Alles wird besser, vielleicht sogar gut (4)
Windelgeschichten.org präsentiert: Alles wird besser, vielleicht sogar gut (4)
Es war schon fast Mitternacht, als Onkel Phil mich zurück in unsere Kabine trug. Schlafend. Die letzte Runde Scrabble war einfach zu viel. Tilda hatte sich schon 30 Minuten vor mir ins Land der Träume verabschiedet. Nur Juli hatte tapfer durchgehalten. Aus nachvollziehbaren Gründen. Beim Einschlafen hätte er sich nämlich automatisch den Daumen in den Mund gesteckt. Und darauf hätten seine Großeltern garantiert nicht wirklich entspannt reagiert. Schlimm genug, dass ihrem Enkel der Fauxpas mit der roten Grütze passiert war. Und dann war ja noch die Sache mit Julis restlichen Ferien! Und dem Hotel seiner Großeltern und dem Angebot für Onkel Phil. Mir schwirrte der Kopf. War ich eigentlich wach? Träumte ich gerade? So viel war in den letzten Tagen passiert. Und auch unser letzter Abend machte da keine Ausnahme. Ich war glücklich. Trotz inzwischen wieder klatschnasser Windel. Konnte mich aber beim besten Willen nicht mehr genau erinnern, woher das gute Gefühl kam, dass alles wieder gut werden würde! Vielleicht von den Tabletten? Nein. Es war irgendwas, das die Erwachsenen besprochen hatten. Ich schnaufte kurz, als Onkel Phil mich auf sein Bett legte und verlor dadurch das letzte bisschen Konzentration, das ich mir im Schlaf mühsam zusammengesucht hatte. Mist. Fast hätte ich mich erinnert. Jetzt war’s zu spät. Der Schlaf hatte mich endgültig erwischt. Dass Onkel Phil mich nach dem Wickeln nicht in meinen Schlafanzug steckte, sondern mir nur ein T-Shirt und eine Strumpfhose anzog, bekam ich nicht mehr mit. Hatten wir aber genau so besprochen. Wir würden relativ früh zurück im Hafen sein und hatten dann nicht viel Zeit, unsere Kabine zu räumen. Zeit für einen langen Klamottenwechsel würde da ziemlich sicher nicht bleiben!
Während ich also meine letzte Nacht friedlich in meinem Unterwasser-Bett verbrachte, hatte Onkel Phil noch gut zu tun. Taschen packen, aufräumen, Computer und den ganzen anderen Krimskrams verstauen, Platz für zwei große Windelpakete finden. Noch ein paar Mails schreiben. Und noch kurz ein Telefonat mit Julis Großeltern führen. Er lächelte zufrieden, als er das Gespräch beendete. “Alles wird besser, Paul! Vielleicht sogar gut!”
Es war früh. Viel zu früh, verdammt, als mich am nächsten Morgen ein nerviges Brummen aus dem Bett trieb. Mein Bett, mein Zimmer, ja das ganze Schiff schien zu vibrieren. Ätzend. Maulend wollte ich in Onkel Phils warmes Bett flüchten, traf dort aber nur eine sauber gefaltete Bettdecke. Und auch hier war dieses doofe Brummen. War also nix mit weiterschlafen. Deshalb setzte ich mich schmollend auf die Bettkante und beschloss, zumindest extra langsam wach zu werden. Soviel Trotz musste sein. Es blieb aber bei der Theorie. Denn keine zwei Minuten später kam Onkel Phil aus dem Bad. Fix und fertig angezogen und bester Laune. “Endlich Paul!”, rief er mir zu, während er die letzten Klamotten in die große Reisetasche stopfte und mir mit der freien Hand meinen Jumpsuit ins Gesicht warf. “Ziehst du dich bitte an? Wir gehen in 10 Minuten von Bord! Spürst du nicht, dass das Schiff bereits anlegt?” Ah, dass war das Brummen. Bitte was? 10 Minuten? Wie lange hatte ich geschlafen, zum Teufel? Ich war ehrlich gesagt noch mächtig überfordert. Und das war mir offensichtlich auch anzusehen. “Hey, kleiner Mann!”, schaltete Onkel Phil einen Gang runter. “Wir haben beide ein bisschen länger geschlafen, als geplant. Deshalb müssen wir jetzt Gas geben, okay?” Natürlich war das okay. Ich musste mich nur ein paar Minütchen auf die Situation einstellen. Und wie sollte das überhaupt gehen, in zehn Minuten alles auf die Reihe zu bekommen? Klamotten raussuchen, aufräumen, packen. Außerdem wollte ich schon gerne aus meinen nassen Windel raus. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch meine Tasche bereits gepackt im Flur stand. Und dass ich nicht wirklich im Schlafanzug geschlafen hatte. Noch mehr Verwirrung. Immerhin konnte ich mir dann doch ein paar Bruchstücke des späten gestrigen Abends zusammenpuzzeln.
Okay, packen und die Klamottenfrage waren also bereits geklärt. Blieb die nasse Windel. Kurze Info an Onkel Phil. Der blieb entspannt. Klopfte kurz auf meinen Windelpo und gab dann Entwarnung. “Sorry Paul. Die Windel muss echt noch ein bisschen halten!” Das konnte schon sein. Ich kannte die enorme Saugleistung der Dinger. Trotzdem hing das Riesending bereits schwer zwischen meinen Beinen. Egal. Wir mussten jetzt erstmal vom Schiff runter. Also stieg ich mit Onkel Phils Hilfe in den Jumpsuit, schlüpfte in meine Klettstiefel, zog mir eine dicke Jacke und eine warme Fleecemütze an und war exakt zehn Minuten später abmarschbereit. Auf meinem Rücken mein kleiner Rucksack, in der gesunden Hand eine kleine Tasche und zwei Lunchbags, die die Passagiere von der Crew vor die Türen gestellt bekommen hatten. Ein magerer Ersatz fürs ausgefallene Frühstück. Aber besser als nix. . Unterm Strich ein perfektes Timing. Aber irgendwie doch viel zu schnell. Ich wäre gerne nochmal übers Schiff gelaufen und hätte mich, ganz wichtig, nochmal von Juli und Tilda verabschiedet. Alles nicht mehr möglich. So richtig bewusst wurde mir das erst, als mich Onkel Phil in meinen Kindersitz in seinem Auto schnallen wollte. Da kamen die Tränen. “Alles okay Paul?” Ich nickte, wirkte aber in Kombination mit den parallelen Schluchzern nicht wirklich glaubwürdig, glaube ich. Diese ewig Heulerei war mir langsam selbst unangenehm. Half aber alles nix. “Warum weinst du dann?”, kam die offensichtlich ernstgemeinte Frage zurück. Hallo? Onkel Phil war doch sonst nicht so schwer von Begriff? Meine Freunde! Ich würde meine Freunde nicht mehr sehen. Also, wahrscheinlich nicht mehr. Okay. Juli würde ich vielleicht nochmal in der Stadt sehen. Sie waren immerhin noch die ganze restliche Woche auf der Insel. Tilda aber nicht. Jetzt war es Onkel Phil, der sichtlich verwirrt war.
Er kratzt sich am Kopf und sah sehr, sehr überrascht aus. “Erde an Paul? Kann es sein, dass weder Juli noch Tilda noch du gestern Abend so richtig mitbekommen habt, was wir Erwachsenen besprochen haben?” Ähm, doch klar. Also, bestimmt. Glaube ich … nicht. Da war sie wieder, die Leere im Kopf. Und in meinem Blick. “Okay, also nochmal in Kurzform: Juli wird heute und Morgen mit seinen Großeltern noch ein paar Verwandte und Bekannte besuchen, darf dann auf Sylt noch in zwei Klassik-Konzerte und ist spätestens zum Wochenende bei uns auf Rømø. Und da bleibt er, bis nach deiner OP und der Reha für euch beide die Schule wieder anfängt. Und Tilda wird dich spätestens zur OP jeden Tag besuchen. Sie wohnt nur einen Ort von der Klinik entfernt. Aber jetzt mal ehrlich: Hast du das alles vergessen?”. Stille. Himmel, was war nur mit mir los? Und dann kam zurück, was mein Gehirn gestern Abend ganz offensichtlich nicht mehr so richtig verarbeitet bekommen hatte. Juli würde den Rest der Ferien bei uns sein. Ich würde Tilda wiedersehen. Es war der Kracher! Das unbändige Glücksgefühl vom Vorabend kam zurück. Und Freudentränen. Jede Menge Freudentränen. Bämm! Der Glückskind-der-Woche-Award ging eindeutig an mich!
Bevor wir uns auf den Weg nach Rømø machen konnten, wo wir den Rest der Ferien in einem alten Leuchtturmwärter-Häuschen mitten in den Dünen verbringen würden, mussten wir aber beide erstmal was essen. Die beiden belegten Brötchen und der Kakao aus meiner Frühstückstüte wirkten Wunder. So langsam kam mein Hirn wieder auf Touren. Und auch Onkel Phil war nach dem kurzen Snack wieder bestens gelaunt. “Ich hab uns eine Passage auf der ersten Fähre gebucht. Vorher, sollten wir aber noch ein paar Sachen einkaufen!”, schlug er mir vor. “Unser Kühlschrank auf der Insel wird mehr als leer sein. Außerdem brauchen wir dringend Feuchttücher und Hausschuhe für dich!” Ich nickte kurz, während Onkel Phil nach Heul-Krampf und Spontan-Frühstück endlich dazu kam, mich anzuschnallen. Nächster Halt: Supermarkt. Das würde ein echter Großeinkauf werden. Lebensmittel waren in Dänemark vergleichsweise teuer. Deshalb wollte Onkel Phil so viel wie möglich auf Sylt besorgen und dann gegen 10 mit der Fähre rüber auf die dänische Nachbarinsel. Das nächste Schiff. Diesmal aber für nichtmal eine Stunde. Das war alles echt krass. Erst hatte ich es zehn Jahre nichtmal geschafft, auf ein Paddelboot zu kommen und dann war ich auf einmal mehr oder weniger permanent auf See. Ich versuchte beim Gedanken an die Fähre ein möglichst gleichgültiges Gesicht hinzubekommen. Egal ob Kreuzfahrtschiff oder Fähre, Paul der Seefahrer kennt sich aus. Alles easy, Leute. Selbstbewusstsein vortäuschen konnte ich. Mein klassischer Reflex, um Unsicherheit vorzutäuschen. Rømø statt Sylt. Eine neue Unterkunft. Eine Sprache, die ich überhaupt nicht verstand. Und dann die Sache mit der OP. Ich wahr ehrlich gesagt ziemlich aufgeregt.
Bevor ich Gelegenheit hatte, von mir selbst genervt zu sein (elender Schisser), bog Onkel Phil auch schon auf den Parkplatz des großen Supermarktes, auf dem wir uns mit allem eindecken wollten, was wir für die restlichen 14 Tage an Lebensmitteln, Getränken und Knabberzeugs brauchen würden. Vor allem Letzteres würde uns nach diesem Einkauf nicht ausgehen. Dafür hatte ich gesorgt, als wir quasi als erste Kunden des Tages in den ziemlich neuen Laden kamen. Schnelle Orientierung, dann marschierte ich los. Onkel Phil fand’s sehr unterhaltsam, wie sorgfältig ich die Regale mit ungesunden “Nahrungsmitteln” abarbeitete. “Ich mag wie die denkst, Paul! Milch und Eier sind nicht ganz so wichtig, wenn man ihr Fehlen mit Gummibärchen und Orangenlimonade kompensieren kann!” Alter Spielverderber. Hatte der nichts besseres zu tun? Die neuen Feuchttücher auftreiben, vielleicht? Er schnaubte empört und schob den fast komplett gefüllten Einkaufswagen zur Drogerieabteilung. “Ich geh ja schon!” Brav. Dass man auch immer schimpfen musste, mit der Verwandtschaft. Immerhin erledigte Onkel Phil seinen Auftrag mehr als pflichtbewusst. 12 Packungen der neuen Feuchttücher, die er sich bei Tilda abgeguckt hatte, landeten im Einkaufswagen und bildeten zusammen mit der neuen großen Packung Einweghandschuhe und einem Paket Einmal-Wickelunterlagen die Spitze des Einkaufs-Eisbergs. Feuchttücher. Einweg-Handschuhe, Wickelunterlagen. Ich hatte plötzlich einen Klos im Hals. Das waren alles “meine” Sachen. Dinge, die Onkel Phil Geld ausgeben musste, weil ich noch eine ganz Weile auf diese dämlichen Windeln angewiesen war. Windeln. Das war überhaupt das Stichwort. Fand auch Onkel Phil, der inzwischen wieder neben mir stand. Wenn auch ein bisschen anders, als ich das gemeint hatte. “In 20 Minuten macht die Apotheke hier auf, dann können wir auch deinen Windelvorrat aufstocken!”, erklärte er mir. “Das Rezept habe ich noch vom Schiff aus hierher gemailt!” Was? Rezept? Warum? Ach so. Uff, er hatte mich auf dem ganz falschen Fuß erwischt. Und die Sache ging noch weiter. “Kannst ja mal ausrechnen, wieviel wir ungefähr brauchen werden, Paul! Kleiner Tipp: Es sind noch drei Wochen bis zu deiner OP und aktuelle kommst du auf ca. sechs Windeln pro Tag und eine pro Nacht!”
Oh Mann. Mathematik. Jetzt? Das ging jetzt auf keinen Fall. Weil… ich versuchte mich zu konzentrieren. Weil … Stille. Weil ich jetzt erst ganz dringend diese Dose Ravioli aufheben muss, die vorhin unter eines der Regale gerollt ist. Das war natürlich Unsinn. Da war nix unterm Regal. Aber das wusste Onkel Phil ja nicht. Und in diesem Moment war alles besser als diese völlig überflüssige Kopfrechnerei. Sehr pflichtbewusst beugte ich mich nach unten. Und dann war es auch schon zu spät. Ich spürte die Ladung erst, als sich das Gefühl in meiner Windeln dramatisch veränderte. Vor Schreck vergaß ich fast zu Atmen. Ganz automatisch ging ich leicht in die Knie und wartete, bis sich die Wärme gleichmäßig um meinen Po herum verteilt hatte. Schon wieder alles in der Windel. Mitten im Supermarkt. Genervt richtete ich mich auf und verdrehte die Augen. Ein schneller Blick in die Umgebung. Niemand zu sehen. Immerhin. Dann ein intensiver Blick zu Onkel Phil. Auch der hatte offensichtlich nix mitbekommen. Statt dessen wollte er tatsächlich nach wie vor wissen, wieviel Windeln ich im restlichen Urlaub noch brauchen würde. Üblicherweise wäre in dieser Situation der nächste Nervenzusammenbruch fällig gewesen. Und ganz ehrlich: In dem Fall hätte ich mich sogar verstehen können, immerhin stand ich mit einer randvollen Windel in einem Supermarkt. Eine Tatsache, die in den nächsten Minuten jeder würde riechen können, der sich mir und Onkel Phil näherte. Es kam aber anders. Weil ich es zum gefühlt ersten Mal in meinem Leben schaffte, schlagfertig zu sein. Wieviele Windeln? Mit oder ohne die, die ich jetzt gleich brauche? Ha! Eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten ist vielleicht nicht nett, aber effektiv. Onkel Phil hielt kurz inne. Dann ein Blick auf meinen Po. Ein kurzes Nicken von mir. Und die Sache war erledigt. Also, so gut wie. “Kein Problem, im zweiten Stock gibt’s eine Wickelmöglichkeit, wenn ich das Schild da vorne richtig deute! Vorher will ich aber erst den Rest des Einkaufs hinter uns bringen! Und dann noch deine neuen Hausschuhe besorgen. Der Schuhladen liegt eh auf dem Weg. So lange geht’s doch noch, oder?” Ich nickte tapfer, auch wenn ich mehr ehrlich gesagt alles andere als sicher war.
Die Schlange an der Kasse war zum Glück mehr als überschaubar. Kein Wunder, zu der frühen Stunde. Und da ich die Bescherung noch nicht nicht wirklich riechen konnte, hatte ich durchaus Hoffnung, dass es auch den Leuten drumherum nicht anders gehen würde, Also souverän die Kassiererin anlächen und anschließend aus dem Laden watscheln. Watscheln? Ja, watscheln. Anders ging es echt nicht mehr. Die Windel war nicht nur nass und entsprechend schwer und steif, sie zog jetzt auch noch am Po nach unten. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie ich den Abstecher im Schuhgeschäft hinter mich bringen sollte. Da würde ich mich ja vielleicht sogar hinsetzen müssen. Alleine bei dem Gedanken kam mir fast der Magen hoch. “Geht’s noch?” Onkel Phil musste meine Gedanken gelesen haben. Ich räusperte mich und versuchte, nicht gernevt loszuheulen. Denke schon. Es ging dann tatsächlich. Weil ich die ultradicken Windeln immernoch unterschätzte. Und weil man sich irgendwie dran gewöhnt, wenn man sich erstmal mit einer vollen Windeln hingesetzt hat. Das musste ich ja tun, weil der junge Verkäufer mir erst die Füße vermessen und dann diverse Hausschuhmodelle zur Anprobe zu Onkel Phil und mir bringen wollte. Auch gut. Ich schloss also kurz die Augen und setze mich tapfer auf die gepolsterte Sitzbank. Ich bekam umgehend mit, wie sich mein Windelinhalt überall dorthin verteile, wo ich ihn nie haben wollte. Nach den ersten Schreck-Sekunden legte sich der Ekel aber überraschend schnell. Als würde man auf einem lauwarmen Coolpad sitzen.
Die ersten Schuhmodelle, die der Verkäufer anschleppte, trugen allerdings wenig dazu bei, die Sache zu einem schnellen Ende zu bringen. Zu unpraktisch, zu dünn, zu dick, zu rot, zu unbequem. Ich hatte an jedem Schuh was auszusetzen. Der Grund war einfach: Ich fand Hausschuhe ja grundsätzlich unnötig und hoffte so, um die ganze Sache herum zu kommen. Das klappte … natürlich nicht. Irgendwann, so zwischen dem 20. und 25. Paar Schuhe, nahm Onkel Phil die Sache in die Hand. “So, schluss mit dem Theater!” Zielsicher griff er unter den Hausschuh-Berg und zog ein paar hellblaue Filzschuhe mit Gummisohle, Klettverschluss und Eisenbahn-Motiven hervor. Zwei schnelle Handgriffe, schon hatte ich die Dinger an meinen Füßen. “Die passen doch, oder?” Ich nickte. “Wunderbar. Dann nehmen wir die!”, sagte er daraufhin zum ebenfalls überraschten Verkäufer, der sich sehr beeilte, meine neuen Hausschuhe in einen Karton zu packen und zur Kasse zu sprinten. Nur nicht nochmal 20 Paar raussuchen müssen. Dann war erstmal Ruhe. Und langsam kam meine Wut hoch. Was sollte der Mist? “Paul, bevor du dich jetzt aufregst!”, nahm mir Onkel Phil wie immer den Wind aus den Segeln. “Ich musste das jetzt hier abkürzen, weil du inzwischen einen mehr als eindeutigen Geruch verbreitest. Und weil deine Windel anfängt auszulaufen!” Nochmal Ruhe. Okay, die Sache mit dem Duft war zu erwarten. Aber wo lief ich denn bitte aus? Panisch sah ich an mir runter. Nix. Also Entwarnung? Von wegen. Vorsichtig zog mich Onkel Phil von der Sitzbank hoch und zeigte auf die zwei dunklen Flecken auf dem gelben Stoff. Und schon war sie wieder da, die Panik. Ich tastete an meinem Hintern entlang und spürte Feuchtigkeit. Noch mehr Panik. Und wieder die Stimme von Onkel Phil. “Noch ist nicht viel passiert, aber du musst jetzt aus der Windel raus!”. Mit knappen Worten schickte er mich aus dem Laden, ging zur Kasse und schob mich wenige Augenblicke später in den Aufzug in Richtung Obergeschoss. Kurz darauf schloss er die Tür des Wickelraumes hinter uns, legte eine der neuen Einweg-Wickelunterlagen auf die Kunststoff-Liege und begann, mich vorsichtig aus meinen Klamotten zu schälen. Das kannten wir beide ja schon. Reine Routine. Und doch war etwas anders: “Wir haben ein kleines Problem, Paul!”, meinte Onkel Phil, als er den Reißverschluss des Jumpsuits öffnete. Problem? Also neben der Tatsache, dass sich da grade ein Zehnjähriger in seine Windel erleichtert hatte und gewickelt werden musste? Scherzkeks. Mein Sarkasmus blieb mir aber postwendend im Hals stecken, als Onkel Phil weiter sprach: “Das Problem sind die Wechselklamotten!” Und dann kam ich selbst drauf. Fuck! Onkel Phil hatte recht. Alle meine Hosen waren in der Wäsche, der Jumpsuit war gestern Abend mein letztes sauberes Kleidungsstück gewesen. Schöner Mist. “Ich habe noch einen Body, einen Hoodie und eine der Wechselstrumpfhosen im Rucksack. Mehr aber nicht!”, kam die offizielle Inventurmeldung von Onkel Phil. Schöne Bescherung. “Du wirst also zumindest bis heute Nachmittag mit einem etwas reduzierten Look leben müssen!”, stand für Onkel Phil der weitere Verlauf bereits fest. Pragmatismus-Modus. Wie immer. Ich war frustriert. Dieser Windel-Quatsch ging mir sowas von auf den Zeiger. Ich war zehn Jahre alt, zum Teufel. Ich wollte mir weder Gedanken über den Füllungsgrad meiner Windel machen, noch mit Windelpo und Strumpfhose durch einen Supermarkt laufen müssen, zum Teufel.
Erst als ich die weiche Zellstoffoberfläche der Wickelunterlage unter mir spürte und Onkel Phil die eingesaute Windel mit einem ekligen “flomp” in den Mülleimer fallen ließ, verzog sich mein Ärger langsam. Es war, wie es war. Drei Wochen noch, dann hatte ich die Sache hoffentlich hinter mir. Und auch wenn wir beide in dieser Situation nicht viel sprachen konnte ich Onkel Phil ansehen, dass er gerade wenig Freude bei dem verspürte, was er tat. Bei aller Wut, das vergaß ich immer wieder: Gewickelt zu werden ist im Zweifel nicht halb so unangenehm, wie einen Zehnjährigen zu wickeln, dessen Windel in allen Bereichen über ihrer Belastungsgrenze lag. Also: Schluss mit dem Gejammer. Die drei Wochen würden wir auch rumkriegen. Und so stand ich gut 15 Minuten später abmarschbereit im Wickelraum. Roter Hoodie, hellgrün-blaugestreifte Strumpfhose, braungrüne Gore-Tex-Stiefel. Immerhin war der Hoodie lang genug, um nicht nur meinen Windelpo ganz gut zu verstecken, sondern auch die extrem peinliche Grinse-Sonne, die hinten auf der Strumpfhose aufgedruckt war. In Kombination mit meiner geringen Größe sah ich damit zwar aus wie ein frühreifer Vorschüler, war aber gerade so vorzeigbar. Positiver Aspekt der Wickelpause: Wir konnte jetzt direkt weiter zur Apotheke, die sich als riesige Filiale mit angeschlossenem Sanitätshaus entpuppte.
Entsprechend schnell war die Sache mit den Windeln erledigt. Vier Pakete Windeln mit jeweils 40 Windeln stapelten sich jetzt im zweiten Einkaufswagen, den wir in weiser Voraussicht vorher besorgt hatten. 160 Windeln. Das war eine riesige Menge, aber da ich mittlerweile auch die Rechenaufgabe von vorhin hinter mir hatte wusste ich, dass ich bei sieben Windeln pro Tag bis zur OP noch 147 Windeln brauchen würde. Mindestens. Also: Unterkiefer wieder hochklappen. Können wir dann los? Konnten wir nicht. Weil Onkel Phil die Gelegenheit zu einem Windel-Rundumschlag nutzte. “Wir suchen noch eine Lösung, wie Paul trotz Windeln schwimmen gehen kann”, überraschte er mich mit einer Frage an den Mitarbeiter aus dem Sanitätshaus. Schwimmen? Darüber hatten wir ja noch gar nicht gesprochen? Und wie sollte das gehen? Mit Windel und Gipsarm? “Ah, okay!”, kam von dem Mitarbeiter zurück. “Da finden wir sicher eine Lösung!” Und schon wanderte sein Blick zu mir. Ich hatte allerdings noch genug damit zu tun, das Chaos in meinem Kopf in den Griff zu kriegen. Also: keine Antwort. Was den guten Mann nicht wirklich zu stören schien. “Wenn ich das richtig sehe, dann ist Pau rund um die Uhr auf Windeln angewiesen? Und wir sprechen nicht nur von abgehendem Urin, sondern auch von Enkopresis?” Jetzt schalteten meine Ohren in den Notfall-Modus und leuchteten in der Folge knallrot auf. Ging’s vielleicht noch lauter? Wollten wir mein Windelproblem vielleicht noch auf ein Schild schreiben, das ich durch die Gegend tragen könnte? Während ich also Probleme damit hatte, nicht sofort in Tränen auszubrechen, waren der Verkäufer und Onkel Phil bereits losmarschiert in den hinteren Bereich des Ladens. Ich trottete hinterher. Der Mann führte uns in einen hübsch eingerichteten Raum, auf dessen Tür “Inkontinenzberatung” stand. Tür zu und schon schalteten meine Ohren wieder auf Normalfarbe um. Immerhin ein bisschen Privatsphäre und … Windeln. Oder korrekt: Inkontinenzprodukte, wie der Verkäufer, er hieß Martin Taubner, erklärte. Alles Produkte, die Menschen und natürlich auch Kindern wie mir das Leben erleichtern sollten. Wahnsinn. Ich kannte ja bislang nur Pullups und die Windeln, die ich trug. Herr Taubner bekam von meinem Erstaunen nicht viel mit. Er stellte statt dessen eine durchsichtige Plastikbox mit ein paar Pullups und Badehosen auf den Tisch, die ich so noch nie gesehen hatte. “Eigentlich ist die Sache nicht so kompliziert: Menschen, die lediglich Urin verlieren, können mit solchen Schwimmwindeln schwimmen gehen!” Er gab mir und Onkel Phil jeweils eine Pullup in die Hand. “Die saugen sich im Wasser nicht voll und sorgen vor allem außerhalb des Wassers dafür, dass keine Unfälle passieren. Im Wasser spielt es eigentlich keine Rolle, was mit dem Urin passiert. Das Chlor im Wasser kommt damit klar! Anders sieht es aus, wenn die Patienten eben nicht nur Urin verlieren. Durch seine Enkopresis darf Paul nur dann in öffentliche Schwimmbäder wenn sichergestellt ist, dass auch im Wasser alles in der Windel bleibt!” Oh wow, das war zu viel Input in zu kurzer Zeit. Und auch Onkel Phil war noch nicht ganz im Thema. “Okay, wie kriegen wir das dann hin?”, fragte er noch auffallende planlos. “Damit!”, erklärte Herr Taubner und holte eine große rote Badehose aus der Box. “Das sind Spezial-Hosen aus Neopren, die über die Schwimmwindeln gezogen werden. Sind sind sehr eng geschnitten und sorgen dafür, dass der Windelbereich auch im Wasser dicht bleibt! Die meisten unserer Patienten tragen drüber Badeshorts und können so ganz normal ins Schwimmbad, ohne dass irgend jemand etwas auffällt!”. Jetzt war ich platt. Das klang wirklich nach einer ziemlich guten Lösung. “Perfekt, das nehmen wir!”, machte Onkel Phil bereits Nägel mit Köpfen. “Sehr gerne!”, erwiderte Herr Taubner. “Paul hat Konfektionsgröße 128, wenn ich das richtig sehe?” Onkel Phil nickte. “Gut, dann empfehle ich Ihnen, gleich so eine Box zu nehmen. Darin sind sechs Schwimmwindeln und zwei Neopren-Hosen enthalten. Damit kommen sie locker klar! Paul muss sich nur noch für Farbe und Muster der Überhosen entscheiden!” Und schon stand ich vor einem Regal, in dem unzählige dieser Neoprendinger gestapelt waren. “Hier ist deine Größe, such dir einfach zwei aus!”, sagte Herr Taubner und begann, sechs Schwimmwindeln in eine neue durchsichtige Box zu packen. Die Entscheidung war nicht so einfach. In meiner Größe gab es kein einfarbigen Neoprenhosen. Dafür jede Menge bunte Kindermotive. Und das war echt ein Problem. Ich wollte auf keinen Fall mit einer Benjamin-Blümchen-Badhose irgendwo auftauchen. Oder mit lustigen braunen Bärchen auf gelbem Neopren. Ich entschied mich dann irgendwann für die zwei am wenigsten peinlichen Modelle: Eine rote Hose mit einem bunten Rennwagen auf dem Po und eine bunt gestreifte Version. Beide verschwanden in der Plastikbox, die dann ihrerseits in einer Plastiktüte landete. Fertig, bezahlen, Abgang.
Es dauerte trotzdem noch fast 30 Minuten, bis wir endlich wieder im Auto saßen. Der Großteil der Zeit ging dafür drauf, den Inhalte der beiden Einkaufswagen ins Auto zu bekommen. Und alleine die Windelkartons nahmen die Hälfte des Stauraumes ein. Als wir dann endlich um kurz nach 9 vom Parkplatz fuhren, waren wir deutlich später dran, als geplant. Ziemlich platt kuschelte ich mich in meinen Kindersitz und war eine Ampel später eingeschlafen.
Autor: Der Beobachter (eingesandt via E-Mail, exklusiv)
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