Felix und Paul (4)
Windelgeschichten.org präsentiert: Felix & Paul (4)
Kapitel 4: Ein Gespräch unter sieben Augen
„Hmm?“, hakte Felix noch einmal wortlos nach.
„Du hast das doch eben auch erlebt, oder?“, fragte Paul verunsichert.
„Was meinst duu däänn…“ Felix wurde langsam ungeduldig.
„Na, im Park. Die Igel, und die Eichhörnchen und die Ameisen und wie die plötzlich vor dir…“
„Achsoo, das! Klar, hab‘ ich das auch gesehn…“
Paul war fasziniert davon, wie Felix das Erlebte wahrnahm. Seelenruhig saß er da, so als würden sie über den Wochenendeinkauf reden.
„Fandest du das nicht etwas, nun ja… ungewöhnlich?“, fragte er.
Felix zuckte mit den Schultern. „Mmh, nö. Is‘ mir ja schon mal passiert.“
Paul fielen fast die Augen aus dem Kopf. „B-bitte?“
„Ja, schon. Dir etwa nich‘?“
„Wie, ähh, oft hast du das denn schon erlebt?“, wollte Paul wissen.
Felix dachte angestrengt nach. „Viellaaiiicht…“ Er nahm seine Finger zur Hilfe.
„Mmmh… drölf mal“
„Du Doofi!“, rief Paul. „Drölf ist doch keine richtige Zahl!“
Felix seufzte. „Dann nimm halt die 14!“
„Vierzehn mal???“ Mit offenem Mund starrte Paul an die Wand. Sein Bruder schien ein komplett anderes Leben zu führen als er!
16.31 Uhr
Wieder dieses laute Quietschen, als Paul seine eigene Zimmertür öffnete und auf den kalten Flur hinaustrat. Der Regen trommelte dumpf an die Fenster. Es war dunkel im oberen Stockwerk, dennoch verzichtete Paul darauf, Licht einzuschalten. Als er an Felix‘ Zimmertür vorbeiging, hörte er seinen kleinen Bruder vergnügt vor sich hinsprechen. Offenbar spielte Felix gerade etwas. Paul ging die Treppe nach unten und vernahm die Stimmen seiner Eltern aus dem Wohnzimmer. Er betrat es und räusperte sich, um seine Eltern auf ihn aufmerksam zu machen.
„Junger Mann“, sprach ihn sein Vater sofort in strengem Ton an. „Was hatte ich dir übers nackt im Haus herumlaufen erzählt?“
Paul senkte seinen Kopf.
„Tu nicht so. Wir sind zivilisierte Hasen. Also zieh dir bitte etwas drüber!“
‚Das geht ja gut los‘, dachte sich Paul, als er die Treppe wieder hochtrottete. ‚Was für veraltete Ansichten. Wenigstens zuhause kann man doch wohl so rumlaufen wie man will…‘
Dennoch wollte er jetzt nicht für noch mehr Ärger sorgen und gehorchte daher seinem Vater. Er entschied sich für eine blaue Jogginghose und ein lässiges gelb-orange-gestreiftes T-Shirt. In die Hosentasche wollte er sich noch sein Smartphone stecken, dass er zu seinem letzten Geburtstag endlich geschenkt bekommen hatte. Aber als er es in die Hand nahm, vibrierte es. Das Signal, dass eine neue Nachricht eingegangen war. Paul entsperrte das Mobiltelefon und öffnete die Messenger-App.
Kevin hatte ihm geschrieben:
„dienstag 15.30? wir könntn bisschen zocken.“
Ohne lange zu überlegen, tippte Paul seine Antwort:
„ok“
und steckte das Handy in die Hosentasche. Warum eigentlich nicht? Er hatte sich schließlich schon länger nicht mehr mit Kevin getroffen. Und nach dem er sich ihm gegenüber vorhin in der Schule so merkwürdig verhalten hatte, wäre es sicher gut, etwas mit ihm zu unternehmen. Sonst zog Kevin noch falsche Schlüsse aus Pauls Benehmen.
Als Paul zum zweiten Mal ins Wohnzimmer kam, saßen seine Eltern immer noch auf der Couch und redeten über ihre erfolgreichen Arbeitstage. Sie hatten mit einem Glas Wein angestoßen, die Stimmung war gut.
„Mom? Dad? Ich würde gerne kurz mit euch reden.“ Paul rutschte jetzt bereits das Herz in die Hose.
Seine Eltern sahen wieder zu ihm. Pauls Vater seufzte. „Na, dann komm mal auf die Couch. Ich hoffe mal es ist nichts zu ernstes…“
Paul ging langsam zur Couch. Zwischendurch hatte er das Gefühl, seine Beine bestünden aus Pudding, so wackelig ging er. Ihm fiel die kleine rosa Puppe auf, die dekorativ neben unbenutzten Kissen auf der Couch lag. Sie hieß Lilli. Früher hatte er mit ihr gespielt.
Das eine Mal war Lilli eine Prinzessin gewesen. Sie war in einem Turm gefangen, der von bösen Räubern überfallen wurde. Unglücklicherweise stürzte der Turm aus Holzklötzen beim Spielen ein. Lilli blieb fast unversehrt. Aber eins ihrer beiden Glasaugen hatte sie bei diesem Spiel leider verloren. Das hatte aber nichts an ihrer Schönheit geändert. Ganz im Gegenteil.
Sie würde sicherlich auf seiner Seite sein, dachte sich Paul und grinste in sich hinein. Aber auch auf seine Mutter war normalerweise Verlass.
Paul sammelte noch einmal allen Mut, den er finden konnte, ein und setzte sich neben Lilli, so dass er seinen Eltern jetzt gegenübersaß.
„Also, jetzt spuck‘s aus! Was hast du angestellt?“, fragte Pauls Vater ungeduldig.
„Es geht nicht um mich… Es geht um meinen Bruder!“, stellte Paul klar.
Wieder seufzte sein Vater. „Dieser Bengel. Mit dem hab‘ ich ja noch mehr Ärger als mit dir zurzeit…“, schimpfte er lautstark. „Was fällt dem auch ein, jetzt wieder in die Hose pinkeln zu müssen! Wie soll das denn bloß werden, wenn er in die Schule kommt…“
Pauls Mama versuchte ihn zu zügeln: „Nicht so laut, nicht dass er noch etwas hört!“
Seiner Frau zuliebe hielt sich Herr Wiesenbach jetzt etwas zurück, auch wenn es ihm insgeheim wohl recht gewesen wäre, hätte Felix die Unterhaltung mitbekommen.
Allerdings saß dieser in seinem Zimmer, und da die Wände relativ dick waren, hörte er tatsächlich überhaupt nichts von dem, was im Wohnzimmer vor sich ging. Hier auf dem Autoteppich hatte er mit seinen Zinnsoldaten eine abenteuerliche Schlacht gegen einen Stoffoktopus veranstaltet. Der Oktopus war eins der wenigen Tiere, die Hasen nicht als potentiell gefährlich einstuften. Vor allem, weil sie unter Wasser lebten.
Am Ende hatte der Oktopus die Schlacht gewonnen, in dem er sich einfach auf die Zinnsoldaten gelegt hatte, denen er größentechnisch sowieso überlegen war. Aber die beiden Parteien hatten sich außergerichtlich geeinigt. Alle Soldaten mussten den Oktopus an seinen acht Füßen kitzeln. Damit war der Oktopus glücklich und in Felix‘ verrückter kleiner Spielwelt wieder alles in Ordnung.
Ewig war Felix jetzt schon in seine Spiele vertieft gewesen. Und wurde jetzt wieder gewaltsam an die Realität erinnert. Denn jetzt merkte er endlich, dass sein Teppich irgendwann pitschnass geworden sein musste. Ohne auch nur das Geringste zu bemerken, hatte er jetzt schon zum vierten Mal eingenässt. Traurig blickte Felix auf den Schandfleck, bis das Bild vor seinen Augen, der aufkommenden Tränen wegen, verschwamm.
„Warst du es, der Felix die Ohrfeige verpasst hat?“, konfrontierte Paul seinen Vater jetzt ziemlich mutig mit den Tatsachen.
Dieser druckste etwas herum, bevor er schließlich kleinlaut „Ja“ murmelte.
Mit einem Blick, der eine Mischung aus Unverständnis, Wut und Trauer ausdrückte, sah Paul seinem Vater direkt in die Augen. „Aber warum?“, war alles was Paul wissen wollte. „Warum schlägst du deinen eigenen Sohn wegen so einer Lappalie?“
‚Wer noch in die Hose macht, ist doch nicht mein Sohn‘, dachte sich Pauls Vater. Aber er hütete sich das laut zu sagen. Stattdessen druckste er wieder herum: „Es war… nötig gewesen. Felix hat mir einfach nicht richtig zugehört!“
„Das kann ich mir bei deiner Gesprächsführung auch vorstellen“, warf Pauls Mutter ein, die bislang schweigsam geblieben war.
Pauls Vater ignorierte den Seitenhieb seiner Frau und fuhr fort: „Er hat es ja überlebt. Und geschadet hat es ihm offenbar nicht. Du siehst ja selbst, wie fröhlich er rumläuft!“
„Ja, aber geholfen hat es ihm genauso wenig.“
„Dass das wirklich nicht schadet, ist stark anzuzweifeln“, kritisierte nun auch die Mutter seinen Vater.
„Ach, ich bitte dich. Paul hat es auch nie geschadet!“
Paul stutzte. Wie konnte sich sein Vater da bloß immer so sicher sein?
Langsam sah Paul ein, dass er mit seinem Vater mal wieder nicht weiterkam, also konzentrierte er sich darauf, seine Mutter zu überzeugen.
„Mama, Felix braucht einen Arzt. Wenn man plötzlich einnässt, muss das eine Ursache haben. Oder glaubst du wirklich, er macht das absichtlich? Aus Spaß?“
„Ich denke schon“, schaltete sich sein Vater wieder ungefragt ein. „Und ich denke auch, du denkst da viel zu sehr drüber nach. Konzentrier‘ dich lieber mal auf die Schule. Ich habe gehört nächste Woche steht ein Test in Mathematik an, der von hoher Relevanz für deine weitere schulische Laufbahn sein wird!“
‚Na toll! Jetzt kommt er wieder mit der Schule‘, ärgerte sich Paul in Gedanken.
„Ach, Paulchen. Denkst du nicht auch, es ist noch etwas früh über einen Arztbesuch nachzudenken? Und überhaupt! Bis man da erst mal wieder einen passenden gefunden hat…“
Paul zog die Visitenkarte hervor, die ihm Giacomo im Kindergarten in die Hand gedrückt hatte und hielt sie seinen Eltern unter die Nase. „Aber ich hab‘ doch schon einen“, grinste er.
„Dr. Schräuber.
Facharzt für Blasenprobleme
an der städtischen Urologie Grasholm“, las sein Vater vor.
Eine Weile lang blickten Pauls Eltern sich, ihren großen Sohn und das Bild des Urologen ratlos an.
Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, fing Paul an, die einäugige Lilli zu streicheln. Schließlich kamen die Eltern aber doch noch zu einem Entschluss.
„Also gut, Paul!“ sagte seine Mutter ernst und sah ihm in die Augen. „Wir gehen zu diesem Dr. Schräuber, um Felix mal untersuchen zu lassen. Zufrieden?“
Paul nickte und wollte seinen Eltern eigentlich aus Dankbarkeit um den Hals fallen, ließ es dann aber doch.
„Aber hör mal, Freundchen!“ setzte sein Vater noch einmal an.
„Du kümmerst dich bitte um den Arzttermin. Und jetzt gehst du in dein Zimmer und machst Schularbeiten. Abgesehen davon wünsche ich, dass sich dein Umgangston mir gegenüber wieder bessert. Ist das verstanden worden?“
Paul nickte, ging dann in gemächlichem Tempo wieder ins obere Stockwerk und ließ seine Eltern zurück, die sich immer noch etwas unschlüssig ansahen und nicht so recht wussten, was sie von der Situation halten sollten.
Wieder in seinem Zimmer angekommen, wählte er erst einmal die Nummer der Urologie. Er hatte Glück, denn es waren noch einige Termine frei. Er bekam schließlich einen für den morgigen Tag um 15:30 Uhr. Zufrieden legte er auf und entschied sich dafür, seinem Bruder noch davon zu erzählen, bevor er sich an die lästigen Schularbeiten machte.
Raus auf den Flur und eine Tür weiter. Paul klopfte an – etwas, was er von Felix nicht mal mehr erwartete, so selten tat er es.
Aber niemand öffnete ihm, und im Inneren war es auch ruhig.
Mal wieder sehr mysteriös. Machte Felix im Inneren gerade Eichhörnchen-Beschwörungen? Verwandelte er sich gerade in eine Fledermaus? Naja, so unterschiedlich waren ihre Leben dann wohl doch nicht.
Paul öffnete die Tür einen Spalt weit und lugte hinein. Kein Felix. Aber er war auf jeden Fall hier gewesen. Das ganze Zimmer war noch ein bisschen mehr verwüstet als sonst. Und…
Pauls Blick fiel auf den großen nassen Fleck auf dem Autoteppich.
‚Der Arme, nicht schon wieder….‘, dachte sich Paul und fragte sich, wohin sich Felix verzogen haben konnte.
Ein leises Wimmern drang an Pauls Ohr. Damit hatte Felix seinen Standort wohl eindeutig verraten. Wobei es die Tröpfelspur auf dem Boden auch getan hätte.
Paul öffnete die Tür des Kleiderschranks und erblickte seinen Bruder, mal wieder tieftraurig heulend und zusammengekauert unter einem Berg Wäsche.
‚Ja. Exakt. Zum Spaß macht er das. Sieht man ja…‘, ärgerte sich Paul in Gedanken über die Äußerungen seines Vaters.
Er streichelte Felix aufmunternd über den Rücken und versuchte ihn dazu zu überreden wieder aus dem Schrank zu kommen. Mit gesenktem Kopf kletterte Felix nach einer Weile wieder aus seinem Versteck und klammerte sich an Paul, der ihn liebevoll in den Arm nahm.
„Wir kriegen das wieder hin, verstanden? Alles wird wieder gut!“, flüsterte er Felix ins Ohr.
Irgendwie schien Felix Pauls tröstenden Worten nicht mehr ganz zu glauben.
„Woher willst du das denn wissen? Vielleicht wird ja alles auch noch schlimmer!“, jammerte er.
„Hey, Kleiner, hör mir doch mal zu! Wir gehen morgen zu einem Arzt. Der schaut sich dich und dein kleines Problem mal ganz genau an. Und sicher findet er die Ursache und kann dir dann helfen.“
„Z-Z-Zum A-Arzt?“, stotterte Felix ängstlich.
„Hast du Angst vorm Arzt?“ Paul strich Felix durch sein Fell, um ihn zu beruhigen.
Felix überlegte. „Gehst du miiit?“, quengelte er Paul an.
Paul nickte und sah Felix nochmals aufmunternd an.
„Dann hab ich kaine Angst!“, sagte Felix mit einem Lächeln im Gesicht…
Autor: kigaki (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.