Wind über Ammeroog (8)
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Was bisher geschah: Vivienne macht auf der Nordseeinsel Ammeroog Urlaub in einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung. Sie hat nicht nur das Haus, sondern die ganze Siedlung für sich allein. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt sie, dass eine Sturmflut bevorsteht. Auf dem Weg zurück zum Ferienhaus kommt ihr ein Mann entgegen, mit dem sie einen verstohlenen Blick tauscht. Zurück im Haus erfüllt sich Vivienne geheime Wünsche: Sie zieht sich eine Windel und ein Eichhörnchenkostüm an und beginnt zu fantasieren, dass ihre Familie um sie versammelt wäre. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht, bricht es aus ihr heraus und nur mit ihrer Windel bekleidet rennt sie hinaus in das Unwetter. Nachdem sie eine Weile den Elementen ausgesetzt war, kehrt sie zurück ins Haus. Gerade, als sie sich schlafen gelegt hat, hört sie plötzlich ein Klopfen.
Schlagartig waren Viviennes Augen offen. Es waren drei Schläge gewesen, drei Schläge gegen die Haustür.
‚Nein‘, sagte sie sich selbst, ‚nein, du dummes Ding. Da hat niemand geklopft. Das war der Sturm. Er hat vielleicht irgendetwas gegen die Tür geweht. Oder gegen sonst etwas, weiß der Himmel, was da draußen vor sich geht!‘
Sie konnte sich sicher sein, dass sich außer ihr niemand in der Siedlung befand. Wenn es anders wäre, hätte sie jemanden gesehen, spätestens bei ihrem Abenteuer im Sturm. Und durch dieses Unwetter den weiten Weg hierher zu machen … wer würde das tun? Es wusste doch so gut wie niemand, dass sie hier war. War es nicht bereits von ihr riesiger Leichtsinn gewesen, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen? Dann würde doch niemand freiwillig einen Weg von mehreren Kilometern durch unbefestigtes Gebiet nehmen.
Aber dennoch: Da war etwas in diesem Klopfen gewesen, dass sich anders angehört hatte als die anderen Geräusche, die der Wind machte. Sie waren gleichmäßig gewesen.
Das war kein Ast, den der Wind drei Mal gegen die Tür geschlagen hatte. Das war auch kein Tier.
Das war ein Mensch.
Sie war nicht allein.
Ihr schnürte sich alles zu. Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut. Jemand war hier, jemand, der nicht hier sein sollte, jemand Unangemeldetes. Hatte Marita nicht ausdrücklich gesagt, dass sie die ganze Zeit über alleine wäre?
Und dann sah sie es.
Vor das Bild des Mondes schob sich von der Seite ein schwarzer Schemen und blieb in der Mitte des Fensters verharren. Er hatte die Umrisse eines Mannes. Die Arme waren erhoben und angewinkelt, vermutlich hielt er die Hände zur besseren Sicht über die Augen. Es quietschte, als seine Handkanten von außen gegen die nasse Scheibe drückten.
Er sah zu ihr hinein.
Ihr gefror das Blut in den Adern. Am liebsten hätte sie aufgeschrien, aber dann hätte sie sich zu erkennen gegeben. Er wusste nicht, dass sie da war. Er konnte sie nicht sehen, dafür war das Zimmer zu dunkel. Stocksteif blieb sie liegen, aus Angst, sich mit einer Bewegung zu verraten.
Dann fiel es ihr es wie Schuppen von den Augen. Es war der Mann vom Strand. Natürlich. Er musste es sein. Auf dem Rückweg zum Ort hatte er gemerkt, wie gefährlich es war weiterzugehen, sich an Vivienne erinnert und kombiniert, dass sie irgendwo hier ihre Unterkunft haben musste. Jetzt war er hier und wollte, dass sie ihm Obdach gewährte.
Aber … wie lange war er schon da? Hatte er sie draußen gesehen? Hatte er sie in ihrer Windel schaukeln sehen? Hatte er gesehen, wie sie sie benutzt hatte? Bei dem Gedanken wurde sie bleich.
Es war völlig unmöglich, dass sie ihm die Tür öffnen könnte. Ausgeschlossen. Er durfte sie nicht so sehen, nicht so wie sie war. Aber … andererseits … sie konnte ihn unmöglich da draußen alleine lassen. Er war vollkommen schutzlos. Wenn sie ihm nicht helfen würde, dann nähme sie seinen Tod in Kauf. Er könnte in diesem Unwetter umkommen. Das war alles andere als unwahrscheinlich. Sie würde sich zu Tode schämen, wenn sie ihm die Tür öffnete, aber das war nur eine Redensart. Sie würde nicht wirklich sterben. Er hingegen könnte wirklich umkommen, wenn sie nicht öffnete.
Trotzdem schaffte sie es nicht einen Muskel zu regen. Die Erscheinung am Fenster war einfach zu unheimlich. Wie gelähmt blieb sie liegen, bis sich endlich der Schemen wieder vom Fenster löste und weiterzog.
Fast im selben Moment klopfte es erneut an der Haustür.
Das passte nicht zusammen. Die Tür war auf der anderen Seite des Hauses, und er konnte es nicht so schnell geschafft haben, einmal um das Haus herumzurennen um zu klopfen.
Er war nicht allein. Er hatte jemanden bei sich.
Das verwirrte Vivienne zutiefst. Wieso war da noch jemand? Wer konnte das sein?
Es klopfte erneut, und ihr kam es vor, als wäre es energischer gewesen als bei den ersten Malen. ‚Es ist unwichtig‘, dachte sie plötzlich, ‚es ist gar nicht wichtig, wer vor der Tür steht. Bei diesem Wetter muss ich aufmachen und die Menschen hereinlassen. Alles andere wäre grob fahrlässig.‘
Warum passierte das? Alles war, wie es sein sollte, und jetzt brachen aus dem Nichts Fremde in den privaten Raum ein, den sie sich geschaffen hatte. Sie hätte am liebsten losgeheult.
Vivienne riss sich zusammen und stand auf. Abermals war die hohe Querstange ein Problem, und sie störte sie noch mehr als die Male zuvor. Ohne groß zu überlegen nahm sie etwas Schwung und sprang über die Latte, ohne sich darum zu kümmern, dass beim Verlassen keine weiche Matratze auf sie wartete. Fast hätte sie es sogar geschafft auf den Füßen aufzukommen, aber der Schemel war ihr im Weg. Sie touchierte ihn mit einem Drittel des rechten Fußes, rutschte ab, stieß noch einmal mit dem Schienbein gegen ihn und stürzte hin. Sie gab einen leisen Schmerzenslaut von sich, als sie das Pochen in ihrem Bein spürte. Heute bekam sie ganz schön was ab. Wenn sie wieder daheim war, sollte sie eine Weile öffentliche Umkleiden meiden. Sie wüsste nicht, was sie sagen sollte, wenn sie jemand auf all ihre Schrammen und blauen Flecke anspräche.
Ein weiteres Klopfen mahnte sie zur Eile. Sie rappelte sich auf und schleppte sich aus dem Zimmer. Sie verzichtete darauf, das Licht einzuschalten. Andernfalls würde man sie durch das Fenster sehen können, und vielleicht ergäbe sich ja doch eine Situation, in der es genügte, nur den Kopf zur Tür hinauszustecken und „Bei mir ist alles gut, danke, sie können wieder gehen“ zu sagen, um in Ruhe gelassen zu werden.
‚Ich muss das Kostüm ja auch gar nicht tragen‘, schoss es ihr durch den Kopf, ‚ich könnte es auch ausziehen.‘
Sie musste grinsen, als sie sich erinnerte, was sie unter dem Kostüm trug. Es war wahrscheinlich das einzige, in dem sie noch weniger gerne gesehen werden wollte. Sie könnte natürlich auch noch die Windel ausziehen und ganz nackt an die Tür gehen. Diese Option wäre an jedem einzelnen bisherigen Tag ihres Lebens völlig undenkbar gewesen, heute erschien es ihr als eine vernünftige und erwägenswerte Alternative. Es wäre sicher von den drei Möglichkeiten die sozial am ehesten akzeptierte Variante. Die Idee, sich auszuziehen, um sich vor Fremden nicht schämen zu müssen, war so absurd, dass sie kichern musste.
„Hallo?“
Vivienne erstarrte. Das war kein eingebildetes „Hallo“. Das waren nicht ihr Vater, ihre Mutter oder eine ihrer Töchter gewesen. Das war ein Mensch, ein echter Mensch, der auf der anderen Seite der Tür stand. Wieder überkam sie eine lähmende Angst und sie blieb dort stehen wo sie war, in dem großen Raum, neben dem Esszimmertisch, drei Schritte von der Tür entfernt.
„Hallo?“
Wieder die Stimme. Sie kam nicht von dem Mann, definitiv. Es war die Stimme eines Mädchens. Was sollte das? Was machte ein Mädchen hier? Wo waren seine Eltern?
Ein Schauer überkam sie, als der Schatten am Küchenfenster vorbeihuschte. Er musste einmal um das Haus gegangen sein und hatte seine Runde nun beendet.
„Und?“ Eine zweite Stimme. Sie gehörte einem Jungen, der nun neben dem Mädchen stand, draußen vor der Tür, bei Regen und Sturm.
Kinder.
Es waren zwei Kinder.
„Was und?“ hörte Vivienne das Mädchen hinter der Tür fragen.
„Hat jemand geantwortet?“
„Sonst würde ich hier wohl nicht mehr stehen, oder? Aber ich glaube, ich habe da drinnen was gehört.“
„Was denn?“
„Ich weiß nicht. Ein Geräusch.“
„Von einem Menschen?“
„Kann sein. Ich weiß nicht, was es war. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Und du? Hattest du Erfolg?“
„Nein, leider nicht.“ Der Junge schniefte. „Ich konnte zum Schlafzimmer hineinsehen. Aber das Bett ist ungemacht. Da schläft niemand.“
„In einem der anderen Zimmer?“
„Da dachte ich kurz, dass ich was gesehen habe. Da war irgendwas komisches aufgebaut in der Zimmermitte, und ich dachte erst, dass da ein Mensch liegt. Aber als ich genauer hingesehen habe, war es doch nur eine alte Decke.“
Alte Decke! Vivienne wusste nicht, ob sie sich erleichtert oder gedemütigt fühlen sollte.
„Es hat sich nicht bewegt, als du geklopft hast?“ fragte das Mädchen.
„Ich habe nicht geklopft.“
„Was? Warum das denn nicht?“
„Du klopfst doch schon hier.“
„Das ist doch kein Grund, warum du nicht …“
Vivienne brach ihr Schweigen. „Hallo?“ Ihre Stimme klang viel weniger souverän als beabsichtigt.
Es dauerte einige Sekunden bis zur Antwort. Sie kam von dem Mädchen. „Hallo?“
Vivienne nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie hatte das Gespräch mit den ungebetenen Gästen begonnen, jetzt musste sie es zu Ende führen. „Ist da draußen wer?“
Das nächste, was sie hörte, war ein Jubelschrei, dieses Mal von dem Jungen. Es hörte sich an, als ob er dabei auf und ab sprang. „Sei still, sei eben kurz still!“ mahnte ihn das Mädchen, ehe sie sich wieder durch die Tür an Vivienne wandte: „Oh Gott, sie schickt der Himmel! Gut, dass sie da sind, wir dachten schon … können Sie uns bitte hereinlassen?“
Vivienne legte die Hand an die Türklinke, zögerte aber noch sie herunterzudrücken.
„Wer seid ihr? Was macht ihr da draußen?“ Diese Fragen zu stellen erdete Vivienne wieder.
„Wir sind zwei Wanderer, die vom Weg abgekommen sind. Das Unwetter hat uns überrascht. Bitte lassen Sie uns herein!“
Vivienne zögerte. Ganz so schnell wollte sie keine Fremden in das Haus lassen, das einer Arbeitskollegin gehörte. „Wie viele seid ihr?“ fragte sie.
„Zwei. Ich und mein Freund. Wir haben uns verlaufen. Bitte! Sie können uns nicht abweisen!“ Das Mädchen hatte zu flehen begonnen.
Sie legte die Hand an die Klinke. ‚Aber wenn das jetzt Trickbetrüger sind?‘ schoss es ihr durch den Kopf, ‚irgendwelche jungen Kriminellen, die dich ausgeguckt haben, weil du wehrlos bist?‘
Ärgerlich schüttelte sie diesen paranoiden Gedanken ab, öffnete die Tür und ging einen Schritt beiseite. Wieder brüllte der Wind, und wieder schien es ihr, als war er noch einmal lauter geworden. Regen stob hinein, und ein Luftzug kippte einen der Becher auf der Anrichte um. Trickbetrüger? Ganz bestimmt nicht! Da müssten die beiden schon die Gewissheit haben, dass Vivienne Millionärin war, um den Leichtsinn aufzubringen, so eine Nummer abzuziehen.
Fast gemeinsam mit dem Unwetter kamen zwei dunkle, unförmige Klumpen zur Tür herein.
„Gott sei Dank!“ „Schnell! Rein!“ sagten sie, und sobald der zweite die Schwelle überschritten hatte, drückte Vivienne die Tür gegen den nicht unerheblichen Widerstand des Windes wieder zu. Wie zuvor wurde es schlagartig ruhiger, aber statt Stille gab es neue Geräusche. Das erschöpfte Schnaufen der beiden jungen Menschen, das Tropfen von Wasser auf dem Boden, und das Lösen von Gurtschnallen. Vivienne sah, wie die beiden ihre schweren Rucksäcke abnahmen, und sofort nahmen die Klumpen menschliche Konturen an. Auch waren sie gar nicht dunkel, bloß bis auf die Knochen durchnässt. Einer der beiden Klumpen nahm seine Kapuze ab, und darunter kamen lange zusammenklebende Haare zum Vorschein, die trocken vermutlich blond waren. Es war das Mädchen. Sie war älter, als ihre Stimme hatte vermuten lassen.
„Oh Mann. Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie …“ Sie hielt im Satz inne und starrte Vivienne an. Der Junge hob überrascht den Blick, dann wurden seine Augen groß und er starrte ebenso. Siedendheiß wurde Vivienne sich wieder ihres Aufzugs bewusst. Und wie. Mit einem Mal spürte sie die absolute Lächerlichkeit ihres Kostüms, aber dieses Mal war daran nichts, was ihr irgendein Kribbeln gab. Es war einfach nur demütigend, und es war eine Demütigung, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Sie stand vor diesen beiden Kindern, die sicher nicht fassen konnten, dass eine Person in Viviennes Alter so wenig Selbstachtung haben konnte, sich so etwas anzuziehen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, hob das Kinn und versuchte so würdevoll wie nur irgendmöglich auszusehen, aber dann fiel ihr ein, dass sie damit vermutlich alles nur schlimmer machte. Sie war ein Eichhörnchen. Sie hatte einen buschigen Schwanz und zwei große Schneidezähne. Und sie hatte allen Ernstes überlegt, morgen so in den Ort zu gehen? Völlig undenkbar! Wenn schon diese beiden sie mit ihren Blicken dazu brächten, dass sie am liebsten im Erdboden versenken würde, was würde dann erst sein, wenn hundert Augenpaare und mehr auf sie gerichtet wären.
Das Mädchen fasste als erstes wieder das Wort. „Ich … ich meine … ich wollte sagen, wie glücklich wir sind, dass wir sie getroffen haben.“ Sie gab sich Mühe, Vivienne in die Augen zu sehen. Nur in die Augen, nirgendwo sonst hin.
Auch der Junge begann zu sprechen. Die Worte kamen ihm nur zögerlich über die Lippen, so als müsste er sich gerade erst einmal wieder daran erinnern, wie man redet.„Ja … wenn sie nicht gewesen wären … wir wären vermutlich drauf gegangen.“ Dabei wanderte sein Blick einmal ihr Kostüm von oben nach unten entlang. Sie hätte ihnen wirklich nackt die Tür öffnen sollen. Es wäre weniger peinlich gewesen.
Vivienne merkte, dass sie jetzt dran war mit Sprechen. „Ich hatte nicht erwartet, noch Besuch zu bekommen.“ Es war das einzige, was ihr einfiel. Es klang wie eine Entschuldigung, und so war es auch irgendwie gemeint.
Der Junge und das Mädchen tauschten einen Blick, und Vivienne verstand nur zu gut, welche Botschaft sie austauschten. Sie drehten sich wieder zu ihr und mit zurückhaltender Stimme fragte das Mädchen: „Es ist uns wirklich unangenehm, dass wir sie so überfallen, aber sie sehen ja selbst, wir sind in einer Notsituation. Also, wenn es ihnen nichts ausmacht: Wäre es möglich, dass wir heute hier übernachten?“
Es kam nicht in Frage, dieses Hilfegesuch abzuweisen.
„Oh, also … natürlich! Das ist doch selbstverständlich. Bei dem Wetter kann ich euch doch nicht aus dem Haus schicken.“
Es tat Vivienne gut zu sehen, wie Verwunderung und Besorgnis in den Gesichtern der beiden zumindest etwas der Erleichterung wichen.
„Danke. Das ist sehr freundlich.“
„Nein, das ist doch selbstverständlich.“ Es war selbstverständlich. Wenn es möglich wäre, die beiden irgendwo anders hinzuschicken, hätte Vivienne es sofort getan. Ihr Blick fiel auf die Pfützen, die sich unter den beiden bereits gebildet hatten. „Oh, ihr müsst ganz dringend raus aus den nassen Sachen, sonst holt ihr euch den Tod! Habt ihr Wechselsachen dabei?“
Der Junge rang sich ein schiefes Grinsen ab und hob den Rucksack an, der sich mit einem schmatzenden Geräusch vom Boden löste. „Ja, haben wir. Aber die sind genauso nass wie das, was wir anhaben.“
Vivienne verkniff sich, den beiden etwas von ihren Sachen anzubieten. Der Vorschlag hätte sie vermutlich nur verunsichert.
„Da drüben ist das Badezimmer.“ sagte sie, ging herüber und drückte die Klinke herunter. „Da könnt ihr euch erst mal das nasse Zeug ausziehen. Ihr könnt die Sachen über die Heizung legen. Oder benutzt besser gleich den Trockner. Und bedient euch bei den Handtüchern, es sind genug da.“
Der Junge und das Mädchen griffen sich ihre Rucksäcke, in den Gesichtern einen erlösten Blick. Als Vivienne das Wort „Heizung“ gesagt hatte, stöhnte das Mädchen vor Sehnsucht auf.
„Oh, fantastisch, vielen Dank, das ist genau, was wir brauchen!“
Die beiden drängten sich mit einem dankbaren, aber verschämten Lächeln an Vivienne vorbei durch die Tür und zogen sie hinter sich zu. Vivienne hörte, wie sich einmal der Schlüssel im Loch drehte.
Sie legte die Handflächen ins Gesicht und atmete drei Mal tief durch. Was gerade passiert war, war der peinlichste Moment ihres Lebens. Es war bloß gut, dass er vorüber war.
Sie ging hinüber in ihr Zimmer und öffnete den Schrank. Ihre Sachen lagen noch immer in einem Stapel da. Sie musste sie nur nehmen und anziehen, und in zwei Minuten wäre sie wieder eine normale, erwachsene Frau. Dann wäre diese überaus unangenehme Situation vorüber, und wenn sie Glück hatte, würden die beiden sie auch nicht auf den ungewöhnlichen Aufzug ansprechen, in dem sie sie zuvor angetroffen hatten.
Aber sie konnte es nicht.
Ihre Hand streckte sich nicht nach dem Stapel mit der Erwachsenenkleidung aus.
Ihr war etwas eingefallen. Etwas, das vor fünfzehn Jahren passiert war.
Damals, als Stella noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war und Rieke noch auf dem Arm getragen werden musste, hatten sie einen Ausflug in einen Zoo gemacht. Stella war hellauf begeistert gewesen und aufgeregt von Gehege zu Gehege gelaufen. In der Nähe des Ausgangs gab es einen Streichelzoo, wo sich hinter einem mit engem Draht abgespannten Balkenzaun Ziegen, Schafe, Kaninchen, Gänse und auch ein nicht mehr ganz junger Esel tummelten. Stella war mit ihren damals drei Jahren noch durchaus eingeschüchtert gewesen, aber Hannes hatte sie an der Hand genommen und war mit ihr über den Zauntritt gestiegen, während Vivienne mit Rieke auf der anderen Seite blieb. Zunächst hatte Stella sich etwas geziert, als sie zwischen den Tieren stand, aber Hannes hatte ihr vorgemacht, ein Schaf zu streicheln, und dann wollte sie es auch versuchen. Sie machte eine Bewegung nach links, völlig anders als Hannes oder Vivienne es erwartet hatten, und griff einem Ziegenbock von hinten ins Fell. Der Bock erschrak und schlug nach hinten aus. Er traf Stella nicht einmal richtig, er erwischte viel eher ihre Jacke, aber Stella fiel trotzdem um, setzte sich auf den Hosenboden und nach einer Schrecksekunde begann sie herzerweichend zu plärren. Sofort griff Hannes sie vom Boden und nahm sie fest in den Arm.
Vivienne wusste noch, wie die Panik in ihr hochgestiegen war. So genau hatte sie ja nicht gesehen, dass Stella sich nichts ernstliches zugezogen hatte. „Bring sie raus“, hatte sie zu ihrem Mann gerufen, „bring sie raus!“
Aber Hannes hatte nicht auf sie gehört. Er hatte nur da gestanden, seine Tochter fest an sich gedrückt und sie in ihren Pullover weinen lassen.
„Was ist mit ihr? Ist sie verletzt?“ hatte Vivienne gerufen.
„Nein. Ist sie nicht.“
„Bring sie endlich raus.“
Aber Hannes hatte wieder einfach nur „Nein.“ gesagt und, als Stella sich etwas beruhigt hatte, hatte er sie auf Höhe seiner Augen angehoben und mit einfühlsamer Stimme gefragt: „Hast du dich erschrocken?“
Stella schniefte. „Ja.“
„Der Ziegenbock hatte sich auch erschrocken. Der hatte nicht gesehen, dass du hinter ihm stehst. Er hat das nicht böse gemeint. Willst du nochmal versuchen, ihn zu streicheln? Aber dieses Mal achten wir darauf, dass er dich auch sieht?“
‚Was für eine dämliche Frage? Natürlich will sie das nicht!‘ hatte Vivienne gedacht, sie erinnerte sich noch ganz genau, aber zu ihrer Überraschung sagte Stella schluchzend: „Ja.“
Also stellte Hannes sie wieder auf den Boden, nahm sie an der Hand und gemeinsam gingen sie hinüber zum Bock – oder auch zu einem anderen, wer weiß das schon, die sahen doch alle gleich aus. Hannes erklärte kurz, dass der Bock sie sah, wenn sie sich ihm von der Seite näherten, dann streichelte er seine Flanke und forderte Stella auf es nachzumachen. Schüchtern streckte sie ihr Händchen aus, fuhr mit der ausgestreckten Handfläche über die grauen Borsten, und ihr geschah nichts. Der Bock stand einfach nur ruhig da. Also streichelte sie ihn noch einmal, und dann noch einmal, und dann lächelte sie sogar. Die Situation war vorüber. Vivienne stand an der Seite und staunte. Nachdem sie das Gehege verlassen hatten, erklärte Hannes kurz die Situation: „Stella musste die Ziege jetzt noch einmal streicheln. Wenn sie das nicht getan hätte, hätte sie nur die Erinnerung an den Tritt gehabt. Schlimmstenfalls hätte sie dann wer weiß wie lange Angst vor Ziegen oder gleich vor Pferden und Eseln noch dazu gehabt. Jetzt weiß sie, dass ihr die Tiere nichts tun, wenn sie ihnen auch nichts tut.“ Vivienne war damals beeindruckt gewesen von Hannes‘ pädagogischen Fertigkeiten. Es wäre schön gewesen, wenn er später mit seinen Töchtern in der Pubertät ebenso gut hätte umgehen können wie im Vorschulalter.
Aber in diesem einen Punkt hatte er recht gehabt. Wenn Stella den Bock nicht ein weiteres Mal gestreichelt hätte, hätte sie möglicherweise eine traumatisierende Erfahrung gemacht.
Und wenn Vivienne jetzt ihr Kostüm ausziehen würde, würde sie die Erfahrung mit Sicherheit als traumatisch abspeichern. Sie würde mit Sicherheit nie, nie wieder den Mut finden, sich vor jemand anderem so zu zeigen. Die schöne Vorstellung, zu der sie vorhin eingeschlafen war, würde mit Sicherheit für immer ein Traum bleiben.
Sie musste durchziehen, was sie begonnen hatte. Sie musste sich überwinden. Sie musste ein Eichhörnchen bleiben.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Unserer erwachsenes Kleinkind Vivienne ist jetzt nicht allein
Ich hoffe es diese zwei Vivienne Windelpo Schon längst bemerkt haben
Eine super tolle Geschichte wird immer besser
Freut mich, dass es dir gefällt! Und jetzt bleibt Vivienne auch nicht mehr allein.
Und dann klopfte es.
Ich habe mir vorgestellt, dass es Stella ist
Stella auch Windeln trägt
Das wäre lustig gewesen
Ein wirklich einschneidendes Erlebnis was Sie in Ihrer Kindheit erlebt hat. Freu mich schon zu erfahren, wie Sie die kommende Situation meistert!
Lustig, dass du schreibst, dass das Erlebnis in Viviennes Kindheit stattgefunden hat. Ich hatte noch überlegt, ob ich es als Kindheitserinnerung von ihr schreiben soll, fand dann aber, dass es besser war, sie als unbeteiligte Erwachsene dabei zu haben.
In jedem Fall, bald geht’s weiter!