Wind über Ammeroog (10)
Windelgeschichten.org präsentiert: Wind über Ammeroog (10)
Was bisher geschah: Vivienne macht auf der Nordseeinsel Ammeroog Urlaub in einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung, die für sich allein hat. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt sie, dass eine Sturmflut bevorsteht. Zurück im Haus erfüllt sich Vivienne geheime Wünsche: Sie zieht sich eine Windel und ein Eichhörnchenkostüm an und beginnt zu fantasieren, dass ihre Familie um sie versammelt wäre. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht, bricht es aus ihr heraus und nur mit ihrer Windel bekleidet rennt sie hinaus in das Unwetter. Nachdem sie eine Weile den Elementen ausgesetzt war, kehrt sie zurück ins Haus. Gerade, als sie sich schlafen gelegt hat, hört sie plötzlich ein Klopfen: Es sind zwei junge Wanderer, ein Junge und ein Mädchen, die von Viviennes Aufzug höchst überrascht sind. Obwohl sie sich schämt, behält sie ihr Kostüm an und lässt sich von den beiden erzählen, wie es sie durch den Sturm zu ihr verschlagen hat, ehe sie sich in das Schlafzimmer verabschieden.
Vivienne war nun wieder alleine. Im Bad klapperte der Trockner, und draußen, unermüdlich, pfiff und toste der Wind. Auf ihn konnte sie sich verlassen. Seufzend nahm Vivienne die Becher und den Topf, in dem sie den Kakao bereitet hatte, und ließ warmes Wasser in das Spülbecken ein. Jetzt wussten sie also bescheid, wie Vivienne schlief, und dass sie ordentlich einen an der Klatsche hatte.
Sie wusste nicht, was sie jetzt noch denken sollte. Die Situation war weit, weit außerhalb ihres Erfahrungshorizonts. Nichts hatte sie darauf vorbereitet. Was konnte sie jetzt tun?
Das bisschen Geschirr zu spülen dauerte kaum länger als zwei Minuten. Als der letzte Rest schaumigen Wassers gurgelnd im Abfluss versickerte, hörte sie, wie die beiden sich im Schlafzimmer miteinander unterhielten. Verständlich. Das hatten sie ja auch bereits vorhin im Badezimmer.
Aber … da war es etwas anderes gewesen. Da war sich Vivienne sicher gewesen, dass sie gerade konkrete andere Sorgen hätten. Aber jetzt war sie sich sicher, dass sie über sie redeten. Die Stimmen waren ohne eine laufende Dusche viel einfacher zu hören, und Vivienne konnte ohne Mühe einzelne Worte ausmachen. Sie knipste das Licht aus. Vorsichtig, auf Zehenspitzen um kein verräterisches Knarzen der Dielen zu provozieren, trippelte sie zur Tür. Hier war es noch einfacher, sie zu hören. Sie hörte Stella, und sie hörte, dass sie über sie sprachen. Vivienne hielt den Atem an.
Jetzt sprach Lukas. „Aber, jetzt mal im Ernst“, hörte sie seine Stimme durch das alte Holz der Schlafzimmertür, „was war das denn bitte? Wo sind wir denn hier gelandet?“
„Siehst du das denn nicht?“, sagte Stella, „bei einer Fetischistin. Ganz offensichtlich.“
„Ach du Scheiße! Sowas kann aber auch nur uns passieren! Wenn wir das zu Hause erzählen, glaubt uns das keiner!“
Vivienne stockte der Atem. Auf die Idee, dass die beiden die heutigen Erlebnisse weitererzählen würden, war sie noch gar nicht gekommen.
Sie war erleichtert, als Stella sagte: „Ich weiß nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, das überhaupt jemandem zu erzählen. Also, überhaupt nichts von dem, was heute passiert ist. Weißt du, wie Nico reagieren wird, wenn wir erzählen, wie unvorsichtig wir waren?“
Nico musste wohl ein Freund der beiden sein. Lukas stöhnte. „Oh Gott, ja! Bloß nicht! Das wäre für den ein gefundenes Fressen! Der würde uns das für immer vorhalten!“
„Allerdings! Also, können wir uns darauf einigen? Wir erzählen niemandem von dem, was passiert ist? Es ist ja noch glimpflich ausgegangen, und wenn wir morgen um vier die Fähre nehmen, kriegen wir sogar noch unseren Zug.“
„Von der Wattwanderung: Ja. Das erzählen wir niemandem. Aber was ist denn hier mit unserer Freundin Streifenhörnchen?“
Er meinte sie! Dabei war sie kein Streifenhörnchen. Sie war ein Eichhörnchen. Diese taxonomische Ungenauigkeit regte sie auf, und am liebsten hätte sie ihn durch die Tür korrigiert, unterließ es aber aus naheliegenden Gründen.
„Wenn du eine Erklärung parat hast, wieso wir hier eine Nacht im Nirgendwo verbringen müssen, gerne. Hast du eine?“
„Nein.“ sagte Lukas kleinlaut. Er hatte sich mit seiner Antwort Zeit gelassen, als ob er wirklich kurz nach einer Antwort gesucht hatte. Vivienne musste schmunzeln. Er hatte doch etwas Niedliches an sich. Dann bemerkte sie einen kleinen Lichtstrahl, der aus der Tür heraus auf ihr Kostüm fiel. Das Schlüsselloch. Ob sie abgeschlossen hatten oder nicht, der Schlüssel steckte nicht.
Mit pochendem Herzen ging sie in die Knie, brachte die Augen auf die Höhe des Lochs und spähte hindurch. Die Laken waren bereits gespannt, und auch das erste Kissen war bezogen und lag am Kopfende. Lukas hatte es sich dort bereits bequem gemacht und lag auf der Seite, den Vorderkörper der Tür zugewandt. Das Handtuch, das er vorhin noch so verbissen um seine Lende gehalten hatte, war fort, und Vivienne bot sich ein ungestörter Anblick auf die Körpermitte des Neunzehnjährigen. Bereits der Oberkörper hatte ihr gefallen, und auch was sich unterhalb der Gürtellinie befand, konnte sich durchaus sehen lassen. Jetzt, wo er in all seiner Pracht da lag, konnte sie sich davon überzeugen, dass er am ganzen Körper rasiert war. Er war wunderschön. Stella wusste hoffentlich, was für eine glückliche Frau sie war. Es war ein Vierteljahrhundert her, dass Vivienne ein Geschlecht dieser Altersklasse in natura zu Gesicht bekommen hatte, und damals hatte niemand der Jungen gewusst, wie man die Lendenregion optisch ansprechend für die Damenwelt gestalten kann. Sie konnte den Blick nicht von ihm lösen. Was sie da tat war ein unverzeihliches Eindringen in die Privatsphäre, das wusste sie. Ginge jetzt die Tür auf und würde sie dabei erwischt werden, wie sie die beiden – vor allem den Jungen – ausspähte, könnte sie rein gar nichts zu ihrer Verteidigung vorbringen. Die beiden würden außer sich sein, und das völlig zurecht. Was sie tat war falsch und unreif obendrein. Aber es gefiel ihr einfach zu gut, sich hypnotisieren zu lassen.
„Ich auch nicht. Also lassen wir es.“ Stellas Stimme kam von irgendwo links außerhalb des für Vivienne einsehbaren Bereichs. Anscheinend stand sie am Fußende und bezog die restliche Bettwäsche.
Der Junge ließ das Jammern nicht. „Oh Mann! Ich weiß nicht, ob ich das aushalten kann, niemandem davon zu erzählen. Ich meine – wie bizarr war das bitte?“
„Jetzt tu mal nicht so, als ob es dich traumatisiert hätte. Immerhin warst du gerne bereit, dich von ihr zu einem Kakao einladen zu lassen.“
„Stella, dir ist wohl hoffentlich klar, dass wir hier von Kakao reden. Da werde ich nie eine Einladung abschlagen.“
„Ich weiß, und ich fasse es nicht, dass ich das niemandem werde erzählen können. Dich könnte noch eine alte Hexe mit Kakao in ihr Knusperhäuschen locken.“
„Wenn es so guter ist wie der von ihr. Aber das musst du zugeben, er hat super geschmeckt.“
„Ja, das gebe ich ja auch gerne zu. Aber trotzdem konnte ich es nicht fassen, als du dich zu ihr gesetzt hast. Hast du nicht gemerkt, dass ich dich eigentlich weglotsen wollte?“
„Nein. Also, ich habe schon gemerkt, dass du irgendwie gehemmt warst. Aber ich dachte, das legt sich vielleicht. Zu dem Zeitpunkt dachten wir ja noch, dass es nur das Kostüm wäre. Dass sie vielleicht ja ganz harmlos ist.“
Stella seufzte, und Vivienne hörte etwas, das sich wie ein resigniert zu Boden sinkender Oberbettbezug anhörte. „Weil du nicht gesehen hattest, was ich gesehen hatte.“
„Was meinst du damit? Ich habe sie doch auch gesehen.“
„Nein, ich meine … im Bad.“
Vivienne überkam eine böse Vorahnung, als ihr einfiel, was sie im Bad hatte liegen lassen.
„Als du in der Dusche warst und ich nach den Handtüchern gesucht habe, da habe ich neben dem Schrank etwas gefunden.“
Die Vorahnung wich lähmender Gewissheit. Stella hatte sie gefunden.
„Was denn?“
„Zuerst wusste ich nicht, was es war. Es sah aus wie ein zusammengelegtes Tuch. Aber dann habe ich es angefasst.“ Die Angewidertheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Es war eine benutzte Windel.“
Lukas‘ Augen wurden weit. „Wie bitte?“
„Eine Windel.“
„Und du hast die angefasst?“
„Sie war zusammengefaltet, keine Angst.“
Vivienne war unfähig sich zu rühren. Sie hatte nie gewollt, dass irgendjemand je ein Gespräch über ihre Hinterlassenschaften führen musste. Sie wusste nicht, dass ihr etwas so unangenehm sein konnte.
„Woher weißt du dann, dass die Windel benutzt war?“
„Das sieht man von außen. Lukas, zwing mich jetzt bitte nicht, ins Detail zu gehen.“
‚Danke, Stella.‘ dachte Vivienne.
„Ja, entschuldige, aber … moment Mal! Oh!“sagte Lukas.
„Was ist?“
„Jetzt verstehe ich. Du weißt doch, vorhin, als wir auf dem Weg waren, und ich gesagt habe, dass ich glaube, dass ich da eine Frau gesehen habe.“
„Ja, Lukas. Das glaube ich dir jetzt. Und mittlerweile bin ich sogar bereit zu glauben, dass sie nackt war.“
„Ich glaube das meinen Augen jetzt auch. Aber ich gebe zu, in dem Moment habe ich auch gedacht, dass ich spinne.“
Er hatte sie also nackt gesehen. Gut, das war keine Überraschung mehr für Vivienne. Dafür sah sie ihn ja jetzt nackt. Irgendwie waren sie quitt.
„Ist das alles, was du mir noch erzählen wolltest?“ fragte Stella.
„Nein. Da war noch etwas. Als ich sie gesehen habe, da habe ich doch gesagt, dass sie etwas in der Hand hatte. Jetzt weiß ich, was es war. Es war die Windel.“
Er hatte sie in der Windel gesehen! Nein! Nein! Das sollte er nicht! So weit hätte es nicht gehen sollen. Sie wollte nie, nie, dass jemand sie so sieht. War es denn nicht genug Peinlichkeit, dass sie sich in diesem Kostüm gezeigt hatte? Und jetzt hatten die beiden alles gesehen, alles. Vivienne fühlte sich erledigt, geschlagen. Von ihrem Geheimnis war nichts übrig geblieben.
„Sie ist da draußen in einer Windel rumgelaufen?“ fragte Stella ungläubig.
„Ja. Bis jetzt hatte ich keine Ahnung, was das war. Ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass es eine Windel gewesen sein könnte. Aber jetzt, wo du sagst, dass du eine im Badezimmer gesehen hast … das war eine Windel, hundertprozentig.“
„Aber warum rennt jemand mit einer Windel in dem Sturm draußen herum?“
‚Das hat Papa mich auch gefragt.‘ dachte Vivienne. Aber ihr Vater war jetzt weg, weit weg. Jetzt waren es reale Menschen, die sich über ihr Verhalten wunderten.
„Die ist verrückt“, sagte Lukas, „absolut verrückt.“
„Naja“, sagte Stella, „das kannst du so ja jetzt auch nicht sagen. Denk an Flo.“
‚Wer war Flo?‘
„Das kannst du so nicht vergleichen“, sagte Lukas, „mit Flo ist das was anderes. Glaubst du, die würde bei diesem Wetter so eine Aktion bringen?“
Stella lachte kurz. „Nein, natürlich nicht. Flo verzieht sich ja schon beim kleinsten Nieseln zurück ins Haus. Ich meine nur … wir beide sollten doch wissen, dass, auch wenn man Windeln trägt, man sonst ein völlig normaler Mensch sein kann, oder? Oder findest du, dass mit Flo etwas nicht stimmt?“
Vivienne wagte kaum zu atmen. Was für einen Verlauf nahm das Gespräch jetzt? Wer war Flo?
„Nein, natürlich ist mit Flo alles in Ordnung. Aber du kannst das trotzdem nicht miteinander vergleichen. Flo würde nie vor uns in Windeln rumspazieren. Die würde doch vor Scham sterben, wenn ihre Freunde sie so sehen würden!“
„Das hat Vivienne auch nicht gemacht.“
Lukas lachte kurz. „Also, Vivienne, entschuldige, aber … allein der Name.“
„Was ist damit?“ fragte Stella.
‚Ja, was ist damit?‘ dachte Vivienne. Sie ließ sich ja viel an Kritik gefallen, aber über ihren Namen sollte er jetzt lieber nichts Falsches sagen.
„Das ist doch ein ganz schlecht ausgedachter Name. Völlig lächerlich. So heißt die doch nicht wirklich! So will sie doch als Baby genannt werden.“
Vivienne spürte, wie Verärgerung in ihr hochstieg. Am liebsten hätte sie dem jungen Mann jetzt mal ein paar Takte gesagt.
„Natürlich ist das ein alberner Name.“ sagte Stella. Das tat weh. Vivienne merkte, dass ihr das Urteil von Stella wichtiger war als das von Lukas. „Aber darum geht es mir jetzt gar nicht. Worauf ich hinauswill ist, dass sie nicht in Windeln vor uns rum gelaufen ist.“
„Ja. Aber dafür in einem Eichhörnchenkostüm.“
„Und ist das nicht besser?“, fragte Stella, „Ich finde das besser.“
„Irgendwie schon“, sagte Lukas, „aber normal ist das auch nicht, oder?“
„Nein, aber … Du musst zugeben, dass wir sie ziemlich überfallen haben, oder? Sie hatte keine Zeit sich umzuziehen.“
‚Danke, Stella‘, dachte Vivienne, ‚danke! Genau richtig!‘
Stella fuhr fort: „Wenn man mal so richtig darüber nachdenkt, kann sie einem fast leid tun. Da verzieht sie sich bis in den letzten Winkel der Welt um endlich ungestört ihr Kostüm zu tragen und dann tauchen wir beiden Pappnasen auf. Wie dumm ist das denn gelaufen?“
Vivienne spürte wahnsinnige Erleichterung. Stella verstand! Stella verstand, was los war!
Und Lukas ließ sich davon anscheinend überzeugen. „Tja“, sagte er zögerlich, „da ist was dran.“
„Eigentlich ist es doch dasselbe wie bei Flo“, sagte Stella, „bei ihr hätten wir auch nie etwas davon erfahren, dass sie auf Windeln steht, wenn Marco damals nicht das Bild in den Chat gestellt hätte.“
Lukas schwieg nachdenklich. In Vivienne kam eine entsetzliche Wut auf über diesen Menschen, dessen Namen ‚Marco‘ war. Er hatte eine Windelträgerin in deren ahnungslosen Freundeskreis geoutet? Was war das für ein Schwein! Vivienne wagte nicht sich vorzustellen, was das für ein Horror für Flo gewesen sein musste.
„Ich glaube, dass hätte Flo echt fertiggemacht, wenn wir damals nicht zu ihr gestanden hätten“, sagte Stella, „wenn wir ihr nicht gezeigt hätten, dass sie natürlich weiter unsere Freundin ist und wir sie so akzeptieren, wie sie ist.“
„Dass sie weiter unsere Freundin ist“, sagte Lukas, „ja. Das ist der Punkt. Flo kannten wir zu dem Zeitpunkt schon. Sie war ja lange eine deiner besten Freundinnen gewesen. Aber diese Frau … diese Vivienne … was wissen wir von ihr?“
„Wir wissen, dass sie guten Kakao kocht.“ sagte Stella.
Vivienne konnte sich nur mit Mühe ein leises Lachen verkneifen.
„Und du warst dir nicht zu schade, ihn zu trinken.“ setzte Stella hinzu.
„Nun“, sagte Lukas, „der Kakao war wirklich lecker.“
„Ich hatte dich ja eigentlich daran hindern wollen, ihn zu trinken. Aber wegen dir haben wir mit ihr zusammengesessen. Und weißt du, was ich gemerkt habe?“
„Was?“
„Vivienne ist ein freundlicher Mensch. Und sie hat sich um uns gekümmert in einem Moment, als wir Hilfe brauchten. Ich glaube, dass wir nicht schlecht über sie urteilen sollten.“
„Ich schätze, du hast recht“, sagte Lukas, „was schlägst du vor, wie wir weiter mit ihr umgehen?“
„Ignorieren“, sagte Stella, „wir lassen sie einfach ihr Ding weitermachen. Sie tut uns ja nichts.“
Am liebsten wäre Vivienne ins Zimmer geplatzt und hätte Stella in den Arm genommen. Das war es, was sie wollte! Dass sie einfach weiter ‚ihr Ding‘ machen konnte. Sie hatte es geschafft! Sie hatte es überlebt! Sie hatte sich vor den beiden in dem peinlichsten Kostüm gezeigt, dass sie sich denken konnte, und die beiden akzeptierten sie. Vivienne löste den Blick von Lukas‘ nacktem Körper, von dem sie in den letzten Minuten jeden Zentimeter aufmerksam studiert hatte, und erhob sich. Besser konnte es nicht werden. Es hatte ein gutes Ende genommen.
Immer noch auf leisen Schritten, aber nicht mehr ganz so übertrieben wie vorhin, als sie zur Tür geschlichen war, ging sie auf ihr Zimmer.
In seiner Mitte lag das Kinderbett. Das dumme, verräterische Kinderbett, das Lukas und Stella so erschreckt hatte. Aber Vivienne konnte ihm nicht böse sein. Es war ja alles gut ausgegangen. Als sie die Decke sah, die sie vorhin so aufgewühlt zurückgelassen hatte, merkte sie, wie müde sie eigentlich war. Sie ging zum Bett und wollte sich hochschwingen. Bislang hatte sie dazu immer den Hocker benutzt, aber das Licht war ausgeschaltet, und im Halbdunkel fand sie ihn nicht. Es musste auch einmal ohne ihn gehen. Sie ging etwas in die Hüfte, schwang sich hoch, und war fast mit dem halben Körper über der Querstange, als etwas schiefging. Etwas hielt sie fest, bremste sie abrupt in ihrem Schwung und zwang sie zurück. Es war ihr Schwanz. Verdammt, es war schon wieder ihr Schwanz! Vivienne merkte, wie sie zurückglitt, der Außenseite des Betts entgegen, dorthin, wo keine weiche Matratze ihren Fall bremsen würde. Sie stieß einen Schrei aus, mehr aus Überraschung als aus Furcht, als sie plötzlich ein Ziehen am Arm spürte und ihr Sturz gebremst wurde. Sie brauchte einen Moment um sich zu orientieren. Sie hatte sich mit dem Kostüm verheddert. Sie hing von der Querstange, längs, mit einem Bein auf der anderen Seite und dem rechten Arm nach oben gezogen. Und sie wusste nicht, wie sie sich aus der Situation befreien sollte.
Sie hörte wie die Schlafzimmertür aufgerissen wurde. Ihr Schrei hatte die beiden alarmiert. „Vivienne?“ hörte sie Stellas besorgte Stimme.
Vivienne wand sich. Sie wollte nicht so gesehen werden, nicht in dieser unglücklichen Position, aber sie konnte sich nicht aus ihr befreien. Sie hatte sich verheddert.
Es klopfte. „Vivienne? Alles in Ordnung?“
Vivienne hatte keine Zeit mehr zu antworten, da wurde die Tür aufgerissen und das Licht angeknipst. Stella stand im Türrahmen und sah sie erschrocken an. „Was ist passiert?“
Vivienne konnte nicht antworten. Stattdessen starrte sie Stella an. Stella war nackt. Sie hatte schon vorhin bemerkt, dass Stella hübsch war, aber jetzt konnte sie sehen, dass ihr Körper makellos war. Sie hatte kaum einen Bauchansatz und die Brüste waren groß und wunderschön. Es waren Brüste, wie sie Vivienne gerne gehabt hätte. Jahrelang hatte sie sich an ihren eigenen gestört, daran, dass die linke ein wenig nach außen schielte und sie insgesamt etwas zu klein waren; auch wenn sich nie ein Mann über sie beschwert hatte und ihr einige sogar gesagt hatten, dass sie schöne Brüste hätte, was sie für eine unglaubwürdige Schmeichelei hielt. Wenn sie Stellas Brüste gehabt hätte, hätte sie den Männern geglaubt. Richtiggehend verwirrend aber empfand Vivienne, dass Stellas Schritt dicht mit Schamhaaren bewachsen war. Es war an den Rändern getrimmt und auf eine nicht zu kurze Länge gebracht, so dass es nicht ungepflegt wirkte, aber dennoch war es ein dichtes, dunkelblondes Dreieck, das sich zwischen ihren Beinen spannte. Vivienne hatte gedacht, dass alle Frauen in ihrem Alter sich die Scham rasierten. Und wie passte das denn zusammen? Lukas haarlos und Stella bewachsen? Was sagte denn Lukas zur Intimbehaarung seiner Freundin?
Und was zur Hölle dachte Vivienne denn da eigentlich gerade?
Sie hob den Kopf und sah in Stellas Gesicht, das noch auf eine Antwort wartete.
‚Warum hast du dir deinen Busch nicht rasiert?‘ war das einzige, was sie sagen wollte. Sie verkniff es sich.
„Hast du versucht, über die Querstange zu klettern?“ fragte Stella.
Die frage war so präzise, dass Vivienne sich jetzt doch ein Nicken abgewinnen konnte. „M-mh.“ machte sie dazu.
„Komm her.“ Stella machte zwei Schritte auf sie zu und legte ihren Körper unter ihre Arme. Sofort spürte Vivienne Halt. Stella war nicht nur schön, sie war auch stark. Instinktiv griff Vivienne mit der linken Hand, der, die sie frei bewegen konnte, an Stellas Arm.
„Dein Kostüm hat sich verfangen“, sagte Stella, „warte kurz.“ Stella beugte sich vor, und ihre nackte volle Brust streifte Viviennes Wange. Warum fühlte sich das so gut an?
Es ruckte kurz an ihrer rechten Hand, dann ließ die Spannung nach und Viviennes Oberkörper lag mit seinem vollen Gewicht in Stellas starken Armen.
„Und jetzt schwing das Bein rüber.“
Vivienne brauchte ein bisschen Koordinierung um zu verstehen, welches ihrer Beine eigentlich über der Stange hing. Als sie es geschafft hatte, bewegte sich das kleine Stoffstück unter dem niedrig genähten Stoff und ihre Beine fielen gen Boden. Ihr Oberkörper aber nicht. Den hielt Stella fest.
„So“, sagte Stella, „jetzt haben wir‘s.“
Vivienne brauchte ein wenig, um wieder auf die Füße zu kommen. Erst als sie stand, ließ Stella sie los und lächelte sie an.
„Danke.“ sagte Vivienne.
„Wieso hast du denn das gemacht?“ fragte Stella.
„Ich wollte in mein Bett.“ sagte Vivienne. Sie klang wie ein kleines Mädchen. Wieder wie die kleine Vivienne, die sich am Strand von ihrem Papa tragen ließ.
„Aber wieso hast du nicht den Eingang genommen?“
„Eingang?“ fragte Vivienne erstaunt.
Stella griff an die beiden mittigen Längsstäbe, zog sie etwa einen Zentimeter nach oben und dann zu den Seiten weg, so dass sie mitsamt eines Stücks des Rahmens wie zwei Torflügel aus dem Bett klappten. Plötzlich war da ein Loch zwischen den Stäben, groß genug, damit ein Kind hindurchpasste, oder aber eben eine schlanke Erwachsene, wie Vivienne es war. Das ganze Geraffel mit dem Hocker war völlig unnötig gewesen.
Vivienne sah verblüfft auf den Eingang.
„Woher wusstest du das?“ fragte sie.
„Ich dachte, das ist Allgemeinwissen“, sagte Stella, „ich wundere mich eher, dass du das nicht wusstest.“
„Ich habe es selbst zusammengebaut, aber ich bin nicht darauf gekommen.“ sagte Vivienne.
„Es ist auch so gebaut, dass ein Kind im Innern nicht darauf kommt.“
Stella bedachte Vivienne mit einem wissenden, warmen Blick. Vivienne wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Stella lächelte. „Wie dem auch sei: Willst du jetzt nicht zu Bett gehen?“
„Ja, natürlich.“ sagte Vivienne und sah hinunter auf den Eingang. Stellas rechte Hand ruhte auf einem der Torflügel. Mit zitternden Knien ließ sie sich nieder auf alle viere und krabbelte durch das Loch in ihr Bett. Es ging soviel einfacher als sich über die Querstange zu hieven. In ihrem Rücken spürte sie Stellas Blick. Er war nicht mehr nur belustigt. Als sie im Bett war, setzte sie sich und sah hoch zu Stella. Das nackte, neunzehnjährige Mädchen lächelte zu ihr herab.
„Soll ich zumachen?“ fragte sie und patschte mit der Hand gegen die herausgezogene Längsstange.
„Kriege ich denn den Eingang von innen auch auf?“ fragte Vivienne.
„Ich habe nie versucht, es von innen zu öffnen“, sagte Stella, „aber ich weiß nicht, warum es nicht gehen sollte.“
„Dann mach bitte zu.“
Stella schob die Stangen zurück, und mit leisem Klacken sprangen sie in ihre Löcher. Sie drehte sich um und ging. Im Türrahmen blieb sie noch einmal stehen, den Finger auf dem Lichtschalter.
„Brauchst du noch etwas, Vivienne?“
„Nein danke.“
„Du hast mir und Lukas gerade einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“ sagte sie.
„Das tut mir leid.“
Stella schüttelte leise lachend den Kopf. „Wir wissen ja, dass es keine Absicht von dir war.“
„Nein, das war es nicht.“
„Gute Nacht, Vivienne.“
„Stella!“
Stella hätte gerade das Licht löschen und die Tür schließen wollen. Jetzt blieb sie aber in der Tür stehen und sah neugierig auf die Frau im Kinderbett herunter.
„Ja?“
Warum hatte Vivienne sie noch einmal zurückgerufen? Sie war einem Impuls gefolgt. Dann stellte sie fest, dass der Grund war, dass sie Stella sagen wollte, dass sie sie lieb hatte. Das konnte sie nicht sagen. Das konnte sie unmöglich sagen, oder?
Sie räusperte sich. „Ich wünsche euch beiden auch eine gute Nacht.“
„Danke, Vivienne“, sagte Stella, „das ist lieb von dir. Und jetzt schlaf gut.“
Und Stella ging nun wirklich. Vivienne blieb im Dunkeln zurück, in ihrem Kinderbett, ihrem Kostüm, ihrer Windel. Und sie war zutiefst verwirrt.
Was war das gerade gewesen? Hatte Stella nicht gesagt, dass sie sie ignorieren sollten? Hatte sie Lukas etwa nur etwas vorgespielt und ihre eigenen Pläne? Oder hatte sich Vivienne zu früh von der Tür abgewendet, und hatten die beiden sich doch darauf verständigt, ihr Spiel mitzuspielen? Oder war das alles nur eine großangelegte Verarschung? Trieben die beiden ihr Spiel mit ihr und lachten sich tot über sie?
Vivienne schwieg. Sie hörte zumindest keinen Laut aus dem Zimmer zwei Türen weiter, wenn die beiden sich noch unterhielten – und das taten sie mit Sicherheit – dann bei normaler Lautstärke. Stattdessen war da der Wind. Nur noch und immer noch der Wind – aber etwas war anders. Ja, er heulte noch, aber Vivienne kam es vor, als würde er es nicht mehr so stark tun wie noch vor ein oder zwei Stunden. Es ging vorüber. Das Schlimmste war geschafft.
Vivienne ließ sich mit einem erschöpften Seufzen in ihr Kopfkissen sinken. Jetzt erst merkte sie, was für eine Anspannung auf ihr gelegen hatte. Eine dunkle Vorahnung, dass der Wind Schaden anrichten könnte. Er hatte es aber nicht. Sie lag hier, sicher und geborgen. Gut, sie hatte Schrammen und blaue Flecke, aber die hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Was hatte sie auch dort draußen herumgeturnt?
Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Was war nicht alles passiert in den letzten Stunden? In ihrem Kopf brodelte ein Eintopf von Eindrücken und Gedanken. Aber jetzt war es spät. Sie sollte schlafen gehen.
Endlich schlafen.
Und sie schloss die Augen.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
Suche
Weitere Teile dieser Geschichte
- Wind über Ammeroog (15)
- Wind über Ammeroog (14)
- Wind über Ammeroog (13)
- Wind über Ammeroog (12)
- Wind über Ammeroog (11)
- Wind über Ammeroog (10)
- Wind über Ammeroog (9)
- Wind über Ammeroog (8)
- Wind über Ammeroog (7)
- Wind über Ammeroog (6)
- Wind über Ammeroog (5)
- Wind über Ammeroog (4)
- Wind über Ammeroog (3)
- Wind über Ammeroog (2)
- Wind über Ammeroog
Archiv
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- Nappycarina bei Julia auf dem Pferdehof (3)
- Julia-Jürgen bei Die neue Mitschülerin (48)
- Julia-Jürgen bei Die neue Mitschülerin (46)
- Julia-Jürgen bei Zwischen gestern und Morgen (21)
- Windelspiel bei Zwischen gestern und Morgen (21)
- Pamperspopo bei Sandra wieder ganz klein
- Micha bei Florians Schatten (4)
- Michl bei Florians Schatten (4)
Wieder einen super tolles Kapitel
Kapitel 10 Neue Erkenntnis
„Zuerst wusste ich nicht, was es war. Es sah aus wie ein zusammengelegtes Tuch. Aber dann habe ich es angefasst.“ Die Angewidertheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Es war eine benutzte Windel.“
Unser erweitere Kleinkind Vivienne lässt sich von Stella! wickeln ?
Wunderbar geschrieben. Vivienne wird die Stangen vom Kinderbett von innen wohl nicht selber öffnen können 😀
Danke! Lass dich überraschen.
Da hat Vivienne einiges erlebt an diesem Abend! Bin gespannt wie der kommende Morgen wird! Ob Sie einigermaßen ruhig schlafen kann, nachdem was Sie alles erlebt hat? Freu mich auf den nächsten Teil.
Na, jetzt ist aber wirklich Schlafenszeit 😉 . Morgen geht’s weiter.