Donnerstag (2)
Windelgeschichten.org präsentiert: Donnerstag (2)
Zumindest die Frage, warum ich meine kleine Schwester mit in die Sache hineingezogen habe, konnte ich mir selbst erklären. Ich hatte es nicht gewollt. Ich hatte es wirklich nicht gewollt. Ich hatte immer die allergrößte Vorsicht walten lassen. An dem Geheimfach hatte ich immer nur gewerkelt, als gerade niemand zuhause war, die Cremes und Pulver hatte ich alle einzeln aus verschiedenen Drogerien besorgt, in die ich nie vorher und nie nachher einen Fuß gesetzt hatte, und die Windeln hatte ich mir an eine Abholstation schicken lassen. Ich hatte sie auch immer nur dann hervorgeholt, als ich hundertprozentig sicher sein konnte, dass niemand da war.
Nun, es schien, dass es so etwas wie eine hundertprozentige Sicherheit gar nicht gab. Als Silvia damals, vor nicht ganz fünf Monaten, an einem Sonntag im September ins Wohnzimmer kam, gab es gar nichts herauszureden. Es war eindeutig, was ich da gerade machte. Der linke Verschluss klebte bereits, den rechten hielt ich gerade in den Fingern. Der Mund stand ihr offen, der Griff ihres Trolleys glitt ihr aus den Händen und mit einem dumpfen Geräusch landete er hinter ihr auf dem Boden. Ich war sicher gewesen, dass ihr Flugzeug erst morgen ankommen würde. Ich war mir sicher gewesen, aber ich hatte mich auf dem großen Familienkalender in der Küche verlesen, fatalerweise, und jetzt war mein Leben vorbei. Ich starrte zu ihr zurück, mein Mund stand genausoweit offen wie ihrer. Wieso hatte ich Idiot ins Wohnzimmer gehen müssen? Wieso nicht in meinem Zimmer? Wieso nicht im Schlafzimmer meiner Eltern? Gut, Silvias Zimmer wäre vermutlich die eine noch erheblich schlechtere Wahl gewesen, aber zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass ich mich dort nie alleine gewickelt hatte. Das wäre mir ein zu großer Eingriff in die Privatsphäre meiner Schwester gewesen. Warum es dann bei meinen Eltern ging? Ich weiß nicht. Es ging einfach. Die hatten mich ja auch gewickelt, als ich noch klein war, bei denen war es nichts, was völlig aus der Wirklichkeit entrückt war. Ich glaube, dass es mir sogar lieber gewesen wäre, wenn Mama oder Papa mich so vorgefunden hätten. Bei ihnen hätte ich Hoffnung gehabt, dass sie es verstanden hätten. Aber Silvia? Undenkbar.
Trotzdem stand sie an diesem Tag vor mir, auf dem Teppichboden liegend, dort, wo sonst der Beistelltisch stand, den ich etwas zur Seite gerückt hatte um mehr Platz zu haben. Mit nichts bekleidet als einer Windel, und selbst die hatte ich noch nicht richtig angelegt, meine normale Kleidung lag auf einem unordentlichen Haufen neben mir.
„Julian“, fragte sie tonlos, fast flüsternd, „was machst du denn da?“
Ich war gelähmt, konnte nichts sagen, konnte mich nicht bewegen, wie ein Tier, das glaubt einer Gefahr zu entgehen, wenn es sich tot stellt. Ich erwartete, dass Silvia sich jeden Moment umdrehen und wegrennen würde, entweder nach oben in ihr Zimmer, oder aus dem Haus heraus, in jedem Falls schreiend.
Aber sie machte etwas anderes.
Langsam ging sie auf mich zu, ließ beiläufig die Plastiktüte mit Mitbringseln aus dem Duty-Free-Shop am Flughafen fallen. Ganz vorsichtig kam sie zu mir herüber, ihre Augen starr auf das weiße Ding zwischen meinen Beinen gerichtet. Ich verfolgte sie mit den Augen. Mein Herz schlug heftig, als sie sich auf den Sessel setzte, so dass ich nun zu ihren Füßen lag.
„Was machst du denn da?“ fragte sie noch einmal. Ihre Stimme klang ein wenig gefasster.
Endlich brachte ich etwas hervor. „Du hast mich überrascht.“ sagte ich.
Dann sagte wieder keiner von uns etwas, wir sahen uns nur beide an, konfrontiert mit einer Situation, die wir beide nicht wahrhaben wollten.
„Das ist eine Windel.“ sagte sie schließlich.
„Das ist eine Windel.“ sagte ich.
Und dann tat sie etwas, dass ich nicht vergessen werde. Sie zeigte auf den nicht zugeklebten Verschluss an meiner rechten Seite. „Willst du den nicht zumachen?“
Ich nickte schnell, zog die beiden Klebeflächen zueinander und presste sie fest. Üblicherweise war das der Moment, in dem mich Glückshormone durchströmten. An diesem Tag war es anders, natürlich. Aber ich fühlte mich trotzdem etwas sicherer. Ich hatte nun immerhin die Hände frei. Ich konnte mich wieder bewegen. Zögerlich setzte ich mich zunächst auf, dann erhob ich mich. Nicht von der Unterlage, damals hatte ich noch keine Unterlage. Mir war die Idee eine anzuschaffen nicht selbst gekommen. Ich hatte sie erst später geholt, weil Silvia meinte, dass sie es ohne eklig findet.
Es war wohl das Rascheln der Windel, dass etwas in ihr auslöste, und zum ersten Mal reagierte sie ein wenig so, wie ich es von Anfang an erwartet hatte. Ich sah noch, wie sie das Gesicht verzog, ehe sie es in ihren Handflächen vergrub. „Oh Gott.“
„Ist alles in Ordnung?“ fragte ich. Es war eine dämliche Frage, sie war mir so rausgerutscht.
Sie sah auf. „Ich habe gerade rausgefunden, dass mein großer Bruder gerne Windeln trägt. Nein, es ist nicht alles in Ordnung.“
„Oh.“ sagte ich.
Mehr nicht. Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Ich stand einfach nur da, unschlüssig, irgendwas zu machen; in der Angst, dass, egal was ich machen würde, es falsch wäre. Sie starrte gerade vor sich, und somit, da ich nun stand und sich meine Hüfte auf ihrer Augenhöhe befand, genau auf meine Windel. Ihr Gesicht zeigte ein wenig Ekel, aber ich merkte, dass da noch etwas anderes in ihm lag. Etwas wie Faszination.
„Wie lange machst du das schon?“ fragte sie.
„Etwa anderthalb Jahre.“
„Wissen Mama und Papa davon?“
„Um Gottes Willen, nein! Davon weiß niemand.“
„Außer mir jetzt.“
„Ja. Außer dir jetzt.“
Und wieder Pause. Und wieder starrte sie.
Ich nahm meinen Mut zusammen. „Willst du Brötchen?“
Sie sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Was?“
„Ich dachte, du willst vielleicht etwas essen. Es sind noch Brötchen vom Frühstück da.“
„Du läufst vor mir in einer Windel rum und fragst mich, ob ich Brötchen essen möchte?“ fragte sie entgeistert.
Was sollte ich darauf antworten? Mir fiel nur eine Sache ein. „Ich würde dich auch fragen, wenn ich keine Windel an hätte.“
Für einen Moment sagte sie gar nichts, dann brach doch ein Lachen aus ihr heraus. Sie verschluckte es gleich wieder, musste dann aber doch wieder lachen. Es klang wahnsinnig merkwürdig. „Oh Gott“, sagte sie, „das ist … das ist echt zu viel.“
„Möchtest du?“ fragte ich.
Sie sah mich an, als ob ich komplett schwer von Begriff sei. „Entschuldige mal bitte Julian, ich komme hier gerade nach Hause von einer anstrengenden Reise, möchte mich eigentlich nur ins Bett hauen und das erste was ich sehe ist, dass mein großer Bruder Vorlieben hat, von denen ich gar nichts wissen wollte! Ich weiß nicht, was ich jetzt möchte.“
„Entschuldigung.“ sagte ich geknickt.
„Wieso denn im Wohnzimmer?“
„Was?“
„Wieso wickelst du dich ausgerechnet im Wohnzimmer? Jeder, der zur Tür hineinkommt, sieht dich doch sofort!“
„Einfach so.“ Dass ich mich durch das Haus probieren wollte, hatte ich in dem Moment lieber verschwiegen.
„Wolltest du entdeckt werden?“
„Nein! Spinnst du?“
Sie tat, als ob sie mir nicht zugehört hätte. „Du wolltest entdeckt werden.“
„Nein! Alles andere als das! Weißt du, wie peinlich mir das gerade ist?“
„Du wusstest, dass ich heute nach Haus komme.“ Sie sagte es nicht vorwurfsvoll. Sie stellte es nüchtern fest.
„Ich hatte mich im Datum vertan. Ich dachte, du kommst erst morgen.“
„Das soll ich dir glauben?“
„Silvia, ich schäme mich gerade zu Tode!“
Sie sah auf meine Windel. „Warum hast du sie dann angezogen?“
„Ich wollte nicht, dass es jemand sieht.“
„Warum hast du sie angezogen?“
Ich zögerte kurz. „Sie fühlt sich toll an. Wahnsinnig toll.“
Silvia atmete tief durch. „Oh Mann, Julian. Wirklich.“ Sie klang, als ob sie nicht wusste, was sie tun sollte.
„Hör mal“, sagte ich, „es tut mir wirklich leid, dass du mich so gesehen hast. Ich wollte das nicht, wirklich nicht.“
„Julian?“
„Ja?“
Ich sah, wie sie sich innerlich zusammennahm. „Geh bitte nach oben und zieh dich um. Und wenn du wieder aussiehst wie mein großer Bruder, dann essen wir gemeinsam und unterhalten uns darüber. Ja?“
Ich errötete und nickte. Die Idee, nicht die ganze Zeit in der Windel rumzurennen sondern mir etwas richtiges anzuziehen, hätte mir auch kommen können. Schnell griff ich meine Sachen vom Boden und rannte hinauf in mein Zimmer.
Nachdem ich wieder unten war, führten Silvia und ich ein langes Gespräch. Ich erzählte ihr, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen war und warum ich es tat. Ich erzählte ihr von dem Geheimfach und meinen Besorgungen. Ich erzählte ihr auch, dass ich nicht mein großes Geschäft in Windeln verrichtete, was sie irgendwie durchaus zu beruhigen schien. So etwas schien eine große Hürde zu sein, wenn man sich zum ersten Mal mit dem Thema auseinandersetzt. Aber auch mir geht es ja so, ich habe keine Lust auf den Dreck und den Gestank. Ich entschuldigte mich noch viele Male, dass sie mich so erwischt hatte, und beteuerte, dass es keine Absicht gewesen war, und irgendwann hatte ich sie soweit, dass sie mir glaubte, und ich musste ihr hoch und heilig versprechen, dass sie mich so nie wieder zu Gesicht bekommen müsste und dass ich das bitte nicht in irgendwelchen Zimmern, die von allen genutzt wurden, mache. Im Gegenzug nahm ich ihr das Versprechen ab, dass sie davon nichts unseren Eltern erzählen würde. Das machte sie gerne. Ich glaube, sie war sogar dankbar, dass ihr dieses sehr unangenehme Gespräch erspart blieb.
Etwa zwei Wochen später kam eines Abends meine Schwester zur Tür herein. Unsere Eltern waren an dem Abend zu Hause, und von unten hörte ich das Geräusch des Fernsehers. Das Verhältnis zwischen mir und Silvia war erstaunlich normal geblieben in der vergangenen Zeit. Keiner von uns hatte sich etwas anmerken lassen, unsere Eltern ahnten nichts, und Silvia spielte das ganze so gut, dass ich mich sogar schon bei dem Gedanken ertappt hatte, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war. Aber dafür war es dann doch zu real gewesen.
Und jetzt war sie in mein Zimmer gekommen, während ich über meinen Seminaraufgaben brütete, und hatte sich auf mein Bett gesetzt.
„Julian?“
„Hm?“
„Können wir kurz miteinander reden?“
„Worüber denn?“ Ich war so arglos, dass ich es in dem Moment wirklich nicht wusste. Die Art, wie sie unbehaglich ihren Kopf zur Seite drehte, verriet mir aber, worum es ging.
„Du weißt schon.“
„Ja“, sagte ich, „ich weiß.“ Mir wurde unwohl. Bei unserem Gespräch hatten wir uns auf eine gute Lösung geeinigt, mit der wir beide leben konnten. Dass sie jetzt hier war, bedeutete, dass sie etwas ändern wollte, und das gefiel mir nicht. In den letzten zwei Wochen habe ich mir nur ein einziges Mal Windeln angelegt – Gelegenheiten hatte es mindestens zwei weitere gegeben, aber ich war übervorsichtig geworden – und niemand hatte etwas davon erfahren. Wir hatten ein gutes, tragfähiges, funktionierendes System.
Ich war also überrascht, als ich hörte, was sie dann sagte.
„Ich habe noch einmal nachgedacht und ich glaube, dass ich mich dir gegenüber mies und ungerecht verhalten habe“, sagte sie, „Windeln zu tragen – das ist halt dein Ding. Das ist das, was du gerne machst, und du tust niemandem damit weh. Du hast ja auch versucht, dass es niemand mitbekommt.“
„Versucht.“ sagte ich trocken.
„Ja, nur versucht, aber immerhin versucht, und anderthalb Jahre lang ist dir das ja auch sehr gut gelungen. Wahrscheinlich musste es irgendwann so kommen. Jedenfalls: Ich möchte mich entschuldigen, wenn ich dich irgendwann dazu gebracht habe, dass du dich deswegen schlecht fühlst. Das solltest du nicht. Wenn du das gerne machst und du das machen willst, dann mach es.“
„Wow.“ sagte ich. Mehr brachte ich in dem Moment nicht heraus.
„Nimmst du meine Entschuldigung an?“
„Nun“, sagte ich, „weißt du … das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich glaube nicht, dass du etwas falsch gemacht hast. Du warst in einer Situation, auf die du völlig unvorbereitet warst, und deine Reaktion … Ich war so heilfroh, dass du so reagiert hattest und nicht ausgerastet bist.“
Sie lächelte schwach. „Glaube ich dir. Aber trotzdem, ich hätte noch besser reagieren können. Nimmst du die Entschuldigung jetzt an?“
„Ja. Natürlich.“ sagte ich.
„Gut“, sagte sie und stand auf, „das war schon alles. Ich wünsche dir noch viel Spaß.“
Sie ging zur Tür. Etwas in mir meldete sich, und noch ehe sie die Klinke griff, rief ich: „Warte!“
Sie dreht sich noch einmal um. „Was ist?“
Ich wusste nicht, welcher Teufel mich in dem Moment ritt, aber ich fragte: „Stört es dich dann auch nicht mehr, wenn du mich in einer Windel siehst?“ Kaum als ich es ausgesprochen hatte, wollte ich mich am liebsten ohrfeigen.
Silvia musterte mich mit einem langen, merkwürdigen Blick. „Ich schätze nicht.“ sagte sie dann und ging hinaus.
Ich blieb zurück, wie vom Donner gerührt.
Das veränderte alles.
Ich würde nicht mehr warten müssen, bis ich ganz alleine zu Hause war. Es würde reichen, dass Mama und Papa nicht da waren. Vor meiner Schwester durfte ich eine Windel tragen.
Ich gebe zu, dass ich das nächste Mal forcierte. Es war bereits der übernächste Tag, als sie von der Schule nach Hause kam, eine halbe Stunde nach meiner letzten Vorlesung, eine halbe Stunde bevor Mama da wäre. Eigentlich war das viel zu wenig Zeit, es würde sich nicht lohnen. Ich war aber nach oben in mein Zimmer gerast, alles hervorgeholt und mir eilig eine Windel angelegt, da hatte ich schon gehört, wie unten die Tür ging.
„Ich bin wieder zu Hause!“ hörte ich Silvias Stimme.
„Ja! Ich bin auch da!“ rief ich herunter. Dann saß ich für einen Moment ruhig da. Ich wollte nicht sofort hinunter. Ich wollte einen Moment warten, damit es nicht ganz so wirkte, als ob ich mich ihr unbedingt zeigen wollte. Ich durfte natürlich auch nicht zu lange warten, sonst wäre die Gelegenheit vorbei. Es waren also etwas mehr als fünf und etwas weniger als zehn Minuten, als ich mich mit pochendem Herzen aus meinem ledernen Schreibtischstuhl erhob. Es gab ein lautes, knarzendes Geräusch, als sich die Windel vom Leder löste. Ich ging aus meinem Zimmer und lauschte, wo sich Silvia gerade befand. Der Fernseher lief, eine der Sitcoms, die sie gerne sah, mit Gelächter aus der Konserve. Langsam ging ich die Treppe hinab, die direkt ins Wohnzimmer führte. Ich sah den eingeschalteten Fernseher, aber meine Schwester war nicht auf ihrem Platz auf dem Sofa. Dafür hörte ich das Klappern einer Schale aus der angrenzenden Küche. Ich fasste meinen Mut zusammen und ging hinüber.
Als ich den Raum betrat, stand sie mit dem Rücken zu mir an der Küchenzeile und bereitete sich Müsli zu. Ich gab mir Mühe, so lässig wie nur möglich zu sein und ging zum Kühlschrank.
„Hey“, fragte ich, „wie geht‘s?“
Um ganz natürlich zu wirken, öffnete ich den Kühlschrank, ganz normal.
„Gut danke“, sagte sie, „und …“
Sie brach in ihrer Antwort ab. Ich nahm eine Dose Cola aus dem Kühlschrank, schloss ihn und drehte mich zu ihr. Sie war in ihrer Bewegung erstarrt, aber sie sah nicht erschrocken aus, nur verwundert.
Ich hätte jetzt einfach wieder hinausgehen können. Ich hätte es wahrnehmen und respektieren können, dass sie nicht gemeint hatte, dass ich jetzt jederzeit so rumlaufen sollte, sondern dass es nur kein großes Drama mehr wäre, wenn sie mich einmal versehentlich so erwischen würde.
Aber ich wollte es nicht. Ich ging in die Offensive.
„Ich habe gerade nur eine Windel an“, sagte ich, „du meintest doch, dass wäre okay für dich?“
Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie schnell. „Jaja. Ist schon okay.“
„Cool.“ sagte ich und nippte an meiner Cola.
Dann ging ich hinaus. Am Fehlen des Müslischalengeklappers hörte ich, dass sie mir nachstarrte.
Ich hätte dann wieder auf mein Zimmer gehen können, und die Sache wäre ein Erfolg gewesen. Ich hätte mich danach viel ungezwungener in ihrer Gegenwart geben können, und es wäre viel besser und unverkrampfter gewesen als zuvor.
Stattdessen tat ich etwas anderes. Ich ging hinüber zum Sofa. Wir hatten dort alle unsere Stammplätze, bis auf Papa, der auf dem Sessel Platz nahm: Silvia saß links, Mama in der Mitte, ich rechts. Und dort ließ ich mich also nieder.
Für eine Minute kämpfte ich mit dem Drang umzuschalten. Die Show war schlecht und unlustig, aber irgendwann wickelte mich die leicht verständliche Story ein. Irgendwie ging es darum, dass eine Frau, die als Restauratorin arbeitet, Streit mit einem Museumsdirektor hat, der aber jung und attraktiv ist und das Date ihrer besten Freundin, wovon die beiden aber natürlich nichts ahnen.
Silvia kam aus der Küche. Als sie mich auf dem Sofa sah, wie ich eine Folge von der Serie schaute, von der sie wusste, dass ich sie hasste, blieb sie kurz stehen. Ich erwartete, dass sie etwas sagen würde, aber stattdessen ging sie weiter, stellte ihr Müsli auf dem Tisch ab und setzte sich auf ihren Platz. Stumm saßen wir nebeneinander und sahen uns die Serie an.
„Willst du eine Decke?“ fragte sie unvermittelt.
„Was? Warum?“
„Ich dachte, du frierst vielleicht. Du hast ja fast nichts an.“
Ich wollte nicht. Mir war zwar tatsächlich ein kleines bisschen kalt, aber dann wäre ich eben auch bedeckt gewesen. „Fragst du, weil du mich nicht so sehen willst?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Stört mich nicht.“ Und sie nahm einen Löffel mit Müsli.
Wir sahen weiter. Ich mochte die Serie nicht, aber ich genoss die Situation ungeheuer. Ich saß hier, in einer Windel, neben meiner kleinen Schwester, und wir beide taten, als wäre es das normalste in der Welt. Ich wusste nicht, was hätte behaglicher sein können.
Dann merkte ich, dass sie zu mir herüber sah. Mit ihrem Löffel deutete sie auf meine Windel. „Und? Sitzt gut?“ fragte sie kauend.
„Ja“, sagte ich „sitzt super. Warum fragst du?“
Sie schluckte ihren Bissen herunter. „Sieht irgendwie nicht so aus. Der Klebestreifen hängt ja halb auf deiner Haut.“
Damit hatte sie recht. Ich hatte mich vorhin sehr beeilt beim Anlegen, aber das konnte ich jetzt natürlich nicht sagen. „Naja“, sagte ich also, „das ist manchmal nicht ganz so einfach, sich die selbst anzulegen.“ Das war auch nicht gelogen.
„Hm.“ machte sie.
Und dann, nach einer Weile: „Ich dachte, dir ist das unangenehm, wenn dich jemand in deiner Windel sieht.“
„Ja“, sagte ich, „das ist es auch.“
„Warum sitzt du dann jetzt hier so rum?“
„Ist es dir denn unangenehm, dass ich jetzt hier so sitze?“ fragte ich.
„Hast du da reingemacht?“
„Nein.“
„Dann nicht. Dann ist es, als ob du eben nur in deinen Shorts rumläufst. Aber dir ist es unangenehm, hast du gesagt.“
„Nein.“ sagte ich.
„Doch. Gerade eben hast du gesagt, dass es unangenehm ist.“
„Nicht bei dir.“
Sie warf mir einen fragenden Blick zu.
„Nicht bei mir? Warum nicht?“
„Also … nein, das habe ich nicht richtig ausgedrückt. Es ist mir immer noch unangenehm, aber bei dir weiß ich, dass du es akzeptierst. Bei dir weiß ich jetzt, dass es nicht schlimm ist, wenn du mich so siehst. Verstehst du?“
Sie dachte einen Moment nach. „Du meinst, dass du bei mir Schwäche zeigen kannst?“
„Etwa so. Ja.“
Sie nickte. „Ja. Ja, das kannst du bei mir, Julian.“
Es fühlte ich unfassbar gut an, das zu hören.
„Silvia?“
„Ja?“
„Weißt du, dass du eine wahnsinnig tolle Schwester bist?“
Sie wurde rot und lächelte. „Und weißt du, dass du ein ganz schön schräger großer Bruder bist?“
Jetzt wurde ich auch rot. „Wieso? Bloß, weil ich mir gerne bequeme Sachen anziehe?“
Sie lachte. „Weil du mehr bist wie mein kleiner Bruder. Wie mein ganz kleiner Bruder. Wie mein ganz ganz kleiner Bruder!“
„Ist das schlimm?“ fragte ich.
Sie lächelte zu mir herüber. „Nein. Mit dir habe ich jetzt einen großen und einen kleinen Bruder in einer Person.“
Mir fiel etwas ein. „Silvia?“
„Ja?“
„Du hast doch jetzt nicht weniger Respekt vor mir, oder?“
Sie unterdrückte ein Grinsen. „Du meinst, weil du gerne rumläufst wie ein Baby?“
Mir wurde etwas flau im Magen. „Wenn du es so ausdrückst: Ja.“
„Nun“, sagte sie, „du wirst immer mein großer Bruder bleiben. Und vor Mama und Papa werde ich mir nichts anmerken lassen.“
Das beruhigte mich. „Danke.“
„Oder sollen die das jetzt auch erfahren?“
„Was? Um Gottes Willen, nein! Das wäre eine Katastrophe!“ Bei Silvia war es gut gelaufen, das wusste ich jetzt. Aber ich hatte meine allergrößten Zweifel, dass es bei meinen Eltern einen ebenso glimpflichen Ausgang nehmen würde. Ich hatte auch nicht die geringste Lust es auszuprobieren.
„Ach so“, sagte sie, „ich dachte, du wolltest das jetzt machen.“
„Wie kommst du denn auf die Idee?“
Vergnügt zeigte sie auf die Digitaluhr an der Fernsehkonsole. „Weil Mama um fünf wieder da sein wollte, es jetzt fünf nach ist und sie gerade aus dem Auto steigt.“
Erschrocken sah ich mich zum Fenster hinaus. Tatsächlich! Da war Mama, wie sie gerade die Fahrertür von unserem Golf schloss. In wenigen Sekunden würde sie hier sein!
„Oh mein Gott“, schrie ich und sprang auf, „warum hast du denn nichts gesagt! Mama darf mich nicht so sehen!“ In Windeln kann man nicht schnell laufen. Man wird immer zu einem etwas watschelnden Gang gezwungen. Wie es aussieht, wenn man dennoch schnell sein möchte, kann ich nicht sagen, aber Silvia meinte später, mich zu sehen, wie ich mit schnellen Schritten die Treppe hoch tapste, wäre das lustigste gewesen, was sie je in ihrem Leben gesehen hätte. Sie kreischte laut auf und bekam sich für volle fünf Minuten nicht mehr ein. Der einzige Wermutstropfen war, dass Mama, als sie hineinkam und fragte, was denn so lustig war, sie so tun musste, als ob sie so über ihre Serie lachen musste. Ich hatte es gerade noch rechtzeitig zurück in mein Zimmer geschafft. Im ersten Moment war ich verdammt sauer auf Silvia gewesen, dann aber merkte ich, dass doch zuallererst ich kritisiert werden sollte. Ich war leichtsinnig gewesen, nicht sie! Ich hatte nicht auf die Zeit geachtet! Ich durfte verdammt noch mal nicht anfangen unvorsichtig zu werden. Schnell zog ich mir die Windel aus und meine normalen Sachen an. Dann ging ich herunter um Mama zu begrüßen und gab mein bestes so normal wie möglich zu wirken. Der Plan ging völlig in die Hose, weil Silvia, so bald sie mich sah, erneut in einen Lachkrampf ausbrach. Zumindest hatte sie schnell die Notlüge zur Hand, dass ich so ähnlich aussähe wie einer der Darsteller eben.
Mama schimpfte sie trotzdem aus. „Jetzt hör auf, deinen Bruder auszulachen! Dem ist das ja peinlich! Siehst du nicht, dass er schon ganz rot angelaufen ist? Warum hörst du bloß nicht auf zu lachen?“
Später am Abend kam Silvia zu mir ins Zimmer und entschuldigte sich, dass sie so lachen musste. Ich nahm ihre Entschuldigung an.
„Ich nehme an, dass ich manchmal ganz schön lächerlich aussehe in den Dingern, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Ich habe mich schneller an den Anblick gewöhnt, als ich gedacht habe. Aber zum Rennen solltest du sie lieber nicht anziehen.“
„Das hatte ich auch nicht vor.“
„Dann ist ja gut. Also, ich wollte nur sicherstellen: Fühl dich ruhig frei, die in meiner Gegenwart zu tragen. Ich lache auch nicht.“
„Das weiß ich doch.“ sagte ich, aber es tat mir tatsächlich gut, dass sie es gesagt hatte.
Dann, plötzlich, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, und, als ich mich noch fragte, was sie denn bloß vorhatte, küsste sie mich auf die Stirn. „Gute Nacht, mein kleiner großer lustiger Bruder.“
Es fühlte sich so unfassbar gut an, das zu hören. „Gute Nacht“, sagte ich, meine „große kleine liebe Schwester.“
Und ihrem Blick entnahm ich, dass es ihr ebenso gut getan hatte, meine Worte zu hören.
Autor: Winger(eingesandt via E-Mail)
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Super!
Richtig, richtig gut!
Hoffentlich lässt der nächste Teil nicht zu sehr auf sich warten.
Dieser Teil hat mich richtig gut zum lachen gebracht !!! Eine der besten Geschichten auf dieser Seite, weiter so!
Ich freue mich, das etwas von der Vorgeschichte von Euch erzählt wurde. Nur fehlt mir der Anschluß zum ersten Teil. Da wart Ihr ja zuletzt im Waschhaus und Silvia hat Julian im dunklen zurück gelassen. Da hätte man noch abschließend darauf eingehen können. Freu mich aber auch auf den nächsten Teil.
@burli
Das sind seine Gedanken, eine Art Flashback, er erinnert sich, wie alles zustande kam.
Deshalb ist es auch etwas verwirrend, vermute ich mal.
Wobei das total klar geschildert wird.
Das ist eine schöne Romantische Geschichte, aber der 1 Teil muß irgendwie weiter gehen, ansonsten gut geschrieben. Und ich würde mich interessieren was ist wen der Junge in die Windel macht, denn wen er schon welche Trägt Dan muß er sie auch benutzen. Das beste ist wen der Junge in die Windel macht Dan ist die Schwester erst geschockt und schließlich, wir Sie ihn Wickeln und die Mutter kommt in den Moment herein wen die Schwester gerade dabei ist ihren Bruder sauber macht und Wickelt.
Vielen Dank für die netten Kommentare. Freut mich sehr, dass euch die Geschichte gefällt.
@Burli: Keine Angst. Wie Mahlzeit schon richtig sagt, dieser Teil ist eine Rückblende. Ab Teil 4 geht es weiter in der Waschküche.
@Maik: Dann sage ich das lieber jetzt, bevor nachher jemand enttäuscht ist: Das ist keine Geschichte, in der großartig Windeln benutzt werden. Das hätte nicht richtig reingepasst. Aber vielleicht gefällt dir ja, was stattdessen passiert.