Ein Haus voller Jungs (7)
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Kapitel 7 – Feigling
* * *
Rusty hatte sich kurz nach dem Abendessen auf sein Zimmer verzogen, aber wir waren auch recht müde und wollten für den Strand in Topform sein. Damit es am Morgen nicht zu stressig wird, hatten wir beschlossen, zumindest vorläufig auf Windeln zu verzichten – abgesehen davon, dass man die ja auch entsorgen muss, und wir wollten Rusty im Moment definitiv nicht zumuten, dass er irgendwo über einen schwarzen Müllsack stolpern muss. Sammy schlief natürlich trotzdem mit Schnuller – darauf verzichtete er selten, wenn er nicht gerade bei Freunden übernachtete.
Als wir am nächsten Morgen von der Sonne geweckt wurden, war für mich schon eins klar – wir durften Rustys Geduld und Nerven nicht noch weiter strapazieren, und dass hieß, dass ich jedem Konflikt mit ihm schnell einen Riegel vorschieben musste.
* * *
Am Strand angekommen zogen Sammy und ich uns schnell aus, cremten uns ein und liefen zum Wasser. Rusty hielt an seiner vorherigen Aussage fest und blieb in Badehose, lief uns aber etwas unsicher hinterher. Mein Bruder und ich spielten in den ankommenden Wellen, während unser angezogener Begleiter sich immer wieder umsah. Unsere Väter hatten sich ihrerseits ausgezogen und sahen uns von der mitgebrachten Decke aus zu, waren aber außer Hörweite. Leider konnte man genau sehen, dass er sich so nicht wohl fühlte, aber ich wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte. Konnte man das überhaupt? Ich meine, Scham ist anerzogen, aber wenn man einmal gelernt hat, dass man sich fürs nackt sein schämen muss, konnte man das nicht einfach so wieder verlernen. In gewisser Weise ähnlich wie es für mich gewesen war, als ich wieder Windeln tragen sollte und sie nicht absichtlich benutzen konnte, weil einfach Blockaden im Kopf sind, die das ja eigentlich verhindern sollte.
„Komm schon Rusty, hab dich nicht so!“ rief Sammy und kniete sich in den Sand, um Handabdrücke zu hinterlassen.
„Vergiss es! Ich zieh mich hier nicht aus!“
„Wieso nicht?“
„Weil ich keinen Bock habe, dass mir Leute da hin gucken! Mir reichts, wenn ich euch und unsere Väter so sehen muss!“
„Ist doch nichts dabei! Hier sind ja fast alle nackt.“
„Die sind ja auch eindeutig nicht normal!“
Keine zehn Minuten und die Stimmung kippte schon. Nicht gut.
„Ich finde schon,“ fuhr Sammy fort, der das offenbar nicht zu merken schien. Manchmal war er wirklich blind für sowas, dafür, dass wir beide eigentlich sehr früh gelernt hatten, Gefahren im Verhalten anderer zu finden.
„Du findest es auch normal, Windeln zu tragen und dich wie ein Baby zu benehmen, du Freak!“
Rusty war in seinen Antworten zunehmend lauter geworden, aber nun hatte er eine Bombe fallen gelassen. Vor meinem inneren Auge sah ich schon, wie sich die zwei prügelten. Jetzt oder nie!
„Wenigstens bin ich kein Feigling!“ rief Sammy und richtete sich auf.
„Das nimmst du zurück!“ schrie Rusty und hob seine Hände. Bevor die zwei noch irgendwas dummes tun konnten, hechtete ich dazwischen und streckte je einen Arm zu ihnen aus.
„Das reicht jetzt!“ brüllte ich. Sammy blieb wie angewurzelt stehen, aber auch Rusty kam plötzlich zur Besinnung und sah mich nervös an.
„Ganz ehrlich Rusty, was ist für dich normal?“ fragte ich, immer noch bestimmt, aber nicht mehr so laut. Er dachte einige Momente nach, dann schüttelte er den Kopf.
„Ich weiß nicht,“ gab er zu. „Aber das hier ist es nicht. Und ehrlich gesagt, ihr seid es auch nicht.“
Ich atmete kurz durch. Ich durfte das jetzt nicht als Beleidigung auffassen. Ich konnte Rusty ja sogar verstehen, aber wenn ich jetzt etwas falsches sagte, würde die Sache komplett eskalieren. Und ich wollte auch nicht, dass Papa mit Thomas Probleme bekommt.
„Du hast Recht,“ sagte ich. „Wir sind nicht normal. Aber weißt du was? Ich finde, das ist OK. Sammy und ich hatten nie eine normale Familie wie du sie früher hattest. Deshalb haben wir den ein oder anderen Knacks. Aber dafür haben wir auch unseren Papa. Und ehrlich gesagt, finde ich normal sein langweilig.“
Ich wandte mich zu Sammy um.
„Ich möchte, dass du Rusty in Frieden lässt. Ihm ist das unangenehm, also mach es bitte nicht schlimmer, OK?“
Sammy nickte. Ich glaube, er hatte sogar zu viel Angst, um mir zu widersprechen – das war eine Seite von mir, die er aus gutem Grund nur selten zu Gesicht bekam. Darum würde ich mich gleich kümmern, erst drehte ich mich nochmal zu Rusty um.
„Sieh dich um, Rusty. Keiner schaut uns an und keiner schaut dich an. Weißt du warum? Weil du da unten nichts hast, was die nicht kennen. Die Leute hier sind nackt, weil sie gerne nackt sind und nicht, weil sie gerne spannern. Und selbst wenn jemand mal hinsieht, hier kennt dich eh keiner. Meinst du, denen bleibt der eine Junge mit rotbraunem Haar in Erinnerung? Wenn ja, dann nicht, weil du nackt oder angezogen warst.“
Rusty sagte eine Weile lang nichts. Dann trat er vor und streckte seine Hand zu meinem Bruder aus.
„Tut mir leid, Sammy. Das grade war gemein von mir.“
„Schon OK,“ sagte mein Bruder und schüttelte ihm die Hand. „Ich hätte einfach akzeptieren müssen, dass du nicht willst. Vergessen wir das, ok?“
„Einverstanden.“
Rusty wandte sich zu mir.
„Weißt du, zuerst habe ich gedacht, dass du dich auf Sammys Seite stellst. Allein schon, weil ihr Brüder seid. Aber du warst fair. Du bist in Ordnung.“
Er sah nochmal zu Sammy.
„Ihr beide seid in Ordnung,“ gab er zu.
„Du bist auch in Ordnung,“ sagte ich. „Und sieh’s mal so: Wenn das mit unseren Papas anhält, bist du ja sozusagen auch unser Bruder.“
Rusty seufzte.
„Hab ich das richtig verstanden, das Jona nicht euer richtiger Papa ist?“
„Jona ist unser richtiger Papa,“ sagte ich.
„Ich meine, leiblicher Vater,“ korrigierte sich unser semi-Stiefbruder. „Sorry, für mich ist es ja das Gleiche.“
Ich nickte.
„Jona ist nicht unser leiblicher Vater. Aber er ist unser Papa.“
Sammy nickte, und Rusty sah kurz nachdenklich auf den Boden, bevor er uns wieder in die Augen sah.
„Ich kanns nicht versprechen, aber ich will versuchen, euch zu verstehen. Ihr seid echt nett. Ich hab mich nur noch nicht dran gewöhnt, dass mein Papa jetzt mit einem Mann zusammen ist. Und…“
Rusty brach ab.
„Was?“ fragte Sammy.
„Naja, wenn unsere Väter wirklich zusammen bleiben, dann kann ich auch nicht mehr hoffen, dass sich meine Eltern doch wieder vertragen.“
„Das ergibt Sinn,“ gab ich zu.
„Ich hab mich auch noch nicht dran gewöhnt, dass dein Papa jetzt mit meinem zusammen ist,“ sagte Sammy. „Aber deswegen müssen wir nicht gemein zueinander sein.“
Rusty nickte. Für ein paar Momente herrschte Stille, aber er schien sich etwas zu überlegen.
„Ich muss nochmal schnell zu Papa, aber ich komme wieder. Und nicht umdrehen!“
Mit diesen Worten rannte Rusty los. Sammy und ich wandten uns dem Meer zu.
„Alles OK?“ fragte ich jetzt, wo ich kurz mit meinem Bruder alleine war. Sammy nickte.
„Ich wollte ihn echt nicht ärgern oder so,“ murmelte er.
„Ich weiß,“ sagte ich und wuselte ihm durchs Haar. „Aber es ist ja alles gut gegangen.“
Kurz darauf konnten wir Schritte im Sand hören. Dann stand Rusty neben uns – nur dieses Mal ohne Badehose.
„Und? Wie fühlt es sich an?“ fragte ich.
„Komisch,“ antwortete Rusty. „Aber irgendwie aufregend. Als würde ich was verbotenes tun.“
„Auf jeden Fall ist das sehr mutig von dir,“ sagte ich. „Aber ich wette, du hast bald vergessen, dass du gar nichts an hast.“
„Ich habe trotzdem das Gefühl, dass ich zu fett dafür bin.“
„Hör auf mit dem Quatsch,“ stellte ich klar. „Du bist nicht fett. Du hast ein bisschen mehr Bauch, aber fett ist was anderes. Selbst dick wäre schon übertrieben. Abgesehen davon lässt dich die Badehose auch nicht dünner aussehen.“
„Das stimmt wohl,“ murmelte Rusty. „Danke, Luka. Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass ich es einfach mache.“
„Gute Einstellung. Es geht einfach ums trauen.“
„Kommt schon!“ rief Sammy – er war auf einmal wieder im Wasser. „Spielen wir weiter!“
* * *
„Huhu!“ rief plötzlich eine weitere Kinderstimme. Wir drehten uns um und sahen ein junges Mädchen, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als Sammy.
„Wir spielen da drüben ein paar Spiele,“ erklärte sie und zeigte dabei auf eine Gruppe ein paar Meter weiter, offenbar mehrere Familien. „Wollt ihr mitspielen?“
„Was meint ihr?“ fragte ich und drehte mich zu meinen beiden Begleitern. Rusty drehte sich ebenfalls, sodass er seitlich zum Mädchen stand – etwas, was auch ihr nicht entging.
„Erstes Mal am FKK?“ fragte sie. Rusty nickte verlegen.
„Also ich wär dabei,“ meinte Sammy und zog damit die Aufmerksamkeit von Rusty, wofür dieser ihm sicher dankbar war.
„Rusty?“ fragte ich. Unser Begleiter nickte.
„Wenn du nicht möchtest, kann ich auch alleine gehen,“ sagte Sammy.
„Stimmt, ich würde dann bei dir bleiben. Ich fänds blöd, wenn du alleine spielen müsstest.“
„Schon OK,“ sagte Rusty. „Ich spiele mit.“
„Super!“ rief das Mädchen und lief zurück zu ihrer Gruppe, mit uns im Schlepptau.
„Bist du dir sicher, dass das OK für dich ist?“ flüsterte ich Rusty zu.
„Naja, ganz oder gar nicht, oder?“
Rusty und Sammy bildeten ein Team, während ich mich einem Jungen in meinem Alter anschloss. Unser Semi-Stiefbruder sagte nicht viel und sprach eigentlich nur mit Sammy, aber dafür bildeten die zwei ein erstaunlich schlagfertiges Team. Offenbar konzentrierte sich Rusty besonders darauf, möglichst gut zu spielen, um sich von der ungewohnten Situation abzulenken. Aber solange es funktionierte, war mir das völlig recht.
„Du Luka, darf ich dich was fragen?“ fragte mich mein Partner, Paul, nachdem wir gerade eine Runde Eierlaufen fertig gespielt hatten.
„Klar.“
„Ich blick noch nicht ganz, was mit euch dreien Sache ist. Du und Sammy seid ja Brüder, so viel sieht man, aber Rusty sieht euch nicht ähnlich, und für ihn ist FKK ja wohl völlig neu.“
„Richtig,“ sagte ich. Da hatte jemand gut aufgepasst. „Rusty ist unser semi-vielleicht-Stiefbruder,“ erklärte ich und setzte den letzten Teil dabei in große Gänsefüßchen. „Unsere Papas sitzen da drüben. Aber Sammy und ich kennen die beiden erst seit ein paar Tagen.“
Paul sah verlegen zu Boden.
„Achso. Sorry, ich wollte dir nicht zu nah treten.“
„Ach alles gut. Wir sind halt ein bunter Haufen, jetzt müssen wir nur noch etwas zueinander finden.“
„Da kann ich nicht wirklich mithalten,“ meinte Paul und kratzte sich am Kopf. „Meine Familie ist im Vergleich wohl so normal wie man nur sein kann.“
„Ihr macht FKK. Das macht nicht jeder. Und ist das nicht das tolle daran?“
„An was?“
„Das beim FKK alle willkommen sind?“
„Stimmt wohl. Deshalb hat meine Schwester euch ja auch dazugeholt.“
„Oh, das ist an mir vorbeigegangen. Also, wer hier mit wem verwandt und befreundet ist.“
Paul winkte ab.
„Kannst du ja nicht wissen. Aber auf die Idee, euch dazuzuholen, kam Vanessa ganz von selbst.“
Ich lächelte.
„Kluges Kind.“
„Oh ja. Aber du weißt ja sicher, wie kleine Geschwister sein können.“
„Naja, Sammy ist auch nicht immer pflegeleicht,“ gab ich zu. „Aber ich würde ihn für nichts auf der Welt hergeben.“
„Ich Vanni auch nicht.“
„Gut so,“ grinste ich. „Ich kenn einige, die ihre Geschwister nicht zu schätzen wissen. Und klar, man streitet sich auch mal, aber wenn es hart auf hart kommt, muss man aufeinander aufpassen.“
„Das wär schön. Aber so läuft es leider nicht immer.“
„Ich weiß… vielleicht wär es auch anders, wenn Sammy nicht das einzige Familienmitglied wäre, mit dem ich auch verwandt bin.“
„Oh… also hat euer Papa euch adoptiert?“
„Genau.“
„Achso… ich hab gedacht, euer Papa wäre auch geschieden.“
„Nein,“ sagte ich und sah kurz zu Boden. Ich wollte Paul ja jetzt nicht alles erzählen, beziehungsweise wollte er das meiste auch sicher nicht hören. Bevor einer von uns das Wort ergreifen könnte, riss uns eine Trillerpfeife aus unseren Gedanken. Das nächste Spiel stand an.
„Komm,“ sagte Paul und lächelte mich aufmunternd an. „Wir wollen es unseren ganzen, halben und semi-vielleicht-Stiefgeschwistern doch nicht zu einfach machen.“
Ich grinste.
„Soweit kommts noch.“
Autor: Löwenjunge (eingesandt via E-Mail)
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