Die Geheimnisse der Kerkwald Geschwister (26)
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Kapitel 26 – Weißer Schultag
Dienstag, der 6. November 2012, 6:50 im Kleinfeldener Neubaugebiet:
„Fuck“, zischte Dave genervt und trat gegen den Schnee auf dem Boden. Es war fucking kalt. Eine Schneeflocke war unter seine Jacke geweht, war dort zielsicher auf den offenen Hemdkragen zugesteuert und schmolz nun auf seiner nackten Haut.
Was für ein Scheißwetter.
Seine Hände hatte der Sechzehnjährige tief in den Taschen seines schwarzen New-Yorker-Parkers der mitnichten für Temperaturen unter Null Grad gemacht war vergraben. Aus den weißen Apple-mäßig-aussehenden Kopfhörern seines MP3-Players spielte auf voller Lautstärke ein DJ-Set. „Black Toys“ – Schwarze Spielzeuge. Der DJ hatte lauter Samples gemixt, zu denen er keine Rechte besaß, weshalb man sich die Tracks illegal runterladen musste. „Black Toys“ – Das klang nach verbotenen und verführerischen Dingen. So wie Nick.
Um sich vor dem Wetter zu schützen rannte Dave die letzten Meter zur Haustüre des frisch bezogenen Neubauhauses vor ihm gebückt. Doch in seinem Nacken sammelten sich nur weitere verfickte Schneeflocken. Mit seine Ellenbogen schlug er gegen die Türklingel.
Nick öffnete die Türe so zügig als hätte er nur darauf gewartet, dass es klingelte. Im Hintergrund erkannte Nick den Mann, der gestern schon mit ihnen zu Mittag gegessen hatte. Aber nichts konnte ihn grade weniger interessieren als sowas. Auch den Zehnjährigen, der sich grade eine dicke, warme Winterjacke überstülpte nahm Dave nicht mal war.
Für einen Moment stand Nick einfach nur so in der Türe, sah ihn an und lächelte. Seine Haare waren noch nass, bestimmt vom Duschen. Er trug eine grüne Bomberjacke und eine schwarze Cordhose und lehnte lässig an der Flurwand: „Alles gut?“, fragte er sanft.
„Schnee suckt“, rotzte David.
„Schon ein Jammer, dass mir dadurch ein Ausflug auf deinem Mofa entgeht!“, antwortete Nick, während sich der kleine Junge an ihm vorbeidrängelte und zum ersten Mal Dave in die Augen fiel.
„Wersndas?“, murmelte er müde.
Mit einer eleganten Bewegung griff Nick nach einem schwarzen Regenschirm, zog die Türe hinter sich zu und spannte den Schirm über ihnen auf, auch wenn Bomberjacke und Regenschirm eine absurde Kombination abgaben. David wusste, dass Nick den Regenschirm nur wegen ihm aus dem Korb neben der Türe gegriffen haben musste.
„Das hier …“, Nick legte seine Hände um die Schultern des Jungen: „… ist Fenix, mein kleiner Bruder. A.k.a. Cockblocker, right now …“, nuschelte er. Typisch Nick, konnte sich keinen Witz verkneifen: „Keine Sorge, sobald wir an der Bushaltestelle sind, verschwindet der zu seinem Freund …“
Doch Fenix legte seinen Kopf in den Nacken um seinem hinter ihm gehenden Bruder anschauen zu können: „Nö ich bleib bis zum Unterricht bei euch und nerve euch“, buhlte er schelmisch grinsend um die Aufmerksamkeit seines Bruders. Fenix grinste seinen Bruder frech an, drehte sich um und ging rückwärts vor dem hochgewachsenen Teenager her.
Kommentarlos zog Nick ihm seine knallgrüne Kapuze über den Kopf: „Ich warne dich …“, sagte er sarkastisch und beide Brüder lachten. Nick strich seinem kleinen Bruder über die Kapuze und dirigierte ihn sanft auf die andere Seite des schmalen Bürgersteiges, sodass Nick und Dave wieder nebeneinander gingen.
„Und wer bist du ??“, fragte der Junge neugierig.
„Dave“, antwortete der Angesprochene, ohne hinzuschauen und umkurvte eine Pfütze die so groß war, dass sie beinahe den gesamten Bürgersteig einnahm.
Doch diese Information schien Fenix nicht zufrieden zu stellen: „Bist du ,der Neue‘ von meinem Bruder?“
„Ähm …“, räusperte sich Dave verlegen. Wäre der Zwerg vor ihm nicht Nicks Bruder, dann hätte er ihn mit Schwung in die Pfütze hineingeschubst! Erstrecht wenns Jakob gewesen wäre.
„Digga …“, lachte auch Nick überrascht: „ … Das … oookay. Ja …“, Nick warf einen diplomatischen Blick zu seinem Bruder: „… sozusagen schon, ja. Aber mach darüber mal keine Witze jetzt, ja? Das ist hier anders als in Hamburg, okay?“
Fenix begriff rasch, dass es Nick ernst war: „Sorry …“, entschuldigte er sich.
„Danke …“, antwortete Nick dem kleinen Jungen, bevor er sich endlich wieder David zuwandte: „Wirklich cool, dass du heute wieder gehst …“
„Hab dich vermisst, gestern“, gab David ohne nachzudenken zu. Irgendwie schämte er sich dafür. Dafür, dass er einen anderen Jungen vermisste. Und dafür, dass er gegenüber ihm diese Schwäche auch noch zugab.
„Fuck, Nick … Ich … Ich hab Angst!“, platzte es aus ihm heraus. Seine Stimme bebte schon wieder. Sie mussten nur noch um die Kurve gehen, dann wären sie an der Bushaltestelle. Der Bus würde sie mit stählerner, stoischer Gleichgültigkeit in die Kreisstadt befördern und ohne dass er dann noch etwas ändern könnte würde er in einer halben Stunde auf dem Schulhof stehen. Oh Gott!
„Fenix, flitzt du mal vor zur Bushalte? Jakob wartet bestimmt schon auf dich!“, dirigierte Nick den Zehnjährigen mit einem Rückenklopfer aus dem Weg.
Er stellte sich vor David und seufzte: „Ich hab das auch gestern erst gecheckt, wie anders das hier ist. Shit, ich könnte verstehen, wenn dus geheim halten wollen würdest. Wir können allen sagen, dass du nur betrunken gewesen bist … und ich …“, er brach ab. Es war eine dumme Idee. Außerdem: Nick jetzt vor die Räder zu werfen um sich selbst zu retten?
„Hat Laura was gesagt?“, fragte er kleinlaut. Kacke, sie jetzt an der Bushaltestelle zu sehen war wirklich ein Nightmare.
„Nein“, schüttelte Nick einsilbig mit dem Kopf. Nicht, dass Laura überhaupt mit ihm reden würde. Vermutlich wäre es besser, Rob deswegen zu fragen.
David atmete noch einmal tief durch. Schüttelte mit dem Kopf als würde er damit sämtliche Gedanken, die seinen Kopf in diesem Moment heimsuchten loswerden. Und griff nach Nicks Hand: „Sonst verpassen wir noch den Bus!“, begründete er und versuchte sich selbst Mut zuzusprechen.
8 Uhr morgens, erste Unterrichtsstunde
Raum 114, Naturwissenschaftlicher Trakt des Anne-Frank-Gymnasiums Hemmingen:
„Schhh, hast du auch die 2 gemacht?“, raunte Leo ihr ins Ohr, während die 9c in einem Pulk in den Physikraum einströmte. Im Gegensatz zu den meisten Räumen war Raum 114 in Hörsaalformation gebaut, mit ausklappbaren Stuhlreihen wie im Kino, sodass selbst die hinteren Reihen noch einen guten Ausblick auf vorne stattfindende Experimente haben konnten.
„Klar hab ich … aber beeil dich, ok?“ antwortete sie ihrem Kumpel und lies gleichzeitig ihren Eastpak von der rechten Schulter rutschen um ein blaues Schulheft herauszuziehen. Robin rutschte in die dritte Reihe, Leo hinter ihr in die Sitzbank ganz hinten und das Heft wechselte den Besitzer.
Herr Doppler, ein Endfünfziger mit dichtem, schwarzgrauem Lockenkopf zog die Tafel nach unten, Franzi lies sich seufzend und erkennbar Müde auf den Klappstuhl neben ihr fallen und für einen Moment war alles wie immer. Doch dann spürte Robin beim Hinsetzen wieder das weiche Polster an ihrem Po und lernte einen weiteren Vorteil von Jakobs Hochziehwindeln kennen: Sie machten jeden harten Holzstuhl wesentlich bequemer. Das war richtig angenehm! Ein kurzer Schauer durchfuhr Robin als sie wieder an die Windel unter ihrer Hose erinnert wurde. Ja, sie machte das hier grade wirklich! Windeln tragen in der Schule. Was hatte sie sich da nur eingebrockt?
„Auch nen Schluck?“, fragte Franzi sie. Franzi Sellers, die vermutlich einzige Fünfzehnjährige die eine Thermoskanne voller Kaffe mit zur Schule nahm. Ein Grund mehr, sie als beste Freundin zu haben, auch wenn Robin dafür eigentlich keine Gründe mehr brauchte. Robin nickte unauffällig und nahm gleichzeitig ihr Heft wieder von Leo entgegen bevor Franzi im Blickschutz der Reihe vor ihnen unauffällig Kaffee in einen kleinen Metallbecher goss. Als Herr Doppler kurz darauf den Unterricht eröffnete und darum bat die Hausaufgaben vorzutragen meldete sich Robin selbstverständlich freiwillig.
Zur selben Zeit in Raum 203, Neubau:
„Hello Children! How was your weekend?”, eröffnete Frau Fischer den Englischunterricht nachdem sich die Fünftklässlerinnen und Fünftklässler endlich beruhigt hatten. Der Boden des Klassenzimmers war dreckig und gesäumt von Pfützen von all dem hereingetragenen Schnee. Die Gesichter vor allem der Jungen waren rot und verschwitzt, denn die meisten der Kinder hatten sich in der Pause vor dem Unterricht eine kleine Schneeballschlacht geliefert. Jakobs Hosenbeine waren kalt und nass, das spürte er selbst durch seine Strumpfhose. Dafür war wenigstens die Pampers zwischen seinen Beinen wieder kuschelig warm. Eben erst, als sie vor dem Klassenraum auf ihre Lehrerin gewartet hatten, hatte der Fünftklässler den Moment genutzt und sämtlichen Harndrang in Ruhe in seine Windel fließen lassen. So dringend wie gestern vor der Turnhalle hatte er zwar nicht gemusst, aber das lag hauptsächlich daran, dass er im Schulbus schon ein bisschen gepullert hatte. Seine Pampi war jetzt jedenfalls genauso feucht wie gestern um die selbe Zeit, dachte er kurz. Bestimmt lag das an der ganzen Cornflakesmilch zum Frühstück. Aber das war Jakob ganz recht.
„At the weekend, my family and I went to the cinema!”, erzählte Amalia am Tisch gegenüber, die sich, wie eigentlich immer, freiwillig gemeldet hatte. Jakob war noch dabei, sein Arbeitsheft aufzuschlagen.
„Thank you, Amalia. Which one of my pupils wants to go next?”, fragte Frau Fischer anschließend.
Kurz war es still im Klassenzimmer. Die Neonröhre über Jakob summte, die Heizung am Fenster hinter ihm rumpelte, doch trotzdem wehte von seinem Rücken ein kalter Luftzug.
Die junge Lehrerin räusperte sich gut gelaunt: „Come on. Nobody?“
Nachdem er die richtige Seite aufgeschlagen hatte, öffnete Jakob sein Mäppchen. Er klappte die beiden schmalen Innenteile so um, dass das Mäppchen umgedreht auf dem Tisch stehen bleiben konnte, zum Beispiel als Blickschutz. Doch dafür musste man die Seiten genau richtig aufstellen, damit das Mäppchen nicht zusammenklappte und …
„Jakob, please tell us about your Weekend!”, nahm Frau Fischer plötzlich ausgerechnet ihn dran.
Der Angesprochene zuckte überrascht zusammen und sah ertappt zu seiner Lehrerin. Seine Mäppchenmauer fiel um.
„Ähm … Ich … I … In the Weekend, I … we …”, stammelte er.
Unter Jakobs verwuschelter Frisur rasten die Gedanken umher.
Am Wochenende … hatte er einen Brandstifter der Tat überführt! Was hieß Brandstifter auf Englisch? Stopp, davon durfte er nichts erzählen! Was war sonst passiert? Seit dem Wochenende trug er wieder rund um die Uhr Pampers … okay, das sollte er auch auf keinen Fall sagen!
„In the weekend, my mother choose to be …”, Jakob suchte nach dem richtigen Wort: “Burgermaster?”
Seine Klassenkameraden lachten. Erschrocken sah er sich um. Auch Frau Fischer kicherte kurz, doch dann reagierte sie: „You can tell us in German, if you want. That sentence does not seem to be easy, after all!”, munterte sie den Jungen auf, grade als Jakob dabei war den Kopf zu senken und sich einzuigeln.
Unsicher blickte er auf: „Ja … also … meine Mama, die wurde gewählt, dass sie antreten darf als Bürgermeisterin bei der Wahl im Februar. Also … die Wahl vor der Wahl irgendwie. Wusste auch nicht, dass das so geht …“
„Ohh, das ist ja toll, Jakob!“, antwortete Frau Fischer, während sie sich zur Tafel drehte und mit großen Kreidebuchstaben anschrieb: ,Major‘
Kurz vor halb Zehn in der zweiten Etage des Schulgebäudes, in der Galerie über der Aula:
„Ja, nun gut …“, suchte Herr König nach Worten, nachdem ihm der Dreiklang der Schulglocke ins Wort gefallen war: „ … wenn Sie hier nun die Leibnizregel anwenden, dann werden Sie auch feststellen, dass die erste Ableitung an jener Stelle wie erwartet aussieht. Machen sie als Hausaufgaben bitte die Nummern zwei und drei der aktuellen Doppelseite, das sollte genügen.“, beendete er den Unterricht und lies die Schnallen seines schwarzen Aktenkoffers aufschnappen.
„Ey erklären kann der aber mal so garnich, hm?“, raunte Nick spöttisch, während David sein Matheheft in seiner Schultasche verschwinden lies. Dass der Platz neben ihm freigeworden war weil Laura sich in Eigenregie umgesetzt hatte, brachte immerhin den Vorteil mit dass nun Nick sein Sitznachbar war. Unsicher sah David durch die Reihen seiner Mitschüler, während er von seinem Platz aufstand und musste zu seinem eigenen Entsetzen feststellen, dass er sich am liebsten hinter Nick versteckt hätte.
Fuck, er war Sechzehn, er konnte den Shit ja wohl alleine klären!
Doch trotzdem griff er nach der Hand seines Freundes. Ohne es zu wollen. Doch, natürlich wollte er es. Leider wollte er es. So als wäre er irgendein schüchternes kleines Kind, das man an die Hand nehmen musste. Dave hatte plötzlich Jakob vor Augen. Das Baby hatte heute Morgen auch wieder an Robins Hand gehangen als sie beim Bus gestanden hatten. Mit fast Elf! Mit dem stimmte doch irgendwas nicht.
Dennoch lies Dave Nicks Hand nicht los, selbst als sich der Sechzehnjährige kurz verwundert umdrehte.
Gleichzeitig pfiff Jemand hinter ihm. Erschrocken fuhr Dave herum. Luca … Der war eigentlich korrekt. War das nur ein Spaß?
Im Augenwinkel registrierte er, wie Nick sich ebenfalls umdrehte. Vermutlich würde Nick ihn mit einem seiner Sprüche in die Schranken weisen. Das war toll, aber wieder kam sich Dave bei dem Gedanken daran vor wie ein Schwächling.
Nee!
„Neidisch? Ich hab‘ noch ne zweite Hand frei!“, reagierte Dave selbst. Und hob seine rechte Hand.
Der Angesprochene lachte peinlich berührt.
„Awww Lucimausi!“, scherzte ein Mädchen hinter Luca. Sarah – die zusammen mit Franzi für die Schülerzeitung schrieb.
Deutlich zufriedener verließ Dave den Klassenraum noch vor Nick. Kaum hatte er den braun lackierten, abblätternden Türrahmen des Achtzigerjahre-Baus durchschritten, schlug ihm eine Wand aus Lärm entgegen. Die Galerie, welche die erste und zweite Etage über der großen Aula umspannte und von deren Erdgeschoss es direkt auf den Schulhof ging war rappelvoll mit Schülern. Gedämpftes weißes Licht flutete den Raum.
„Whoa, das Teil ist ja voller Schnee jetzt!“, bemerkte Nick überrascht und deutete auf die milchige Plexiglaskuppel in der Mitte des Auladaches, die den gesamten Raum normalerweise taghell beleuchtete.
„Ja es schneit echt krass heute ey“, kommentierte Luca, während er eine Zigarettenschachtel aus seiner Brusttasche zog.
Sarah scrollte auf ihrem Handy: „Heute werden noch dreißig Zentimeter Neuschnee erwartet … und mit dem Klimawandel werden solche Extremwetterereignisse zunehmen“
Luca grunzte: „Mit dem Klimawandel wirst DU zunehmen!“
Die Gruppe lachte nicht wirklich. Auch David nicht, wobei das vor allem daran lag, dass er Ausschau hielt. Dabei wusste er gar nicht so genau wonach. Es war mehr eine instinktive Sache. Robin hatte ihn gestern noch vor Basti gewarnt. Es musste Basti sein, nach dem er Ausschau hielt: „Komm, lass raus‘“, schlug er ungeduldig vor.
Mühsam zwängten sich die Zehntklässler durch all die Schülerinnen und Schüler, die angesichts des Wetters entschlossen hatten, die Pause im Schulgebäude zu verbringen bis in die Aula. Es wurde mit jeder Treppenstufe die sie nach unten gingen kälter. „Lass vor den Eingang gehen, ich will eine Rauchen“, schlug Luca vor und Nick stimmte mit ein: „Ich würd auch nochmal kurz zu eurem geilen Kiosk“, sagte er halbironisch. Rechts vom Schultor war ein kleiner, muffiger Kiosk der neben Süßigkeiten, Softdrinks und Alkohol hauptsächlich Zeitschriften wie Kicker und Computerbild-Spiele zu führen schien und der seinen Umsatz einzig dem nahegelegenen Gymnasium zu verdanken hatte.
„Kommst mit?“, fragte Nick seinen Freund, doch David reagierte nicht.
Sein Blick sprang durch die in der Aula herumlungernden Schülergruppen. Eine Gruppe Kinder drängelte sich um einen Heizkörper, so als gäbe es dort etwas umsonst. Die Sitzmulde in der Mitte der Aula war voll, so voll, dass die Schüler teilweise in der Mitte auf dem Boden saßen. David erkannte Leo, das war doch der dürre Typ, mit dem Robin befreundet war. Als läge er im Urlaub am Strand lag Leo auf dem fleckigen Teppichboden, den Kopf auf seine Tasche gelegt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Gechillt. Robin und Franzi waren bei ihm, saßen im Schneidersitz auf dem Boden und hatten ihre Collegeblöcke auf ihre Schoße gelegt. Sie trug ein hässliches, zu großes lila Sweatshirt, was mehr nach 2010er-Style aussah und nicht so recht zu Robin passte. Dem grünen Buch, was aufgeklappt vor ihnen lag zufolge schienen sie für Bio zu lernen oder so.
„Daveeeeeee?“, fragte Nick, während Luca schon auf dem Sprung war.
„Hm?“, reagierte er. Nicks Frage hallte in seinem Kopf wider, zusammen mit all dem unsäglichen Lärm der viel zu laut von den Sichtbetonwänden der Aula abprallte: „Ja, ich komm ja schon!“, antwortete er.
Eisige Kälte, Schneeflocken und Schneematsch schlugen ihm entgegen, als er hinter seinen Klassenkameraden auf den Schulhof hetzte. Als er auf die weiche Schneedecke trat kroch sofort nasser Schnee von oben in seine Sneaker, ein ekelhaftes Gefühl. Wenigstens war es hier draußen nicht so laut wie in der Aula. Die Unterstufenschüler schrien und kreischten zwar so Lautstark herum als sähen sie grade zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee, doch die dicken Flocken dämpften den Geräuschpegel beachtlich.
Ehrlich gesagt konnte sich auch David nicht erinnern, wann es zuletzt so krass geschneit hatte. Vielleicht hatte Sarah recht. Doch die kämpfte grade mit ihrem Reißverschluss.
Der Schnee knarzte unter ihren Füßen, als sie die kaum mehr zu erkennenden Treppenstufen herunterstiegen und das Schultor passierten. Kaum waren sie nicht mehr auf dem Schulhof, zündete Luca sich die Zigarette, die seit dem Verlassen der Aula in seinem Mund gesteckt hatte, an.
„Auch eine?“, nuschelte er in die Runde. David lehnte instinktiv ab, Laura hasste es, wenn …
Er realisierte, dass dieser Gedanke nichts mehr zählte.
Nachdem Sarah nach einer von Lucas Glimmstängeln griff, war die Gruppe grade dabei, sich in Raucher und Nichtraucher zu teilen, da drängte von hinten eine Person in einem dunkelbraunen Mantel in die Gruppe.
Wegen der Kapuze dauerte es einen Moment, bis Dave sie erkannte.
„Sarah, hast du Rob gesehen? Ich brauch ihr Zeug für den Projektkurs …“, fragte die Schülerin, deren Stimme Dave sofort erkannte: Laura!
Erschrocken wich er einen halben Schritt zurück.
„Oh …“, verlagerte sich Lauras Aufmerksamkeit: „Hey.“, richtete sie an David.
„Hkhr … hi“, hustete David und verschluckte sich an seiner eigenen Spucke.
Nick klopfte seinem Freund auf den Rücken und verzog nickend den rechten Mundwinkel.
David traute sich nicht, seiner Exfreundin in die Augen zu sehen.
,Schau mich doch wenigstens an!‘, fluchte die Sechzehnjährige innerlich.
Der Hamburger stand wie ein angewurzelter, erstarrter Baum neben seinem Neuen. Und Luca und Sarah zogen so konzentriert an ihren Glimmstängeln als ob ihr Leben davon abhängen würde.
„Robin is im Gammelloch“, murmelte David ohne aufzublicken.
„Mkay, Danke …“, antwortete die brünette Sechzehnjährige viel aggressiver als sie es eigentlich selbst wollte, drehte sich um, machte einen Schritt und versank mit den Füßen im frischen Schnee. Dieser scheiß Päda-Projektkurs war echt eine nervige Angelegenheit … Zum Glück hatte sie heute Morgen Uggboots angezogen.
Aber auch die Scheißdinger waren nicht Wasserdicht.
Laura zog ihren Mantelärmel nach oben um auf ihre Uhr zu sehen. In fünf Minuten würde die Pause schon zu Ende sein, kacke!
Sie wäre gerne gerannt, doch im Schnee – und in diesen Stiefeln – war es unmöglich. So dauerte es weitere kostbare Minuten, bis sie den Aulaeingang erreicht hatte und wenig später ihre Freundin im Gammelloch fand – so nannten die Schüler den mit Teppichboden bezogenen und in einer Kuhle gelegenen Sitzbereich vor der großen Glasfront. Doch der Einzige der hier gammelte, war Leo. Schlief der?!
Laura stieg über den regungslosen Fünfzehnjährigen und stellte sich so vor Robin, dass sie von ihrem Collegeblock hochsah.
Robin atmete kurz durch und lächelte ihre Freundin an. Das würde vermutlich noch eine Weile unangenehm bleiben: „Hey“, sagte sie leise, doch freundlich.
„Ich hab dir geschrieben!?“, erwiderte Laura die Begrüßung.
„Ohhh fuck …“, realisierte Robin und lies ihren Kopf genervt nach hinten zurückklappen: „ Mein scheiß Handy ist irgendwie kaputt oder so, das hat heute Nacht nicht geladen! Mega-Sorry! Aber ja ich hab‘ das Interview geschrieben!“, reagierte sie aufgeregt, schob ihren Collegeblock auf Franzis Schoß rüber und öffnete ihren Rucksack. Laura setzte sich gegenüber von Beiden auf den Boden: „Kannst froh sein dass dein Bruderherz weiß wo du bist …“
„Wer … Jaki?“, fragte Robin überrascht.
„Aww, der Kleine war doch eben noch hier mit seinem neuen Freund“, kicherte Franzi.
„Nee“, räusperte sich Laura: „ … der Andere.“
Robin und Franzi tauschten vielsagende Blicke aus.
Dann lachten alle drei los: „abgefuckt, oder?“, reüssierte Laura schließlich, bevor sie schnell das Thema wechselte und die drei Mädchen schnell ihr Projektkursinterview überarbeiteten. Robin hatte gar keine Gelegenheit mehr, sich Gedanken darüber zu machen, wie Lauras zerbrochene Beziehung sich auf ihre Freundschaft auswirken würde. Und auch nicht über das, was sie nach der Pause erwartete.
Erst als sie zusammen mit Franzi in den langen Gang zum Neubau abgebogen war, immer noch in das Gespräch über ,Bedürftnisorientierte Erziehung‘ verwickelt, fiel es ihr wieder ein: Die Doppelstunde Sport!
Gut, vielleicht hatte sie nicht so gerne wie Dave oder Jakob Sportunterricht und vor allem mochte sie im Gegensatz zu ihren beiden Brüdern auch alle anderen Schulfächer, aber trotzdem rief der Gedanke an die Turnalle sonst kein nervöses Herzpochen in ihr hervor.
Sie war doch immer noch gewickelt!
Die weiche Hochziehwindel unter ihrer Hose. Die grade bei den Temperaturen heute zugegebenermaßen auch echt kuschelig warm war. Und bequem, wenn man auf dem harten Teppichboden im Gammelloch saß. Robin dachte darüber nach, wie sich Jakob wohl grade fühlte? Genauso warm? Mit Pampers und Strumpfhose unter seiner Jeans hatte sie ihn heute auf jeden Fall richtig angezogen. Auf keinen Fall war er noch trocken. Ob die Nässe in seiner Windel bei diesen Temperaturen störte, so wie nasse Kleidung beim Skifahren? Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich die Drynites zwischen ihren Oberschenkeln wohl anfühlen würde, wären sie jetzt nass und bekam sofort Mitleid mit ihrem kleinen Bruder. Sie versank in ihren Gedanken und Mutmaßungen, sodass sie einfach wie alle anderen Schülerinnen der 9C in die Umkleide ging und ihren Turnbeutel öffnete. Aber Jaki würde sich doch bestimmt beschweren, wenn das für ihn unangenehm wäre? Oder war er nur tapfer? Babys zumindest schrien ja immer, wenn sie eine nasse Windel hatten, grübelte Robin, während sie ihr Shirt überstreifte. Franzi lachte noch über einen Kommentar, den Leo wohl vorhin gemacht haben musste, während Robin an ihren Hosenknopf griff und mit einem Mal aus sämtlichen, ja aus wirklich allen Gedanken gerissen wurde.
Robin! Du. Trägst. Eine. Windel!, durchzuckte es sie gedanklich. Mit einem Mal war es still in ihrem Kopf.
Panisch fuhr sie mit der linken Handfläche an ihr Becken. Lugte die Windel aus der Hose heraus? Gott sei Dank nicht
„Heey was ist …“, wunderte sich Franzi, doch da schnappte sich Robin bereits ihren Turnbeutel: „Ich muss schnell … äh …“, setzte sie an und sprintete, sprang förmlich in die rettende Toilettenkabine. Die Türe, die sie genau so rabiat zugezogen hatte wie zuvor aufgerissen fiel ins Schloss und mit einmal mal war alles um sie herum dunkel.
Shit!
Robin griff in ihre Hosentasche und zog ihr Handy heraus um wenigstens etwas Licht zu haben. Doch: Nichts. Fuck, der Akku war ja leer, erinnerte sie sich. Gehetzt, genervt und überfordert tastete sie über die kalten glatten Fliesen auf der Suche nach dem Lichtschalter.
„Rob, ist … ist alles okaaay?“, hörte sie Franzi von der anderen Seite der Tür fragen.
Robin seufzte. Betont gelassen antwortete sie: „Jaaaa, Ich … ich … alles guuuhuuut!“
Wo war dieser scheiß Schalter???
„Soll ich Herrn Kurz sagen, dass du heute nicht mitmachst?“, schlug ihre beste Freundin vor.
„Nein! Alles. Gut!“, antwortete Robin gereizter. In dem dunklen Raum wurde sie langsam nervös. War der Lichtschalter überhaupt hier drin? Oder war er draußen an der Türe? Scheiße! Ihr Herz fing an, ganz schnell zu schlagen. Als Kind hatte sie immer Angst im Dunklen gehabt.
Verdammt, wo war … da!
Klick.
Augenblicklich sprang eine altersschwache Glühbirne an und hüllte den kleinen, muffigen Raum in unnatürliches Licht.
Die Fünfzehnjährige atmete erleichtert aus. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Beine zitterten.
Sie klappte die Klobrille herunter und setzte sich hin.
Was stellte sie sich so an? Sie musste sich zusammenreißen!
Fahrig riss sie ihren Turnbeutel auf und kramte nach ihrem Sport-BH, gefolgt von einem Polyestertrikot. Obenrum war alles schnell getauscht. Ins Stocken geriet Robin, als sie ihre Hose herunterzog. Deutlicher als erhofft schimmerte die bläuliche Hochziehwindel unter ihrem Slip hindurch. Und dass ihre Unterwäsche deutlich dicker war als sonst konnte man so auch mehr als gut sehen. Zumindest von vorne. Robin überlegte, ob sie einfach ihren Sportlehrer anschwindeln sollte und vorgeben sollte, ihre Tage zu haben um beim Sportunterricht aussetzen zu können. Kein Problem.
Aber es wäre unfair gegenüber Jakob.
Himmel, sollte sie wirklich ihr ganzes Sozialleben für ihren kleinen Bruder aufs Spiel setzen? Besorgt drehte Robin sich zur Seite und sah durch den fleckigen Spiegel auf ihren Po. Vor ihrem geistigen Auge sah sie an sich denselben Windelpo den sie an Jakob sonst immer so süß fand, doch durfte erleichtert feststellen, dass hinten wirklich gar nichts erkennbar war – außer der blaue Farbton. Zudem reichte ihr Slip sowohl vorne als auch hinten mehrere Zentimeter höher als die verdammte Drynites. Eigentlich war sie safe. Trotzdem stopfte Robin, kaum hatte sie ihre schwarze Sportshorts hochgezogen, noch ihr Trikot in die Shorts hinein, auch wenn das modisch wirklich zweifelhaft aussah. Konnte man machen, sah aber in der Kombi echt nur mittelmäßig aus. Aber was tat sie nicht alles für Jakob?
Sie schlüpfte in die Adidas-Hallenschuhe, stopfte ihre Straßenkleidung in den Turnbeutel, atmete noch einmal tief durch und verließ die Toilettenkabine wieder.
„Hey Girl, wirklich alles okay bei dir?“, fragte Franzi in dem für sie so eigenen überbesorgten Tonfall. Bis auf Franzi war die Umkleide nun völlig verwaist. Durch die gekippten Oberlichter zog der Wind hinein während aus der geöffneten Hallentüre das quietschen der Turnschuhe zu hören war. Robin nickte noch ein bisschen überfordert: „Ich musste … sehr plötzlich … Ich … ich glaub, ich hab mir die Blase verkühlt am Wochenende oder so, dass muss es sein …“, antwortete sie Franzi leise. Sie wusste, dass ihre beste Freundin eine bessere Antwort brauchte als ein ,ja, alles okay‘.
„Ohhh shit Sis …“, antwortete die Fünfzehnjährige, während sie durch den Flur zur Turnhalle liefen: „Nicht dass du dir noch Jakis … Windeln ausborgen musst!“, scherzte sie überschwänglich, bemüht ihre Freundin aufzuheitern.
Etwas mehr als eine Stunde später um kurz nach Elf:
Aufgeregt rannten die Kinder aus der 5a die Stufen im noch leeren Treppenhaus herunter. Auch Jakob strahlte von einem Ohr zum anderen. Ausgerechnet Herr Hammer, ihr sonst so strenger Mathelehrer, hatte seinen Unterricht heute schon sieben Minuten vor Pausenbeginn beendet und seine Schüler angesichts des Wetters in eine vorgezogene Hofpause geschickt. Plötzlich versuchte nichtmal mehr Marcel, auf cool und erwachsen zu tun, stattdessen liefen all die Zehn- und Elfjährigen begeistert wie die Kinder die sie eigentlich noch waren dem Schneetreiben entgegen und Jakob fühlte sich vielleicht zum ersten Mal nicht fehl am Platze in seiner Klasse.
„Lass uns eine Schneeballschlacht machen“, schlug Fenix vor.
„Ohh mein Gott jaaa!“, kreischte Paul aufgeregt, während er seine Adidas-Jacke zuknöpfte.
„Aber gegen wen? Wir brauchen Gegner! Wollen wir …“, überlegte der elfjährige, sportliche Marcel, während er die Tür zum Pausenhof aufdrückte.
„Wir können doch …“, schlug Jakob schüchtern doch begeistert vor: „ … uns vor der Tür aufbauen und alle anderen, die in die Pause gehen bewerfen?“
„Woah!“, lachte Marcel: „Oh mein Gott das wird so lustig!“
„Alter!“, lachte Paul und tippelte aufgeregt mit den Beinen: „Das wird Mörder!“, kicherte er.
Jakob kniete sich in den Schnee und war froh, dass Robin ihm heute Morgen Handschuhe mitgegeben hatte. Und die dicken Winterstiefel!
Mit beiden Händen und Armen schob er einen Schneehaufen zusammen. Aufgeregt rief er: „Kommt, wir brauchen Munition, wenn gleich Alle kommen!“
Nicht nur Fenix, sondern auch viele andere Kinder liefen zu Jakobs Schneehaufen und begannen, Schneebälle vorzubereiten.
„Lass uns auf zwei Seiten Aufbauen!“, schlug Marcel vor, nachdem er mit den Füßen auch auf der anderen Seite der Türe den Schnee zusammengesammelt hatte: „Das ist viel besser, Kreuzfeuer!“
„Ja Mann!“, rief Andre woraufhin sich die Schüler auf beide Seiten des Eingangs verteilten. Nicht alle hatten Handschuhe dabei, sodass Einige einen ihrer Handschuhe auszogen und mit ihren Freunden teilten während andere sich ihren Jackenärmel über die Finger stülpten.
„Eine Mauer! Für die Deckung!“, fiel Jakob ein, als er sah, wie viele Schneebälle sie jetzt schon hatten. Die etwa zehn Schüler um ihn herum begannen damit, wie er es vorhin vorgemacht hatte, den Schnee zusammen zu schieben. Doch Jakob blieb kurz stehen, biss sich auf die Lippe und sah sich um: „Wie lange haben wir noch?“, fragte er aufgeregt.
„Äh …“, antwortete Theresa und musste ihre Uhr erst einmal unter mehreren Kleidungsschichten freilegen: „Zwei Minuten!“, rief sie, während ihre Brillengläser beschlugen. Doch Jakob hatte gar nicht auf ihre Antwort gewartet stattdessen war der schmächtige Junge auf die andere Seite der Sitzgruppen gelaufen, wo ein einsames, eingeschneites Pappschild an der Hauswand lehnte. Bevor seine Mitschüler überhaupt mitbekommen hatten, worüber er nachgedacht hatte, kam Jakob auch schon zurückgerannt. Mit einem Schild in den Händen, das beinahe größer war als er selbst.
Mit einem lauten Knall lies er es zu Boden fallen: „Wir … schieben!“, schnaufte er aufgeregt, seine Wangen waren mittlerweile rötlich.
„Tschüüüüsh!“, staunte Marcel: „Jakob, Alter, mega die Idee!“
Zusammen mit Paul schob Jakob mithilfe des Plakatschildes einen Riesenhaufen Schnee von rechts an den Eingang heran. Je mehr Schnee sich vor dem Schild türmte, desto schwerer wurde das Schieben. Mit aller Kraft lehnte sich Jakob gegen das Schild während er die Wärme, welche er plötzlich zwischen seinen Beinen spürte, ausblendete. Beide Jungen drückten so stark wie sie konnten gegen das Schild: „Hee … Unterstüzung!“, rief Paul, hörte auf gegen das Schild zu drücken und verschnaufte. Jetzt lies auch Jakob locker, stellte sich wieder aufrecht hin und sah zu seinem Mitschüler. Plötzlich spürte er ganz deutlich, mit welcher Kraft heißes Pipi in seine Windel sprudelte. Mit einer Hand drückte er gewohnt und instinktiv zwischen seine Beine während gleichzeitig sein Blick glasig wurde weil sein Körper im Gegensatz zu ihm schon wusste, dass Einhalten ab jetzt zwecklos war. Kaum erhöhte seine Hand vorne den Druck auf seine Pampers, fühlte sich plötzlich alles hundertprozentig klitschnass an da unten. Pipi schwappte hoch bis zu den Bauchbündchen seiner vollgepinkelten Windel, das spürte Jakob ganz deutlich.
Mit einem athletischen Hechtsprung sprang Marcel von der anderen Seite aus über das Schild zu ihnen rüber: „Zu dritt schaffen wir das, kommt Leute!“, motivierte er Paul und Jakob. Beide Jungen stemmten sich wieder gegen das Schild und dessen Schneehaufen und auch Jakob drückte sein ganzes Körpergewicht gegen die Holzkonstruktion während er sich noch einen kurzen Moment weiter vollpinkelte. Warm war ihm jetzt auf jeden Fall. Aber überall, nicht nur da unten.
Immer mehr Schnee, türmten die drei Jungen erst auf der rechten, dann auch auf der linken Seite des Schuleinganges auf, sodass man, als schließlich die Schulglocke läutete, sicherlich auch ein kleines Fahrrad darin hätte verstecken können.
„Alle auf ihre Positionen!“, schrie Jakob aufgeregt und hockte sich hinter die grade erbaute Deckung. Beim hinknien bemerkte er, dass er seine Beine gar nicht mehr ganz zusammendrücken konnte, weil seine Pampers so dick geworden war und bekam ein mulmiges Gefühl, was er eine Sekunde darauf auch schon wieder vergessen hatte. Marcel rannte wieder zurück auf die andere Seite ihrer Gasse und Paul duckte sich neben ihn. Fenix auch.
Plötzlich wurden alle Kinder ganz still.
Aus der geöffneten Schultüre hallte ein leises Kreischen, Schreien, Lachen. Es grollte in ihre Richtung wie ein Donner und wurde immer lauter.
Jakob hielt die Luft an und dachte an Nichts außer an die Schlacht, die sie erwartete.
Leise und ruhig sagte er, sodass beide Seiten ihn hörten: „Wartet bis ich los sage, damit wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben!“
Marcel nickte ihm von der anderen Seite aus zu.
Dann kamen sie. Mädchen und Jungen, etwas älter, sechste, vielleicht siebte Klasse. Rannten in den Schnee, aufgeregt und begeistert, so wie sie es vor weniger als zehn Minuten selbst gewesen waren. Sahen in den Himmel, wo die Flocken immer noch in Scharen vom Himmel fielen. Trockener, weicher Schnee, so dick, dass man kaum mehr die Bäume auf der anderen Seite des Schulhofes sehen konnte. Eine Schülerin breitete die Arme aus und begann sich zu drehen …
„Jeeeeeeetzt!“, rief Jakob.
Wie gut geölte Maschinengewehre feuerten die Schülerinnen und Schüler der 5a Schneeball um Schneeball auf ihre ahnungslosen Mitschüler. Die kreischten und wussten zuerst nicht, wie ihnen geschah. Einige reagierten schnell, sammelten den geplatzten Schnee vom Boden auf, pressten ihn schnell mit zwei Handgriffen wieder zusammen und zielten zurück auf die Kinder, die sie grade abgeworfen hatten. Und wurden im selben Moment umso unerwarteter aus der anderen Richtung getroffen! Panisch zogen sich manche ins Schulgebäude zurück, andere wiederrum rannten – nicht unbeschadet – durch den Schneekugelhagel hindurch. Mehrere Minuten schaffte es die 5a, ihre Stellung zu halten, bis die Siebtklässler von hinten an sie ranschlichen und sie mit ihren eigenen Waffen schlugen.
Schnell zerstreute sich die Klasse, sodass, sich die wenige Minuten später auf dem Schulhof eintreffende Pausenaufsicht nur noch über ein herumliegendes Schild und zwei merkwürdige Schneeberge wundern konnte. Voller Kraft sprinteten Jakob und Marcel vor den Siebtklässlern davon, wobei Marcel nicht nur seine Verfolger, sondern auch seinen wesentlich kleineren Mitschüler spielend abhängte. Doch dafür war Jakob, auch wegen seiner grünschwarzen Geox-Winterstiefel, ausgesprochen wendig und brachte sogar einen der großen Jungen zum Ausrutschen, als er unerwartet eine Kurve schlug. Lachend und außer Atem trafen sich Marcel und er kurz darauf auf der anderen Seite des Schulgebäudes, geschützt von den großen Betonpfeilern des Turnhalleneingangs wieder. „Boah Jakob …“, schnaufte der Elfjährige anerkennend: „ … warum bist du nicht immer so wie eben? Dann würden wir dich gar nicht mobben ey.“
Jakob lächelte verlegen, während ihm mit einem Mal wieder klar wurde, wieviel größer, stärker und reifer Marcel war. Über diesen Satz würde Jakob sich noch lange den Kopf zerbrechen. Er hatte sich doch gar nicht anders verhalten als sonst, oder?
Doch ehe Jakob sich traute, seinen Mitschüler zu fragen, klingelte schon die Pausenglocke.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Einfach jedes Kapitel top! Definitiv meine Lieblingsgeschichte ever, Giaci!
Könnten sich Jakob und Fenix mal etwas ausführlicher über das Thema Windeln unterhalten – v.a. da Fenix ja bis vor kurzem auch welche trug nachts – und dabei auch auf die Frage zu sprechen kommen, ob Fenix seine Windel auch benutzt hatte, wenn er (noch) nicht (mehr) am Schlafen war.
und wird Jaki wieder mal ein grosses Geschäft in die Windel machen – vielleicht auch nur um auszuprobieren, wie es sich so anfühlt?
Ja – die beiden sollten sich echt mal Unterhalten! Und nebenbei gibt es ja auch noch Max Knopp, den Enkel vom Bürgermeister, bei dem Jakob vor einigen Kapiteln im Zimmer zu Gast war und der offensichtlich ins Bett gemacht hatte am selben Morgen. Vielleicht sollten sich sogar alle drei Kinder mal unterhalten … 😉
Das mit dem großen Geschäft, da schwanke ich immer ein bisschen, aber eigentlich will ich es einbauen. Es muss halt richtig passen von der Story her, das macht es schwierig. 😀
Ich kann mich nur anschließen. Es ist wie immer großartig geschrieben. Besonders gut hat mir die Schneeballschlacht gefallen. Ich frage mich, ob andere auch den Schulhof ihrer 5. Klasse dabei vor Augen hatten? Es war sehr lebhaft, aber dein Schreibstil lässt nichts anderes zu.
Großes Lob an dich, Giaci. Wie immer.
Ich fand es toll dass du alle drei Geschwister berücksichtigt hast, was aber jeden (außer Jakob) etwas kurz kommen ließ. Bei Robin und Dave wäre mehr rauszuholen, ich bin jedoch sicher, dass das in den nächsten Teilen kommt. Also sie es bitte nicht als Kritik. Es ist die Ungeduld einer Lesern.
Weiterhin bleibe und bin ich treu und warte geduldig auf den nächsten Teil. Ich bin ziemlich sicher, dass du diese Story zu einem vernünftigen Ende führen wirst.
Ganz liebe Grüße.
Im Schultag wollte ich bewusst den Alltag von allen zeigen, freut mich, dass es dir gefällt. Eigentlich hat Jakob – zumindest quantitativ – auch gar nicht so einen großen Teil in dem Kapitel. In zwei Szenen etwas mehr als 1500 von >5000 Wörtern, da haben seine großeren Geschwister mehr „Screentime“. Aber du sagst ja selber, dass die die Schneeballschlacht am besten gefällt – mir eigentlich auch, der Rest ist irgendwie nicht so mitreißend, auch wenn da eigentlich grade die spannenderen Sachen passieren. Ich weiß wirklich nicht genau warum, irgendwie bin ich viel besser darin, Jakobs Part zu schreiben als den der Jugendlichen. Vielleicht macht das ja die Übung …
Bei Robin kommt auf jeden Fall noch mehr direkt im nächsten Teil – hätte eigentlich hier schon reingemusst, aber ich hab mich zu sehr in Details verloren und dann war das Kapitel zu lang … 😀
Nach „Wersndas“ hab ich schon gewusst, dass das wieder ein guter Teil wird
Na also wenn das so wird, dann lass ich meine Charaktere einfach häufiger nuscheln! 😀
Wie immer sehr sehr schön geschrieben.
Vielen Dank, freut mich! 😀
Hi zusammen,
Mensch, ich hab wieder viel zu lange gewartet mit dem reagieren auf eure Kommentare. Ich hoffe, ihr lest meine Kommentar-Kommentare noch … 😀
Tun wir 😉