Wind über Ammeroog
Windelgeschichten.org präsentiert: Wind über Ammeroog
Vorwort: Ich habe diese Geschichte bereits zu Ende geschrieben. Es steht alles fest, was passieren wird. Anders als bei anderen Geschichten habe ich daher nur sehr begrenzte Möglichkeiten, auf Wünsche und Anregungen einzugehen, es sei denn, ich schreibe noch einmal alles um, was ich eher nicht so gerne tun würde. Aber bitte haltet euch nicht mit Feedback jeder Art zurück; für mich ist das wertvoll, und vielleicht ändere ich ja doch noch etwas 😉
In jedem Fall habt ihr als Leser die Gewissheit, dass es ein Ende geben wird, und die Abstände zwischen den Veröffentlichungen der einzelnen Teile werden nicht ewig lang werden.
Ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen.
I will calm the sea
Baby don’t fear
I will stop the storm
Sleep, baby, sleep
The world revolves around you
My little innocent
Lullaby for Annette, Sparks
Vivienne hatte den Wind, der in den ersten Frühherbsttagen von Nordost über Ammeroog wehte, nicht vergessen. Natürlich nicht. Wie hätte sie das tun können! Sie wusste es noch ganz genau, auch nach all den Jahren: Wie in der Ferne über der Nordsee die dunklen Cumuluswolken langsam und drohend vorbeizogen, und wie der Wind übers Wasser raste und sich jeden einzelnen Menschen, der am Strand entlangging zu greifen schien; wie er auf der Haut zu spüren war, trotz der dicken Jacke und des dicken Pullovers, die ihr ihre Mutter damals angezogen hatte. Der Wind blies nicht in Böen, sondern in einem stetigen Zug, aber man gewöhnte sich nicht dennoch nicht an ihn. Vivienne wusste auch noch, wie unfassbar frisch dieser Wind roch, als wäre die Luft gerade erst geboren worden, irgendwo dort über der Nordsee, und als kam sie als allererstes zu ihr. Sie atmete sie als allererste. Der Geruch machte sie ganz wach und aufgeregt und sie konnte keinen schlechten Gedanken fassen, wenn sie ihn durch die Nase sog.
All das hatte sie nicht vergessen, aber dennoch war es etwas ganz anderes, ihn zu fühlen als sich an ihn zu erinnern. Sie hatte sich die ganze Zeit darauf gefreut, einmal wieder am Nordstrand entlang zu spazieren, und jetzt, wo sie es tat, fragte sie sich, warum sie es so lange nicht getan hatte. Es fühlte sich so wunderbar an wie damals. Wie lange ist das her gewesen? Vivienne überlegte. Sie waren definitiv öfters hier gewesen, und das über einen längeren Zeitraum.
Beim allerersten Mal muss sie drei gewesen sein, vielleicht sogar nur zwei. Sie hatte keine Erinnerungen mehr daran, aber es gab ein wunderschönes Bild, das sie im Laufe ihres Lebens so lange und so oft betrachtet hatte, dass es sich ihr für immer eingeprägt hatte. Sie saß in einem hölzernen Hochsitz, irgendwo in einem Ferienhaus mit einer freundlichen großen Glasfront, neben ihr ihr Vater mit diesem schreiend lächerlichen Vollbart, der damals zwar modisch war, den er sich dann aber zum Glück kurz darauf abrasiert hatte. Ihr Vater fütterte sie mit Brei aus einer Schüssel, und sie lächelte ihn selig an und er lächelte selig zurück und im Hintergrund auf der Couch saß Viviennes Mutter, die linke Hand ruhte auf ihrem prallen Bauch, in dem Anita steckte, und auch sie lächelte wie ihr Mann und ihre Tochter. Vivienne wünschte sich, dass sie sich an diesen Moment erinnern könnte, weil sie alle so glücklich aussahen, aber sie konnte es nicht. Es blieb ihr nur die Gewissheit, dass es passiert und sie dabei gewesen war.
Dafür erinnerte sich Vivienne sehr gut an den Urlaub, als sie sechzehn gewesen war. Sie erinnerte sich an vieles: An das Haus, das sie gemietet hatten, die braunen Fliesen in der Küche, den Flur im ersten Stock, die ulkige kleine Tür, die ein kinderlieber Maurer zwischen zwei Zimmern eingebaut hatte und die zu klein war, als dass ein Erwachsener hindurchgepasst hätte. Sie erinnerte sich an das Restaurant in Ammeroog, diesem kleinen Ort der fantasieloserweise genauso hieß wie die Insel, an die Eisdiele, und wie unglaublich gut ihr dort das Stracciatella-Eis geschmeckt hatte, und vor allem erinnerte sie sich an dieses eine Mal, es muss am vorletzten Tag gewesen sein, als sie auf dem zurück vom Ort waren. Ihr Haus lag in einer dieser Siedlungen, wo sich Ferienhaus an Ferienhaus reihte, und es war bestimmt auch kein langer Weg, bestimmt nicht einmal zwei Kilometer, aber als sie den Strand erreichten, über den sie gehen wollten, überkam Vivienne plötzlich eine große Unlust. Der Wind war damals besonders stark, daran erinnerte sie sich noch, ein wenig so wie jetzt. Ja, jetzt ist er auch gerade ziemlich stark, aber damals war er noch etwas stärker und sie hatte nur ihre dünne Jeans getragen und den Strickpullover, der in einem Haus mollig warm hielt, aber durch den der Wind hier am Strand gnadenlos hindurch pfiff. Es war fürchterlich unangenehm. „Papa“, quengelte Vivienne, „mir ist kalt.“
Er drehte sich um und warf ihr einen aufmunternden Blick zu. „Wir sind gleich wieder zu Hause. Da kannst du dich aufwärmen.“
Vivienne wusste nicht genau warum, vielleicht war es ein später Ausschlag der Pubertät, sie war schon immer etwas spät mit ihrer Entwicklung gewesen, aber aus irgendeinem Grund veranlasste sie dieser vernünftige Satz ihres Vaters zu einer kindischen Reaktion. Sie blieb einfach stehen. „Ich will nicht mehr weitergehen.“
Anita hatte mit den Augen gerollt, aber ihr Vater war ruhig geblieben. „Vivchen, wir müssen doch nicht weit gehen. Du kennst doch den Weg.“
„Ich will nicht weitergehen. Mir ist kalt.“
„Willst du meine Jacke haben?“
„Nein. Dann ist dir kalt.“ Dieser Einwand war aufrichtig. Sie wollte nicht, dass ihr Vater fror.
„Was sollen wir denn dann machen?“ Er wirkte nicht ratlos, als er das sagte. Sein Blick verriet ihr, dass er dasselbe dachte wie sie.
„Ich will, dass du mich trägst.“
„Oh, Vivi!“ rief Anita genervt, aber sie war irgendwo im Hintergrund.
„Bist du nicht etwas alt dafür?“ fragte ihr Vater.
„Nein.“ sagte sie, und in seinem Gesicht zeichnete sich dasselbe verklärte Lächeln ab wie damals, als sie in einem Hochsitz gesessen und er sie gefüttert hatte. Er zog sich den Reißverschluss seiner Jacke auf. „Na, dann komm.“
Sie streckte die Arme nach ihm aus, er griff sie unter den Achseln und hob sie zu sich hoch. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und ihre Beine um sein Becken, er legte die Finger zusammen und formte mit den Händen einen Sitz, mit dem er ihren Po stützte. „Geht es so?“ fragte er und sie machte ein bestätigendes Geräusch. Dann gingen sie los. Der Körper ihres Vaters war warm, hier wehte kein Wind. Früher hätte sie ihren Kopf gegen seine Brust gepresst, aber jetzt war sie größer und ragte über seinen Oberkörper hinaus, also legte sie ihn auf der linken Schulter ab. Die Seite war zwar dem Wind zugewandt, aber auch der See, und es war ein wunderschönes Gefühl, auf das Meer zu blicken während die Schritte ihres Vaters sie schaukelten. Neben sich hörte sie wie Anita über sie lachte und etwas sagte wie dass Vivi ihre drei Jahre ältere Schwester war, nicht ihre zehn Jahre jüngere, und sie machte noch ein oder zwei dieser Scherze, aber Vivienne hörte gar nicht richtig hin. Irgendwann wurde Anita dann eher maulig und sagte, dass es jetzt aber reiche und es ihr peinlich sei, dass ihre ältere Schwester noch so getragen werde. Vivienne hatte für einen Moment befürchtet, dass ihr Vater sie daraufhin absetzen würde, aber stattdessen ermahnte er Anita, dass sie nun bitte mit dem Rummaulen aufhören sollte, es würde ja nicht lange dauern und außerdem wären ja kaum Leute am Strand. Letzteres war Ansichtssache. Vivienne hielt nicht nach Menschen Ausschau, aber hin und wieder sah sie, wie jemand ihren Vater zu seiner Linken passierte. Kaum einer nahm Notiz von dem Mann, der seine Tochter trug, die längst alt genug war um selber zu laufen, aber einmal kamen sie einem älteren Ehepaar entgegen, das zu ihnen hinübersah und sie freundlich anlächelte. Vivienne tat das gut und sie hätte fast zurückgelächelt, aber sie war zu gefangen in dem Moment, und starrte einfach nur in die Ferne, wo sich Nordsee und Himmel trafen, und wünschte sich, dass ihr Vater unrecht damit haben würde, dass sie bald da wären. Sie wollte noch lange so getragen werden.
Wie viel Zeit sie letztlich zum Ferienhaus gebraucht hatten, wusste sie nicht, vermutlich waren es zwanzig bis dreißig Minuten gewesen. „Wir sind da. Jetzt kannst du wieder alleine laufen.“ sagte ihr Vater und setzte sie ab.
Ihre Beine waren etwas eingeschlafen und kribbelten, als sie den sandigen Boden unter sich spürten. „Danke, Papa.“ sagte Vivienne und lächelte, und ihr Vater erwiderte sein Lächeln. Sie ging hinein und begrüßte, noch ganz in ihrer verklärten, friedlichen Gemütslage ihre Mutter, die die drei schon von weitem durch das Küchenfenster hatte kommen sehen. Ihre Mutter erwiderte den Gruß aber nur knapp und ging gleich zur Tür hinaus, wo noch der Vater war. Als Vivienne zur Küchenspüle ging, um warmes Wasser über die kalten Finger laufen zu lassen, sah sie durch das Fenster, wie ihre Mutter ernst mit ihrem Vater redete. Worte hörte sie keine, nur schwach den Wind. Ihr Vater befand sich unzweifelhaft in derselben Gemütslage wie Vivienne, das konnte sie an seinem Gesicht ablesen, und sie fühlte sich mit ihm verbunden. Aber die unhörbaren Worte ihrer Mutter blieben nicht ohne Wirkung, und in seinen Ausdruck mischten sich Trauer und Einsicht. Vivienne dreht schnell den Hahn zu und lief in ihr Zimmer. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern mitbekamen, dass sie beobachtet wurden, und sie wollte ihren Vater nicht so sehen.
Später am Abend, zwischen dem Abendessen und dem Moment, wo sie noch gemeinsam etwas spielen wollten, nahm ihre Mutter Vivienne beiseite und sagte ihr: „Du bist kein kleines Kind mehr und dein Vater nicht mehr ganz jung. Du solltest dich nicht mehr von ihm tragen lassen. Das ist schlecht für seinen Rücken.“
Vivienne nickte. Das Argument mit dem Rücken verfing bei ihr. Sie wollte nicht, dass ihr Vater Schmerzen wegen ihr Schmerzen leiden sollte, aber sie verstand schon damals, dass mehr hinter dieser Sache steckte, und ihre Mutter dieses Verhalten der beiden für unangebracht hielt.
Der nächste Tag war der letzte, den sie in dem Sommer auf Ammeroog verbrachten, und es gab einen Moment, da gingen sie beide, Vivienne und ihr Vater, wieder für einen Moment gemeinsam am Strand entlang. Es war ein viel kürzerer Weg als beim Mal zuvor, nicht mal vierhundert Meter, sie wusste nicht mehr, von wo nach wo. Sie wusste nur noch, dass ihre Mutter und ihre Schwester nicht in der Nähe waren, und dass sie sich nicht getraut hatte, ihren Vater zu fragen, ob er sie nicht doch noch einmal tragen wollte, und wie sie gespürt hatte, dass er es gerne getan hätte, aber sich ebenso zurückhielt wie sie. Stattdessen gingen sie nebeneinander her, führten ein oberflächliches, etwas lustiges, etwas steifes Gespräch, kamen an, und der Moment war vergangen.
Am nächsten Tag fuhren sie ab, im nächsten Sommer kamen sie nicht wieder, im übernächsten auch nicht und dann war Vivienne zu alt, um mit ihren Eltern in den Urlaub zu fahren, und Ammeroog wurde Teil ihrer Vergangenheit.
Vivienne blieb stehen. Sie war an dem Abschnitt des Strandes angekommen, an dem er von einer ausgeprägten sichelförmigen Vertiefung, die sich gut fünfzig Meter in das Inselinnere erstreckte, in zwei Teile getrennt wurde. Sie war etwas zu tief um durchwatet werden zu können, und man musste den durch sie beschriebenen Bogen gehen, wenn man in den Ort wollte oder noch weiter, bis ganz zur Westspitze, wo das Wahrzeichen der Insel, der weiß-rote Leuchtturm stand. Aber weder der Ort noch der Turm waren ihr Ziel.
Vivienne hatte genau diesen Ort angesteuert. Ammeroog hatte keine nennenswerte natürliche Erhebung, die Dünen erreichten kaum mehr als eine Höhe von fünf Metern. Somit war der Haken am östlichen Rand der sichelartigen Vertiefung der Punkt, der die beste Aussicht bot. Eine Tatsache, die kaum einem Touristen bewusst war. Die meisten pilgerten zu dem völlig überbewerteten Leuchtturm, zahlten unangemessene neun Euro Eintritt und sahen dann irgendwo in der Ferne das Festland und die Ostspitze der Nachbarinsel Jemgumeroog, aber beides war wenig spektakulär. Vivienne hingegen hatte einen prächtige Aussicht auf das Meer, nicht auf das Wattenmeer im Süden, sondern auf das richtige Meer, die Nordsee, über deren schwarzen Wasser Möwen schrien. Zudem konnte sie von hier auch einen guten Teil des Ortes sehen, einige der etwas außerhalb gelegenen Häuser, in denen keine Touristen sondern Einheimische wohnten, und die kleiner, urtümlicher, friesischer wirkten.
Vivienne freute sich, als sich hinter der Landzunge im Westen des Dorfes die Fähre zum Festland hervorschob. Der Fähranleger lag im Norden der Insel und war der offenen See zugewandt, eine Kuriosität, die dafür sorgte, dass die Fahrzeit zum Festland fast doppelt so lang war wie zu einer der anderen Inseln. Es hatte Versuche gegeben, einen Anleger im Süden zu betreiben, aber der erste war binnen weniger Jahre verlandet, bei dem zweiten war die Fahrrinne immer wieder verschlammt und einmal in den Sechzigern, kurz vor Weihnachten, blieb spektakulär eine Fähre im Watt über mehrere Tage stecken. Daraufhin baute man entnervt den Anleger an der gezeitenfreien Nordküste und seitdem gab es keine Ärgernisse mehr. Ammeroog war somit zwar bedeutend weniger leicht zu erreichen als die Nachbarinseln, aber dies verlieht der Insel ein nicht unangenehmes exklusives Flair.
Oben auf der Fähre war das Sonnendeck, und normalerweise tummelten sich dort die meisten Fährgäste, standen an der Reling und warfen einen letzten Blick zurück auf die Insel. Einige winkten, und Vivienne hätte gerne zurück gewinkt, denn es hätte sie daran erinnert, dass nicht sie es war, die die Insel verließ. Heute aber machte ihnen der kräftige Seegang einen Strich durch die Rechnung. Das Sonnendeck war merklich weniger gefüllt als sonst. Von den wenigen, die es aufgesucht hatten, hatten die meisten auf einer der langen roten Plastikbänke Platz genommen, und diejenigen, die an der Reling standen, umklammerten sie mit beiden Händen und schienen gar nicht daran zu denken, den auf der Insel verbliebenen zuzuwinken. Die Wellen krachten gegen den Bug, und die Fähre hob und senkte sich bedenklich, aber Vivienne beruhigte sich, dass bei Schiffen der Wellengang immer gefährlicher aussah, als er es dann letztlich war.
Ihr Handy klingelte und sie zuckte vor Schreck zusammen. Sie erschrak nicht nur, weil sie gerade in Gedanken versunken gewesen war, und auch nicht, weil der Ton sehr laut eingestellt war, sondern vor allem deswegen, weil sie gar nicht damit gerechnet hatte, überhaupt Empfang zu haben. Im Ort hatte hatte es noch welchen gegeben, aber kaum, dass sie sich nach ihrer Ankunft heute mittag von ihm entfernt und auf den Weg zum Ferienhaus gemacht hatte, schon blassten die Balken auf ihrem Gerät aus. Jetzt waren zumindest zwei von ihnen wieder da. Sie wurde angerufen.
Es war Anita. Diesen Anruf musste Vivienne annehmen, es könnte etwas Wichtiges sein. Sie wischte das grüne Hörersymbol nach oben. „Hallo, Ani.“
Die Stimme ihrer Schwester am anderen Ende klang verzerrt. „Vivi? Gottseidank, ich versuche schon den ganzen Nachmittag dich zu erreichen … Vivi? Hallo? Bist du da?“
„Ja! Ja, ich bin da! Kannst du mich verstehen?“
„Ziemlich schlecht. Bist du gerade draußen? Kannst du eben irgendwo reingehen?“
Vivienne lachte kurz. „Tut mir leid, aber im Umkreis von einem Kilometer ist kein Haus zu sehen. Ich bin am Strand.“
„Am Strand? Hast du denn nicht den Wetterbericht gehört?“
„Wie denn? Im Ferienhaus bin ich in einem totalen Funkloch. Da gibt es kein Netz, und bei diesem Wetter erst recht nicht.“
Anitas Stimme wurde lauter. Vivienne kannte das. Anita machte sich schnell einen Kopf wegen irgendetwas und wurde dann ungehalten, wenn sie sich nicht ernst genommen fühlte. Durch Viviennes gelassene Antwort musste sie sich provoziert fühlen.
„Aber Radio wird doch funktionieren, oder?“
„Wer hört denn heute noch Radio?“
Anita ächzte genervt. „Vivi, ich werde jetzt nicht mit dir darüber diskutieren. Der Deutsche Wetterdienst hat für die gesamte Nordseeküste eine Unwetterwarnung ausgegeben!“
Vivienne zuckte mit den Schultern, auch wenn Anita das nicht sehen konnte. „Und? Das passiert doch andauernd! Ich will ja auch nichts Wildes unternehmen. Ich gehe gleich zurück ins Haus und verbringe dann den Abend dort.“
„Dorthin, wo du keinen Handy-Empfang hast.“
„Ja.“
„Und wo du ganz alleine bist.“
„Ja.“ Dieses ‚Ja‘ ging Vivienne nicht mehr ganz so sicher über die Lippen. Bislang hatte sie es eher als Vorzug betrachtet, dass sich in den umliegenden Häusern an diesem Wochenende niemand eingefunden hatte, aber ihr dämmerte, dass das nicht unbedingt nur von Vorteil sein musste.
„Ich fühle mich nicht wohl dabei, dich da ganz alleine zu wissen“, sagte Anita, „du kannst dir doch bestimmt noch ein Zimmer im Ort nehmen.“
„Nein, kann ich nicht. Hier vermieten die alle ihre Unterkünfte nur für mehrere Tage. Da kriege ich nichts für eine Nacht, und spontan schon gar nicht.“ Vivienne war sich nicht sicher, ob das so richtig war. Wenn sie bei einem Hotel im Ort anfragen und berichten würde, dass sie da alleine in der Siedlung im Osten bei der Scheuermanndüne übernachtete, hätte sie bestimmt gute Chancen, Mitleid zu erwecken. Der springende Punkt war aber, dass sie gar nicht woanders übernachten wollte. Sie wollte im Haus bleiben.
Anita ließ sich zum Glück damit abspeisen. „Dann nimm halt die Fähre zurück nach Harnumersiel und übernachte dort.“
„Zu spät. Die letzte Fähre hat vor fünf Minuten abgelegt.“ Vivienne war froh, dass das die unumstößliche Wahrheit war.
Anita seufzte am anderen Ende der Leitung. „Du bist ein Dickkopf, das weißt du, oder?“ Ihre Stimme klang immer noch besorgt, aber nicht mehr energisch. Sie gab sich geschlagen.
Vivienne lächelte. „Weißt du, wie oft du mir das schon gesagt hast?“
„Anscheinend noch längst nicht oft genug.“ Vivienne konnte hören, dass Anita am anderen Ende auch lächelte.
„Es wird schon alles gut gehen. Die Häuser stehen schon vierzig Jahre, da werden sie noch eine weitere Nacht überdauern.“
Anita atmete tief aus. „Ich schätze, du hast recht. Es ist nur … weißt du … wir denken hier alle viel an dich. Wir hätten gerne, dass du bei uns bist. Ich fühle mich nicht gut dabei, dass du irgendwo alleine da draußen bist.“
„Ich dachte, du findest es gut, dass ich mich mal erhole.“
„Ja! Dass du dich erholst! Dass du mal für zwei Wochen, am besten mehr, irgendwo hin fährst wo es warm ist, du Massagen bekommst und keinen Finger rühren musst. Stattdessen fährst du für zwei Nächte auf eine nasskalte Nordseeinsel, der der schwerste Sturm des Jahres bevorsteht.“
„Wenn ich zwei Wochen die Hände stillhalten muss, drehe ich durch. Das weißt du auch.“
„Vivi, dein Körper hat dir ein deutliches Warnsignal gegeben! Du hast du dich zu sehr gestresst. Du musst dir Ruhe gönnen.“
Warnsignal. Warum dachten alle, dass es ein Warnsignal gewesen war? Warum dachten alle, dass sie besser bescheid wüssten als Vivienne, was mit ihrem Körper los war? Was er ihr sagen wollte? Aber obwohl Anitas Sätze ihr gegen den Strich gingen, dachte Vivienne keinen Augenblick daran, jetzt einen Streit zu beginnen. Wenn Anita wüsste, was wirklich los war, würde sie alles daran setzen, Vivienne sofort von der Insel zu holen. Es war besser, sie in dem Glauben zu lassen, dass ein paar Tage Erholung alles wieder ins Lot bringen würden. Zum Glück hatte sie ihr mit ihrem letzten Satz eine Steilvorlage gegeben. „Ich will mir ja Ruhe gönnen. Du rufst an und sagst, dass ich nach Hause fahren soll.“
Anita reagierte alarmiert. wie erwartet. „Ach nein! So meine ich das doch nicht. Ich bin ja froh, wenn du dich mal schonst, auch wenn es nur so kurz ist. Bitte, bitte, tu es.“
„Das will ich.“
„Dann ist gut.“
Vivienne atmete gelöst auf. Das Thema war durch. Sie konnten zum nächsten übergehen. „Wie läuft es mit den Kindern? Machen sie auch nicht zu viel Stress?“
„Mit Nina läuft alles wunderbar. Die beschäftigt sich selbst und liest und malt … Gerade hat sie mir in der Küche geholfen, das ging auch super.“
„Und Rieke?“
Anita seufzte. „Nun … du, ich will nicht meckern. Rieke ist in einem schwierigen Alter und ich kann ihr hier nicht viel bieten. Sie sagt immer wieder, dass es unfair ist, dass sie bei mir bleiben muss und Stella bei ihrem Freund übernachten darf.“
„Das ist eben der Unterschied, ob man sechzehn oder neunzehn ist. Das habe ich Rieke auch schon erklärt. Mehr als einmal.“
„Und ich auch. Aber sie ist trotzdem eingeschnappt. Aber bitte mach dir keine Sorgen, im Grunde läuft es gut. Sie sitzt mit ihrem Handy in der Ecke und schreibt sich mit ihren Freundinnen Nachrichten. Und vorhin hat sie auch tatsächlich mit uns zusammen Monopoly gespielt. Ich glaube, dass es ihr sogar Spaß gemacht hatte.“
„Das klingt doch ganz gut.“
„Nicht wahr?“
„Anita?“
„Ja?“
„Ich möchte mich nochmal ganz herzlich bei dir bedanken, dass du die Kinder genommen hast. Du hast was gut bei mir.“
Anita lachte. „Ach, Vivi, das ist doch selbstverständlich. Wofür hat man eine Schwester? Das ist doch ganz normal, dass man mal eine Auszeit braucht, und … warte, einen Moment.“
Vivienne hörte, wie Anita den Hörer etwas beiseite hielt, um mit jemandem zu reden. „Ich spreche gerade mit deiner Mutter.“ glaubte Vivienne auszumachen, dann redete Anita wieder direkt in den Hörer: „Du, deine Tochter ist gerade hier. Möchtest du mal kurz mit ihr reden?“
„Natürlich. Gerne.“ Anita hatte verpasst zu sagen, welche Tochter denn gemeint war, aber das war Vivienne in diesem Moment egal. Es ist seit Stellas Geburt vor über neunzehn Jahren selten vorgekommen, dass sie einmal einen Tag von allen drei Kindern getrennt war, und sie vermisste jede von ihnen.
Das Telefon wurde weitergereicht. Im nächsten Moment hörte sie die hohe, süße, liebe Stimme von Nina, ihrer jüngsten. „Hallo Mama?“
„Hallo mein Spatz. Wie geht es dir?“
„Ganz toll.“
„Hast du Spaß bei Tante Anita?“
„Ja, ganz viel. Wir haben Muffins gebacken. Und davor haben wir Monopoly gespielt.“
„Und hat Rieke auch mitgespielt?“
„Ja.“
„Das ist schön. Und Dennis und Frank auch?“
„Ja.“
„Spielst du auch sonst manchmal mit den beiden?“
„Nee.“ Nina antwortete in einem Ton, als ob das eine sehr dumme Frage sei. Vivienne schmunzelte. Sie und ihre Schwester hatten es zweimal geschafft, etwa zur selben Zeit schwanger zu werden, und sie hatten sich schon gefreut, dass die Cousins Spielkameraden werden würden, aber Vivienne hatte nur Mädchen zur Welt gebracht und Anita nur Jungen, und die beiden Paare von Altersgenossen konnten bis heute nicht recht etwas miteinander anfangen.
„Ich vermisse dich, Mama.“ sagte Nina.
„Ich dich auch, mein Schatz.“
„Wann kommst du wieder zurück?“
„Übermorgen geht meine Fähre.“
„Was machst du denn da überhaupt so alleine?“
„Ich muss mich mal ein wenig ausruhen.“
„Wie denn?“
Vivienne wurde unruhig. Sie wollte ihren zehn Jahre alten Engel nicht anlügen, aber sie konnte unmöglich die Wahrheit sagen.
„Ich – du weißt doch, ich bin in dem Haus von meiner Arbeitskollegin. Da ruhe ich mich aus.“
„Aber was machst du da?“
„Nichts.“ Jetzt hatte Vivienne doch gelogen.
„Wie nichts?“ fragte Nina.
Ehe Vivienne antworten konnte, hörte sie im Hintergrund schwach Anitas Stimme. Sie sagte etwas, dass Nina ihre Mutter doch nicht so löchern sollte, Erwachsene brauchten halt manchmal etwas Ruhe. Unter anderem Umständen hätte Vivienne es nicht gefallen, dass Anita sich ungefragt in ein Gespräch einmischte und obendrein auch noch ihrer Tochter den Mund verbot, aber heute kam ihr das gerade recht.
„Also gut, mein Schatz“, sagte Vivienne, „ich muss dann jetzt wieder zurück. Der Wind wird hier stärker, und deine Tante macht sich Sorgen, dass es heute noch Sturm gibt.“ Eine überaus berechtigte Sorge. Der Wind hatte in den letzten Minuten zugenommen, und die Wellen, die an den Strand gespült wurden, wurden höher, unregelmäßiger, unruhiger.
„Also gut.“ sagte Nina, ein wenig enttäuscht. Sie war wirklich zu süß. „Bis bald. Ich hab dich lieb, Mami.“
„Ich hab dich auch lieb, mein Spatz.“
Sie legte auf. Die Fähre hatte sich durch die Wellen bis zum Westende gekämpft und würde gleich die Enge zwischen Ammeroog und Jemgumeroog passieren. Dann wäre sie im Wattenmeer. Dort würde die See etwas ruhiger sein und alle Passagiere würden wohlbehalten zu Hause ankommen. Es war gut.
Vivienne drehte sich um und kehrte der Landspitze den Rücken, und damit so gut wie allem, was auf Ammeroog von Menschenhand errichtet war: Den Ort, den Turm, und fast allen Ferienhäusern. Vor ihr lag der Osten der Insel. Er war etwas mehr als doppelt so groß wie der Westteil, aber dennoch bot er fast nichts: Fast das gesamte Areal war als Naturschutzgebiet ausgewiesen, in dem See- und Zugvögel brüteten und an dessen Stränden Seehundgruppen ruhten. Und dann, weit weg von allem anderen, mitten in den Dünen, standen fünf verlorene Ferienhäuser. Vier von ihnen blieben heute leer, in dem fünften übernächtigte eine einzige Person. Vivienne.
Sie ging los.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Liest sich gut, der Anfang. Wirft einige Fragen auf, nicht nur, wer was wie und warum mit Windeln zu tun hat. Ich glaube, ich selbst kann mir von deinem sehr detaillierten Schreibstil noch etwas abschauen 🙂
Hallo,
auch mir gefällt der Schreibstil
obwohl ich den Beginn auch etwas rätselhaft finde – aber oft macht genau das eine gute Geschichte
gerade aus und vielleicht soll ja die Episode aus Vivis Jugend uns den Hinweis geben, daß Sie später weiter die Protagenjstin sein wird,
oder bekommt Sie in der Sturm- Nacht überraschend Besuch von einem Daddy?
Viele offene Fragen, absr das ist mir 1000 mal lieber,
als wenn man schon nach zwei Sätzen weiß, wer zum Baby gezwungen wird.!
Ich freue mich auf weitere Teile von Dir !
Weiter so……?☘️?☘️
Vielen Dank für eure Kommentare. Freut mich, dass sie euch gefällt, und es ist interessant, eure Vermutungen zu lesen. Im Lauf der Geschichte gibt es Antworten auf die Fragen, die hier aufgeworfen werden; ich hoffe, sie stellen euch zufrieden. Und Windeln kommen natürlich auch vor – wenn auch nicht direkt im nächsten Teil.
Diese Geschichte fand ich recht interessant. Der kurze Einblick in Ihre Kindheit und Jugend, kurz eingeworfen aber nicht der Kern. Ich vermute ja, das Vivien da schon einen Hang zum kleinsein entwickelt hat, und es nun nochmal erleben möchte. Womöglich mit einer oder zwei fremden Personen, die Sie nochmal als Kind anbehmen? Bin auf den nächsten Teil gespannt.