Die Geheimnisse der Kerkwald-Geschwister (4)
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Kapitel 4 Die Jugendlichen
Ruhig, entspannt und in voller Zufriedenheit mit sich und der Welt nippte Jakob an der heißen Kakaotasse, die er fest in seinen Händen hielt. Bereits im Schlafanzug und eingehüllt in eine dünne aber dennoch wärmende Wolldecke verfolgte er, an seine große Schwester gekuschelt, das Finale des packenden Disney-Animationsfilmes ,Cars 2‘. Erst im letzten Jahr war die erste Fortsetzung des Pixar-Streifens über die bunten, sprechenden Autos über die Kinoleinwände des Landes geflackert und war in Form der DVD-Fassung trotzdem bereits vor ein paar Wochen in der Auslage der örtlichen Bibliothek gelandet. Beim letzten gemeinsamen Bibliotheksbesuch hatten alle drei Geschwister wie immer das Anrecht besessen, sich neben den Büchern auch zwei Filme auszuleihen und während David seine Auswahlrechte aus Desinteresse an Robin abgetreten hatte, hatte Jakob seine Wahl gründlich durchdacht. ,Cars 2‘ und ,Toy Story 3‘ hatte er auf seinen Stapel gelegt, trotz der Tatsache dass auch endlich die letzte Staffel von ,Malcom Mittendrin‘ wieder zurück im Bibliotheksregal gelandet war. Aber Im Gegensatz zu Toystory oder Cars bestand da Grund zur Annahme, dass Robin die Staffel selbst ausleihen würde. Und als einziges Mitglied der fünfköpfigen Familie, das sich noch wirklich an Kinderfilmen erfreute, wusste Jakob, dass er jede Chance die er hatte auch nutzen musste. Und so hatte er auch trotz der Tatsache, dass er mit Robins Filmwunsch an diesem Abend auch mehr als gut hätte leben können, auf eine faire Partie Schnick-Schnack-Schnuck bestanden als es um die Auswahl des Freitagabendfilms gegangen war – und hatte gewonnen.
Aber wenn Robin ehrlich war, dann gab es auch schlimmere Dinge, die man an einem Freitag tun konnte, als mit Jakob einen Pixarfilm anzuschauen. Ihr kleiner Bruder war so süß, wie er gebannt dem Abenteuer der lebendigen Animationsautos folgte und dabei die Augen nicht vom Fernseher lassen konnte so als gäbe es in diesem Moment nichts anderes, das nur im Entferntesten von Wichtigkeit war. Abgesehen natürlich von einem warmen Kakao und Knuddeleinheiten von der großen Schwester.
So blickten beide Geschwister mehr oder minder interessiert auf den kleinen Flachbildschirm auf der anderen Seite des Wohnzimmers während auf dem halbhohen, aus grobem Eichenholz gezimmerten Couchtisch die Reste der zwei Toast-Hawaiis, die Robin sich und ihrem kleinen Bruder als Abendessen gezaubert hatte, abkühlten. Die Fünfzehnjährige hatte die Deckenleuchte ausgeknipst und nur die Leseleuchte der Stehlampe, die in der Ecke hinter der Couch stand, angeschaltet, sodass im Raum eine gemütliche, beinahe kinoartige Atmosphäre entstanden war. Hinter den weiß gehäkelten Gardinen, auf der anderen Seite der Fensterscheiben, war es längst dunkel geworden und die Standuhr mit ihrem großen, mechanisch hin- und herschwingenden Pendel zeigte bereits halb Zehn an. Es war ruhig im verwinkelten Haus der fünfköpfigen Familie. David war nach der Schule bei Laura aufgeschlagen, hatte vor der anstehenden Scheunenparty gar nicht erst zu Hause vorbeigeschaut und die Eltern der drei Geschwister standen mit den anderen Erwachsenen aus dem Dorf grade vermutlich in ihren Allwetterjacken irgendwo auf einem kalten, windigen Feld und demonstrierten gegen die Windparkpläne.
Es war ein friedlicher Abend im Heim der Familie. Jakobs neuer, dank Linus Trickserei ergatterter Lego-Ninjago-Roboter, den seine Mutter tatsächlich erst beim Einräumen der Einkäufe bemerkt hatte, thronte zusammengebaut vor den beiden leeren Tellern und war noch umringt von einzelnen Legokleinteilen, die nach dem Aufbau übrig geblieben waren. Jakob war bewusst, dass er wirklich Schwein gehabt hatte, in der Konstellation des heutigen Tages so ein Legoset geschenkt bekommen zu haben und entsprechend glücklich war er den gesamten Abend über auch. Selbst als der coole, den Abspann begleitende Rocksong einsetzte und die Gewissheit da war, dass der Tag, der seit dem Schulschluss so toll gewesen war, bald zu Ende sein würde, verlor er nicht das Strahlen auf seinem Gesicht.
„Boah war das coool!“, resümierte Jakob glücklich flüsternd.
Robin kicherte: „Ja, sprechende Geheimagentenautos, das ist wirklich mal was originelles!“
Jakob sah zu seiner Schwester hoch und kniff beleidigt die Augen zusammen: „Jaaa, is so!“, antwortete er überzeugt als er die Antwort seiner Schwester als Sarkasmus identifizierte.
Doch Robin gab ihm recht. Dafür, dass es sich um einen Animationsfilm über sprechende Geheimagentenautos gehandelt hatte, war der Streifen wirklich mehr als erträglich gewesen. Sprechende Geheimagentenautos! Vermutlich musste das Drehbuch dieses Filmes allein durch Marktforschung entstanden sein und Robin musste sich vermutlich auch noch glücklich schätzen, dass nicht noch Dinosaurier oder sprechende Polizeihunde in der Handlung vorgekommen waren. Aber, das musste die Fünfzehnjährige wirklich zugeben: Es war lustig gewesen. Und auch die Charaktere waren, kugelrunde, niedlich aussehende Autos, echt liebenswert gewesen. Klar, das Jakob auf die Frage nach seinem Lieblingsauto den lustigen, liebenswerten Hook identifizierte. Sie selbst musste, als der Zehnjährige ihr dieselbe Frage zurückstellte, wesentlich länger überlegen, bis sie eine Antwort fand. Das Klischee-Mädchenauto Sally? Omg, nein. Kotz. Am Ende wählte sie Finn McMissile, den klassisch-britischen Geheimagenten.
„So Bärchen! Und jetzt nimm dir Lloyd mit, geh dir die Zähne putzen und dann ab ins Bett! Langsam wirds echt Zeit“, instruierte Robin ihren kleinen Bruder nach einer kurzen Pause entschlossen und stupste dem Zehnjährigen auf die Nasenspitze während der Abspann noch über den Flachbildschirm rollte. „Moooaaah“, protestier-gähnte Jakob gewohnheitsmäßig, aber rutschte im selben Atemzug bereits vom graugrünen Polstersofa herunter und räkelte sich müde. Der Junge griff nach seiner neuen Legofigur und tapste langsam aus dem Wohnzimmer heraus während seine große Schwester auf die gegenüberliegende Seite des Flures in die Küche huschte um die Hinterlassenschaften der Abendbrotzubereitung zu beseitigen. Kaum war er im Flur, flitzte Jakob mit seinen nackten Füßen so schnell es ging über die eiskalten Fliesen bis hin zur hölzernen Treppe, huschte anschließend in das warme Badezimmer im ersten Stock hinein und wärmte dort seine Füße an dem rosanen, flauschigen Badezimmerteppich, der vor dem Doppelwaschbecken lag. Er hielt seine Hände kurz unter das angenehm wärmende Wasser, griff dann nach der hellblauen Käptn‘-Blaubär-Zahnbürste, die er wirklich schon ewig haben musste und summte die rockige Melodie des Film-Leadsongs fröhlich vor sich hin, während er sich die Zähne putzte und sein Spiegelbild betrachtete.
Da waren seine großen, dunkelbraunen Augen, so dunkel, dass man die Augenfarbe kaum von der Iris unterscheiden konnte wenn das Licht nicht hell war. Sein von weichen Gesichtszügen geprägtes Gesicht lies den Zehnjährigen oft jünger wirken als er eigentlich war, vor allem wenn er begeistert lachte, mit einem Strahlen, das oft genug andere Menschen mitriss. Seine schwarzen Haare bildeten einen unordentlichen Pony, der fast bis zu seinen Augenbrauen herunterreichte und sein der Jahreszeit angepasster, dicker Frotteeschlafanzug den er aus Davids Kleidungsbeständen geerbt hatte, war ihm immer noch ein bisschen zu groß, sodass die roten Ärmel des Oberteils über seine Handknochen rutschten, als er die Zahnbürste unter den Wasserhahn hielt.
Eine Etage weiter unten hielt Robin derweil die kleine schwarze Pfanne mit den Käseresten unter den warmen Wasserstrahl der Küchenspüle, schrubbte die Fettreste mit dem Lappen passé und sang dabei noch einmal leise zum Song aus dem Film: „Na-na-na-na-na-na, Slow Dooooooown, you’re gonna craaaaaaash!“
,Crash‘, ein melodischer Rocksong von 1986, der definitiv noch die nächsten Wochen in ihrem Kopf haften und für einen Ohrwurm sorgen würde. Wenigstens nicht mehr ,Call Me Maybe‘. Robin trommelte mit ihren Zeigefingern im Takt zur imaginären Musik auf dem metallischen Rand der Spüle und war mit Gedanken schon gänzlich woanders. Die Fünfzehnjährige war mehr als aufgeregt. Sie reinigte die Pfanne oberflächlich, sortierte die beiden Teller sowie Jakobs Kakaotasse in die Spülmaschine und lief anschließend bereits die alte, knarzende Holztreppe in die erste Etage hoch. Es war dunkel im schmalen Hausflur der ersten Etage des alten Hauses, in dem auf linker Hand Davids und Jakobs Zimmer sowie das Badezimmer lagen und auf der anderen Seite ihr kleines Reich sowie das Elternschlafzimmer. Da sie und ihr kleiner Bruder als einzige anwesende Hausbewohner bislang ausschließlich im Erdgeschoss gewesen waren, hatte sich bislang auch niemand die Mühe gemacht, das Licht anzuschalten, sodass der Gang nur durch den Schein aus dem noch hell erleuchteten Erdgeschossflur und dem Lichtspalt, der unter der Badezimmertüre durchschien, erhellt wurde. Robin lugte auf ihre schmale Armbanduhr: Viertel vor. Instinktiv den Weg über die nicht knarzenden Bereiche der alten Holzbalken nehmend, navigierte sie in ihr Zimmer, knipste die Deckenlampe an und begann, sich durch ihren zugegebenermaßen sehr schlecht sortierten Kleiderschrank zu wühlen. Die Jeans blieb, aber irgendetwas, das interessanter aussah als ihr sehr bequemer, schlabbriger Hoodie, wollte sie noch finden. Sie brauchte nicht lange um sich für ein weißes Top zu entscheiden, das ihr zwar perfekt saß, aber so wenig zu den aktuellen Temperaturen passte, dass sie noch ein weites, im selben rot wie ihre Chucks gehaltenes, offenes Holzfällerhemd drüberzog. Grade war sie dabei, die Krimskrams-Accesoire-Schminkschublade zu öffnen, da kündigte das Quietschen ihrer Zimmertüre einen Besucher an.
„Blitzeblank!“, proklamierte Jakob und zog die Oberlippe nach Oben um seine Zähne zu zeigen: „Böööh“, alberte er dabei und lachte. Aber natürlich war ihr kleiner Bruder nicht in ihr Zimmer gekommen, um zu zeigen, wie gründlich er sich die Zähne geputzt hatte.
„Wow, beeindruckende Beißerchen“, gluckste Robin: „Hast du auch schon deine Pampi an?“, versicherte sie sich, während sie die Ärmel ihres Hemdes hochkrempelte. Jakob und seine Pampers. Seit einigen Jahren war ihr kleiner Bruder nicht mehr unbedingt gut auf die Tatsache, dass er immer noch verdammt oft in die Hose machte und deshalb rund um die Uhr mehr-oder-weniger-Windeln tragen musste zu sprechen. Die Drynites, die Jakob zumindest von außen betrachtet trocken durch den Tag brachten, akzeptierte er tapfer und klaglos, was sicherlich auch daran lag, dass die Dinger zwar eigentlich Windeln waren und das natürlich auch dem intelligenten, aufgeweckten Windelträger selbst bewusst war, aber dass eben auch eine Altersangabe ,8-15 Jahre‘ auf der Packung prangte. Und auch der aufgedruckte Junge sah eher so aus, als wäre er in Daves Alter als ein Grundschüler. Himmel, diese Dinger würden ihr vermutlich sogar selbst noch passen! Doch so sehr sich Jakob an die Drynites als zwar nicht grade wünschenswertes Kleidungsstück, aber dennoch akzeptables, zweckmäßiges, gesichtswahrendes Hilfsmittel gewöhnt hatte, so sehr hasste er oft die Pampers, die er Nachts tragen musste. Musste, denn natürlich würde Jakob viel lieber die – eigentlich genau dafür gedachten – Drynites unter seinem Kuschelschlafanzug anhaben. Nur leider war er so starker Bettnässer, dass jene Drynites eben stets auch ein nasses Bett am nächsten Morgen bedeuteten – sie hatten es oft genug versucht. Nur die dicken Pampers aus den grellgrünen, mit einem grinsenden Kindergartenkind bedruckten Verpackungen hielten dem stand – knapp. Und das der Zehnjährige vor ein paar Minuten noch die große Kakaotasse ausgeschlürft hatte, würde sicherlich auch nicht grade helfen. Ja, das musste Robin zugeben, eigentlich galt für Jakob die Regel: Keine Getränke mehr nach acht Uhr. Doch eigentlich, fand die Fünfzehnjährige, war diese, von ihrer Mutter aufgestellte Regel wirklich Quatsch – Jakob wachte am nächsten Morgen so oder so in einer pitschnassen Pampers auf, also war das kein Grund, ihm seinen geliebten Gute-Nacht-Kakao zu verwehren. Nur wenn er sich wieder einmal stur weigerte, die Nachtpampers anzuziehen und trotzig mit einer Drynites ins Bett kletterte, fand es Robin manchmal schwierig, ihren kleinen Bruder zu verteidigen. Klar, sie konnte ihn verstehen. Aber deshalb stur die Drynites tragen und Inkauf nehmen, dass das Bett nass wurde, war so unendlich unvernünftig. Ja, Pampers. Die Dinger waren offensichtlich für Kleinkinder, sahen auch entsprechend aus und sicherlich half auch die Tatsache, dass David ihn bei jeder sich bietenden abendlichen Gelegenheit als „Pampersbaby“ aufzog, nicht dabei, dem Fünftklässler die Ansicht zu vermitteln, dass Pampers eben keine große Sache waren.
„Jip“, nuschelte der Angesprochene ohne sein Lächeln zu verlieren und lupfte zur Bestätigung mit einer Hand seinen Schlafanzugpulli hoch, sodass die weit aus der Hose ragenden, weißgrünen Windelbündchen entblößt wurden. Mit einem Mal sah Robin in ihrem kleinen Bruder nicht mehr den frisch gebackenen Fünftklässler, sondern wieder den kleinen, freudestrahlenden und immerzu aufgedrehten Jungen, der frei von jeglichen Sorgen das Haus mit seinen spannenden Spiel-Abenteuern unsicher gemacht hatte. Es war noch nicht so lange her, dass Jakob die bloße Existenz seiner Pampers so unendlich unangenehm geworden war.
„Supi“, antwortete sie gut gelaunt und strich dem müden Zehnjährigen durch sein dichtes, schwarzes Haar während sie gemeinsam in dessen Kinderzimmer rübergingen. Als jüngster Sprössling der großen Familie hatte er das kleinste Zimmer des Hauses abbekommen, doch war der Platz in dem kleinen Raum gut ausgenutzt. Das an der in einladendem orange gestrichenen, der Dachschräge gegenüberliegenden Wand stehende Hochbett sparte bereits zwei ganze Quadratmeter ein und bot Jakob im darunterliegenden Raum, den der Zehnjährige ,Höhle‘ getauft hatte, einen angenehmen Rückzugsort mitsamt Sitzsack und dem kleinen Schreibtisch. An der Unterseite des Lattenrosts, gewissermaßen in die „Höhlendecke“, hatten Robin und ihr kleiner Bruder vor ein paar Jahren eine Lichterkette gehangen, sodass seine Höhle mittlerweile auch einen Sternenhimmel besaß. Auf der rechten Seite an das Hochbett angrenzend baute sich eine aus dünnem, hellem Fichtenholz bestehende Regalwand auf, die zugleich seine Büchersammlung und sämtliche Spielzeugkisten beherbergte und in die Dachschräge auf der anderen Seite des Zimmers überging. Trotz der Warnungen und Vorschläge seiner Eltern, dass eine dunkelblau gestrichene Dachschrägenwand sehr ,drückend‘ wäre und das Zimmer kleiner wirken lassen würde, als es in Wahrheit war, war Jakob stur geblieben und hatte letztendlich seinen Willen durchgesetzt, sodass sich gegenüber seines Hochbettes nun eine dunkelblaue, mit fluoreszierenden Plastiksternen beklebte Dachschräge aufbaute. Zu den Vorzügen von Jakobs Zimmer hingegen gehörte, dass die beiden Fenster, das eine in der Dachschräge, das andere neben seinem Bett in der drumherum gebauten Regalwand, jeweils nach Süden und Westen zeigten, sodass sein Zimmer bereits ab den frühen Mittagsstunden in den Genuss von Sonnenlicht kam und die Tatsache, dass er im Gegensatz zu seinem großen Bruder nicht an der Straßenseite des Hauses schlief, sondern hinter sich den großen, in den Wald übergehenden Garten wusste.
Zielsicher tapste der Kinderzimmerbewohner über den mit Legosteinen bedeckten Holzboden des kleinen Raumes und platzierte den Lloyd-Roboter auf einem neuen Ehrenplatz in seinem Spielzeugregal. Bevor er die Leiter in sein Schlafgemach erklomm, hielt er inne und drehte sich noch einmal zu seiner großen Schwester: „Nachtii“, murmelte er hörbar müde während er die Fünfzehnjährige umarmte und sein Gesicht in deren Schulter vergrub.
„Gute Nacht, du kleiner Ninja“, kicherte Robin und gab ihrem kleinen Bruder einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn bevor sie dem Zehnjährigen mit einem Klaps auf die Schulter signalisierte, das er nun wirklich ins Bett gehen sollte. Es musste mittlerweile bestimmt fünf vor Zehn sein und schließlich hatte sie heute Abend noch etwas vor.
Flink stieg Jakob die Hochbettleiter nach oben, fischte sich einen Fünf-Freunde-Roman aus dem angrenzenden Bücherregal, knipste die kleine, gemütlich-warmes Licht spendende Leselampe an, bevor er sich unter seine Bettdecke kuschelte und zufrieden das Buch aufschlug. Robin lies die Tür einen Spalt breit offen und huschte eilig wieder in ihr Zimmer zurück um schnellstens ihr Outfit zu komplettieren.
„Heeeey, Schwesterheeerz“, begrüßte David sichtlich gut aufgelegt seine große Schwester, als diese nicht mehr als zehn Minuten später das schwere Holztor der alten Scheune aufschob und in den deutlich wärmeren, noch mit Heu aus dem Spätsommer bedeckten Innenraum eintrat. Laute Popmusik wallte ihr entgegen und eine Geruchsmischung aus Wärme, Schweiß, Parfum und Bier.
Robin zwinkerte ihrem offensichtlich schon mehr als angetrunkenen Bruder zu, um direkt im nächsten Atemzug ihre beste Freundin, gleichzeitig Hauptorganisatorin der berühmten ,Scheunenparty‘, zu umarmen. Das Anrecht und die heilige Pflicht, regelmäßig Scheunenparties zu veranstalten hatte Franzi von ihrem Bruder, der vor einem halben Jahr Abitur gemacht hatte und nun für ein Jahr nach Griechenland verschwunden war, geerbt und bislang schlug sich die Fünfzehnjährige, obwohl sie altersmäßig eine der jüngsten auf ihrer eigenen Party war, sehr sehr gut. Etwa dreißig Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren bevölkerten den mit Heu bedeckten Erdboden der alten Scheune im Innenhof des elterlichen Bauernhofes. Mehr als die Hälfte davon Einwohner von Kleinfeldern, der Rest waren allesamt Freunde der Dorfjugend. Da war Manuel, Daves bester Freund seit der Mittelstufe, natürlich Leo, aber auch andere Teenager aus der Kreisstadt die das Feiern auf dem Dorf kennenlernten.
„Meeensch, das Hemd ist echt geil!“, gratulierte Franzi der braunlockigen Fünfzehnjährigen zur Begrüßung und zupfte mit den Fingern an deren weitem Hemd: „Genau so was hätte ich heute auch gebraucht, mich frierts über! Wo warst du nur, als ich mein Outfit raussuchen musste!?“
„Ach“, wiegelte Robin ab: „Wir haben Cars 2 geschaut, das war eigentlich genau so gut …“, lächelte sie halbironisch, presste ihre rot leuchtenden Lippen aufeinander und zwinkerte ihrer Freundin zu.
Franzi prustete vor Lachen: „Awwww süß!“, kommentierte sie ihre Vorstellung von Robin und Jakob beim gemeinsamen Fernsehabend, drehte sich dann aber so schnell um, dass ihre Haare wild umherwirbelten: „Ich hab was richtig gutes für dich!“, leitete sie ein und legte eine Hand um die Schulter ihrer besten Freundin und führte diese beinahe geheimnisvoll in die nicht mehr ganz von den alten, aus der Decke herabbaumelnden Glühlampen erfassten, hinteren Bereich unter dem Heuboden, wo sich die Flaschen voller alkoholischer Getränke stapelten. Ganz hinten aus der Sammlung fischte die blonde Fünfzehnjährige eine bereits geöffnete Flasche billigen Rotweins und goss ihr sowie einem weiteren Jungen der sich zu den beiden an die Bar gesellte ein wenig davon in zwei bereitstehende blaue Plastikbecher.
Davids silberner Plastikbecher, ehemals gefüllt mit einer streitbaren Mische Vodka-Redbull, stand leer auf dem Boden während sein Besitzer mit einem Haufen Kumpels zu der schnellen, elektronischen Musik die pumpend aus den drei großen Lautsprechern drang, pogte. Es war geil! ,Self Esteem‘, waberte aus den Boxen, jedoch nicht der neunziger-Punkrock-Song von ,The Offspring‘ sondern ein, auf selbigem Song basierender Remix von einer Formation, die sich selbst als ,Stars n‘ Stripes‘ bezeichnete. Handsup nannte sich jene Musikrichtung, mit 150 Beats-per-Minute eine der schnellsten Variationen elektronischer Liedkunst. Genau das richtige für einen Abend wie diesen! Dave reckte seine Fäuste in die Luft und hüpfte so lange ununterbrochen im schnellen Takt zur Musik bis ihm der Brustkorb wehtat. Zwei-Drei Lieder blendeten elegant ineinander über während der Sechzehnjährige in der Musik aufging bis sein Kumpel Manuel auf der anderen Seite des Pogokreises irgendetwas brüllte. Doch David verstand kein Wort. Viel zu Laut. War ihm grade auch egal. Manuel verstand, hielt stattdessen gestikulierend seinen Becher hoch und zeigte mit einem Zeigefinger hinein. Ahh! Nachschub.
Dave nickte. Grade, als der Song zum Mashup vom lagerfeuertauglichen ,Gute Freunde‘ der ,Böhsen Onkelz‘, in Kombination mit dem, die Tanzbarkeit sicherstellenden, ,Party Lover‘ der Harstyle-Ikone ,Showtek‘ wechselte, verließ die Formation um David und seine Kumpanen die Tanzfläche und steuerte die improvisierte Bar an. Dave wippte trotz des Gefühls, jeden Moment sein Gleichgewicht zu verlieren, mit seinem Kopf zum schnellen Takt der Claps und fuchtelte Wild mit seinen Händen umher. Der Boden schien sich zu neigen, andauernd, bei jedem Basschlag in verschiedene Richtungen. Die pulsierenden Lampen hinter den Boxen verschwammen zu Lichtbögen. Er blinzelte und stieß torkelnd gegen mit Jemandem zusammen.
„Ahh“, zuckte er, schleuderte orientierungslos seinen Kopf umher und torkelte einen hilflosen Schritt nach hinten während er den Quell des Schmerzes als den nun auf dem Boden liegenden Teenager vor ihm deutete.
„Was …“, der Sechzehnjährige brauchte einen Moment um sich zu sortieren: „ … was willst du denn hier? Komm mal klar, pass doch auf wo du hinläufst!“, zischte er und zog durch den Mund hörbar Luft ein ohne das Kopfwippen zu unterlassen
Der unbekannte Umgerempelte stand wieder auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose: „Junge, du bist gegen mich gelaufen …“, antwortete er genervt.
Davids Blick glitt ab zur Bar, deren Zutritt der namenlose Teenager ihm nun verwehrte. Er hörte auf mit seinem Kopf zu wippen in dem Moment, als Franzi hoch zur Musikanlage lief, sich erbost über die „Scheißmusik“ beschwerte und zum nächsten Song skippte. Mit einem Mal wurde Dave richtig wütend. Er fühlte sich stark. Stark und Überlegen.
„Junge, was glaubst du, was du bist???“, rotzte Dave den still grinsenden Jugendlichen an während sich im Hintergrund bereits der nächste Song aufbaute. Sein Gesprächspartner hatte die Hände lässig in den Hosentaschen verborgen und wippte mit seinem ganzen Körper im Takt zur Musik hin und her.
„Wer bist du überhaupt???“, setzte er verwundert hinterher, während er in das grinsende Gesicht seines Gegners blickte. Ernsthaft. Wer war der Kerl? Das war Franzis kleinfeldener Scheunenparty. Hier kannte jeder Jeden. Dave war sich sicher, den Typen noch nie irgendwo gesehen zu haben. Dünne Lippen, an deren rechter Ecke zwei schwarze Ringpiercings zierten sein Gesicht. Eine unverschämt perfekte, weiche, braunblonde Haartolle bei der sich Dave nicht sicher sein konnte, ob sie noch nass vom Duschen war oder ob diese feine Linie zwischen nass-definierten und trocken-voluminös-zotteligen Haaren, die so verdammt schwer hinzubekommen war, tatsächlich der Dauerzustand bei dem unbekannten Partybesucher waren.
Der Angesprochene ging einen Schritt auf David zu, sodass die Gesichter der beiden Jungen nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren: „Nick“, antwortete er und murmelte jovial: „Ist das die übliche Begrüßung für Zugezogene hier? Meine Güte, das muss dann wohl wirklich Dorfleben sein …“
Davids stoß mit der Flachen Hand gegen die Brust des penetranten Typen. Der ging zu Boden abermals und stieß hörbar Luft aus. Dave johlte. Manuel griff nach Daves Hand die im selben Moment wieder zum Schlag ausholte: „Herzlich Willkommen!“, rief David.
„Kerkwald !!!“, schrie jemand aus dem Hintergrund. Franzi, die im selben Atemzug von der Holzbühne, auf der sie bis grade gesessen hatte, heruntersprang und auf ihn zu rannte. Auch Robin sah instinktiv in seine Richtung. Sie hatte sich nicht angesprochen gefühlt, als Franzi den Nachnamen, der auch der ihre war, geschrien hatte. ,Kerkwald‘, so wurde eigentlich immer nur David gerufen. Wenn sie ehrlich war, dann war ihr schon bei der ersten Silbe von Franzis Ausruf klar gewesen, dass Dave irgendeinen Unsinn angestellt hatte. Der Idiot vertrug einfach wesentlich weniger als er selbst von sich dachte.
„Komm mal klar, Kerkwald!“, rief Franzi erbost während sich auch Davids Freundin Laura genervt-augenverdrehend aus ihrer Clique löste und schnellen Schrittes auf den sich bildenden Pulk um ihren Freund und dessen Kontrahenten zuging.
David kniff seine Augen zusammen und blickte den blonden Teenager, der sich grade wieder aufrappelte, finster an. Laura und Franzi redeten beide wütend auf den großgewachsenen Sechzehnjährigen ein während Robin dem charmanten Jungen, den sie eben erst kennengelernt hatte, aufhalf.
„Nick, alles okay ???“, fragte sie aufgeregt und warf ihrem Bruder einen eindeutigen Blick zu.
Nick räusperte sich, rappelte sich zum zweiten Mal binnen weniger Minuten auf und humpelte sicherheitshalber ein paar Meter von David weg während Robin fürsorglich eine Hand um den Sechzehnjährigen legte.
„Ach …“, antwortete Nick und bildete ein zwanghaftes Lächeln, wobei er nur den linken Mundwinkel nach oben zog: „Ich hab den Charme des Lokalproletariats kennengelernt …“
Robin kicherte verlegen und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass es sich bei ,Kerkwald‘ um ihren Bruder handelte.
Nick griff nach der versteckten Rotweinflasche, an der er die Fünfzehnjährige eine Viertelstunde zuvor kennengelernt hatte: „Noch ein Glas von diesem unverschämten …“, er kniff die Augen zusammen um deutlich zu machen, dass er das Etikett der Flasche ablas: „ … Salba-nello!? … Oho!“
Robin lächelte, griff zwei neue Plastikbecher vom Stapel und legte sie elegant vor die Flasche die Nick im selben Moment neigte: „Stilecht, aus dem Plastikbecher … “, scherzte der Sechzehnjährige. Nick war unglaublich. Robin kannte ihn seit einer Viertelstunde. Nick wirkte, als würde er über allem stehen. Nahm nichts von dem, was hier auf der Party passierte, ernst. Wirkte, als hätte er Momente wie diese schon hundertmal erlebt. Unantastbar.
Er war mit seiner Familie aus Hamburg hergezogen. Ganz neu im Dorf. Robin kannte ihn seit einer Viertelstunde. Und wollte so unbedingt mehr erfahren über diesen geheimnisvollen Jungen.
Zusammen mit ihren Weinbechern schlenderten die beiden wieder zurück auf die linke Seite der Tanzfläche, wobei Nick das lässige Schritttempo vorgab und den Eindruck machte, dass er sich nicht ganz sicher war, ob er die eingängige, simple Technomusik belächeln oder sich ihr hingeben sollte. Die beiden gesellten sich wieder zu Franzi, Davids Freundin Laura und dem restlichen Dutzend der geschlechtergemischten Truppe und spätestens, als ,The Bad Touch‘ von ,DJ Gollum‘ im Empire One-Remix, auch eines jener genredefinierenden Coversongs, einsetzte, gab sich Nick der Versuchung, zur Musik mitzuwippen, hin. Deutlicher johlte die ungleich raumgreifendere Gruppe um Dave zur selben Zeit, als sie Song erkannte und riss ihre Hände in die Luft. Davids schon fast wieder leerer Becher flog durch den Raum und prallte an irgendeiner Wand ab. Der Abend würde gut werden.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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