Erik & Tim (9)
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Kapitel IX: Das Geständnis
Als sie beim Restaurant ankamen, waren die beiden Jungen noch am Schlafen. Auf die kühle Luft der Klimaanlage und das rhythmische Rattern des Motors war eben Verlass. Wie viele Stunden des nervenzerreißenden Geschreis wären ihnen erspart geblieben, wenn sie das schon vor sechzehn Jahren gewusst hätten.
„Hey, aufwachen!“, rief Joachim erbarmungslos, als die ach so erwachsenen Jugendlichen auf Rütteln und Bitten nicht gehört hatten.
„Wie, was? Ist jemand gestorben?“, meldete sich Tim zu Wort, während Erik sich noch die Augen rieb.
„Wir sind da, entweder ihr steht jetzt auf, oder wir lassen euch im Auto, eure Entscheidung.“
Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen und auch ihre Mägen grummelten erwartungsvoll.
Die Liebigs waren noch nicht da, die hatten sie abgehängt, nachdem sich zwei LKW-Fahrer dazu entschieden hatten ein Elefantenrennen zu veranstalten.
Also gingen sie schon einmal ins Restaurant, das erstaunlich wenig besucht war, nun, es war ja auch schon ziemlich spät, nur einige Pärchen und der ein oder andere Betrunkene, die so aus sah als wäre das Geschäftsessen nicht sonderlich gut gelaufen, saßen noch an den stylischen schwarzen Quadrattischen. Sie entschlossen sich dazu, sich in eine ruhige Ecke mit Sitzbank zu setzen, die genügend Platz für alle Sechs bieten würde.
Die Bedienung war relativ schnell an den den Tisch gekommen, so dass alle schon etwas zum Trinken bestellen konnten. Tim bestellte sofort eine Cola, während Erik sich mit einer Apfelschorle begnügte. Joachim bestellte sich ein alkoholfreies Hefeweizen, er musste schließlich noch fahren und Erika bestellte für alle eine Karaffe Wasser und eine Flasche Wein, sowie sechs Gläser zum Anstoßen.
Kurz nachdem die Getränke an den Tisch gebracht wurden trudelten auch Tims Eltern ein.
„Ach, na schau mal wer da kommt!, lächelte Erika, während sie sie beiden zu sich winkte.
„Ich kann dir sagen, das nächste Mal fahren wir Landstraße!“, beschloss Karl, etwas entnervt, während er sich hin setzte und sich einen Schluck Rotwein einschenkte.
Nachdem auch Tims Eltern ihre Getränke bestellt hatten machten sie sich an die Speisenwahl. Sie beschlossen als Vorspeise für den Tisch verschiedene Meze zu bestellen, darunter Hummus[1], Girit Ezmesi, Imam bayildi, Muska Börek sowie pacanga Böregi und natürlich frisches Fladenbrot. Besonders Erik war ein Fan der türkischen Küche, er hätte eigentlich gar keine Hauptspeise gebraucht.
Bevor sie jedoch anfingen zu essen stießen sie noch mit dem Diren – Mahlep an, den Erika bestellt hatte. Der süße Wein war ihr zwar eigentlich ein wenig zu süß, aber Tim fand ihn jedoch ganz lecker und hätte in wahrscheinlich wie Saft getrunken, hätte seine Mutter ihn nicht auf den Alkoholvolumenanteil von 18% hingewiesen.
Das hieß jedoch nicht, dass das Tim letztes Glas gewesen wäre und als sie ihre Nachspeisen bestellten, war Tim auch schon etwas duselig zu Mute und so geschah es, dass er sich, ohne darüber nachzudenken was er da gerade sagte, mit einem etwas gelalltem:“Ich geh kurz meine Windel wechseln.“ auf die Toilette verabschiedete.
Nicht nur Tims Eltern, sondern auch alle anderen am Tisch, waren mit einem Mal still. Hatten sie sich gerade noch darüber unterhalten, ob sie nun Kadayif, Künefe, oder doch Lokum probieren wollten, hätte man nun eine Stecknadel fallen hören können.
„Oh shit!“, bemerkte Tim, nachdem er realisiert hatte, was er da gerade aus seinem Mund gesprudelt war.
Erik versuchte die Situation mit einem Lachen zu überspielen, das, nachdem es eine Weile so alleine in der Luft gehangen hatte, das Ganze nur noch merkwürdiger machte.
Das merkte auch Joachim, der erklärte, dass Tim im Freizeitpark einen Unfall hatte und Erik ihm deshalb eine seiner Inkontinenzslips gegeben hatte. Das erklärte jedoch nicht, warum Tim nun seine Windel wechseln wollte, wieso er sie also offenbar benutzt hat.
Tim war mit einem Mal wieder klar im Kopf und setzte sich wieder hin. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt jetzt und hier im Restaurant seinen Eltern die ganze Windelgeschichte zu erklären, aber so wie es nun aus sah blieb ihm wohl kaum eine Wahl.
„Mom, Dad“[2], begann er.
„Ich …. ich muss euch was sagen“, man war das schwierig, noch schwieriger als es Eriks Eltern zu beichten.
„Ich bin .. also … ich … ich mag … äh, Win …. deln …“, beendete er seinen Satz, während er versuchte seinen Eltern in die Augen zu schauen und ihre Reaktion abzulesen.
„Und… ich …. ich .. wä….-“
„Tim wäre gerne wieder ein Baby, so mit Schnuller und so was.“, haute Erik eiskalt raus. Fiesling!
Karl war der erste, der in der Lage war, etwas zu sagen:
„Und deswegen hat dir Erik seine … Slips geliehen?“, fragte der Riese seinen Sohn.
„Nee, die hat Tim selbst gekauft.“, antwortete Erik für seinen Freund.
„Wie lange willst du das denn schon?“, fragte nun Birgit besorgt ihren Sohn.
„Äh, also, eigentlich … schon … seit immer.“
Wieder war es still. Tims Eltern mussten diese Information erst einmal sacken lassen. Dann schmunzelte Tims Mutter.
„Also deswegen schläfst du immer noch mit Theo, anstatt mit einer Freundin.“, lächelte sie.
Tim nickte, zum einen erleichtert, darüber, dass er nicht angeschrien oder für verrückt erklärt wurde, zum anderen verwirrt über die Reaktion. Sollte er sich nun freuen oder bangen[3]?
Nun seufzte Karl.
„Möchtest du … deswegen vielleicht zum Psychologen?“, fragte er seinen Sohn, der sofort energisch den Kopf schüttelte.
„Dir macht das also nichts aus?“, stocherte er noch einmal nach. Das letzte was er wollte, war dass sein Sohn mit etwas leben musste, was er nicht wollte.
„Nee … also, früher schon so, also, ich … wusste schon früher, dass das komisch ist … sich das zu wünschen … aber … das bin ich.“, konkludierte der Junge.
„Tim, du bist schon ein großer Junge und … ich glaube, dass du selbst einschätzen kannst was du möchtest und was dir gut tut, aber ich möchte dass du weißt, dass wir immer für dich da sind und dich so akzeptieren wie du bist. Ich möchte nur, dass du glücklich bist.“, lächelte Birgit, während sie eine Hand auf Tims Arm legte.
Sie war sich nicht sicher, was das alles bedeutete, aber das letzte was sie wollte war, dass Tim dachte, er könne sich ihr nicht anvertrauen. Es tat ihr weh, dass er seine Wünsche so lange für sich behalten hatte.
Tim war innerlich überglücklich. Das war das best case-Szenario, seine Eltern akzeptierten ihn. So oft hatte er sich über dieses, bis jetzt rein hypothetische, Gespräch Gedanken gemacht, befürchtet seine Eltern würden ihn hassen oder verstoßen. Nun fiel aber eine Last von seinen Schultern, von der er bis dahin gar nicht gewusst hatte, dass sie so groß gewesen war. Er sprang förmlich in die Arme seiner Mutter und begann zu weinen. Seine Tränen waren nicht bitter, sondern ein Zeichen seiner Erleichterung und des Vertrauens zwischen ihm und seinen Eltern, das nun stärker war als denn je.
Auch Tims Eltern waren erleichtert. Sie hatten schon länger geahnt, dass ihr Sohn ihnen etwas verheimlichte, aber sie hatten nie gewusst was, hatten befürchtet es ginge um Drogen oder irgendwelche illegalen Computergeschäfte.
Eine ganze Weile weinte Tim in Birgits Schulter, während sie ihm über den Kopf streichelte. Sie und ihr Mann wussten natürlich, dass sie noch weiter darüber reden und schauen mussten, was Tim tun könnte und was nicht. Ihr Sohn würde definitiv nicht nur mit Windel bekleidet durchs Haus laufen und generell war das alles ja auch eine Geldfrage. Sie wussten von Früher, dass Windeln nicht billig waren und Erwachsenenwindeln waren sicherlich nicht günstiger als Pampers, aber das hatte Zeit bis morgen. Wichtig war erst einmal, dass der erste Schritt getan war, alles andere konnte warten.
Nachdem Tim sich ausgeweint hatte und am liebsten direkt, so mit dem Oberkörper über die Armlehne gebeugt, eingeschlafen wäre, erinnerte ihn seine Mutter, dass er noch „sein Höschen wechseln“ musste. Tim lächelte, bevor er aufstand und mit seinem Rucksack auf die Toilette verschwand.
Während dessen entbrannte eine rege Diskussion in der Erik den Liebigs alles erzählte. Von der gemopsten Windel über das Fußballspiel, den Streit bis zum Windelkauf – er ließ kein Detail aus, selbst der Schnuller wurde entsprechend in Szene gesetzt. Als Tim wiederkam war es als hätte sich nichts geändert und für Außenstehende musste es gewirkt haben wie ein ganz normaler, feucht fröhlicher Abend. Nur die Beteiligten wussten, dass sich alles geändert hatte, dass nun eine neue Zeit in Tims Leben anbrechen würde, eine Zeit in der er sich nicht verstecken musste.
Nachdem alles aufgegessen, alle Gläser ausgetrunken, der Wein bis auf den letzten Tropfen leer getrunken war, und alle bezahlt hatten, also zumindest die Erwachsenen, machten sie sich wieder auf nach Hause. Diesmal wollte Tim bei seinen Eltern mitfahren, das fühlte sich gerade einfach richtig an. Kurzerhand wurde also der Teddy neben Erik auf die Hinterbank des dunkel blauen BMWs gesetzt, während Tim neben seinem Donut platz nahm. Die Familien verabschiedeten sich und jeder ging, nein, fuhr seiner Wege. Karl grinste schelmisch, wissend dass sein Sohn am nächsten Tage seinen ersten Kater erleben würde. Kurz überlegte er sein altes Schlagzeug wieder aufzubauen, entschied sich dann aber doch dagegen.
Erik freute sich für Tim. Er wusste, dass es für Tim nicht einfach gewesen war das alles zuzugeben, aber er wusste auch, dass es richtig und wichtig gewesen war, dass es unvermeidlich gewesen war. Wäre es heute nicht passiert, dann irgendwann anders, nur wäre er dann vielleicht nicht zur Unterstützung da gewesen und wer weiß, wie die Sache dann gelaufen wäre.
[1]Ein Kichererbsenpüree mit Sesampaste, Knoblauch und Zitronensaft, das Veganer gerne auf so ziemlich alles schmieren. Schmeckt gut und wirkt weltoffen!
[2]Da will wohl einer erwachsen wirken. (O.o)
[3]Das deutsche Wort, nicht das englische, das sollte er garantiert nicht tun, schon gar nicht seine Mutter! Igitt, Ödipus lässt grüßen.
Autor: AllesIsi (eingesandt via E-Mail)
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Freue mich schon auf die nächsten Teile, lass dir bloß nicht zu viel Zeit.
Auch dieser Teil war wieder großartig! Hoffe es geht schnell weiter 🙂 Ist eine der besten Geschichten hier auf dem Blog!
Die Fortsetzung war wieder mal top. 1 der besten Geschiten die ich hier gelesen habe. Mach weiter so ich hoffe es geht bald weiter.