Die neue Mitschülerin (39)
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Kapitel 39: Ein unerwarteter Brief
Da die Weihnachtsferien und nach den Ferien das Ende des Halbjahrs bereits Schatten vorauswarfen, standen in Kürze noch einige Klausuren an, die in der Schule zu schreiben waren. Für Unternehmungen am Nachmittag war entsprechend nicht allzu viel Zeit, das überwiegend graue und regnerische Wetter trug sein Übriges dazu bei, dass kaum jemand Lust hatte, am Nachmittag das warme Haus zu verlassen. Entsprechend ereignislos verliefen die Tage und Wochen nach den aufregenden Ereignissen vor Gericht.
Anna und Chris, die sogar in Klausurphasen sich fast jeden Nachmittag trafen und zusammen lernten, arbeiteten heute jeder für sich. Bei Anna stand die Klausur im Deutsch-Leistungskurs an und sie hatte einiges an Wissen über diverse Literaturepochen zu lernen, während Chris in seinem Zimmer mathematische Formeln paukte.
Langsam wurde es dunkel draußen, stellte Anna fest, ebenso wie die Tatsache, dass ihre Blase nach Entleerung verlangte. Das würde ihre Windel sicher noch aushalten, stellte sie nach kurzer Überprüfung fest. Also entspannte sie sich und genoss die Wärme, die sich in ihrem Schritt ausbreitete. Eine weitere Blasenfüllung würde sie allerdings vermutlich überfordern. Also entschloss sich Anna, noch die Notizen und erhaltenen Materialien zur Lyrik im Kontext des zweiten Weltkriegs zu Ende durchzuarbeiten und sich dann ihrer Windel zu entledigen. Der Blick auf die Uhr danach verriet ihr, dass es wohl nicht mehr lange bis zum Abendessen dauern würde. Sie verzichtete fürs Erste darauf, sich ein neues Exemplar der liebgewonnenen, gepolsterten Spezialunterwäsche anzuziehen und ging nach unten.
„Erfolgreich gelernt?“, fragte Maria.
„Ja, denke schon. Aber ich brauch ne Pause.“, antwortete Anna, „Ich dachte, ich könnte eine Runde mit Nala gehen vorm Abendessen.“
„Gute Idee. Könntest du auch eine größere Runde gehen? Papa heute Mittag und ich heute Morgen waren nur eine kleine Runde unterwegs, aber jetzt regnet es glaube ich nicht mehr.“, bat Maria.
„Ist gut.“, kommentierte Anna knapp, die bereits die Hundeleine hervorholte, was die Hündin natürlich bemerkte. Freudig rannte sie in Richtung Flur.
„Ich hab das Abendessen dann fertig, wenn ihr wieder da seid.“, fügte Maria noch hinzu.
„Sag ihr, sie soll nach der Post gucken!“, kam es bei Anna nur dumpf aus dem Wohnzimmer an.
„Papa sagt, du sollst bitte nach der Post gucken, wenn du wieder da bist.“, klärte Maria auf, was eigentlich gar nicht mehr aufzuklären war und fügte noch eine kleine Spitze in Richtung ihres Mannes hinzu: „Scheinbar hat er vergessen, dass ich heute frei habe und folglich die Post nicht von der Arbeit direkt mitbringe.“
„Mach ich, Mama. Bis gleich.“, verabschiedete sich Anna.
Als sie wieder heim kam, öffnete sie den Briefkasten. Tatsächlich fielen ihr einige Sendungen in die Hand. Sie öffnete die Haustür und begann im Flur, das Erbeutete zu sortieren. Das Magazin der Krankenkasse für ihren Vater, ein Brief von der Bank an ihre Mutter. Dahinter kam ein handbeschriebener Brief zum Vorschein. Adressiert an Anna Schneefeld, abgesendet von einer Sonja Kaltenau, Bergstraße 21 in Neuss. Anna stutzte, der Name sagte ihr nichts. Die Bergstraße war in der Straßenkarte von Neuss, die sie im Kopf hatte, zwar vorhanden, und sicher gab es dort auch die Hausnummer 21, aber sie kannte niemanden unter der Adresse. Überhaupt wusste sie spontan niemanden in ihrem Bekanntenkreis, der in der Bergstraße wohnte, auch unter anderen Hausnummern nicht. In Gedanken versunken nahm sie Nala die Leine ab und merkte nicht, wie die Hündin in Richtung Wohnzimmer verschwand. Den Blick immer noch auf den Brief an sie gerichtet, folgte Anna. Die Schrift war schön, der Umschlag wirkte etwas älter, fast schon vergilbt, die Schrift sah allerdings noch sehr neu aus. Immer noch geistesabwesend drückte sie ihrer Mutter in der Küche den Brief und das Magazin in der Hand.
„Ein Brief für dich?“, fragte Maria, als sie sah, dass Anna nicht alles aus dem Briefkasten abgegeben hatte.
„Mh…was?“, murmelte Anna, „eh, ja, der ist an mich adressiert.“
„Stimmt was nicht damit?“, hakte Maria nach.
„Absenderin ist eine Sonja Kaltenau.“, brauchte Anna nur erzählen, ehe es klirrte und sie erschreckte. Anna blickte hoch. Sie sah noch, wie ihr Vater in die Küche kam und mit ihrer Mutter einen etwas zu langen Blick austauschte.
„Alles gut, Schatz“, versuchte Maria, sich nichts anmerken zu lassen, „mir ist nur die Suppenkelle runtergefallen.“
Annas Miene verfinsterte sich. „Ihr kennt also diese Frau?“, sprach sie die Schlussfolgerung aus, die sie soeben im Bruchteil einer Sekunde getätigt hatte.
„Ehm…“, zögerte Rudolf. Plötzlich wieder ganz geistesgegenwärtig konnte Anna förmlich sehen, wie es im Kopf ihres Vaters ratterte und er überlegte, was er sagen sollte. Offenbar hatten ihre Eltern nicht die besten Erfahrungen mit der geheimnisvollen Frau gemacht. Aber warum schrieb sie dann Anna und nicht ihren Eltern? Das ergab keinen Sinn.
„Es hat keinen Zweck.“, half Maria ihrem Mann.
„Was hat keinen Zweck?“, blieb Anna nicht locker.
„Nun, das hatten wir nicht unbedingt heute geplant. Aber offenbar müssen wir gleich beim Essen reden. Zieh dich erstmal aus.“, wich Maria aus.
Erst jetzt bemerkte Anna, dass sie immer noch ihren Wintermantel, ihre Mütze, und ihren Schal trug. Schlagartig merkte sie, dass diese Kleidung für die Temperaturen im Haus nicht geeignet war. Sie ging zurück in den Flur, hängte die Sachen an die Garderobe, allerdings nicht ohne den Brief mitzunehmen. Als sie eine Minute später zurück in die Küche kam, deckte ihr Vater gerade den Tisch, während ihre Mutter einen großen Topf mit Suppe in die Mitte auf einen Untersetzer stellte.
„Wie wir es machen, machen wir es sowieso falsch.“, begann Annas Mutter nach einer gefühlten Ewigkeit, während der die drei sich anschwiegen und die Stille nur durch das ziemlich regelmäßige Schlürfen von Suppe unterbrochen wurde. Anna versuchte, immer mal wieder unauffällig ihre Eltern während des Essens zu beobachten, diese waren aber allem Anschein nach sehr bedacht darauf, keine Blicke mit irgendjemandem zu tauschen. Umso erleichterter war Anna, als ihre Mutter das Wort ergriff, als alle ihre Teller leer gegessen hatten. Irgendwoher überkam sie das Gefühl, dass sie besser nicht die Initiative ergriff.
„Also, ich frage mal.“, fuhr Maria fort, „Möchtest du den Brief lesen oder möchtest du erst, das wir erzählen?“
„Weiß nicht.“, brachte Anna nur heraus. Der Teller Suppe lag ihr schwer im Magen. Ein Gefühl der Angst überkam sie. Worüber wollten ihre Eltern nicht mit der Sprache herausrücken? „Was lese ich denn in dem Brief?“
„Genau kann ich das natürlich nicht sagen. Aber dann fang mal damit an.“, antwortete Maria und schob mit den Fingern den Brief zu Anna, was eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre.
Anna merkte, dass ihre Hände leicht zitterten. Sie öffnete den Brief mit dem unbenutzten Messer und wunderte sich nur kurz, warum eigentlich zur Suppe ein Messer gedeckt wurde. In dem Briefumschlag war nur ein Blatt enthalten, das Anna entfaltete. Sie begann zu lesen:
Liebe Anna,
das letzte Mal, dass ich versucht habe, dich zu kontaktieren, ist jetzt schon einige Jahre her. Ich weiß nicht, warum du mir nie geantwortet hast. Vielleicht wolltest du einfach nichts von mir wissen. Das könnte ich verstehen. Aber ich möchte gerne einen weiteren Versuch unternehmen. Vielleicht den letzten. Immerhin bist du mittlerweile 16 und sicherlich viel erwachsener geworden in den letzten Jahren. Vielleicht bist du ja jetzt bereit, mich kennenzulernen. Oder mir zumindest eine Antwort zu schreiben.
Dass du nicht bei mir bist, bereut ein Teil von mir heute und schon lange. Ich weiß aber, dass es damals die vernünftige Entscheidung war, dich wegzugeben. Zu besseren Eltern, die sich gut um dich kümmern. Wenn du das nicht verstehst, gib mir bitte eine Chance, das ausführlicher zu erklären.
Ich hoffe so sehr, dass du mir zurückschreibst.
Deine Mutter Sonja
Mit jedem Wort konnte Anna förmlich spüren, wie ihr mehr und mehr Fragezeichen ins Gesicht standen. Nach dem ersten Lesen begann sie, noch einmal zu lesen. Dies artete allerdings vielmehr in Anstarren aus. Zu schnell rotierten die Gedanken und Fragen in ihrem Kopf.
„Ich…ähm…also…was?“, war alles, was Anna artikulieren konnte.
„Darf ich mal lesen?“, bat Maria, „Dann weiß ich genauer…“ – Weiter kam sie nicht, denn Anna reichte ihr schon wie ferngesteuert den Brief hin.
„Ich bin…nicht deine Tochter?“, fragte Anna, die sich ein wenig sammeln konnte, während Maria den Brief las. Das Entsetzen in ihrer Stimme zu verbergen, gelang ihr hingegen nicht.
„Zumindest nicht meine leibliche…“, antwortete Maria.
„Was? Was…soll das denn heißen?“, fragte Anna zurück.
„Dass wir dich adoptiert haben, als du wenige Wochen alt warst. Wir wollten unbedingt für Jan ein Geschwisterchen.“, erklärte Maria und warf damit gleich weitere Fragen auf.
„Hä? Ich verstehe gerade nur Bahnhof.“, antwortete Anna. Sie konnte nicht glauben, was sie gelesen und vor allem gerade gehört hatte.
„Wir haben bis jetzt nie gewusst, wann der richtige Zeitpunkt ist…also…“, schaltete sich Rudolf plötzlich ein, konnte den Satz aber nicht mehr beenden. Hilfesuchend wandte er sich an seine Frau, die aber auch keinen besseren Rat wusste.
„Ich…ich muss hier raus.“, sagte Anna nach wenigen Augenblicken leise mehr zu sich selbst. Sie nahm den Brief, steckte ihn in ihren Mantel und zog diesen, Schal und Mütze an.
„Nicht, Schatz. Wo willst du…“, rief Rudolf ihr verzweifelt hinterher, als er realisierte, was Anna vor hatte.
„Lass sie.“, hörte Anna Maria noch sagen, ehe sie die Haustür hinter sich schloss.
Doch sofort drehte sie sich wieder um. Beim Versuch, irgendwie Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, hatte sie das Wichtigste für ihr Vorhaben vergessen. Also ging sie wieder herein, achtete nicht auf das, was ihre Eltern – wobei Adoptiveltern das bessere Wort wäre, daran würde sie sich noch gewöhnen müssen – ihr zu riefen. Sie ging in ihr Zimmer und packte frische Wäsche, eine Zahnbürste und zwei Windeln ein. Schnell war sie wieder unten und dennoch überrascht, dass Rudolf und Maria nicht im Flur warteten. Das war ihr allerdings sehr recht und so trat sie ihren zweiten Weg in die Kälte an.
Autor: Theseus (eingesandt via E-Mail)
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Puh, heftige Situation. Wobei das ja darauf hindeutet, dass ihre Adoptiveltern vor einigen Jahren einen Brief unterschlagen haben. Das hat meiner Meinung nach fast das größere problempotential…
Grüße, Volker
Uih, das ist ein Paukenschlag……..
Anna wird nun zu Chris flüchten und sich dort ausheulen, was ja verständlich ist.
Mit so einer Wendung hab ich nun nicht gerechnet! Ich bin mal gespannt inwieweit sich das nun wieder einränkt. Ist ja immerhin ein häftiger Einschritt in so ein junges Leben.