Wind über Ammeroog (4)
Windelgeschichten.org präsentiert: Wind über Ammeroog (4)
Was bisher geschah: Vivienne macht auf der Nordseeinsel Ammeroog Urlaub in einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung. Sie hat nicht nur das Haus, sondern die ganze Siedlung für sich allein. Auf Viviennes drei Kinder, Nina, Rieke und Stella, passt ihre Schwester Anita auf. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt sie, dass eine Sturmflut bevorsteht. Auf dem Weg zurück zum Ferienhaus kommt ihr ein Mann entgegen, mit dem sie einen verstohlenen Blick tauscht. Im Haus tut Vivienne etwas, das sie noch nie getan hat: Sie zieht sich eine Windel an, und sie hat noch weitere ungewöhnliche Dinge vor …
Im Badezimmer setzte die Trommel des Wäschetrockners zu einer weiteren Drehung an, ein wenig anklagend, als wollte sie sagen, dass sie schon lange durch sei und darauf warte, geleert zu werden. Dabei war das, was Vivienne vorhin, ehe sie auf den Strandspaziergang ging, in sie geladen hatte, nicht einmal feucht gewesen. Sie hatte es in den Trockner getan, damit es warm wäre, wenn sie es wieder herausholte, und jetzt war der Zeitpunkt dafür gekommen.
Vivienne drückte den Hauptschalter und dann den Öffner. Mit einem mechanischen Klacken sprang die Aluminiumtür auf. Vivienne griff hinein. Sie spürte sofort, dass ihr Plan funktioniert hatte. Es war warm, noch etwas wärmer als sie erwartet hatte. Als Vivienne klein war, hatte ihre Mutter manchmal ihre und Anitas Schlafanzüge gebügelt und ihre Töchter dann unverzüglich hineingesteckt. Gerade an kalten Wintertagen war das wunderbar gewesen, und Vivienne war dann immer ganz schnell eingeschlafen.
Sie hatte das lange vergessen. Erst jetzt war ihr diese Möglichkeit wieder eingefallen. Genau zum richtigen Zeitpunkt.
Mehr noch als die Temperatur erfreute Vivienne die Flauschigkeit des Stoffes. Auf dem Etikett wurde davor gewarnt, dass man das Stück lieber nicht in den Trockner stecken sollte, aber sie war über die Warnung hinweggegangen; ohne Feuchtigkeit sollte keine Gefahr bestehen, dass es einlief oder spröde wurde. Und so war es auch. Es hatte nichts von seiner Weichheit und seinem Glanz verloren.
Sie zog es heraus, stand auf und entfaltete es, suchte, wo oben und unten war, und hielt es schließlich mit ausgestreckten Armen vor sich.
Der Anzug war vornehmlich in einem dunklen Braun gehalten. Würde es sich um ein anderes Kleidungsstück handeln, hätte sich Vivienne von ihm ferngehalten, da die Farbe ihrem Typ alles andere als schmeichelte. Heute war es richtig, er sollte ihr gar nicht schmeicheln. Das Braun nahm eine riesige Fläche ein, über die ganze Vorderfront bis hinunter zum Schritt, der knapp unter Kniehöhe endete. Von dort bis zum Kragen war der Anzug offen und wurde nur durch einige in großen aber regelmäßigen Abständen gesetzten Knöpfe zusammengehalten. Auf der Rückseite liefen weiße, schwarze und braune Längsstreifen vom Hals bis zum Gesäß, wo ein buschiger, hellbrauner Schwanz saß, der bis hin zum Boden reichte. Am oberen Ende lief das Kostüm in eine weite Kapuze aus, auf deren Spitze aus Stoffelementen zwei freundliche Augen, eine Stupsnase und zwei ausgeprägte Schneidezähne aufgenäht waren.
Es war ein Eichhörnchenkostüm. Für Erwachsene.
In bestimmter Hinsicht war es vollkommen bescheuert; nicht nur, dass sie es mitgebracht hatte, sondern auch, dass sie es überhaupt erst besorgt hatte. Es war etwas, dass die Welt nicht brauchte, für Junggesellenabschiede oder für Menschen, die zu faul waren, sich ordentlich zu verkleiden. Nicht für gestandene Frauen wie sie, alleine in einer Ferienwohnung. Aber trotzdem spürte sie ein vorfreudiges Kribbeln, es endlich anzuziehen.
Jetzt, wo die Maschine ausgestellt war, war der Wind wieder das einzige Hintergrundgeräusch. Ihn zu hören, erinnerte Vivienne daran, wie kalt ihr draußen geworden war, und fast begann sie wieder zittern. Schnell öffnete sie die Knopfleiste auf und trat in das Kostüm. Zunächst umgab die wunderbare, kuschelige Wärme nur ihre Füße, aber als sie das Kostüm an sich hochzog, spürte sie sie wohlig entlang ihrer Beine und ihres Rückens. Als sie die vorderen Knöpfe schloss, war es, als ob viele kleine Arme von liebenden Menschen sie umschlossen. Zum Schluss zog sie sich die Kapuze über. Ihre Kopfhaut fühlte sich an wie sanft massiert, und um ihre Ohren lag nun ein weicher Flausch. Der Wind war fern. Es hatte so funktioniert, wie sie es sich gewünscht hatte.
Als sie sich bewegte, fühlte es sich eigenartig an, als ob sie durch ein Bad von Wattebäuschen ging. ‚Wieso gab es so etwas eigentlich nicht?‘, dachte sie, ‚wieso gibt es nur diese Bäder mit den billigen Plastikbällen? Warum kein Bad aus Wattebällen? Das hätte mir als Kind viel mehr Spaß gemacht.‘
Als sie wieder vor dem Spiegel im Elternschlafzimmer zu stehen kam, konnte sie sich ein Kichern nicht verkneifen. Mit all den liebevollen und süßen Details hätte jemand anderes in dem Kostüm mit Sicherheit niedlich ausgesehen, ein Mädchen oder eine jüngere Frau. Vivienne hingegen sah darin einfach nur absolut lächerlich aus.
Und sie genoss es.
Was zur Hölle war das, was ihr so eine Freude bereitete? Sie konnte es nicht sagen.
Es war ganz banal gewesen, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Es war gute drei Jahre her, da hatte eine Freundin von Nina, Steffi, Geburtstag gefeiert. Vivienne hatte mit drei anderen Müttern in der Küche zusammen gesessen und bei Kaffee und Kuchen über Gott, die Welt und ihre Kinder im Speziellen geplaudert, als die Zimmertür aufging. Die Mädchen – Jungen waren keine eingeladen – strömten herein, prustend und kichernd – aber es waren nicht nur die Mädchen. Mitten unter ihnen war ein Dinosaurier, ein kleiner, rosa Tyrannosaurier, mit einem großen gelbgrünen Bauch und ebenso gelbgrünen Rückenplatten aus Filz. Das Maul war sperrangelweit offen, und zwischen den weißen Stoffdreiecken, die die Zähne sein sollten, steckte Steffis strahlendes Gesicht. Steffi war kein besonders schönes Kind. Sie trug eine sehr große Brille, und zunächst dachte man, dass sie vielleicht hübsch wäre, wenn sie dieses Ungetüm von ihrer Nase nehmen würde, aber wenn sie sie dann mal abnahm, kam dahinter ein noch weniger ansehnliches Pfannkuchengesicht mit kleinen Äuglein zum Vorschein. Jetzt grinste dieses Pfannkuchengesicht aus dem Dinosauriermaul heraus, während um es herum ihre Freundinnen sprangen und „Guckt mal, guckt mal!“ riefen. Die Mütter standen auf, klatschten in die Hände und lachten, riefen Dinge wie „Oh, das ist aber ein gefährlicher Dinosaurier.“ oder „Da muss man ja Angst haben!“ oder „Das ist ja süß!“ Vivienne stand gemeinsam mit den anderen Müttern auf und sagte wohl auch etwas in der Art wie die anderen, aber als sie Steffi gesehen hatte, hatte es etwas in ihr ausgelöst, dass sie verwirrte. Es berührte sie in einer Weise, in der man nicht auf einem Kindergeburtstag berührt werden wollte. Sie schüttelte den Gedanken ganz schnell ab, stand auf, stimmte in die Niedlichkeitsbekundungen der anderen Mütter mit ein und gab sich überhaupt alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie gerade ihr Gefühlsleben durchgerüttelt worden war. Verstohlen blickte sie zu den anderen Müttern, ob sie nicht bei einer von ihnen zumindest ein kleines Anzeichen sehen würde, dass das, was Steffi da trug, noch etwas anderes als ein harmloses Kostüm war.
Aber sie war allein. Das, was sie fühlte, fühlte nur sie.
So schnell wie die Mädchen aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden, und Steffis Mutter erklärte, dass das natürlich ein ganz dummes und billiges Kostüm war, aber kurz vor Halloween hätte Steffi es in einem Spielzeugladen gesehen und unbedingt haben wollen.
Vivienne vergewisserte sich, ob sie richtig schlussfolgerte: „Dann ist sie in dem Ding von Tür zu Tür gelaufen?“
Steffis Mutter grinste. „Natürlich, dazu hatte es sie ja geholt. Ich weiß, wir wären früher nie in so etwas geschlüpft und ich hätte ihr auch gerne geholfen, ein schönes Kostüm zusammenzustellen, aber sie wollte es nun einmal so.“
Das Gespräch entspann sich in eine andere Richtung, aber Vivienne musste erst einmal einen kräftigen Schluck Kaffee nehmen. Die Idee, nicht nur so ein Kostüm zu tragen, sondern damit auch noch in der Öffentlichkeit herumzulaufen, brachte sie ganz durcheinander.
Fast eine Stunde später kam der Geburtstag zu seinem Ende. Unten an der Garderobe standen die Mädchen und zogen sich ihre Sachen an, die ersten waren bereits gegangen. Vivienne nutzte diesen Moment um sich zu entschuldigen, sie müsse noch einmal die Örtlichkeiten aufsuchen. Sie wusste zwar, dass es unten eine Toilette gab, spekulierte aber, dass es auch im oberen Stockwerk noch ein Badezimmer geben müsste und ging hinauf. Vom Flur am oberen Ende der Treppe gingen vier Türen ab, allesamt geschlossen. Bei der zweiten Tür hatte sie Glück: Die Kinder hatten beim Verlassen des Zimmers das Licht nicht ausgemacht. Am gegenüberliegenden Rand des Raumes stand das Bett und darauf lag abgeworfen, was Vivienne für eine Decke gehalten hätte, wenn sie es nicht besser wüsste. Sie manövrierte sich durch die noch nicht zusammengeräumten Reste eines Gesellschaftsspiels auf dem Boden, griff nach dem Stoff und zog ihn vorsichtig in die Höhe, so dass sie ihn leicht wieder in die Position zurücklegen könnte, in der sie ihn vorgefunden hatte. Das Kopfteil war eingefallen, jetzt, wo kein Kopf mehr in ihm steckte, und die Augen standen unnatürlich nahe beieinander. Es schrie danach, dass es jemand anzog. Vivienne würde das nicht tun, es nicht einmal probieren. Sie war viel zu groß dafür, dies war ein Kostüm für ein zehn Jahre altes Mädchen. Trotzdem spürte sie den Drang es zu tun. Sich dieses Ding anzuziehen, sich dieses völlig lächerliche Kostüm anzuziehen, auszusehen wie ein bescheuerter, rosa Dinosaurier. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie nach unten käme. Wie die Kinder lachen und kreischen würden, wie die anderen Mütter rufen würden: „Oh, was für ein süßer Dino du bist!“ Und Vivienne würde sich ein wenig drehen, damit alle sie von allen Seiten sehen könnten, und sie würde dabei die Augen zukneifen und bis über beide Ohren strahlen, so wie Steffi es gerade getan hatte.
Vivienne wurde plötzlich siedendheiß klar, dass sie eifersüchtig auf Steffi war. Eifersüchtig. Sie. Eine glücklich verheiratete Frau mit einem erfüllten Sexualleben. Auf Steffi. Ein kleines, zehn Jahre altes Mädchen mit einer zu großen Brille und zu kleinen Augen, dem man nicht zutraute zu einer Frau heranzuwachsen, nach der sich die Männer umdrehen würden. Und auf sie sollte Vivienne eifersüchtig sein?
Ja. Ja, das war sie, und wie! Sie wollte der kleine Dino sein! Sie wollte im Mittelpunkt stehen, die anderen zum Lachen bringen, und sich in diesem weichen Stoff geborgen fühlen. Nicht die doofe, kleine Steffi.
Völlig verwirrt stellte Vivienne fest, dass sie vor Erregung zu zittern begonnen hatte. Langsam ließ sie das Kostüm auf das Bett zurücksinken und tat dann, ganz bewusst, fünf lange und tiefe Atemzüge. Danach fühlte sie sich etwas ruhiger. Sie trat den Rückweg zur Tür an. Nachdem sie sie wieder hinter sich geschlossen hatte und das Stimmengewirr von der Garderobe heraufdringen hörte, sank ihr Puls ein weiteres Mal. Niemand hatte bemerkt, dass sie in Steffis Zimmer gewesen war, und jetzt würde es auch niemand mehr bemerken können. Sie ging nach unten und tat, als wäre alles ganz normal, und niemand von den Anwesenden ahnte, dass sie nicht auf der Toilette gewesen war, sondern sich in einem Kinderzimmer an einem Tierkostüm erregt hatte. Sie ging mit Nina zu Fuß nach Hause, durch die verkehrsberuhigten Straßen der Vorstadtsiedlung. Die Sonne war gerade untergegangen und ein friedlicher, blauer Schimmer lag in der Frühlingsluft. Fröhlich plapperte ihre Jüngste, so dass Vivienne nur manchmal ein „Mmh“ murmeln oder eine kleine Folgefrage stellen musste, damit Nina nicht merkte, dass ihre Mutter nicht ganz da war. Lediglich Hannes fiel es auf, als er abends feststellen durfte, dass seine Frau an diesem Abend ungewöhnlich viel Lust hatte. Er hütete sich aber zu viele Fragen zu stellen und die Situation zu gefährden, sondern nahm diese unverhoffte Überraschung gerne entgegen. Nachdem Vivienne zum Orgasmus gekommen war, spürte sie, wie sich in ihrem Kopf ein Nebel löste, und befriedigt schlief sie ein.
In den folgenden Tagen dachte sie noch manchmal an das Kostüm. Die Erfahrung war einfach zu verwirrend gewesen, und sie hatte überhaupt keine Idee gehabt, was sie aus dieser Sache machen sollte. Dunkel ahnte sie zwar, dass es solche Kostüme auch in ihrer Größe geben würde, aber sie hatte nicht die Anstrengung unternommen, nach einem zu suchen. Sie hatte keine Ahnung, wann und wo sie eines anziehen sollte. Und so verblassten über die nächsten Tage diese Gedanken, die sie nicht richtig einordnen konnte. Etwa nach einer Woche waren sie ganz fort und Vivienne hatte ihre üblichen sexuellen Fantasien und Wünsche zurück.
An das Kostüm dachte sie dann lange nicht mehr.
Bis vor drei Wochen. Es fiel ihr plötzlich wieder ein, als sie überlegte, was sie für Ammeroog zum Anziehen packen sollte. ‚Wieso kein solches Tierkostüm?‘ hatte sie gedacht. Im ersten Moment verwarf sie ärgerlich den Gedanken. Er kam ihr lächerlich und nicht zielgerichtet vor. Vivienne hatte die diffuse Idee gehabt, auf Ammeroog nicht das anzuziehen, was sie sonst tragen würde. Eher etwas Entspannteres. Etwas, das sie an ihre früheren Urlaube erinnern würde, an die Male, als sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester dort gewesen war, und als es keine Sorge in ihrem Leben gab, die ihr Vater und ihre Mutter nicht spätestens bis Tagesende aus der Welt schaffen konnten. Damals hatte sie ganz bestimmt nicht so etwas getragen. Vivienne war sich auch sicher, dass es damals, Ende der Siebziger, auch niemanden gab, der so etwas hergestellt hätte, und wenn, dann hätte es ganz anders ausgesehen. Also suchte sie nach Kleidungsstücken, wie sie sie damals als Kleinkind getragen hätte, aber die Suche verlief sehr unbefriedigend. Einige wenige Kleidungsstücke gab es in ihrer heutigen Erwachsenengröße, aber es waren unspektakuläre Sachen wie Socken oder Handschuhe, die sie kalt ließen. Eine Latzhose fand sie noch, aber die wollte sie nicht anziehen. Die Dinger hatte sie schon als Kind gehasst. Vivienne schwebten ganz bestimmte Wollpullover und Röcke vor, aber sie fand nichts derartiges. Alles war entweder auf Erwachsene zugeschnitten oder übertrieben auf kindlich getrimmt. Ihr dämmerte, wie viel ihrer Kleidung von damals selbstgestrickt sein musste, von ihrer Mutter, oder auch von den Freundinnen ihrer Mutter. Ja, das stimmte, ihre Patentante Ursel hatte viel gestrickt und sie und Anita hatten definitiv einige Dinge von ihr bekommen. Ursel lebte noch, aber sie war weit über neunzig und halbblind. Vivienne glaubte nicht, dass sie sie heute noch einmal bitten könnte, ihr so einen Pullover wie damals vor fünfundvierzig Jahren zu stricken.
Also kam ihr die Idee, es doch noch einmal mit den Kostümen zu versuchen. ‚Es kann ja nicht schaden.‘ dachte sie und begann danach zu suchen.
Und wurde fündig.
Und verbrachte drei Stunden damit, sich überhaupt einen Überblick zu verschaffen. Es war unglaublich. Sie hatte sich ja keine Vorstellung gemacht. Es gab so viel! Es waren nicht nur die Dinosaurier, so wie Steffi einer gewesen war. Es waren Drachen, es waren Einhörner, und es waren alle möglichen Arten von Tieren, in allen Stoffen, in allen Farben. Vivienne klickte sich durch die Seiten, die die Kostüme anboten. Es waren Seiten von Spielzeugläden, von Bekleidungsgeschäften, und von einem großen amerikanischen Versandhändler. Fast jedes zweite Angebot sah sie sich genauer an, und immer wieder stockte ihr der Atem. Sie sah, wie Models die Modelle trugen, junge Frauen um die zwanzig, und dabei fröhlich in die Kameras grinsten. Vivienne fragte sich, wie viel von diesem Grinsen wohl gespielt war. Die jungen Frauen hatten sich sicherlich etwas anderes vorgestellt, als sie ihre Tätigkeiten als Models angegangen waren, aber jetzt steckten sie in den Kostümen, in bunten, unvorteilhaften Stoffdingern, an denen Rüssel, Schwänze und Flügel befestigt waren, und bei denen der Schritt nur knapp über Knöchelhöhe hing. Vivienne zitterte leicht bei der Vorstellung, dass sie es wäre, die in so etwas steckte. Als sie sich durch die Modelle wühlte, merkte sie bald, dass, obwohl es Steffis rosa Dinosaurier gewesen war, der diese ihr unbekannte Seite geweckt hatte, sie sich stärker hingezogen fühlte zu den Kostümen, die echte Tiere darstellen sollten, keine fantastischen Fabelwesen. Die vertrauten Farbgebungen übten einen weiteren Reiz auf Vivienne aus. Sie wirkten geerdet. Vivienne brauchte gute vier Stunden, ehe sie sich für ein Modell entschied. Als Lieferadresse gab sie die Abholstation an, an die sie auch die Windeln hatte senden lassen. Sie hatte die Bestellung recht kurz vor Reisebeginn aufgegeben, und das Paket kam einen Tag vor der Abfahrt an. Sie hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, es anzuprobieren.
Bis jetzt.
Sie sah sich zum ersten Mal als Eichhörnchen im Schlafzimmerspiegel in Ammeroog, und sie bereute, es nicht viel früher getan zu haben. Es war wundervoll.
Sie hatte weit fahren müssen, um endlich alleine zu sein, um endlich die Sicherheit zu haben, es anprobieren zu können, ohne dass die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufgehen und eine ihrer Töchter sie sehen würde, woraufhin sie in ärgste Erklärungsnot geraten würde. Vor allem Rieke … Vivienne musste bei dem Gedanken, dass ihre mittlere Tochter sie in diesem Ding sehen würde, kurz diabolisch auflachen. Seit einigen Monaten hatte es atmosphärische Spannungen zwischen den beiden gegeben, die daher kamen, dass Rieke vieles, wenn nicht alles, was ihre Mutter tat oder sagte, unsagbar peinlich fand. Das war natürlich nur dem schwierigen Alter geschuldet, in dem sie gerade steckte, das wusste Vivienne, und das bekräftigten auch alle ihre Freundinnen, mit denen sie sich über ihre Elternschaft austauschte. Aber dennoch: Es tat weh, es zu hören, und in besonderer Weise tat es weh, wenn Rieke sich über ihre Kleidung aufregte, sie als spießig und abgehoben bezeichnete. Vivienne hatte gute Kleidung immer gemocht und meinte, dass sie sich zurecht etwas auf ihren Geschmack einbilden durfte. Ihre älteste Tochter Stella, war während der Pubertät auch kein einfaches Kind gewesen, weiß Gott alles andere als das, aber nie hatte sie über Viviennes Mäntel, Schuhe, Taschen oder Accessoires gelästert. Es tat Vivienne weh, dass Rieke da anders war.
Hingegen, wenn Rieke jetzt anwesend wäre und sie so sehen könnte … was würde sie sagen? Würde sie das Kostüm wohl weniger peinlich finden als ihre cremefarbene Tasche oder ihre Ballerinas mit den auffällig großen Schnallen? Vivienne stellte sich vor, wie die Tür aufging und Rieke hereinkam. Sie würde stehenbleiben, die Kinnlade würde ihr herunterklappen und die Augen ganz groß werden. Sie würde kein Wort herausbringen.
Vivienne setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. Es war ein Lächeln, dass sie seit Jahren niemandem gezeigt hatte.
„Was ist, Rieke? Gefalle ich dir nicht?“
Sie begann sich hin- und herzuwiegen, mit ihrem Körper musste sie ausladende Bewegungen machen, damit sie nicht vom weiten Stoff geschluckt wurden. Sie nahm den buschigen Schwanz in beide Hände und fuhr mit dem Daumen verträumt über seine Spitze.
„Schau mal, Rieke“, sagte Vivienne, „ich bin ein Eichhörnchen. Und was für einen lustigen Schwanz ich habe!“
Sie lachte. An diesem Moment würde Rieke wahrscheinlich laut aufschreien, „Oh, Mama!“ rufen, sich umdrehen und wegrennen, und es Vivienne nie, nie, nie verzeihen. Und Vivienne lachte bei dieser Vorstellung. Eigentlich sollte sie es wirklich tun, das Ding zu Hause anziehen und sich dann damit vor Rieke zeigen. Vor den anderen beiden auch, ja, aber die würden es sicher viel cooler nehmen.
„Was denkst du, Rieke?“, fragte Mama, „ist das gut so? Gefällt es dir nicht auch? Mir gefällt es ganz wunderbar. Ich überlege, ob ich es öfters anziehen sollte. Morgen hast du doch Annika und Jasmin zu dir eingeladen? Was meinst du? Soll ich es dann auch anziehen?“
Ein wohliger Schauer durchfuhr Vivienne bei der Idee, die Wohnungstür zu öffnen und sich den immer etwas zu aufgebrezelten und immer etwas hochnäsig wirkenden Freundinnen ihrer Tochter so zu präsentieren. Vivienne hatte die beiden auch im Verdacht, Rieke zu ihren schmerzhaften Kommentaren über Viviennes Kleidungsstil motiviert zu haben. Nun, wie gefiel ihnen ihr neues Outfit? Sie konnte die überschminkten rundlichen Gesichter der beiden sehen, wie sie unisono erschrocken „Oh!“ riefen, während im Hintergrund Rieke kreischte.
Und dann kannte Vivienne kein Halten mehr. Immer mehr Fantasien strömten auf sie ein. Sie, wie sie in ihrem Kostüm in der Öffentlichkeit herumlief. In der Fußgängerzone, als wäre es das Normalste auf der Welt. Sie spürte der Blicke der Passanten auf sich. Niemand hielt extra an, aber sobald die Leute sie sahen, stutzten sie, blickten belustigt oder verärgert, verdrehten die Augen, und sie hörte das Getuschel, despektierliche Kommentare, Kichern. Aber niemand behelligte sie. Sie flanierte einfach nur durch die Fußgängerzone, mit hochrotem Kopf, blamierte sich bis auf die Knochen, und genoss es unendlich. Dann sah sie sich in einem dieser vornehmen Restaurants, in die sie sich bisweilen zu Dates traf, nachdem es mit Hannes in die Brüche gegangen war. Üblicherweise machte sie sich dafür schick, trug gute Kleider und richtete sich die Haare (Rieke fand natürlich furchtbar, wie sie dann aussah). Jetzt dachte sie daran, was wohl wäre, wenn sie als Eichhörnchen dort auftauchen würde. Was würde ihr Date sagen, wenn sie ihn frech angrinste? Was der Kellner mit seinen fließenden und geschmeidigen Bewegungen? Aber wäre es nicht in gewisser Weise ehrlich von ihr, wenn sie dort so auftauchte? Wüsste dann ihr Date nicht gleich ein bisschen besser, mit wem er es hier zu tun hatte? Vielleicht würde es dann auch zu mehr kommen als zu einer dritten Verabredung, bei der er und sie auseinandergingen ohne sich zu versichern, sich bald wieder beieinander zu melden.
Und dann fiel ihr der graumelierte Mann vom Strand ein. Wie würde der wohl reagieren, wenn er sie so sehen würde?
Vivienne spürte, wie ihre Körpertemperatur anstieg. An dieser Vorstellung war etwas anders. Es hatte nicht dieselbe fantastische Note. Es war etwas, das viel wahrscheinlicher schien. Wie lange war es denn her, dass sie ihn gesehen hatte? Doch gerade erst eine halbe Stunde, und er war alleine gewesen. Sie hatte ihn zufällig am Strand getroffen. Was wäre denn, wenn sie jetzt einfach die Tür öffnen und hinausgehen würde? Wäre nicht die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie ihn erneut treffen würde? Oder jemanden wie ihn?
Dann erst hörte sie wieder den Wind. Komisch. Wie hatte sie ihn solange ausblenden können? Er war nie ruhig geworden, die ganze Zeit blies und pfiff er ohne erkennbaren Rhythmus. Hin und wieder ließ er draußen etwas klappern oder wackeln.
Sie machte sich Sorgen um den Mann. Der Wind war stärker geworden, das war nicht zu überhören. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er es in der vergangenen Zeit zurück in den Ort geschafft hatte. Er musste noch dort draußen sein. Das sollte er nicht, langsam wurde es gefährlich.
Für einen Moment erwog sie, noch einmal an den Strand zu gehen um zu schauen, ob er noch zu sehen war. Er würde es nicht mehr sein, mit Sicherheit nicht. Das wäre er nur, wenn er wieder umgekehrt wäre, und warum sollte er das tun? Am Strand wäre sicher niemand mehr außer ihr. Trotzdem reizte sie der Gedanke, in ihrem Eichhörnchenkostüm durch die Dünen zu gehen, aber sie wusste, dass es bei diesem Wetter unklug war, einen Schritt vor die Tür zu tun, ob als Eichhörnchen verkleidet oder nicht. Ein plötzliches Prasseln am Fenster klärte die Frage endgültig. Der Regen hatte eingesetzt. Sie würde sicher nicht ihr kostbares Kostüm nass werden lassen.
Vivienne war also an das Haus gebunden. Aber das war, was sie gewollt hatte.
Es war Zeit, ihren Plan fortzusetzen.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Sehr sehr schöner Teil. Hat mir in allen Aspekten gut gefallen.
Vielen Dank! Ich war mir gerade bei diesem Teil nicht sicher, wie er ankommt, deswegen freut mich deine Antwort sehr. Ich habe hier auch noch ein zweites Mal überarbeitet und ein paar Stellen gekürzt. Anscheinend hat es was gebracht 😉
Sind ja interessante Fantasien die Vivien da hat! Bin gespannt welche Sie noch so hat und ob Sie es zu Hause auch umsetzt diesen Plan.
Freut mich, dass es dir weiterhin gefällt. Jetzt kommen ein paar Kapitel, die immer etwas Neues bringen – aber dabei läuft nicht alles nach Plan.