereits wieder waren. Sah, dass es nur mit ihr wirklich funktionieren würde. Und nickte.
Womit der Professor zu den Themen kam, die langfristig behandelt werden mussten. “Seine Hüfte war nach dem Unglück ein Trümmerhaufen. Die wurde wirklich gut versorgt. Aber die Schiefstellung müssen wir richten. Außerdem muss ein Teil der alten Schrauben raus. Ich rechne aber nicht damit, dass das in den nächsten 12 Monaten passieren muss. Im gleichen Aufwasch würden wir uns dann auch seinen Darm ansehen. Die Ärzte haben bei der Not-OP ein Teil des Dickdarms entfernt. Deshalb wird Nics Stuhlgang immer weicher sein, als normal. Mit ein bisschen bewusster Ernährung kriegt man das ganz gut hin. Wir müssen aber dennoch sehen, wie sich der Darm weiter entwickelt!” Alleine beim Gedanken an die anstehenden Operationen sträubten sich mir die Nackenhaare. Aber: Ein Jahr Zeit. Immerhin.
Der Professor war aber noch nicht fertig. “Richtig kompliziert wird die Sache mit seiner Blase. Die musste bei der zweiten Not-OP in Deutschland fast komplett entfernt werden. Nic hat also mehr oder weniger keinerlei Möglichkeit, seinen Urin zu kontrollieren. Wir können aus körpereigenem Material eine neue Blase nachbilden, da ist die Technik heute sehr weit und es gibt wirklich gute Erfahrungen damit, den mehr oder weniger zerstörten Schließmuskel zu ersetzen. Das Problem: Das geht erst kurz vor der Pubertät!” Das war dann doch ein Schock. Bislang war ich davon ausgegangen, dass Nics Inkontinenz vor allem mit seinem Trauma zusammen hing. Jetzt sah es aber so aus, dass Nic noch mindestens vier Jahre auf Windeln oder Einlagen angewiesen sein würde. Mir wurde ganz schlecht bei der Vorstellung, welche Probleme das in der Schule machen würde. Der Professor war aber leider noch nicht fertig. “Wir haben auch einen Punkt am Rückenmark gefunden, der durch die Explosion in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das Rückenmark ist an der Stelle zwar grundsätzlich intakt, im aber Moment nur begrenzt einsatzfähig. So wie es aussieht ist das der Grund, für Nics “unrunden” Gang und die Enkopresis. Dagegen können wir, Stand heute, nichts tun! Leider.” Paff. Noch ein Tiefschlag. Ich spürte, wie sich meine Kiefermuskulatur verkrampfte. Fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Warum Nic? Was hatte der kleine Kerl denn verbrochen? Beide Eltern tot. Viel zu lange in den Fängen einer verbrecherischen Jugendamts-Mitarbeiterin. Neu in einem fremden Land. Eine Sprache, die er nicht spricht. Körperlich keine Chance gegen Gleichaltrige. Es würde schon schwer genug werden, ihn unter diesen Vorzeichen fit für ein “normales” Leben in Canada zu machen. Aber einen Sieben-, bzw. dann Achtjährigen mit einer Windel in die Schule schicken? In einen Sportverein integrieren? Wie sollte das funktionieren? Kinder konnte so grausam sein.
“Josh, es tut mir leid, dass ich an diesem Punkt keine besseren Nachrichten habe!”, versuchte der Professor mich wieder in die Spur zu bekommen. “Das wird im Alltag nicht einfach, das weiß ich. Es ist und bleibt aber nach wie vor ein Wunder, dass Nic überhaupt hier ist. Lebendig. Und auf beiden Beinen aus der Klinik spazieren wird!” Stille. Irgendwo hörte ich das Ticken einer Uhr. Es gab im Büro des Professors aber keine verdammte Uhr. Ich versuchte mich zu konzentrieren. Mich auf die relevanten Fakten zu fokussieren. Und relevant, da hatte der Professor natürlich Recht, war nur Nic. Der saß inzwischen auf Padmes Schoß und versuchte, ein Fingerspiel nachzumachen, das sie ihm ganz offensichtlich gerade gezeigt hatte. Und da war es dann wieder. Dieses warme, unbeschreibliche Gefühl von Zuneigung, Verbundenheit und Nähe, das ich für Nic empfand. Nur darum ging es. Operationen hin, Windeln her. Das mussten wir eben hinbekommen. Und das würden wir hinbekommen. Ich schloss die Augen. Atmete tief durch. Und nickte dann kurz und heftig. “Geht wieder?”, fragte der Professor? Geht wieder. “Gut. Denn so ganz hoffnungslos, wie das im ersten Augenblick klang, ist die Sache eben nicht. Die Enkopresis sollte sich bessern. Da sind sich die Neurologen sicher. Aber eben langsam. Wir kennen bei ähnlichen Verletzungen Regenerationszeiten von sechs bis 24 Monaten.” Nic würde also, wenn’s ganz ungünstig lief, noch zwei Jahre komplett auf Windeln angewiesen sein. Das war schlimm genug. Aber eben auch nichts, was meinen persönlichen Zeithorizont sprengte.
Was blieb, war zum allerersten Mal ein Gefühl der Überforderung. Der Kampf um Nic war bisher ein klar durchstrukturiertes Projekt gewesen. Enger Takt, hohes Tempo, kaum Emotionen. Was jetzt vor uns lag, war genau das Gegenteil. Viel Zeit. Viele Unwägbarkeiten. Viele Emotionen. Mit nichts davon konnte ich wirklich umgehen. Das wusste ich nur zu genau. Und das wusste auch Steven sehr genau. Der stand plötzlich neben mir. Legte seine Riesen-Pranke auf meine Schulter und holte mich langsam wieder zurück in die Wirklichkeit. “Ich weiß, dass du genau jetzt mit der Situation überfordert bist!”, brummte er mit seiner tiefen Bassstimme, mit der er unter Wasser auch locker mit einem Blauwal kommunizieren konnte. “Du bist nicht allein. Und Nic ist nicht allein! Das gesamte medizinische Team, Raissa, die Kinder und ich, wir stehen hinter dir!” Und weil mich niemand auf diesem Planeten so gut kannte wie Steven verfehlten seine Worte ihre Wirkung nicht. “Raissa und ich werden da sein, wann immer du Fragen hast oder Unterstützung brauchst. Und für unsere Rasselbande ist eh schon klar, dass Nic jetzt sechs Geschwister hat!” Dabei musste ich dann doch lachen. Nic würde keine Probleme in der Schule bekommen, soviel war klar. Dafür würden Emma und die Zwillinge sorgen. Alle sechs Kinder von Steven und Raissa wussten, wie wichtig und mächtig eine Gemeinschaft war. Zu Hause flogen die Fetzen, aber nach Außen bildeten die sechs ein unüberwindbares Bollwerk, an dem alles abprallte. Trotz aller Angriffspunkte, die es natürlich auch bei Stevens Kindern gab. Die Drillinge waren extrem intelligent, konnten aber in ihrer körperlichen Entwicklung nicht mit Gleichaltrigen mithalten. Irgend einer der Drei kränkelte immer. Die Zwillinge waren extrem sportlich und riesig für ihr Alter, hatten aber auch eine Dauerkarte beim Logopäden. Außerdem gab es da noch ein paar Probleme mit dem Schlafen. Und Emma? Die hatte die Fünfer-Bande gut im Griff, war dabei aber eigentlich viel zu erwachsen für ihr Alter. Unterm Strich also eine ganz normale Großfamilie. Die zusammenhielt wie Pech und Schwefel. Und Nic und ich würde ein Teil davon sein.
Wahrscheinlich wäre das jetzt der richtige Augenblick gewesen, um Steven um den Hals zu fallen. So waren wir aber beide nicht drauf. Statt dessen kam ich langsam auf die Beine, ging leise zu Padme, hob Nic langsam von ihrem Schoß und schloss ihn wortlos in die Arme. So ein Überfall war eigentlich Gift für Traum-Patienten. Das wusste ich. Natürlich wusste ich das. Ich war Psychologe, zum Teufel. Aber das war mir in diesem Augenblick komplett egal. Ich brauchte das jetzt. Und Nic? Der spürte offensichtlich, wie besonders dieser Moment für mich war. Für uns war. Und schmiegte sich einfach an mich. Der letzte innige Moment vor dem großen Showdown.
“Bist du bereit, Josh”, drang Stevens Stimme nach einer Gefühlten Ewigkeit an mein Ohr. Es war mir in diesem Augenblick unmöglich zu sagen, wie lange ich mit Nic einfach so dagestanden hatte. Wir waren irgendwie aus der Zeit gefallen. Und sowohl Steven, als auch der Professor hatten das gespürt. Jetzt aber wurde es Zeit. Sonst hätte Steven niemals das Wort ergriffen. Wie zur Bestätigung spürte ich, wie Nic langsam den Kopf hob. Spürte, wie seine nach Erdbeer duftenden Haare ganz nah an meiner Nase vorbeizogen. Da war aber noch mehr. Ein Hauch von Vanille. Sandelholz. Und Thymian. So hatte meine Mutter immer gerochen. Es war ausgeschlossen, dass diese Kombination aus Gerüchen tatsächlich in der Luft lag. Und doch verstärkten sich die Eindrücke noch. Auch Nic musste diesen Geruch wahrgenommen haben. Genau deshalb hatte er den Kopf gehoben. Nicht, weil Steven uns angesprochen hatte. Die Reaktion seines Körpers war eindeutig. Schlagartig verschwand die Anspannung, die ich an und in ihm spüren konnte, seit ich ihn vor zwei Tagen in Empfang genommen hatte. Natürlich, er war viel ruhiger geworden, in der Zwischenzeit. Was aber genau jetzt geschah, war ein ganz anderes Thema. Der Duft unserer Mutter nahm ihm eine Last von den Schultern, die viel zu schwer war, um von einem Siebenjährigen alleine getragen zu werden. Magie? Einbildung? Esoterik? Ich war außer Stande, das zu sagen. Ich spürte nur, dass es geschah. Konnte Veränderung praktisch mit den Händen greifen. Als hätte unsere Mutter die Verbindung zwischen Nic und mir bestätigt. Ein stiller Pakt zwischen ihr und uns. Das widersprach allem, was ich im Studium gelernt hatte. Esoterischer Quatsch. Und doch konnte ich die Veränderung nicht nur an Nic spüren. Ich sah in Stevens Augen, dass er ebenfalls etwas von der Magie abbekommen hatte. Und dann waren da noch die Tränen in Padmes Augen. Sie hatte noch mehr gesehen. Viel mehr!
Mit Nic auf dem Arm zog diese für einen Außenstehenden etwas seltsam anmutende Karawane in einen gemütlichen Besprechungsraum, der direkt an das Büro des Professors angrenzte. Natürlich hätte Nic die paar Meter locker selbst gehen können. Das ließ ich aber nicht zu. Nicht jetzt. Er würde in der nächsten Stunde mehr oder weniger auf meine körperliche Nähe verzichten müssen. Und genau deshalb war jetzt jede Art der Berührung doppelt wertvoll. Stevens Gesicht war ausdruckslos. Aber seine Augen nicht. Sie offenbarten mir, dass er zufrieden in sich hinein lächelte. Dass er die Liebe und Zuneigung nur zu gut kannte, die ich gerade für Nic empfand. Er wusste aber genau deshalb, dass das ein schweres Stück Arbeit werden würde, aus mir so etwas wie einen entspannten Erziehungsberechtigten zu machen. Ich war nicht Nics Vater. Musste aber in diese Rolle schlüpfen. Raus kommen, aus dem Glucken-Modus. Er kannte diese Veränderung nur zu gut. Immerhin hatte er sechs Kinder Vorsprung. Das würde ihm und Raissa Spaß machen. Jetzt brauchte ich aber zunächst seine Qualitäten als genialer Organisator und skrupelloser Strippenzieher. Und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, stand einen Augenblick später genau dieser Steven vor mir.
Er sorgte mit wenigen Blicken dafür, dass Raissa und der Professor sich zurückzogen. Vertrauen, war nicht das Problem. Eher im Gegenteil. Was wir hier taten, war nicht direkt illegal. Aber eben auch nicht zu 100% gesetzeskonform. Und wir wollten unbedingt vermeiden, dass im Fall einer Panne unser “Projekt” negative Auswirkungen auf die Stiftung oder unsere Mitarbeiter hatte. Steven nahm mir gegenüber an einem kleinen Tisch platz und zeigte kurz auf ein paar Taschen an der Wand. “Alles gepackt. Die Sachen werden gleich direkt in den Van verladen und zum Heli gebracht, der uns im Anschluss an die Übergabe in Richtung Whistler Mountains bringt. Wir können nicht direkt zu dir ins Haus fliegen, da oben ist es wettertechnisch gerade etwas unschön!” Das war kein großes Drama. Die eisigen Stürme im Herbst kannte ich. Wir würden den restlichen Weg zum Haus in einer speziellen Pistenraupe zurücklegen. Das würde zwar insgesamt drei Stunden länger dauern, als mit dem Hubschrauber, aber Zeit war, wenn alles glatt lief, überhaupt kein Problem mehr. Schlafen konnte Nic auch im Pistenbully. Anschließend lenkte Steven meine Aufmerksamkeit auf seine dunkelbraune Aktentasche. “Wir haben alle Papiere beisammen. Für die Endermann wird es so aussehen, als hätte sie es geschafft, uns einen lebenslangen Pflegefall unterzujubeln, der nur in einer geschlossenen Pflegeeinrichtung betreut werden kann!”. Alleine beim Gedanken daran, dass Franziska Endermann tatsächlich vorgehabt hatte, Nics Leben auf diese Weise eine dramatische Wendung zu geben, wurde mir speiübel. Skrupel? Hatte ich. Fast immer. In diesem Fall aber nicht. “Kennt Nic die Rolle, die er spielen muss?” Ich schüttelte den Kopf. Das hätte ihn viel zu sehr verunsichert. Steven nickte. “Dann wird’s Zeit!”.
Und so weihten wir Nic in das ein, was in knapp 20 Minuten geschehen würde. Theoretisch war es ganz einfach: Wir würden uns mit Franziska Endermann zur finalen Übergabe treffen. Dabei ging es formal darum, dass sie prüfte, ob wir alle vorgeschriebenen Untersuchungen erledigt und die nötigen Papiere für Nics Adoption besorgt hatten. Entscheidend war dabei: Sie durfte auf keinen Fall das Gefühl bekommen, dass wir bereits ziemlich genau wussten, was sie mit Nic alles angestellt hatte. Wir mussten ihr vorgaukeln, dass Nic eigentlich ein hoffnungsloser Fall war, ich aber dennoch bereit war, ihn zu adoptieren. Das war ich schließlich unserer Mutter schuldig. Allerdings würde Nic im Anschluss direkt in ein exklusives Pflegeheim gebracht. Medikamentös so eingestellt, dass er keine Gefahr für sich und andere darstellte. Vor allem das “für andere” war wichtig für Franziska Endermann. Dieses Kind konnte ihr offensichtlich gefährlich werden. So viel war klar. Und bald würden wir wissen, warum. Erst musste aber unser kleines Schauspiel klappen. Und das klang einfacher, als es war. Den die Endermann war nicht blöd. Im Gegenteil. Der Teil über die Sedierung und Heimunterbringung würde einer intensiven nämlich nicht Stand halten. Das waren offizielle Unterlagen der kanadischen Behörden. Die mussten zu 100% der Wahrheit entsprechend. Sonst liefen wir Gefahr, dass Nics Adoption hinterher angefochten werden konnte. Die Lösung bestand darin zu verhindern, dass Franziska Endermann diesen Teil der Unterlagen intensiv prüfen konnte. Sie würde schlicht keine Zeit haben. Denn statt der geplanten zwei Stunden, die für die Übergabe vorgesehen waren, blieben nur 20 Minuten. Weil in Edmonton leider just an diesem Tag der Verkehr zusammengebrochen war. Baustellen. Fast auf jeder Strecke in Richtung Flughafen. Und dann noch ein unerfahrener Shuttlefahrer. Zufälle gab’s…
Das hatte bis jetzt alles gut funktioniert. Franziska saß seit über eine Stunde im Stau fest. Und Steven hatte mit regelmäßigen Anrufen (“Wo stecken Sie denn, wir stehen hier bereit…!”) dafür gesorgt, dass sie so genervt wie möglich am Flughafen ankommen würde. Stress war wichtig, denn Stress sorgte dafür, dass sie Fehler machte. Sie würde also keine 20 Minuten haben, um sich mit den Unterlagen zu beschäftigen. Und das auch nur, weil wir ihr einen superschnellen VIP-Transfer zum Flugzeug organisiert hatten. Ich grinste böse. Wenn alles so lief wie geplant, würde Sie uns dankbar sein, dass wir ihr aus einem Schlamassel helfen, den wir ihr eingebrockt haben. Dazu gehört natürlich auch, dass der von ihr eigentlich reservierte Fensterplatz gegen einen Mittelplatz getauscht werden musste. Flugzeugwechsel, und so. Wie gesagt: Zufälle gab’s. Das alles musste Nic nicht im Detail wissen. Aber er musste vorbereitet sein. Darauf, dass Steven und ich während der Übergabe nicht sehr nett über ihn sprechen würden. Dass wir nicht mit ihm sprechen würden, sondern über ihn. Ohne ihm dabei große Beachtung zu schenken. Ihn mit der Kälte behandeln würden, die er vor der Ankunft in Kanada hatte erleben müssen. Und er würde mitspielen müssen. Wir brauchten den teilnahmslosen, verwirrten Nic. Auch ohne Medikamente. Ich hatte mich lange auf dieses Gespräch vorbereitet. Einem traumatisierten Siebenjährigen war so etwas eigentlich nicht zuzumuten. Ehrlich gesagt war das keinem Siebenjährigen zuzumuten. Es ging aber nicht anders. Und so holte ich Nic mit vorsichtigen Bewegungen aus dem Halbschlaf, in den er seit ein paar Minuten versunken war. Er war komplett erschöpft. Das spielte uns in die Karten. Aber ich brauchte dennoch seine Aufmerksamkeit. Musste zu ihm durchdringen. Durch die Müdigkeit. Durch die Erschöpfung. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich in seinen Augen sehen konnte, dass er für wenige Minuten aufnahmebereit war. Eigentlich viel zu wenig Zeit für viel zu viele Informationen und Instruktionen. Und doch gelang es. Vielleicht lag es daran, dass ich gut vorbereitet war. Vielleicht war Nic aber auch viel cleverer, als wir uns das vorstellen konnten. Vielleicht lag es aber auch nur an dem Band, das unsere Mutter vor wenigen Minuten mit uns geschlossen hatte. Nic vertraute mir. Vertraute mir in einem Maße, dass mich selbst erschreckte. Kurz bevor ihn die Müdigkeit wieder übermannte, drückte ich ihm seinen Schnuller in die Hand, den er sofort in seiner Faust verschwinden ließ. Er würde ihn brauchen.
Pünktlich auf die Sekunde öffnete sich kurz darauf eine Tür am anderen Ende des Raumes. Zwei von Stevens Mitarbeitern holten unser Gepäck und begleiteten uns anschließend in die Tiefgarage. Dort wartete ein schwarzer Van mit laufendem Motor. Ich setzte Nic vorsichtig in den auf einem der Rücksitze platzierten Kindersitz, verschloss die Hosenträger-Gurte sorgfältig und nahm anschließend neben ihm Platz. Steven stieg vorne ein. Die Tür des Vans war noch nicht richtig geschlossen, da hatte sich Nic bereits seinen Schnuller in den Mund geschoben und die Augen geschlossen. Er spürte, dass es jetzt ernst wurde. Ich schloss ebenfalls die Augen. 15 Minuten bis zum Flughafen. Eigentlich unmöglich, gemessen an der Verkehrslage. Und dennoch kein Problem für uns. Es gab exakt eine Strecke, die noch funktionierte. Wenn man sich auskannte. Und wusste, wo es sich wann staute. Hier hatten sich Stevens Kontakte zu den örtlichen Behörden mehr als bezahlt gemacht. Abgesehen von zwei, drei kurzen Ampel-Stops kamen wir problemlos durch den Verkehr. Anders als Franziska Endermann. Die telefonierte gerade offensichtlich wieder mit Steven. Anders konnte ich mir sein Grinsen nicht erklären.
Nach exakt 18 Minuten hielt der Van vor dem Private-Aviation-Terminal, das wir vor knapp zwei Tagen ebenfalls genutzt hatten. Nic und ich öffneten fast gleichzeitig die Augen. Als ich den Verschluss seiner Gurte öffnete, lies er gerade den Schnuller in der Hosentasche verschwinden. Gutes Kind. Die Schiebetür ging auf, ich sprang heraus und half dann Nic aus seinem Sitz. Er drückte fest meine Hand. Auf zum letzten Gefecht!
Statt der komfortablen Lounge hatte Stevens einen kühlen, gekachelten Warteraum herrichten lassen. Nichts sollte Frau Endermann auf die Idee kommen lassen, dass Nic die letzten Tage ziemlich komfortabel verbracht hatte. Steven platzierte die Unterlagen auf einem kleinen Schreibtisch, auf dem noch ein paar Flaschen Wasser und vier Gläser standen. Anschließend begrüßte er den unscheinbaren Anzugträger, der mit uns den Raum betreten hatte. “Mr. Smith, wunderbar, dass wir endlich loslegen können!” Ich kannte Douglas Smith nicht persönlich und hatte bislang nur telefonischen Kontakt mit ihm gehabt. Er war am örtlichen Familiengericht mit dem Adoptionsverfahren betraut, das wir für Nic in die Wege geleitet hatten. Er war es, der Franziska Endermanns Unterschriften beglaubigen und damit die Adoption rechtskräftig bestätigen musste. Ich ließ die beiden alleine und dirigierte Nic zu einer Metall-Sitzbank an der Wand, schräg hinter dem Schreibtisch. Ein Platz im Abseits. Perfekt ausgewählt. Steven sah auf sein Handy und streckte mir zwei Finger entgegen. Die Endermann war gerade vorgefahren. Noch zwei Minuten. Ein letzter liebevoller Blick zu Nic, dann schaltete ich um auf kalter Business-Mistkerl. Nic war auf die Veränderung vorbereitet und schaffte es nur Augenblicke später, aus leeren Augen starr in den Raum zu sehen. Durchhalten, kleiner Mann. Gleich haben wir es geschafft.
Als Franziska Endermann in Begleitung eines unserer Mitarbeiters in den Raum rauschte, konnte ich Ihre Hektik fast mit Händen greifen. Sie war genervt. Überfordert. Und hatte offensichtlich wirklich Panik, diesen Flieger zu verpassen. Sie begrüßte uns schmallippig und versuchte kurz zusammenzufassen, was in den letzten 90 Minuten alles schiefgelaufen war. Entschuldigte sich, für ihre Unpünktlichkeit, Fluchte über den Verkehr, den unfähigen Fahrer und den ganzen Aufwand, den sie nur wegen Nic treiben musste. Ich nickte verständnisvoll, aber auch bewusst oberflächlich. Tatsächlich interessierte es mich überhaupt nicht, was Frau Endermann beschäftigte. Mich interessierten exakt zehn Unterschriften, die sie in den nächsten 16 Minuten zu leisten hatte. Steven wandelte wie immer mit traumwandlerischer Sicherheit als Vermittler zwischen den beiden Parteien. Mit knappen Worten skizzierte er, wie wir es doch noch schaffen konnten, noch alle Papiere zu unterschreiben und sie rechtzeitig zum Flieger zu bekommen. “Ich habe so weit bereits alles ausgefüllt, die Unterlagen wurden von Mr. Smith auf ihre Vollständigkeit doppelt geprüft. Die wichtigen Abschnitte habe ich Ihnen mit gelben Post-its markiert!” Kurz sah ich Zweifel in ihren Augen aufblitzen. Und Misstrauen. Es wurde also Zeit, nachzulegen. Ich trat zum Tisch, warf die dicke Mappe des Professors auf den Stapel vor ihr und leierte gelangweilt meinen Text herunter: “Meine Ärzte haben bestätigt, was Sie uns bereits bei der Ankunft erläutert hatten. Nic hat durch die Explosion bleibende Hirnschädigungen erlitten und stellt ohne entsprechende Medikation einen Gefahr für sich selbst und andere dar! Unsere Familienzusammenführung hatte ich mir dann doch deutlich anders vorgestellt! Ich habe schlicht nicht die Zeit, mich um ein pflegebedürftiges Kind zu kümmern!” Die Endermann schluckte. War aber gleichzeitig erleichtert. “Ich hatte Sie ja bereits im Vorfeld darauf hingewiesen, dass Nicolaus eine Enttäuschung für Sie sein wird. Der arme Junge wird leider sein Leben lang auf fremde Hilfe und Medikamente angewiesen sein! Ich nehmen an, Sie möchten dass ich ihn wieder zurück nach Deutschland nehme? Wir haben bereits Vorsorge getroffen und für Nicolaus einen Platz in einem entsprechenden Heim optioniert!” Das war ein erbärmlicher Versuch, Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl zu heucheln. Für Steven und mich aber auch das eindeutige Signal, dass sie anfing, den Köder zu schlucken.
Sorgen machte ich mir im Augenblick vor allem um Nic. Der kämpfte sichtlich damit, die Maske der Apathie aufrecht zu erhalten. Alleine die Anwesenheit von Franziska Endermann setzte ihm zu. Von Schlagwörtern wie “Enttäuschung”, “Deutschland” und “Heim” ganz zu schweigen. Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung und zwinkerte ihm kurz zu. Er musste wissen, dass alles nach Plan lief. Zum Glück übernahm jetzt Steven. “Liebe Frau Endermann, trotz der nicht von der Hand zu weisenden massiven Probleme, steht mein Mandant vollumfänglich zu seiner Verantwortung für seinen Halbbruder. Wie sie den Unterlagen entnehmen können, sind wir bereit, wie geplant die Verantwortung für Nicolaus zu übernehmen. Wir haben bereits ein spezialisiertes Pflegeheim gefunden, in dem Nicolaus umfassend betreut und versorgt werden wird. Er wird direkt im Anschluss dorthin verlegt. Mit dem Auto sind das keine drei Stunden Fahrt!” Das war der heikelste Teil der ganzen Aktion. Das musste sie uns abkaufen. Trotz der dünnen Faktenlage in den Papieren. Wir hatten zwar als künftige neue Adresse von Nic in der Tat ein Pflegeheim eingetragen. Das war aber überhaupt nicht auf die Aufnahme von Kindern ausgerichtet. Aber es war ein Pflegeheim. Und es wurde von meiner Stiftung betrieben, die ganz zufällig vor wenigen Tagen ihren Sitz an die Adresse dieses Pflegeheims verlegt hatte. Nics neue Adresse war natürlich auch meine Adresse. Und ich war immer dort gemeldet, wo auch meine Stiftung ihren Sitz hatte. Mein Wohnort, hatte im Zweifel damit gar nichts zu tun. Aber das musste ja die Endermann nicht wissen. Mit ein paar Google-Recherchen hätte sie zumindest die Ungereimtheiten in Sachen Pflegeheim locker rausbekommen, um davon ausgehend unser gesamtes Spiel zu durchschauen. Was ihr dazu fehlte? Zeit. So ein Pech aber auch.
Franziska Endermann hatte während Stevens Vortrag immer wieder hektisch auf die kleine Wanduhr geblickt, die über der Tür angebracht war. 9 Minuten. So langsam musste sie mal loslegen, wenn das mit dem Flieger noch was werden sollte. Fahrig blickte sie zu Douglas Smith. “Sie haben die Unterlagen auf Vollständigkeit geprüft?” Mr. Smith nickte. Er würde nicht lügen und war zu keinem Zeitpunkt in unseren Plan eingeweiht. Grundsätzlich stellte er also ein für uns unkalkulierbares Risiko dar. Aber damit hatten wir leben müssen. Und zu unser aller Glück stellte Franziska Endermann leider die falsche Frage. Vollzählig waren die Unterlagen. Und genau das bestätigte Douglas Smith ihr dann auch. Schlauer wäre es gewesen, ihn zu fragen, ob er mit der Unterbringung in dem Heim einverstanden war. Darauf hätte der gute Mr. Smith nämlich lediglich geantwortet, dass das mit der Unterbringung im Pflegeheim nur ein Missverständnis sein könne, weil die künftige Adresse von Nicolaus Peters zufälligerweise identisch sei mit der meiner Stiftung. Das sagte er aber natürlich nicht. Er wurde schlicht nicht danach gefragt. Wie aufs Stichwort tauchte dann auch noch der VIP-Fahrer des Flughafens auf, der Franziska Endermann zu ihrem Flugzeug bringen sollte. Jetzt oder nie. Mit einer Stimme, die klang, als würde sie gerade auf Reisnägeln herumkauen, sagte sie: “Das entspricht ganz und gar nicht den Vorschriften. Immerhin bin ich für die sichere Unterbringung von Nicolaus verantwortlich! Soweit ich sehen kann, scheinen die Papiere aber in Ordnung zu sein! Aber nur damit das klar ist: ein gutes Gefühl habe ich nicht bei der Sache!”. Damit griff sie zum bereitliegenden Kugelschreiber und begann, erst ihre Unterschrift unter die Dokumente zu setzen und das ganze dann mit ihrem Dienststellen-Stempel abzuschließen.
Bei jeder Bewegung des Kugelschreibers lief ich Gefahr, die Fassung zu verlieren. Sie unterschrieb tatsächlich. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken herunter lief. Sah, wie auch Stevens eiskalte Fassade langsam bröckelte. Die letzte Unterschrift. Danach folgte ein quälender Augenblick der Stille. Dann die Stimme von Douglas Smith: “Vielen Dank, Frau Endermann. Damit haben wir die Formalien erledigt. Um genau 18:55 Uhr endete ihre Vormundschaft für Nicolaus Peters und wurde unmittelbar vom kanadischen Staat übernommen. In meiner Rolle als Rechtspfleger verfüge ich, dass Joshua Mayer ab sofort die Pflegschaft für Nicolaus übernimmt. Nach der formellen Bestätigung durch das Familiengericht Edmonton wird Mr. Mayer auch das dauerhafte Aufenthaltsbestimmungsrecht für Nicolaus übertragen werden. Mit dieser Bestätigung ist dann auch die Adoption rechtskräftig. Ich danke allen Beteiligten für die exzellente Vorbereitung und darf dich, lieber Nicolaus, als neuen kanadischen Staatsbürger begrüßen!”
Wahnsinn. Es war der helle Wahnsinn. Zumindest, was meinen Gemütszustand anging. Nic wusste nicht einmal ansatzweise, was der seltsame Mann ihm da gerade erzählt hatte. Und aus Angst, etwas falsch zu machen, spielte er einfach weiter den mit Medikamenten ruhiggestellten Siebenjährigen. Endspurt, Tiger! Mit einem besorgten Blick auf die Uhr half Steven der nach wie vor unzufrieden dreinblickenden Frau Endermann ihre Unterlagen zusammen zu packen. Sie musste jetzt hier raus. Weil sie sonst den Flieger verpasste. Weil Nic genug unter ihr gelitten hatte. Und weil ich ihre Anwesenheit nicht mehr ertragen konnte. Ich drückte ihr sehr mechanisch die Hand und bedankte mich artig für ihre geleistete Arbeit. Dann war sie auch schon weg. Durch die Tür geschoben von Steven, der sie auch bis nach unten zum Wagen begleitete. Immer auf seinen Fersen: Douglas Smith, der die nächsten Termine mit ihm besprechen wollte. Und dann war es plötzlich still. Das Finale eines monatelangen Kampfes endete völlig lautlos. Nic war raus aus dem Teufelskreis. War raus aus Deutschland. War endgültig in Sicherheit. Ich registrierte nur am Rande, dass meine Hände zitterten. Die gesamte Anspannung suchte sich ihren Weg, suchte sich ein Ventil. Und dann stand ich plötzlich neben dem Häufchen Elend, das immernoch auf seiner Bank saß und sich keinen Millimeter bewegt hatte. Das bisschen gesunde Gesichtsfarbe, das Nic in den letzten Tagen aufgebaut hatte, war verschwunden. Er war bleich, in sich zusammengesunken und hatte seine Finger tief in seine Oberschenkel verkrallt. Den Kampf um seine Selbstbeherrschung hatte er gewonnen, hatte sich penibel genau an unsere Absprachen gehalten. Schluss jetzt mit Angst und Panik.Ich riss ihn zu mir hoch und versuchte ihm bei aller Emotionalität klar zu machen, was da gerade passiert war. Dass er jetzt für immer bei mir bleiben durfte und Franziska Endermann kein Rolle mehr in seinem Leben spielen würde. Wir waren jetzt eine Familie. Sein neue Leben, es begann genau jetzt. Seine Reaktion war typisch, brachte mich aber emotional an meine Grenze. Kein Jubeln. Kein Freudenschrei. Statt dessen tiefe Schluchzer, die ich so noch nie von einem Kind gehört hatte. Erst einer, dann immer mehr. Bis er schließlich völlig aufgelöst an mir hing. Ich ließ ihn weinen. War mir sicher, dass er seit seiner Zeit im Krankenhaus penibel darauf geachtete hatte, ja keine Gefühle zu zeigen, keine Angriffsfläche zu bieten. Der nächste Schritt zur Normalität.
Als Steven neben mir auftauchte, hatte er ebenfalls Tränen in den Augen. Er hielt sich ganz bewusst zurück, auch wenn ich sehr genau wusste, dass ich für immer in seiner Schuld stand. Er genoss diesen Augenblick und gab mir nur kurz zu verstehen, dass die Endermann im Flieger saß, der bereits in Richtung Startbahn rollte. “Ich muss jetzt dringend mit Raissa telefonieren!”, gab er mir noch mit auf den Weg. “Ich warte dann oben im Hubschrauber!” Ich nickte nur kurz. “Bestell’ Raissa die allerbesten Grüße. Und sag dem Pilot, dass wir noch ein paar Minuten brauchen! Nic und ich, wir haben jetzt alle Zeit der Welt. Und ich will auf keinen Fall, dass Nic mit einer vollen Windel in sein neues Leben starten muss!” Das war in der Tat das Einzige, was mich noch hier hielt: Nics bis an ihre Grenzen strapazierte Seni. Die war das Ventil für seine Anspannung gewesen. Ich griff mir den kleinen Rucksack, der noch hinter der Bank stand, auf er Nic gesessen hatte und machte mich mit ihm auf dem Arm auf den Weg zum nächsten Wickelraum. In der Ferne hörte ich die Motorengeräusche unseres Hubschraubers, der uns beide nach Hause bringen würde. Ein Flug in eine neue Zeit.
>> BUCH 2 <<
Wickelräume waren in diesem, Nutzern von Privatmaschinen vorbehaltenen, Teil des Flughafen rar gesät, um es mal freundlich auszudrücken. Das war mir bisher nicht aufgefallen. Warum auch. Mehr als eine Toilette hatte ich in den letzten Jahren ja hier nicht gebraucht. So viel hatte sich verändert. Und jetzt, wo Nic bei mir war, würde sich noch so viel mehr verändern. Und dazu gehörte eben auch zu checken, wo es eine Wickelmöglichkeit für Nic gab. In diesem Fall hatte ich weder Zeit noch Lust, durchs halbe Terminal zu irren. Ich machte deshalb auf dem Absatz kehrt und stand zwei Minuten später mit Nic vor der Lounge, die wir bei seiner Ankunft genutzt hatten. Weder Steven noch ich hatten den Raum offiziell gebucht, das war im Zweifel aber auch gar nicht nötig. Wir hatten über unsere Stiftung einen Kunden-Account beim Betreiber des Privat-Terminals und konnten auch spontan die Einrichtungen des Gebäudes nutzen. Die dazu nötige Kundenkarte schob ich gerade in ein Lesegerät neben der dunklen Glastür am Eingang. Ein kurzes Fiepen, dann begrüßte mich das kleine Display freundlich mit meinem Namen und teilte mir mit, dass der Raum jetzt für mich freigegeben sei. Ein Hoch auf die moderne Technik.
Ich hatte die Tür kaum hinter mir geschlossen, da meldete sich auch schon Steven per Textnachricht: “Hubschrauber wartet, lass dir Zeit! Liebe Grüße von Raissa, sie ist auf dem Weg zu dir um unsere Ankunft vorzubereiten!”. Ich schnaufte zufrieden und hatte Nic gerade auf einem kleinen Lederhocker abgesetzt, um auf dem Boden vor einer bequemen Sitzgruppe einen provisorischen Wickeltisch zu einzurichten, als ich meine Pläne änderte. Ich würde Nic ganz sicher nicht auf dem Boden wickeln. Stattdessen räumte ich die mit sehr schicken Kissen kuschelig dekorierte Sitzgruppe frei, holte zwei weiche Einweg-Wickelunterlagen aus dem Rucksack und platzierte sie Mitten auf dem sündhaft teuren Leder. Das sah schon besser aus. Nic hatte die kleine Planänderung nicht mitbekommen. Er war nicht mehr wirklich in der Lage zu erfassen, was hier gerade vor sich ging. Das war auch kein Wunder. Nach seinem Zusammenbruch vor wenigen Minuten hatte er sich wieder mehr oder weniger in sich selbst zurückgezogen. Er war erschöpft und verwirrt gleichzeitig und reagierte außer mit einem gelegentlichen Wimmern nicht mehr auf äußere Reize. Das kannte ich bereits von seiner Ankunft, konnte dabei aber sehr wohl die Unterschiede wahrnehmen. Vor zwei Tagen waren es die Medikamente, der Flüssigkeitsmangel und der durch Franziska Endermann aufgebaute Druck, die Nic in die Knie gezwungen hatten. Heute war es vor allem die Erschöpfung. Sein Muskeltonus war verhältnismäßig normal, er war einfach nur mit seinen Kräften am Ende. Und er war verwirrt, erleichtert und vielleicht auch etwas neugierig auf das, was jetzt kam. Er war ein Kind, das nach Hause ins Bett gehörte. Und genau da, wollte ich so schnell wie möglich mit ihm hin. Nach Hause. Deshalb hielt ich mich jetzt auch nicht mit den üblichen Erklärungen auf, sondern zog ihn behutsam von dem Hocker und legte ihn in die Mitte der Wickelunterlage. “Gleich geht’s nach Hause, Tiger! Nur noch einmal kurz frisch machen, dann sind wir auch fast schon unterwegs!”
Die weichen Lederstiefel waren schnell ausgezogen und auch die Latzhose leistete keinen großen Widerstand. Die grau-grüne Strumpfhose zog ich ihm nur bis zu den Knien nach unten. Die musste später als Schlafanzughose herhalten. Nics Schlafanzüge und Overalls waren wahrscheinlich noch etwas bequemer, befanden sich aber bereits alle im Helikopter. Nics Body hatte zum Glück nichts abbekommen, was die ganze Aktion deutlich beschleunigte. Ich öffnete die drei Druckknöpfe zwischen Nics Beinen und schob das Vorder- und Hinterteil des Bodys nach oben weg. Bevor ich die Klettverschlüsse der dick aufgequollenen Seni öffnete, angelte ich mit der linken Hand eine Packung Feuchttücher aus dem Rucksack. Als ich das Vorderteil der Seni nach unten klappte zeigte sich, wie richtig die Entscheidung war, keine Minute länger mit dem Windelwechsel zu warten. Nics extrem weicher Stuhlgang hatte die Seni bis an ihre Belastungsgrenze gebracht. Ich wischte den Windelbereich grob sauber und begann dann, Nic mit den feuchten Tüchern gründlich sauber zu bekommen. Das kostete fast drei Viertel des Tücher-Vorrats, aber so würde Nics Haut die folgende Nacht problemlos überstehen. Mit einem Griff in seine Kniekehlen hob ich seinen Po nach oben, zog die eingesaute Windel unter Nic heraus und legte sie möglichst weit von uns entfernt auf den äußersten Rand der Wickelunterlage. Die frische Seni war schnell platziert. Jetzt noch eine Portion von der Wunder-Windelsalbe des Professors, dann verschloss ich die Windel sorgfältig mit den Klettbändern. Dann noch die Druckknöpfe des Bodys verschließen und die Strumpfhose über den Windel-Po ziehen. Fertig. Ich sah, wie Nic mit dem Schlaf kämpfte und dabei die Augen verdrehte. Ich griff in die Seitentasche seiner Latzhose, zog seinen Schnuller heraus und legte ihm das Ding in seine rechte Hand. Den hatte er sich wirklich redlich verdient. Ohne dabei wach zu werden, schob er sich den Schnuller in den Mund, begann zu saugen und war kurz darauf eingeschlafen. An seiner Atmung konnte ich erkennen, dass er mit Vollgas in Richtung Tiefschlaf unterwegs war. So sollte das sein. Ich schob ihn Vorsichtig weiter in die Mitte der Sitzgruppe, damit ich die Wickelunterlage unter ihm heraus bekam. Gemeinsam mit der vollen Windel wanderte das Ding in den nächsten Mülleimer. Bevor ich Nics Schuhe und die Latzhose im Rucksack verstaute, zog ich eine bunte Patchwork-Decke daraus hervor, die Raissa für Nic genäht hatte. Sie war dick gesteppt und sollte ihn künftig in jeder Nacht begleiten. Ich wickelte ihn eng in die Decke ein, zog ihm eine weiche Wollmütze über den Kopf, die ebenfalls von Raissa stammte, schulterte den Rucksack und nahm dann den schlafenden Nic auf den Arm. Dann stapfte ich aus der Lounge, fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage des Terminals und saß keinen fünf Minuten später im Hubschrauber neben Steven. Gegen den Lärm hatte Nic inzwischen dicke Ohrenschützer über den Ohren und schlief auf meinem Schoß. Daumen hoch von Steven. Daumen hoch von mir. Der Pilot gab vollen Schub und trieb den Heli in den Nachthimmel. Nächster Halt: Whistler Mountains. Nächster Halt: Unser neues Leben.
Rund 90 Minuten dauerte der Flug von der Klinik zu meinem Haus in den Mountains. Normalerweise. In diesem Fall setzte der Pilot allerdings bereits nach 45 Minuten zur Landung an. Das Wetter machte uns einen Strich durch die Rechnung. Dichtes Schneetreiben und Windböen machten einen Weiterflug unmöglich. Und selbst wenn wir irgendwie durchgekommen wären, hätte der Heli keine Chance gehabt, uns abzusetzen. In den letzten beiden Tagen hatte es fast 90 Zentimeter geschneit. Ich kannte die Tücken des kanadischen Spätherbstes und hätte im Normalfall für diese Komplikation nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Mit Nic an Bord sah die Sache aber etwas anders aus. Statt der 90 Minuten würden wir nämlich jetzt fast vier Stunden unterwegs sein. Und genau das hätte ich ihm gerne erspart. Half jetzt aber alles nichts. Der Pilot steuerte, wie immer in so einem Fall, einen kleinen Privatflughafen an, an dem genau für diese Zwecke Transport-Pistenraupen bereit standen. Steven und ich hatten diesen Ausweich-Fuhrpark vor über drei Jahren mit ein paar unserer Whistler-Mountains-Nachbarn ins Leben gerufen. Wer aus welchem Grund auch immer auf normalem Wege nicht zu seinem Haus kam, konnte dafür einen der drei Pistenbullys nutzen. So lange es nur Schnee war, der im Weg lag, kamen die Dinger überall durch. Unser Pilot setzte so nach am Hangar auf, wie es nur möglich war. Dennoch blieb eine Strecke von fast 150 Meter. Fast zeitgleich mit dem Aufsetzen des Hubschraubers löste ich den Zusatz-Gurt, mit dem ich Nic auf meinem Schoß gesichert hatte. Dann klickte ich mich aus meinen Gurten, vergewisserte mich, dass Nic warm in der Patchwork-Decke eingepackt war und sprang nach Stevens aus dem Heli. Die Kälte und der eisige Sturm trafen uns wie eine Wand. Kanada eben. Ich liebte dieses Klima und genau diese Wetterlage. So viel Schnee und Kälte schon im Herbst waren perfekt. Für Skifahrer wie mich. Ausgiebige Pisten-Tage würden in diesem Jahr aber noch eine Weile warten müssen. Ich wusste, dass Nic schonmal auf Skiern gestanden hatte. Allerdings nur für ein paar Tage und auch nur auf einem kleinen Hügel im Harz. Kein Vergleich zu den Bergen und Abfahrten, die hier auf ihn warteten. Und auch auf mich würden sie eben diesmal ein bisschen länger warten müssen. Was waren schon ein paar Skitage im Vergleich zu der Verantwortung, die ich jetzt trug. Dennoch spürte ich beim Gedanken an den Schnee und die Skipisten das vertraute Kribbeln in meinen Beinen und Händen. Wir würden die Balance aus Familie und Pistenspaß schon hinbekommen. Da war ich mir ganz sicher.
Der Kontrast zwischend er Stille im Hangar und dem Sturm draußen war fast genauso ein Schock, wie es beim Aussteigen aus dem Hubschrauber gewesen war. So richtig warm war es in der großen Halle auch nicht, aber zumindest windstill. Die vier Pistenbullys standen in einer Ecke des Hangars, der nicht mehr für den aktiven Flugbetrieb genutzt wurde. Zwei der Parkplätze waren gerade leer. Auch ein paar meiner Nachbarn waren also unterwegs. Die beiden anderen großen Schneemobile waren aber einsatzbereit. Optisch eine Mischung aus Schuhkarton, Panzer und Insekt. Wir hatten die vier Pistenbullys in Deutschland gekauft und auch vor Ort auf unsere Anforderungen anpassen lassen. Statt eines Hydraulik-Krans auf der Ladefläche, trugen unsere Pistenraupen dort eine Passagierkabine, die Platz für vier bis 12 Menschen bot. Das 12er-Modell war eher ein Schnee-Reisebus, der 4er-Pistenbully so etwas wie eine Business-Lounge auf Rädern und wurde eigentlich nur von Steven und mir genutzt. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass potenzielle Geschäftspartner sehr positiv auf eine Tour mit dem luxuriösen Schneemobil reagierten. Wir hatten ein paar große Deals nicht im Büro abgeschlossen, sondern Mitten im Nirgendwo, an Bord des Schneemobils. Drei Tage konnte man damit komplett autark unterwegs sein. Strom, Dusche, Toilette, Internet und Küche inklusive. Zu jedem der komplett weiß lackierten Fahrzeuge gehörte ein Fahrer, der uns bereits erwartete. Er hatte vom Hubschrauberpiloten sein Einsatzsignal erhalten und hatte alles für den Start vorbereitet. Die Kabine war auf angenehme 20 Grad vorgeheizt, die fünfstufige Treppe, die ins Innere führte, ausgeklappt. Steven wechselte kurz ein paar Worte mit unserem Fahrer und folgte mir dann in die Kabine, wo uns gedämpftes Licht, der Geruch von teurem Leder und Tee empfing. Nic hatte bislang keinen Mucks von sich gegeben, atmete ruhig und schlief auch weiter, als ich ihn in einen Kindersitz setzte, mit Hosenträger-Gurten fixierte und dann den Sitz in die Schlafposition schwenkte. Ein tiefer Seufzer. Mehr nicht. Gut so.
Ich hatte mich kaum zu Steven an einen Tisch mit gegenüberliegenden Sitzen gesetzt, da setzte sich der Pistenbully bereits mit einem leisen Zittern in Bewegung. Der Antrieb war Dieselelektrisch, das heißt: Das Fahrzeug fuhr immer elektrisch, konnte die Akkus aber mit einem Dieselmotor an Bord aufladen. Ökologischer konnte man im Augenblick nicht in unwegsamem Gelände unterwegs sein. Steven reichte mir ein Sandwich und eine Tasse Tee mit Deckel, die ich sorgfältig in einem tiefen Becherhalter platzierte. Trotz spezieller Dämpfer, auf der die Passagierkabine gelagert war, würde die Fahrt in den nächsten Stunden immer wieder sehr ruppig werden. Sich dabei heißen Tee über dem Körper zu kippen, war dann doch keine so angenehme Vorstellung.
Die ersten 30 Minuten Fahrt verliefen still. Die Ruhe tat gut. Gedanken sortieren (in meinem Fall). eMails checken (in Stevens Fall). “Nachrichten von Raissa?”, fragt ich nach einer gefühlten Ewigkeit. Steven nickte. “Ich habe ihr noch aus dem Heli geschrieben, dass wir später kommen werden. Hatte sie sich aber schon gedacht. Sie hat die Drillinge gerade ins Bett gebracht und versucht den Zwillingen gerade das Versprechen abzunehmen, dass sie auf ihre Schwester hören, während Sie weg ist!”. Ich grinste. Das Spiel kannte ich schon. Eric und Evan waren gerade zehn geworden und versuchten, wie alle Kinder in diesem Alter, das Thema Schlafenszeit maximal auszureizen. Ohne dabei über die Stränge zu schlagen. Das gab es bei Raissa nicht. Sie liebte ihre Kinder bedingungslos und war dennoch der unangefochtene Chef im Haus. Sechs Kinder, ein viel zu selten anwesender Ehemann und ein florierendes Upcycling-Unternehmen ließen sich anders auch nicht unter den Hut bringen. Inzwischen lief der Laden auch eine Zeitlang ohne Raissa. Weil Emma mit ihren 13 Jahren abgesehen vom handwerklichen Geschick praktisch sämtliche Tugenden ihrer Mutter geerbt hatte. Sie war extrem intelligent und seit der Grundschule nicht davon abzubringen, mal in Stevens Kanzlei mit einzusteigen. Und genau so würde es auch kommen. Genau wie alles, was sich Emma vornahm. So viel Wille, Selbstbewusstsein und Cleverness waren für Eltern nicht immer leicht zu handeln. Aber wenn’s drauf ankam, war auf Emma verlass. So auch heute. Raissa würde in knapp einer Stunde zu mir aufbrechen, um alles auf unsere Ankunft vorzubereiten. So richtig nötig war das zwar nicht, aber Raissa war Vollblut-Mama und in dieser Rolle extrem neugierig auf den Neuankömmling. Ich hatte nichts dagegen, in den ersten Stunden eine erfahrene Mutter im Haus zu haben. Samt der damit verbundenen Leckereien, die mit Raissa den Weg zu uns nach Hause finden würden.
Wie aufs Stichwort meldeten Stevens und mein Smartphone den Eingang einer neuen Messenger-Nachricht. Von Emma. Es war ein animiertes Foto, das Raissa dabei zeigte, wie sie den Gepäckschlitten eines kleinen Schneemobils mit drei großen Taschen belud. Als Endlosschleife. Dazu der Text: “Mama hat wie immer Angst, dass Nic und Onkel Josh verhungern…!” Ich hatte also komplett richtig gelegen. Raissa würde meine Vorratskammer an ihre Kapazitätsgrenze bringen und hatte ganz sicher auch noch jede Menge Geschenke für Nic dabei. Ich antwortet mit einem GIF von Garfield, der eine ganze Torte samt Teller in sich hineinstopft und bemerkte natürlich viel zu spät, dass Emma wahrscheinlich gar keine Ahnung hatte, wer Garfield eigentlich war. Emma ging darüber hinweg. Braves Kind. Es war Steven, der das Thema dann relativ überraschend auf Franziska Endermann lenkte. Ich verdrehte die Augen. Alles in mir sträubte sich, so kurz nach ihrem “Abflug” schon wieder über dieses Miststück reden zu müssen. “Der Privatdetektiv hat sich aus dem Flieger gemeldet”, fuhr Steven dennoch unbeeindruckt fort. “Er bedankt sich für das Business-Class-Ticket und freut sich vermelden zu können, dass Frau Endermann zwischen zwei sehr fülligen und schnarchenden Amerikanern sitzt und inzwischen den Tränen nahe ist, weil sich in dem leider komplett ausgebuchten Flieger leider kein anderer Platz für sie auftreiben lässt!”. Jetzt musste ich dann doch lachen. Solche Nachrichten konnte der gute Mann jeden Tag schicken. Mir war aber sehr klar, dass er deutlich ernstere Mitteilungen überbringen würde. Er hatte den Auftrag, Franziska Endermanns Leben zu erforschen. Jedes Detail ans Licht zu bringen um zu klären, warum sie es auf Nic abgesehen hatte. Warum sie versucht hatte, meinen Bruder für immer wegzuschließen. Es musste einen Grund dafür geben. Wir würden diesen Grund herausfinden und Franziska Endermanns Leben eine Wendung zu geben, die sie sich selbst in ihren kühnsten Alpträumen nicht hätte vorstellen können. Ich würde ihr jede einzelne emotionale Verletzung, jedes bisschen verbale Brutalität und jede Art von seelischer Grausamkeit heimzahlen. Zero Tolerance. Das war grausam und widersprach allem, für das ich als Humanist stand. Aber diese Frau hatte sich an einem unschuldigen Kind vergriffen. An meinem letzten Stück Familie.
Nic bekam von alledem nichts mit. Er schlief erstaunlich ruhig und ließ sich auch vom schweren Gelände nicht beeindrucken, durch das wir immer wieder schaukelten. Ich nutzte die Zeit, um meinen Kalender für die nächsten vier Wochen zu aktualisieren und mir alles, was zu Nics Behandlung und seinen Therapien gehörte, einzutragen. Fast ein Fulltime-Job. Aber das hatte ich ja schon vorher gewusst. Knapp 90 Minuten vor der Ankunft kam die nächste Nachricht an Steven und mich. Ein Video von Raissa. Die trug inzwischen eine warme Schnee-Kombi und war ganz offensichtlich dabei, sich auf den Weg zu mir zu machen. Vorher hatte sie aber noch kurz die Stimmung im Hause Frederikson für uns eingefangen. Es war das mir vertraute Bild eines überraschend kleinen Hauses, in dem ganz offensichtlich viele Kinder lebten. Alles sah sehr bewohnt, aber nicht chaotisch aus. Statt kalter Designermöbel dominierten wohnliche Holzmöbel, die Wärme und Geborgenheit ausstrahlten. Das exakte Gegenteil von dem Umfeld, in dem ich bis jetzt gelebt hatte. Raissas erste Schwenk galt den Drillingen, die mittlerweile schliefen. Die drei teilten sich zwei Zimmer, eines davon war ein kleiner Schlafraum, in den drei Schlafkojen in die Wand integriert waren, jede mit bunten Holzbuchstaben ihrem Bewohner zugeordnet: Edison, Eliah und Emmett. Edison war der Älteste der drei und mit Abstand der stabilste der Drillinge. Obwohl sie als Frühchen auf die Welt gekommen waren, lagen alle drei in Sachen Größe deutlich über dem Durchschnitt, waren dabei aber trotz alle Bemühungen Raissas unfassbar schlank. Als eineiige Drillingen waren die drei genetisch komplett identisch. Das war’s dann aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Jeder für sich genommen war einzigartig und legte großen Wert darauf, auch so behandelt zu werden. Im Kollektiv funktionierten die drei nur, wenn sie sich verteidigen mussten. Gegen ihre Freunde. Eltern. Geschwister. Obwohl er der Jüngste war, übernahm Emmett meist die Führung, wenn die drei gemeinsam auftraten. Er war ein echter Hungerhaken mit riesigen dunklen, fast schwarzen Augen, sehr weichen Gesichtszügen und der gleichen Prinz-Eisenherz-Frisur, die alle Drillinge trugen. Es fiel leicht, Emmett zu unterschätzen. Das wusste er und setzte diese Eigenschaft sehr geschickt ein. Er war überdurchschnittlich intelligent und für einen knapp Siebenjährigen fast schon erschreckend analytisch und taktisch unterwegs. Beim Thema Zahlen, Daten und Fakten machte ihm niemand etwas vor. Sein drei Minuten älterer Bruder Eliah war das genaue Gegenteil von Emmett. Er war nicht weniger intelligent, hatte aber ein unfassbar großes Herz. Für alles und jeden. Kein verletzter Vogel, kein halbverhungerter Igel, die nicht von Eliah aufgenommen und gepflegt wurde. Er half immer bedingungslos und lief fast über vor tiermedizinischem Fachwissen. Er war kein großer Redner, was wohl auch damit zusammenhing, dass er stotterte. Dagegen ging er zweimal die Woche zu einer Logopädin und konnte inzwischen mehr oder weniger problemlos an Gesprächen teilnehmen. Edison, der dritte und Älteste im Bunde, war der Supersportler im Team. Auch er war extrem schlau, auch wenn er in der Schule abgesehen vom Sportunterrricht nicht wirklich zu den Leistungsträgern gehörte. Dafür hatten bereits zwei Eishockey-Talentscouts ihr Interesse an Edison angemeldet – und von Steven und Raissa erstmal Hausverbot erteilt bekommen. Edison war entwaffnend naiv und zu 100% davon überzeugt, dass jede Situation etwas positives mit sich brachte. Das machte ihn aber auch extrem verletzlich. Bis heute schlief Edison nur mit Schnuller und machte daraus auch gar kein Geheimnis. Raissa und Steven hatten mit ihm die gleiche Abmachung getroffen, wie ich sie mit Nic treffen wollte: Der Schnuller blieb im Bett. Fertig.
Im Video ging Raissa von Koje zu Koje, zupfte Decken zurecht, wischte Haare aus dem Gesicht und stellte Trinkflaschen zurück auf ihren Platz. Ich sah, wie Stevens es genoss, sein drei Jüngsten zu sehen. Die Ruhe und den Frieden in sich aufsog, den der Schwenk durchs Schlafzimmer der Drillinge zu uns transportierte. Damit war es aber unmittelbar hinter der Zimmertür vorbei. Den Anfang machte Evan, der jüngste der Zwillinge, der seine Mutter trotz eines prophylaktisch in den Flur gerufenen “Vorsicht, Mum!” mehr oder weniger über den Haufen rannte. Wie sein Bruder war er sehr groß für sein Alter und strotzte vor Kraft und Dynamik. Ohne wirklich Tempo rauszunehmen grinste er kurz in die Kamera, warf seinem Vater, den er ganz offensichtlich am anderen Ende der Leitung vermutete das Peace-Zeichen zu und verschwand Sekundenbruchteile später auch schon im nächsten Raum, in dem sich das geräumige Badezimmer der Kinder befand. Da er nur (noch) eine buntgestreifte Leggings und dicke Wollsocken trug ging ich davon aus, dass er dabei war, sich bettfertig zu machen. Oder es jemand gab, der das zumindest versuchte. Dieser Jemand hieß Emma und wollte keine zwei Sekunden später maulend hinter ihrem Bruder herstürmen. Diesmal war Raissa aber vorbereitet. Sie fing Emma in der Bewegung ab und nahm die Sache mit einem “Danke Schatz, ich mache das schnell!” selbst in die Hand. Ein Blinder mit Krückstock konnte sehen, dass Emma sich grundsätzlich darüber freute, diesen Job los zu sein. Ihr Ärger war aber noch lange nicht verraucht. “Die zwei Mistkäfer sind schlimmer als ein Sack Flöhe!”, schimpfte sie, während sie ihrer Mutter zwei Schlafanzüge sowie eine bunte Pull-up-Windel zuwarf und dann in ihr Zimmer abdampfte.
Raissa fing die Sachen auf und bog kurz darauf ebenfalls in das Badezimmer ab, in dem sich inzwischen beide Zwillinge befanden. Eric, nach Emma der älteste im Sechser-Verbund, zog sich gerade einen stahlblauen Kapuzenpullover über den Kopf und stieg gleichzeitig mit einem Bein aus einer grauen Jogginghose, unter der er das Strumpfhosen-Gegenstück zu Evans Leggings trug. Zwischen den ganzen Klamotten grinste auch er freundlich in die Kamera, ohne sich dabei sonderlich langsamer zu bewegen. Auch das Verhalten der Zwillinge war mir sehr vertraut. So unterschiedlich die Drillinge war, Eric und Evan waren Zwillinge wie aus dem Bilderbuch. Wen man gerade vor sich hatte, war für Außenstehende tagsüber mehr oder weniger nicht zu beurteilen. Zwei große Zehnjährige, die absolut identisch aussahen: Ein markantes Gesicht, das sie eindeutig von ihrer Mutter hatten, hellblaue Augen und dunkle, fast schwarze Locken, die beiden ins Gesicht fielen. Dazu derselbe Gang, identische Bewegungen, komplett gleiche Interessen. Beide waren Vollblut-Skifahrer und den gesamten Winter außerhalb der Schule eigentlich immer auf der Piste und damit auch Dauergäste bei mir zu Hause. Ich hatte nämlich nicht nur einen stets gut bestückten Skikeller samt Werkstatt, sondern auch ein Haus mit direktem Pistenzugang. Trotz dieses engen Kontakts hatte ich ewig gebraucht, um die beiden zu unterscheiden. Nachts und im Schwimmbad war’s einfacher. Evan trug seit einer sehr unglücklich verlaufenen Gelbsucht im Kleinkind-Alter und einer damit verbundenen Not-Operation nicht nur eine zehn Zentimeter lange Narbe über der linken Niere, sondern war auch der Abnehmer für die Pull-up-Windel, die Emma ihrer Mutter zugeworfen hatte. Raissa und Steven hatten irgendwann den Versuch aufgegeben herauszubekommen, warum Evan bis heute in der Nacht nicht trocken war. Vielleicht lag’s an der Sache mit der Niere. Vielleicht auch nicht. Was zählte war, dass inzwischen niemand mehr eine große Sache daraus machte. In der Schule war das Problem sowieso gar keines. Eric und Evan waren die heimlichen Stars der Schule, die Hälfte der Wintersport-Pokale auf den Fluren gingen auf Erfolge der beiden zurück. Dass einer der Zwillinge zu Beginn ihrer Schullaufbahn noch Windeln getragen hatte und bis heute Nachts mit Pull-ups schlief, war nie ein Thema gewesen. Das hatte natürlich etwas mit dem Status der beiden in der Schule zu tun. Und natürlich damit, dass niemand versucht hatte, irgend etwas zu verheimlichen. Von Beginn an hatten Steven und Raissa mit offenen Karten gespielt und waren dabei an Lehrer und eine Schulleiterin geraten, die die Sache professionell in den Alltag integrierten. Toleranz lautete das Zauberwort, dem sich die ganze Schule verschrieben hatte. Wahrscheinlich wäre es auch mit deutlich weniger pädagogischem Support gut gegangen, denn gerade zum Schulstart war Evan nicht der Einzige, der zumindest in der Nacht nicht ohne “doppelten Hosenboden” auskam. Inzwischen sah die Sache freilich etwas anders aus. Geblieben war der entspannte Umgang damit. Das war auch der Grund, warum ich Nics Schulstart in wenigen Monaten einigermaßen optimistisch entgegen sah. Er sollte, so der Plan, in eine Klasse mit den Drillingen gehen und würde damit von Anfang an nicht alleine sein. Vielleicht würde es eine Weile dauern, bis er mit der für ihn neuen Sprache klar kam. Und wahrscheinlich würde er auch am Anfang bei vielen sportlichen Aktivitäten zuschauen müssen. Und wir würden eine pragmatische Lösung dafür finden müssen, sollte Nic bis dahin nach wir vor rund um die Uhr auf Windeln angewiesen sein. Aber das war mir heute noch völlig egal. Er war nicht mehr allein. Er würde nie mehr alleine sein. Das hatte ich ihm Versprochen.
Autor: DerBeobachter (eingesandt via E-Mail)
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Heiliges Kanonenrohr, das ist echt lang…
Ohne scheiss, ich kenne niemanden der eine Story so lang hinbekommt…
Ich stimme dir zu!
Moin
Ja lang ist sie aber auch sau gut, es geht um die Menschen und deren Schicksal und rein zufällig auch um unseren Fetisch .
Jeder einzelne wird gefühlvoll beschrieben und hat seine eigene kleine Geschichte danke es macht sehr viel Freude das so zu lesen
Also ich finde, daß es sich sehr positiv auswirkt, daß der Autor sich schon vor Beginn der Geschichte Gedanken zu deren Inhalt gemacht hat !
So ich die Story, obwohl recht lang, gut durchstrukturiert und vermutlich auch deshalb, zumindest nach meinem Empfinden, an keiner Stelle langweilig !
Ganz im Gegenteil ist es durch Struktur und einen sehr angenehmen
Erzähl Style an keiner Stelle langweilig, was bei dem Umfang nicht selbstverständlich ist, die Geschichte aber m.A. nach aber ähnlich besonders macht, wie ich es bisher nur in der Geschichte der beiden Brüder empfunden habe, von denen der jüngere sich als Zeitreisender seinem Fetisch völlig entspannt zuwendete,
wo für er von seinem älteren Bruder, mit der gleichen Neigung, insgeheim bewundert wurde . Beide Geschichten
sind nicht nur lang, sondern der Fetisch steht “nur“ neben vielen anderen spannenden Ereignissen,
was von den meisten Storys nicht ansatzweise behauptet werden kann !
Damit zählt diese Geschichte, nach meinem Geschmack, zu den
ca.6 außergewöhnlichen Storys dieses speziellen Inhaltes, die ich bisher lesen durfte !
Vielleicht ist es die Tatsache, daß der Fetisch in der Geschichte fast “nebenbei“ oder selbstverständlich auftaucht der Grund dafür, daß die Story von mir klar 5 ***** erhält !
Schreibe bitte so weiter, wenn du die Zeit dafür hast !!
Eine Unglaublich Intensive Geschichte Wahnsinn Klasse Danke