Wind über Ammeroog (5)
Windelgeschichten.org präsentiert: Wind über Ammeroog (5)
Was bisher geschah: Vivienne macht auf der Nordseeinsel Ammeroog Urlaub in einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung. Sie hat nicht nur das Haus, sondern die ganze Siedlung für sich allein. Auf Viviennes drei Kinder, Nina, Rieke und Stella, passt ihre Schwester Anita auf. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt sie, dass eine Sturmflut bevorsteht. Zurück im Haus erfüllt sich Vivienne geheime Wünsche: Sie zieht sich eine Windel und ein Eichhörnchenkostüm an. Sie genießt das Gefühl, sie zu tragen und beginnt zu fantasieren. Währenddessen nimmt draußen der Wind immer weiter zu …
Vivienne ging hinüber ins Wohnzimmer. Zwischen dem Sofa und den Sesseln stand ein Beistelltisch, groß genug, damit jeder der um ihn Sitzenden mühelos an ihn gelangen konnte. Sie fasste ihn an den Seiten und versuchte ihn anzuheben. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihn ein paar Male anzuheben und wenige Zentimeter zu versetzen. Bei dem Gedanken, wie sie dabei aussehen musste, kicherte sie. Ein Eichhörnchen, das unter Ächzen sein Wohnzimmer umdekoriert. Vivienne widerstand der Versuchung, den Tisch zu ziehen und damit zu riskieren, auf dem Dielenboden Kratzer zu hinterlassen, und brauchte so gute drei Minuten, ehe sie ihn soweit aus dem Wohnbereich gerückt hatte, dass zwischen Sofa, Sesseln und Fernseher ein freier Bereich auf dem Boden entstanden war.
Als nächstes benötigte sie eine Polsterung für den Boden. Es wäre möglich gewesen, die Rückenlehnen vom Sofa abzunehmen und sie als Untergrund zu verwenden aber das wollte Vivienne nicht. Wenn sie die Lehnen entfernen würde, könnte sich niemand mehr auf das Sofa setzen.
Stattdessen wollte sie eine der unbenutzten Matratze aus einem der Schlafzimmer holen, doch sie hatte kaum drei Schritte getan, als plötzlich das Kostüm spannte.
Etwas hielt sie an ihrem Schwanz fest.
Erschrocken fuhr Vivienne herum. Doch da war niemand.
Bange drei Sekunden stand sie da, zitterte, und überlegte, welchem ihrer Sinne sie nicht trauen konnte. Welcher ihrer Sinne sie dieses Mal im Stich gelassen hatte. Und warum es hier passierte, hier, heute, als sie alleine war und niemand bei ihr, der ihr helfen konnte.
Und dann sah sie, was ihr so einen Schrecken eingejagt hatte. Die Spitze ihres Schwanzes klemmte unter einem der Beine des Tisches, den sie verrückt hatte. Sie hatte sich selbst eingeklemmt.
Sie musste sich mit der Hand ans Herz fassen, so tief war der Stoßseufzer, den sie daraufhin ausstieß. Es war nichts Schlimmes passiert. Nur ein kleines Missgeschick.
„Du dummes, dummes Eichhörnchen.“ sagte Vivienne zu sich selbst, als sie den Tisch anhob und den Schwanz hervorzog. Nachdem sie sich befreit hatte, inspizierte sie sorgenvoll ihre Hinterseite. Sie wollte nicht, dass das gute Kostüm kaputt ging. Vorsichtig zog sie drei Mal an ihrem Schwanz, aber er war so fest wie zuvor. Erleichtert wandte sie sich wieder ihrem eigentlichen Vorhaben zu.
Die Matratze passte fast perfekt in den freien Raum zwischen Sofa und Fernseher, an den Rändern waren nur Lücken von wenigen Zentimetern.
Kurz spürte sie das Verlangen, auf der Matratze herumzuspringen, aber dann bekam sie die Befürchtung, dass ihre Windel rutschen könnte, also unterließ sie es lieber. Stattdessen brachte sie Oberbett und Kopfkissen aus dem Kinderbett herüber und legte sie auf der Matratze ab.
Nachher würde sie es schön kuschelig haben.
Es war Zeit für den letzten Schritt der Vorbereitung. Vivienne ging in die Küche und nahm sich der Vorräte an, die sie am Vormittag im Ort gekauft hatte. Zunächst setzte sie einen halben Liter Milch zusammen mit einem Becher Schlagsahne in einem kleinen Topf auf, der, in einem krassen stilistischen Bruch mit der übrigen Einrichtung, neu, hochwertig und so gut wie unbenutzt war. Danach zerbröselte sie eine Tafel Vollmilchschokolade und stellte sie beiseite. Während sie wartete, dass die Milch kochte – es kam für sie nicht in Frage, sich währenddessen zu weit vom Herd zu entfernen und etwas anderes zu tun – sah sie zu dem Küchenfenster hinaus, das durch ein weiß gestrichenes Kreuz in vier Quadrate unterteilt war. Der Regen war noch nicht stark, aber der Wind trieb ein eigenartiges Spiel mit ihm und peitschte ihn, so dass er eher von der Seite zu kommen schien als vom Himmel (und so nah, wie sie hier am Meer war, war das auch keine ganz unrealistische Vorstellung). Bei dem Anblick der Welt draußen bekam sie eine Gänsehaut. Sie sah hinaus auf den südlichen Dünenkamm, den, über den sie nicht gekommen war, und hinter dem sich in wenigen Kilometern Entfernung das Festland befand. Hoch darüber türmten sich dunkelgraue Wolken auf, nervös und drohend, als wollten sie sich gleich auf das Land niederstürzen.
Viviennes über die Jahrzehnte geschultes Gespür ließ sie sich gerade in dem Moment umdrehen, als sich die ersten kleinen Bläschen auf der Milch bildeten. Sie fuhr die Hitze herunter und gab unter Rühren die zerbröselte Schokolade, zwei Messbecher Kakaopulver und etwas Zucker nach Gefühl hinzu. Nachdem sich alles aufgelöst hatte und die Flüssigkeit etwas dicker geworden war, nahm sie den Topf von der Platte und verlieh der Mischung ihre finale Note mit nicht zu geringen Beigaben von Salz, Zimt und Ingwer. Als sie die Gewürze einrührte, strich ein wunderbarer warmer, schokoladiger Geruch um ihre Nase. Mochte draußen die Welt untergehen, es war egal.
Sie hatte Kakao.
Sie stellte ihn neben der Matratze ab, verschwand kurz in ihrem Zimmer und kehrte mit der DVD in der Hand zurück. Sie taperte über den wackeligen Matratzenboden hin zum Fernseher. Es stellte sich direkt der richtigen Kanal ein, als sie den BluRay-Player einschaltete – Vivienne erinnerte sich, dass es früher endlos lange technische Sitzungen gab, in denen die Männer in ihrem Leben, insbesondere Hannes, fluchend um Abspielgeräte herumstanden, Steckerverbindungen prüften und sich mit dümmlichem Gesichtsausdruck per Fernbedienung durch die Kanalbelegung tippten, und wenn sie dann nach den Ewigkeiten das Bild hatten, ging die ganze Chose von vorne los, weil der Ton fehlte. Heute ging das irgendwie viel einfacher. Sie legte die DVD ein, und sofort begann der Film zu spielen. Kinderleicht, selbst für so ein unbedarftes Eichhörnchen wie sie.
Jetzt war es soweit.
Der Moment, auf den sie hingearbeitet hatte.
Das absolute, pure Sich-um-Nichts-kümmern-müssen.
Vivienne ließ sich zurück auf das Kissen fallen und starrte auf den Bildschirm. Es fühlte sich merkwürdig an, aus diesem Winkel fernzusehen, sie musste den Kopf ein bisschen strecken, fast so als würde sie an einem Baum oder einem hohen Haus herauf sehen. Gleichzeitig nahm sie aus den Augenrändern die Umrisse des Sofas und der Sessel war. Es gab ihr ein unbestimmbares Gefühl von Geborgenheit.
Auf dem Bildschirm erschien, gegen einen lindgrünen Hintergrund, über den Blumensilhouetten gelegt waren, der Name „Walt Disney“. Nicht in dem klassischen Schriftzug, den man sonst überall sieht. Diese erheblich leserlichere Variante, in der das „D“ auch wirklich wie eines aussah, stammte aus einer Zeit, in der Disney noch lebte und seine Unterschrift noch nicht zu einem Trademark gefroren war. Dann verschwand der Name und der Titel des Films wurde eingeblendet.
„Bambi“.
Viviennes Herz hüpfte. Sie hatte den Film seit Jahren nicht gesehen. Natürlich hatte sie versucht, ihren Töchtern einige der Klassiker nahezubringen, mit denen sie selbst aufgewachsen war, war damit aber im besten Fall auf gepflegte Langeweile gestoßen. Je älter der Film war, hatte sie gemerkt, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder ihn ablehnen würden. Als die fünfjährige Stella und die dreijährige Rieke sie einmal mitten während „Dumbo“ fragten, ob sie nicht umschalten könnten, wusste Vivienne erstens, dass ihre Töchter einen fürchterlichen Filmgeschmack hatten, und zweitens, dass sie es mit „Bambi“ gar nicht erst versuchen bräuchte.
Warum ausgerechnet „Bambi“? Es war nicht ihr Lieblingsfilm von Disney, nicht einmal einer, an den sie in den letzten Jahren besonders viel gedacht hatte. Aber es war immer einer, der sich von den anderen unterschied. Sie wusste noch, dass er keine richtige Geschichte zu haben schien. Es ging einfach nur um Tiere, die im Wald herum hopsten, an Blumen rochen und lustig umfielen. Als sie den Trip plante und auf die Idee kam, dass sie einen Film schauen könnte, wusste sie sofort, dass es „Bambi“ sein müsste.
Alles andere wäre zu erwachsen gewesen.
Nachdem der Vorspann vorüber war, schob sich die Kamera durch einen dichten dunklen Wald und es war zuerst nur eine Musik zu hören, die Vivienne in jedem anderen Zusammenhang zu schmalzig gewesen wäre. Als sich dann leise Vogelstimmen dazu gesellten und aus dem Hintergrund Freund Eule auf gestreckten Flügeln heran flog, wusste Vivienne, dass sie richtig entschieden hatte. Dies war wundervoll und genau, was sie brauchte. Wie zur Bestätigung klatschte draußen Regen gegen das Fenster. Es hörte sich an, als hätte jemand einen Eimer Wasser gegen das Haus geschüttet. Wie falsch und töricht wäre es, jetzt dort draußen zu sein. Vivienne machte es genau richtig: In einer dicken Windel, in einem herrlich flauschigen Tierkostüm, mit Kakao, sah sie sich den unschuldigsten und harmlosesten Film an, der je produziert worden war.
„Gefällt es dir, Vivienne?“
Ihr Vater. Er saß dort irgendwo am verschwommenen Rande ihres Blickfelds, vermutlich auf einem der Sessel. Vivienne vermied es, den Kopf zu drehen. Sie wusste, dass wenn sie das tun würde, er dort nicht sitzen würde.
Sie lächelte. „Ja, Papa.“
„Das freut mich, meine Kleine.“ Seine Stimme war sanft und entspannt, nicht wie in den letzten Jahren, als die Behandlungen sie brüchig gemacht hatten. Es war die Stimme ihres Vaters in seinen frühen Dreißigern. ‚Fünfzehn Jahre jünger als ich es jetzt bin.‘ schoss es ihr durch den Kopf, aber der Gedanke gefiel ihr nicht und sie wischte ihn beiseite.
Auf dem Bildschirm erschienen immer mehr kleine Waldtiere, die über den moosigen Boden hoppelten, über Baumrinden wuselten, oder von Zweigen piepsten. Dann war sogar ein Eichhörnchen zu sehen. Ein Eichhörnchen, so wie sie eines war – abgesehen davon, dass es blau war – und dass sich in den fröhlichen Tierchor einreihte. Vivienne gluckste. Aus einem Impuls heraus hob sie den Arm, zeigte mit dem Finger und rief: „Da!“
„Ja, richtig“, sagte ihr Vater, „das ist ein Eichhörnchen! Bist du auch ein Eichhörnchen?“
Vivienne spürte, wie ihr das Blut in die lächelnden Wangen schoss. Es war ein unfassbar wohliges Gefühl. „Ja.“ sagte sie.
„Ach Christian! Muss das sein, dass das Mädchen sich so anzieht?“ Vivienne staunte einen Moment über sich selbst. Dass sie sich vorstellte, dass ihr Vater da saß und mit ihr diesen Moment teilte, das konnte sie verstehen. Sie konnte sich sogar vorstellen, dass er nicht einmal die Stirn gerunzelt hätte, wenn sie ihm in dieser Aufmachung gegenübergetreten wäre, selbst nicht als die reife und erwachsene Frau, die sie heute war. Er hätte sie nur mit liebenden Augen angesehen und gesagt, dass sie machen soll, was sie glücklich macht.
Ihre Mutter hingegen würde an ihrem Verstand zweifeln. Wieso also tauchte sie dann hier auf? Wieso, wenn Vivienne diesen Moment genießen wollte?
„Lass sie doch“, sagte ihr Vater zu ihrer Mutter, „siehst du nicht, wie viel Freude sie daran hat?“
Vivienne erschauerte, als sie das hörte. Jetzt wusste sie, warum ihre Mutter hier war. Damit es jemanden gab, gegen den ihr Vater sie verteidigen konnte. Sie musste es nicht selbst tun. Sie konnte einfach hier liegen und ganz Eichhörnchen sein und sich keine Sorgen machen, dass jemand Anstoß daran nehmen würde. Ihr Vater war da um sie zu beschützen.
Ihr Mutter ließ aber keine Ruhe. „Sie ist doch schon viel zu alt dafür! Herrje, Christian, sie ist kein Kind mehr! Sie ist eine Mutter!“
„Na und? Steht irgendwo, dass man sich als erwachsener Mensch nicht mehr ausleben darf? Lass sie doch. Sie tut doch niemandem weh.“
„Ach ja? Ihre Kinder denken da aber anders drüber! Frag mal Rieke!“
Vivienne stockte der Atem. Rieke war auch hier! Das gab jetzt aber gar keinen Sinn mehr! Ihre Eltern jünger als sie jetzt, gemeinsam mit ihren Kindern – und Rieke quäkte auch gleich los. Sie nahm den mütterlichen Kleidungsstil keinen Deut gelassener als eben vor dem Spiegel. „Oh Gott“, rief sie, „Mama, bitte, nein! Zieh das sofort aus! Das geht ja gar nicht!“
Vivienne lächelte, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, wo die Tiere des Waldes zusammengekommen waren, um das neugeborene Rehkitz zu bestaunen.
„Nein, Rieke? Gefalle ich dir nicht als Eichhörnchen?“ Sie fragte es mit aller Süßigkeit in der Stimme. Sie genoss die Fremdscham ihrer Tochter unendlich.
„Oh Gott, bist du peinlich!“
„Vivi, jetzt komm doch zur Vernunft. Zieh es aus!“ Ihre Mutter kam ihrer Tochter zur Hilfe.
„Ich soll mein Kostüm ausziehen?“
„Ja! Das reicht jetzt allmählich!“
„Aber ich habe darunter nur eine Windel an!“
Vivienne lachte auf, als sie Riekes angewiderten Schrei hörte.
„Das ist doch nur ein Witz“, sagte ihre Mutter empört, „Christian, das Mädchen hat doch nicht wirklich eine Windel an, oder?“
„Na, wenn sie es sagt, wird es wohl stimmen, oder? Oder flunkerst du uns an, Vivchen?“
„Nein, Papa.“
„Du trägst wirklich gerade eine Windel?“
„Ja, Papa.“
„Warum trägst du sie denn? Brauchst du sie?“
„Nein, Papa, ich brauche sie nicht. Mir war heute einfach danach.“
„Dir war danach?“
„Ja.“ Vivienne unterdrückte mit aller Kraft das Verlangen, sich umzudrehen und die gütigen Augen ihres Vaters zu sehen. „Es passt zu meinem Kostüm, oder?“
Ihr Vater lachte ein wenig. „Es passt ganz wunderbar zu deinem Kostüm. Du wusstest schon immer, welche Kleidungsstücke man miteinander kombinieren kann.“
Rieke protestierte erneut, dieses Mal antworteten ihre Mutter und ihr Vater gleichzeitig, und Vivienne bekam Mühe, allen zuzuhören. Sie gab es gänzlich auf, als sich weitere Stimmen in das Gewirr einmischten. Sie hörte Stella, ihre älteste Tochter, ganz eindeutig, und auch wenn sie kaum ein Wort ausmachen konnte, glaubte sie am Klang der Stimme Zustimmung ausmachen zu können. Stellas Stimme war voll unerschütterlicher Ruhe. Das hatte sie von ihrem Großvater geerbt, dachte Vivienne. Wie gut, dass sie in diesem Punkt nicht nach ihr geraten war. Und dann war da Anita, zumindest einmal. Vielleicht auch zwei Mal, vielleicht auch öfters. Vivienne gelang es nicht das Alter der Stimme ihrer Schwester zu bestimmen. Mal war es die Stimme der Mittvierzigerin, die sie heute war, und die ihr ernste Vorhaltungen machte und an ihr Verantwortungsgefühl appellierte, mal war es die Zwölfjährige, die deutlich machte, dass sie ihre große Schwester nicht in diesem Aufzug sehen wollte. Sie alle redeten durcheinander, und Vivienne genoss den Wirbel, den sie in ihrer Fantasie ausgelöst hatte.
Sie hörte ein Kichern, ganz dicht an ihrem Ohr. Sie erkannte dieses Kichern unter Tausenden.
„Hallo Nina.“ sagte Vivienne.
„Du siehst lustig aus!“ sagte ihre jüngste Tochter.
„Ich bin ein Eichhörnchen.“
Nina kicherte erneut. Vivienne gefiel das wahnsinnig gut. Jemand anderen zum Lachen bringen war sicher eine der harmloseren Reaktionen, die Vivienne mit ihrem Aufzug bei anderen hervorrufen konnte. Und Nina war so ein reiner und herzensguter Mensch, der niemandem etwas Böses wollte – bei ihr konnte sie gar nicht das Gefühl haben, ausgelacht zu werden.
„Gefalle ich dir als Eichhörnchen?“ fragte Vivienne.
„Ja.“ sagte Nina.
„Ja?“, fragte Vivienne erfreut, „du willst also nicht, dass ich das ausziehe?“
„Nein. Du sollst das anlassen.“
„Ja? Ich soll das anbehalten? Soll ich auch zu Hause so rumlaufen?“
„Ja.“
„Auch wenn deine Freundinnen zu Besuch kommen?“
„Ja.“
„Aber ich muss doch auch zur Arbeit! Soll ich denn so arbeiten gehen?“
„Ja.“
„Und soll ich auch so in den Supermarkt? Und dich von der Schule abholen? So, dass alle in deiner Klasse mich sehen können?“
„Ja.“ Bei jedem unschuldigen und belustigten „Ja“ überkam Vivienne ein Schwall von Scham und Aufregung. Die Vorstellung, dieses Kostüm in aller Öffentlichkeit zu tragen, elektrisierte sie. Sie würde es natürlich nie im Leben tun, aber zu hören, dass ihre Tochter nichts dagegen hatte, machte die Vorstellung plötzlich viel plastischer und die Idee, dass es mehr als eine Fantasie sein könnte, kitzelte sie.
Vivienne nahm einen Schluck von ihrem Kakao. Er schmeckte wunderbar, und sie genoss es alles: die wunderbare schokoladige Note auf ihrer Zunge, den Aufruhr, den sie mir ihrer Verkleidung bei ihrer eingebildeten Verwandtschaft erreicht hatte, und die rührigen, noch von Hand gezeichneten Bilder auf dem Fernseher, wo das Rehkitz Bekanntschaft mit einem anderen jungen Reh machte.
Die Gewürze im Kakao entfalteten sich, stiegen ihre Nase hinauf und massierten ihr Hirn, während sich mit jedem Schluck Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Währenddessen lag sie hier auf dem Boden, ganz und gar nicht wie es sich für eine Erwachsene gehörte, zu Füßen ihrer engsten Angehörigen, ihrer Eltern, ihrer Schwester, ihrer Töchter. Sie räkelte sich, und der weiche und noch warme Stoff des Kostüms strich wunderbar über ihren Körper. Ihre Windel knisterte leise.
„Es ist wundervoll“, dachte sie, „es ist absolut wundervoll.“ Es war das höchste Maß an Behaglichkeit, das sie sich überhaupt vorstellen konnte.
Und dann stirbt Bambis Mutter.
Eine Kugel aus dem Hinterhalt, als sie mit ihrem Kind fliehen wollte.
Zuerst hatte Vivienne es nicht wahrhaben wollen. Sie hatte gehofft, dass die Mutter doch noch hinter einem Busch hervortreten würde, dass sie doch den Menschen entkommen wäre. Aber es passierte nicht. Stattdessen erscheint der Fürst des Waldes und nimmt Bambi mit klaren Worten jede Illusion. Vivienne überkam ein tiefes Mitgefühl mit dem gezeichneten Tier, das ängstlich in die Stille nach seiner Mama fragte und keine Antwort bekam. Noch in ihrem Alter tat es so unfassbar weh ein Elternteil zu verlieren. Wie schlimm musste es erst sein, wenn man noch ein Kind war.
„Keine Angst. Ich bin ja hier.“ hörte sie die Stimme ihres Vaters. Sie vermied es sich nach ihr umzudrehen.
Dann kam der Schlag. Es war, als hätte jemand plötzlich die Matratze gepackt und an ihr gerüttelt. Ein infernalisches Geräusch, ein Krach, als ob die Hauswand einstürzte. Erschrocken stob Vivienne einen Meter nach links, bis an den Rand der Matratze und starrte die Wand an. Die Stimmen waren mit einem Mal weg. Der Raum war wieder leer. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen zu den Füßen ihrer Familie, sie war wieder die erwachsene einsame Frau. Aber diese erwachsene Frau hatte Angst vor dem Donner, als hätte sie ihn zum ersten Mal gehört. Nun – in gewisser Weise hatte sie das. So ein Geräusch hatte sie tatsächlich noch nie gehört. Mit zitternden Augen suchte sie an der Wand nach Spuren von Gefahr, nach einem Riss oder einem Schaden oder einfach nur irgendetwas, das sich mit diesem Geräusch in Verbindung bringen ließ. Aber da war nichts. Die altmodische Wanduhr hing noch da und tickte gleichmäßig stumpf die Sekunden herunter, als wäre jede wie die andere. Auch alle Bilder hingen noch, und fröhlich lächelten die Mitglieder einer Familie, die sie nie kennengelernt hatte, auf sie herab. Die Holzverkleidung der Wand stand weiter ruhig und fest.
Aber all das wurde konterkariert von dem, was sich ihr durch das kleine Fenster bot. Die Sonne war nun untergegangen, und sie sah in der Schwärze hektisches Glitzern, das am Fenster vorbeizog. Es war der Regen, der horizontal geschleudert wurde. Die Tropfen waren Geschosse geworden, und zuweilen trafen sie das Fenster, auf dem sie nicht aufplatschten, sondern vor lauter Drall abprallten. Und dazu der Wind. Das Geräusch des Windes. Das vertraute und ihr liebe Geräusch, aber so hatte sie es noch nie gehört, so kraftvoll und wütend.
Wie betäubt stand Vivienne auf. Sie ging näher zum Fenster, mit leicht klopfendem Herzen als würde ihr Gefahr drohen, als könnte der Wind sie von draußen greifen. Sie konnte nicht mehr erkennen, als sie näher herantrat. Sie sah nur intensiver. Der Wind heulte, er pfiff und brüllte. Er war eine unfassbare Gewalt, der erbarmungslos alles griff und schlug, was sich ihm in den Weg stellte. Wie gut war es für sie, dass sie hier im Inneren war, geschützt in einem Haus. Hier war sie sicher. Hier würde ihr nichts zustoßen können.
Und doch …
Abrupt wandte sich Vivienne vom Fenster ab. Ihr war eine Eingebung gekommen. Ihr Herz schlug noch einmal schneller, aber dieses Mal nicht vor Angst sondern vor Aufregung.
„Was hast du vor, Vivienne?“
Sie antwortete nicht.
Eine Windel zu tragen war eine Sache. Ein Eichhörnchenkostüm zu tragen, eine andere, ähnliche. Bei beiden hätte sie nicht viel einwenden können, wenn man sie als Schnapsideen abgetan hätte, aber letztlich war es ihr Geld und sie tat damit niemandem weg. Es waren harmlose Ideen.
Das, was sie jetzt vorhatte, war es nicht. Es war gefährlich.
„Was hast du vor, Vivienne?“ Die Stimme klang schärfer.
„Christian! Was macht sie da?“
„Ich weiß nicht, sie antwortet nicht.“
„Mama, das solltest du lieber nicht tun.“
Vivienne ignorierte die Stimmen in ihrem Rücken. Mit entschiedenen festen Schritten ging sie hinüber zur Haustür und zog sie mit einem Ruck auf.
Es war, als würde ihr der Teufel direkt ins Gesicht schreien. In ihr Gesicht ergoss sich ein Schwall Luft, durchsetzt von kleinen Tropfen, die ihr wie Nadelstiche in die Wangen stießen. Reflexartig schloss sie die Lider, keuchte auf und stieß die Tür wieder zu. Nicht eine Sekunde hatte der Spuk gedauert, aber die Erfahrung hatte sie überwältigt.
„Das war dumm gewesen“, hörte sie hinter sich die ernste Stimme ihres Vaters, „das war wirklich sehr dumm.“
Vivienne atmete ein paar Mal tief durch. Dort draußen wütete eine absolute Naturgewalt. Sie hatte noch nie etwas ähnliches erlebt. Es wäre lebensgefährlich hinauszugehen. Wäre es eine ihrer Töchter, die vorhätte, was sie im Begriff zu tun war, würde sie sie für übergeschnappt erklären. Aber sie musste sich keine Sorgen machen. Keine ihrer Töchter wäre so dumm und so lebensmüde, dort hinauszugehen.
Bloß war Vivienne keine ihrer Töchter.
Sie griff sich an die Vorderseite ihres Kostüms, wo es lose durch die Knöpfe zusammengehalten wurde, und begann, sie einen nach dem anderen zu öffnen.
„Was machst du da, Vivienne?“
„Ich will nicht, dass mein Kostüm nass wird.“ sagte sie.
Und nun riefen alle durcheinander.
„Was?“
„Wie?“
„Was soll das denn heißen?“
„Geht die da jetzt etwas raus?“
„Das ist doch nicht ihr Ernst!“
„Vivienne. Du lässt das jetzt! Das ist gefährlich!“ Die Stimme ihres Vaters klang ernst, so ernst, wie sie nur klingen konnte.
„Es tut mir leid, Papa“, sagte Vivienne, „aber ich muss es machen.“
„Du musst? Was soll das denn heißen?“
„Es ist der Wind. Der Wind ruft mich.“
Für einen Moment waren die eingebildeten Stimmen sprachlos. Vivienne selbst auch. Sie wusste, dass es Wahnsinn war, was sie gerade gesagt hatte. Aber es stimmte. Sie wollte dort hinaus. Sie wollte dem Wind so nahe sein, wie sie nur konnte.
Als sie vier Knöpfe geöffnet hatte, begann das Kostüm von ihr abzufallen. Sie streifte sich die Ärmel an Armen und Beinen ab.
Anita fing sich als erste. „Oh mein Gott. Sie ist übergeschnappt.“
„Junge Dame“, sagte ihre Mutter, „du hört sofort mit diesem Unfug auf!“
„Nein!“
„Vivienne! Du lässt das sofort!“ Die Stimme ihrer Mutter ließ keine Widerrede zu.
„Nein!“ Vivienne hatte das Kostüm jetzt gänzlich abgestreift und schmiss es auf den Boden. Sie stand jetzt nackt bis auf ihre Windel vor ihren Eltern, ihrer Schwester, ihren Töchtern. Sie spürte eine unendliche Scham, aber sie war zu entschlossen, um sich von Scham stoppen zu lassen. „Nein! Ich mache jetzt das, was ich will! Scheiß auf dich, Mama!“
Alle schnappten erschrocken nach Luft. „Was hast du da gerade gesagt?“ Die Stimme ihrer Mutter war nicht wütend oder verletzt. Noch nicht. Für den Moment war sie nur fassungslos.
„Scheiß auf dich! Scheiß auf dich, Mama“, schrie Vivienne, „ich gehe da jetzt raus, und du hast da gar nichts zu verbieten! Ich laufe jetzt durch den Sturm, und weil ich ihn hautnah erleben will, habe ich fast nichts an! Nur meine Windel! Meine tolle Windel! Na, Mama, gefällt dir meine Windel? Nein? Dann gefällt sie mir!“
Mit einem wütenden Schwung drehte sie sich um und zog die Tür auf, weiter als beim ersten Mal. Wieder spürte sie wie das Gemisch aus Luft und Wasser gegen sie gedrückt wurde, aber dieses Mal nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper, mit Ausnahme des Unterleibs, der von weichem Vlies geschützt wurde. Es war unbeschreiblich. Sie fühlte sechs fassungslose eingebildete Augenpaare in ihrem Rücken, als sie hinaustrat und die Tür hinter sich zuzog.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Ist ja eine mächtig intensive Phantasie die Vivien hat. So kann nan also auch Urlaub mache, mit Phantasiebegleitern. War schön und spannd diesen Teil lesen zu können. Freu mich auf die nächsten Eindrücke von Ihrem Urlaub.