Die Fußball-Jungs (2)
Windelgeschichten.org präsentiert: Die Fußball-Jungs (2)
Noah schaute aufgeregt auf die große Uhr über der Tafel. Nur noch ein paar Augenblicke,dann war endlich die langersehnte große Pause. Die Jungs der Klasse 3a konnten es kaum erwarten endlich auf den Pausenhof zu stürmen und Fußballsticker zu tauschen. Das Sammelfieber hatte die Kinder gepackt. Jeder hatte das Sticker-Sammelheft zur diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft und versuchte es so voll wie möglich zubekommen.
„Als Hausaufgabe macht ihr bitte die Seite 31 im Arbeitsheft.“, beendete die Deutschlehrerin Frau Schneider den Unterricht, als auch schon der Gong die große Pause verkündete.
Der achtjährige Lockenkopf kritzelte es kaum leserlich in sein Hausaufgabenheft und sprang auch schon von seinem Holzstuhl am Gruppentisch auf, griff nach seiner Brotdose im Schulranzen und lief den anderen Jungs hinterher auf den Pausenhof der städtischen Grundschule. Der Vormittag war angenehm warm. Von den Bäumen am Rande des Schulhofs hörte man die Vögel zwitschern und die längst aufgegangene Sonne tauchte alles in ein schönes Licht. Die Jungs der Klassen 3a und der 3b liefen grölend nach draußen und versammelten sich an einem sonnigen Plätzchen am Klettergerüst. Nach den beiden Deutschstunden waren sie wirklich froh, endlich in die Pause zu können. Kicken, Fußballsticker tauschen und einfach mal nicht still an seinem Platz sitzen. Genau das hatten die Jungs im Sinn, als sie sich in einem Kreis zusammenstellten und ihre Brotdosen öffneten. Neben den dick belegten Pausenbroten waren auch ein kleine Stapel an Fußballstickern in den Brotdosen deponiert. Die Grundschüler hatten die Sticker immer dabei, da sie durch das Tauschen ihre Alben mit den Fußballerportraits aller teilnehmenden Mannschaften möglichst voll bekommen wollten. Es gab hunderte verschiedene Aufkleber und es kostete viel Zeit, Energie und Taschengeld das Album voll zu bekommen. Aber Noah wollte es unbedingt schaffen! Allein schon, weil sein großer Bruder Jonathan ihn damals ausgelacht hatte und meinte, dass er ja nicht einmal die deutsche Nationalmannschaft zusammenbekommen würde. Aber Noah war kurz davor, seinen Bruder eines besseren zu belehren. Es fehlte bei der deutschen Nationalmannschaft nur noch ein einziger Aufkleber. So standen die Jungs also dicht zusammengedrängt und versuchten lautstark Sticker zu tauschen.
„Hast du Manuel Neuer doppelt?“, fragte Lukas mit den kastanienbraunen Haaren und der dicken Brille.
Noah witterte ein gutes Geschäft: „Ja, bekomme ich dafür deinen doppelten Andrea Pirlo?“
Die Aufkleber wechselten den Besitzer und wurden fachmännisch in der Brotdose verstaut.
„Boah, guckt mal!“, rief Maxi, der Torwart der F-Jugend plötzlich in die Runde, „Meine Mutter hat mir ein Päckchen mit Aufklebern in die Brotdose gepackt!“
„Mach auf! Mach auf!“, riefen die Kinder begeistert durcheinander.
Der Neunjährige riss vorsichtig das Päckchen auf und schaute die Sticker durch. Beim letzten Aufkleber jubelte er laut los: „Geil! Thomas Müller! Den brauch ich unbedingt noch!“
Noah verzog eine Miene. Ausgerechnet der Stürmer des FC Bayern München. Der einzige Aufkleber vom deutschen Team, der ihm noch fehlte. Und Maxi würde ihn für keinen Sticker der Welt eintauschen. Dabei brauchte Noah ihn doch so dringend! Er wollte seinem Bruder endlich mal beweisen, dass er auch etwas zu Ende bringen konnte. Das sein Sammelheft nicht kindisch und blöd war und das er damit locker so ein Fußballexperte werden konnte wie sein großer Bruder!
„Ich gebe dir dafür Xavi und Iker Casillias! Und sogar meinen doppelten Philipp Lahm!“, schaute der Achtjährige den Torwart seiner Mannschaft mit großen Augen an.
„Pff, vergiss es! Den tausche ich gegen keinen Sticker der Welt ein.“
Frustriert ballte Noah seine kleine Faust zusammen. Am liebsten hätte er wütend auf den Boden gestampft. Er war so kurz davor sein Ziel zu erreichen und da machte ihm ausgerechnet Maxi einen Strich durch die Rechnung.
Auf die Pausenaufsicht wirkte der laut diskutierende Haufen Jungs sicherlich chaotisch, wie sie aufgeregt die Aufkleber hin und her tauschten, bis ihnen schließlich langweilig wurde. Immerhin waren so langsam alle Tauschgeschäfte abgeschlossen.
Lukas ergriff das Wort: „Wir müssen das Match von gestern noch zu Ende spielen! Es stand 1:1. Das letzte Tor entscheidet!“
Gestern in der großen Pause hatten sich die Jungs der 3a und 3b auf dem kleinen Fußballplatz der Grundschule versammelt und waren gegeneinander angetreten. Allerdings ohne einen klaren Sieger. Nun galt es herauszufinden welche der beiden Klassen besser kicken konnte.
Noah war Abwehrspieler der F-Jugend beim SV Fichtenwald. Kein Spielmacher und kein gefeierter Torjäger, sondern einfach ein Kind, dass Spaß am Fußball hatte. Er war nicht so ehrgeizig und verbissen wie sein großer Bruder. Zwar war er als kleiner Draufgänger bekannt und sorgte nicht selten für blaue Flecke bei seinen Gegenspielern, aber es ging ihm dabei weniger ums Gewinnen, sondern eher um die Freude am Spiel. Zusammen mit seinen vier Teamkameraden stellte er sich in seiner Hälfte des Fußballfeldes auf und nickte dem anderen Team zu.
„Loooos!“, rief Lukas, der Stürmer in der gegnerischen Mannschaft war.
Der Ball wurde in die Luft geworfen und landete sogleich vor den Füßen von Lukas. Der raste geradewegs auf das Tor zu, vorbei an Noahs beiden Mitspielern im Angriff. Nun lag es an ihm den Angriff abzuwehren. Er hechtete nach vorne und kickte den Ball ins rettende Aus.
„Einwurf für uns!“, beanspruchte Lukas den Ball für sich.
Noahs Mannschaft stellte sich schützend vor ihrem Tor auf. Der Achtjährige mit den langen Locken merkte trotz all der Anspannung, dass er langsam pinkeln musste. Ausgerechnet jetzt! Wenn er sich beeilen würde, dann wäre er in wenigen Minuten wieder da. Aber konnte er wirklich jetzt sein Team im Stich lassen?
„Ähhh, ich muss mal.“, vermeldete er und sprintete in Richtung Eingang. Hier hatte die Jungs ihre Brotdosen deponiert, um sie nach dem Klingeln des Pausengongs wieder mit in die Klasse zu nehmen. Auch die blaue Brotdose von Maxi. Die Gedanken schossen durch Noahs Kopf. Wenn Maxi den Sticker von Thomas Müller gegen keinen Anderen eintauschen wollte, gab es nur eine Möglichkeit an den Stürmer des FC Bayern zu gelangen. Aber ihn einfach zu klauen und ins eigene Heft einkleben? Noah hasste es wie die Pest, wenn Jonathan ihm etwas wegnahm. Er kniff die Augen zusammen und traf eine Entscheidung. Er wollte den Sticker unbedingt haben! Mit einem schnellen Blick versicherte er sich, dass er unbeobachtet war und griff nach der Brotdose. Mit flinken Fingern holte er den Sticker von Thomas Müller heraus und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Mit verschwitzen Händen legte er die Brotdose zurück und lief zur Schultoilette.
„Komm schnell, Noah! Es steht immer noch 1:1!“, rief sein Teamkamerad, als er von der Toilette zurückkam.
Noah rannte wieder aufs Spielfeld und schubste Lukas, der gerade den Ball geschickt vor sich her dribbelte, zur Seite, um an den Ball zu gelangen.
„Ey, du Penner!“, brüllte dieser los, “Das war ein Foul!“
„Hä? Nie im Leben. Ich hab nur den Ball gespielt!“, verteidigte sich der blonde Lockenkopf.
Lautstark fingen die Jungs an zu diskutieren, bis es zu spät war und sie von der Pausenglocke zur Rückkehr in ihre Klassenräume animiert wurden. Der Haufen bunter Brotdosen wurde kleiner und der ein oder andere nahm noch einen letzten Bissen vom Pausenbrot. Da kreischte Maxi laut los, als alle bereits zurück im Klassenraum der 3a waren:
„NEIN! WO IST ER?!“
Alle drehten sich um und starten den Neunjährigen an. Tränen liefen sein Gesicht herunter. Mit entsetztem Blick fixierte er seine blaue Brotdose und konnte es einfach nicht fassen: Sein gerade erst erworbener Aufkleber von Thomas Müller war verschwunden!
„Kinder, bitte alle hinsetzen!“, rief die Mathelehrerin Frau Schmidt und stellte ihre große Ledertasche an ihrem Tisch vor der Tafel ab.
„Maxi, warum weinst du denn? Ist was passiert?“
Der Angesprochene wischte sich mit seinem T-Shirt die Tränen aus dem Gesicht bevor er antwortete:
„Mein Sticker von Thomas Müller ist weg!“
„Dein…Sticker?“, wunderte sich die Lehrerin, bevor sie sich an die kleinen Fußballsammelbildchen erinnerte, welche die Jungs in ihrer Klasse so in den Bann gezogen hatten, dass sie sogar auf dem Pausenhof damit tauschten.
Die ältere Pädagogin ging im ersten Moment davon aus, dass der Neunjährige ihn einfach verbummelt hatte und deswegen nun so traurig war: „Weg? Hast du ihn vielleicht verloren?“
„Nein! Er war eben noch hier in meiner Brotdose. Bevor wir Fußball gespielt haben.“
„In der Brotdose, sagst du? Dann muss ihn ja jemand da herausgenommen haben!“
Frau Schmidt blickte in die vielen Kindergesichter und versuchte vor allem bei den Jungs die Emotionen ihrer Schüler zu lesen. Vermutlich war einer der Drittklässler neidisch auf den Fußballsticker gewesen und hatte ihn geklaut. Als Übeltäter kamen ihr gleich mehrere ihrer Schüler in den Sinn. Anton, der Problemschüler schlechthin, zum Beispiel. Der war ja immer mit von der Partie, wenn es darum ging andere Schüler zu schikanieren. Oder Noah, der in ihren Augen sehr impulsiv war und oft ohne zu überlegen handelte. Vielleicht war es aber auch Aaron, der gerade die dritte Klasse wiederholte und glühender Fan des FC Bayern München war. Er hatte zum Sportunterricht stets sein rotes Trikot von Thomas Müller an und kam daher durchaus auch in Betracht, den Sticker entwendet zu haben.
Nun galt es den Jungen klar zu machen, dass man nicht einfach den Anderen etwas wegnehmen konnte, bevor Frau Schmidt mit dem Unterricht anfangen konnte.
„Also…weiß hier irgendjemand, wo der Sticker gelandet ist?“, fragte sie mit ernstem Blick in die Runde. Niemand meldete sich. Noah versuchte so gut er konnte unbeteiligt zu wirken. Er fühlte wie ihm heiß wurde und rechnete damit, dass jemand aufsprang und ihn beschuldigte. Sollte er sich melden und beichten, dass er der Übeltäter war? Vor der ganzen Klasse?
„Keiner? Nun gut. Bis Montag wird sich der Schuldige bei mir melden! Ansonsten werde ich eure Eltern informieren und mit der Tauscherei hier in der Schule ist dann endgültig Schluss! Das geht so nicht!“
Noah schluckte. Würde Frau Schmidt vielleicht sogar die Polizei informieren? Was, wenn man ihn verhaften würde wegen des Diebstahls? Die Gedanken in seinem Kopf fuhren Achterbahn. Plötzlich merkte er, dass seine Unterhose etwas nass wurde. Das passierte ihm immer, wenn er Angst hatte oder Ärger bekam. Er schlug die Beine übereinander, um besser einhalten zu können und verhinderte so, dass der Pipi-Fleck auf seiner Hose größer wurde. Allerdings war er schon etwa so groß wie seine Faust. Hektisch zog Noah sein Shirt herunter und setzte sich so hin, dass seine Sitznachbarn am Gruppentisches nicht sehen konnten. Das würde ja wieder Ärger geben, wenn Mama von der nassen Hose erfuhr. Jedoch wahrscheinlich weit weniger, als wenn seine Mutter das mit dem Sticker-Diebstahl herausbekommen würde.
Für Jonathan hätte der Freitag kaum besser laufen können! Die sechste und letzte Stunde vor dem Wochenende fiel aus, das Wetter war wunderbar und er würde heute Nacht endlich die alte Fabrik am Stadtrand erkunden. Sein Kumpel Simon und er hatten vereinbart, dass sie sich heute von Zuhause heraus schleichen und ihren Plan in die Tat umsetzen würden. Leider konnte sein Kumpel nicht schon am Nachmittag zu ihm kommen, da er heute Nachhilfe in Englisch bekam. Der Plan für die heutige Nacht war nicht ganz ungefährlich: Die Fabrik, in der früher Schuhe produziert wurden, lag schon seit Ewigkeiten still und war demnach vom witterungsbedingten Verfall betroffen. Es war strengstens verboten sie zu betreten, da nicht sicher war, ob sie nicht vielleicht einstürzen konnte. Die Fassade bröckelte bereits und viele der Fenster waren eingeschlagen. Vor ein paar Jahren hatte ein großer Investor das Grundstück gekauft, sich jedoch nicht weiter darum gekümmert. Zu hoch waren die Kosten für den Abriss. So war der einstige Hauptarbeitgeber der Kleinstadt nun zum Ort der Melancholie, weggesperrt hinter schweren Eisentoren, geworden.
Mit seinem coolen Schulrucksack, der nur an einem der Gurte lässig über der Schulter des Zwölfjährigen hing, machte er sich auf den Heimweg. Sein kleiner Bruder würde schon zuhause sein und hoffentlich nicht nerven. Er hatte schließlich noch wichtige Dinge zu erledigen! Der Rucksack für den nächtlichen Ausflug musste gepackt werden. Auch wollte er heute endlich die Saison bei Fifa zu Ende spielen und mit dem FC Valencia endlich die spanische Meisterschaft gewinnen. Da konnte er keine kleinbrüderliche Ablenkung gebrauchen!
„Hallooo!“, rief der Siebtklässler in den Flur herein, als er das Haus im Elsterweg betrat.
„Hallo, Großer. Wie war die Schule?“
„Wie immer. Gibt nichts Neues.“, versuchte Jonathan die Fragerei seiner Mutter mit rollenden Augen abzublocken.
Natürlich hatte Heike keine andere Antwort von ihrem älteren Sohn erwartet. Für ihn gab nie etwas neues oder spannendes zu erzählen. Daran hatte sie sich schon gewöhnt. Nach der Schule war Jonathan ohnehin nie sonderlich gesprächig. Er war nun einmal in einem schwierigen Alter. Die Tatsache, dass er seinen Vater nur jedes zweite Wochenende sah, machte die Angelegenheit für den Teenager nicht einfacher. Seine Mutter wusste das zwar, konnte ihrem Sohn jedoch nicht die Vaterfigur im Haus ersetzen. Schließlich musste sie sich ja auch um den Kleinen kümmern, der immer schon mehr von ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. So auch heute: Der dunkle Fleck auf dessen Hose war ihr natürlich sofort aufgefallen.
„Was ist da denn passiert, Noah?“
„Das…ähh…ist nur Wasser.“
„Sicher, dass das nur Wasser ist?“
„Jaaaa.“, quengelte der Grundschüler.
„Noah, wie oft soll ich es noch sagen?! Wenn du eingepieselt hast, dann sag es mir und flunker mich nicht an!“
Der Drittklässler zuckte zusammen und bekam durch den strengen Blick seiner Mutter zu verstehen, dass sie sein Spielchen nicht mitspielen würde.
„Oh man…jaaa.“, keuchte Noah genervt, „in Mathe ist es passiert. Ist aber echt nur ein ganz kleines bisschen Pipi.“
Heike seufzte: „Komm mit ins Bad.“
Gemeinsam gingen Mutter und Sohn die Treppe hinauf ins Badezimmer der beiden Brüder, wo Noah seine nassen Sachen auszog und sie vorsichtig seiner Mutter gab.
„Ich bringe es in die Wäsche. Gehst du bitte einmal duschen?“
Es war nicht das erste Mal in dieser Woche, dass eine von Noahs Hosen in die Waschmaschine musste. Am Montag hatte er es nach dem Fußballtraining am Nachmittag einfach nicht mehr halten können und hatte kurz vor der Haustür in die Hose gemacht. Im Fußballverein mochte er nicht auf die Toilette gehen und auf dem Heimweg hatte es auch keine Möglichkeit gegeben, sich irgendwo zu erleichtern. Das hatte er auch versucht seiner Mutter zu erklären. Die jedoch war der Meinung, dass Noah langsam alt genug war, um auch anderswo als Zuhause aufs Klo zu gehen. Natürlich wusste Heike, dass ihr jüngerer Sohn sich immer schon schwer damit tat, aber in letzter Zeit kam es doch häufiger vor, dass der Achtjährige für zusätzliche Wäsche durch nasse Hosen sorgte.
Mit einem Ruck zog der Achtjährige den Duschvorhang mit Blumenmuster zur Seite und stellte das warme Wasser an. Hoffentlich war Jonathan noch nicht von der Schule zurück. Der hätte sich sicher wieder darüber lustig gemacht, dass sein Bruder die Hose nass hatte. Der große Jonathan, der immer so viele Tore schoss, lange aufbleiben durfte und nachts keine Pampers mehr brauchte. Angesäuert seifte sich Noah mit dem Kinderduschgel ein. Die hellblaue Flasche zierte ein Junge und ein Mädchen, die Fußball spielten und versicherte extra sanft zur Kinderhaut zu sein. Der vertraute Geruch strömte in Noahs Nase und er entspannte sich langsam. Das warme Wasser, das seinen Körper herunterlief brachte ihn langsam auf andere Gedanken.
Er musste heute seinen großen Bruder ganz genau im Auge behalten. Schließlich wollte er herausfinden, was Jonathan gestern am Telefon besprochen hatte! Selbst mit seinen Zwölf Jahren durfte er nachts nicht mehr raus. Auch wenn er am Wochenende sogar bis 22:30 Uhr aufbleiben durfte, wurde von Mama genau darauf geachtet, dass auch ihr älterer Sohn ins Bett ging und das Licht ausmachte. Diskussionen waren da zwecklos!
Eine Dampfschwade waberte durch das Badezimmer, als Noah den Duschvorhang zur Seite zog und nach seinem flauschigen Handtuch griff. Mama hatte ihrem Sohn bereits eine frische Unterhose und eine neue Jeans auf den Rand der Badewanne gelegt. Mit dem Handtuch um die Hüfte gewickelt öffnete Noah den hölzernen Badschrank, um den Föhn herauszuholen. Der Schrank war ein geräumiger Platz für allerhand Sachen, die man in einem Badezimmer benötigte: Reinigungsmittel, ein Stapel Handtücher, Sonnencreme, Klopapier, Vorräte an Duschgel und Seife und natürlich Noahs Pampers. Neben der Packung Babywindeln stand natürlich auch die Dose Penaten Creme, die seine Haut schützte und deren Geruch nie wirklich aus seinem Leben verschwunden war. Nach kurzer Zeit waren Noahs Locken wieder trocken und er schlüpfte in die bereit gelegte Kleidung. Nun konnte das Wochenende so richtig losgehen! Mit schnellen Schritten tapste der Achtjährige in sein Zimmer, wo er seinen großen Bruder erwischte, wie er anscheinend etwas suchte.
„Was machst du in meinem Zimmer?!“, fauchte Noah.
„Ich such nur was.“, gab Jonathan abwesend zurück und wühlte in der Schreibtischschublade herum.
„Ey, lass das!“ Der Grundschüler stürzte sich auf den Eindringling und versuchte ihn vom Schreibtisch wegzuziehen.
„Ich such nur die verdammte Taschenlampe! Beruhige dich, du Zwerg!“, schnaubte der Zwölfjährige und wehrte den Angriff seines kleinen Bruders gekonnt ab.
„Die ist im Kleiderschrank. Aber du musst erst Fragen!“, beharrte Noah auf ein wenig Anstand.
„Boah, jetzt geh mir nicht auf die Nerven!“ Eigentlich hatte er gehofft, dass er die Taschenlampe gefunden hatte, bevor sein Bruder mit dem Duschen fertig war. Aber dafür war sein Zimmer einfach viel zu chaotisch.
„Mama hat gesagt, du darfst nicht einfach so an meine Sachen gehen!“
„Heul doch! Oder geh petzen.“, stöhnte Jonathan genervt und holte sich die Taschenlampe ohne zu fragen aus dem Kleiderschrank.
Tatsächlich bekam Noah feuchte Augen vor Wut. Er hätte natürlich laut nach Mama schreien können, aber damit würde er seinem Bruder nur zeigen, dass er wirklich eine Petze war. Jonathan kümmerte das jedoch wenig und schnappte sich die Taschenlampe aus dem Kleiderschrank. Ohne ein weiteres Wort ging her wieder hinüber in sein Zimmer und ließ Noah, der am liebsten laut losgeheult hätte, zurück.
„F-fick dich!“, brüllte der Kleine ihm noch hinterher, worauf ihm ein paar Tränen die Wangen herunterkullerten.
In seinem Zimmer legte Jonathan die Taschenlampe in seinen alten Fußball-Rucksack, den er für den nächtlichen Ausflug mitnehmen wollte. Nun hatte er alles zusammengesucht: Kamera, eine Flasche Cola, Walkie-Talkies und die Taschenlampe. Damit konnte nichts mehr schief gehen!
Der Rest des Tages verging wie im Flug. Jonathan vertrieb sich die Zeit mit seiner Playstation und Noah führte mit seinen Playmobil-Polizisten eine Razzia auf der Drachenritterburg durch. Aus seinem Zimmer hörte man dabei ein Hörspiel der Teufelskicker und hin und wieder eine helle Kinderstimme die „Stehenbleiben! Polizei!“ rief. Der kleine Lockenkopf hatte anscheinend mächtig Spaß nach so einem seltsamen Tag. Der Diebstahl des Fußballstickers war für ihn völlig in den Hintergrund gerückt und sollte ihm erst später wieder bewusst werden.
Nach dem gemeinsamen Abendessen der dreiköpfigen Familie kehrte Ruhe ins Haus ein. Heike und Noah machten es sich auf dem Sofa gemütlich und guckten einen Disney-Film auf Super RTL und Jonathan verkrümelte sich in sein Zimmer. Er wollte lieber einen spannenden Actionfilm gucken und nicht so einen Kinderkram. Mit gedimmten Licht machte er sein Zimmer zum Heimkino. Nur das Popcorn fehlte noch.
Vor der zweiten Werbepause merke der Zwölfjährige, dass seine Blase drückte. Er war durchaus dankbar für die sonst so nervige Unterbrechung des Films und ging herüber ins Badezimmer. Na toll! Kein Klopapier mehr in der Halterung. Da hatte sein kleiner Bruder mal wieder vergessen eine neue Rolle einzuhängen. Typisch Noah! Wie oft sollte er ihm das noch sagen?
Genervt zog Jonathan an der Tür des Badschranks, um eine neue Klopapierrolle herauszuholen. Da fiel sein Blick auf die türkise Plastikverpackung neben den Klopapierrollen. Die Windeln seines kleinen Bruders, der eben angefangen hatte zu heulen, nur weil er sich seine Taschenlampe ausgeliehen hatte. Der Kleine war schon komisch manchmal, wie ein Baby. Voll peinlich! Als Jonathan so alt war wie Noah damals, hatte er viel erwachsener sein müssen. Das war die Zeit, wo sich seine Eltern trennten, Noah gerade in den Kindergarten gekommen war und daher nicht viel Zeit für seine Bedürfnisse da war. Sein kleiner Bruder dagegen konnte sich bei Mama alles erlauben! Sein Zimmer war nie aufgeräumt, er half nicht im Haushalt und die Hausaufgaben nahm er auch nicht wirklich ernst. Er war so kindisch und benahm sich so, als müsste er sich um nichts kümmern, da Mama und Jonathan schon alles irgendwie erledigen würden. Das war so unfair!
Das der Zwerg nachts noch Pampers trug passte nur zu gut. Beim Wocheneinkauf landete seit eh und je immer wieder auch eine Packung der bekannten Babywindeln im Einkaufswagen. Noah pinkelte im Schlaf einfach so los, ohne es zu merken und sein Urin wurde von der Windel aufgesaugt, sodass Mama ihm am nächsten Morgen nur die nasse Pampers ausziehen musste und alles in Ordnung war. Nicht mal die Windel ausziehen konnte der Kleine alleine!
Wie sich das wohl anfühlte mit einer vollgepinkelten Windel aufzuwachen? Bestimmt voll eklig! Oder etwa nicht? Jonathan schüttelte seinen Kopf, als wolle er den Gedanken an die nasse Windel aus seinem Kopf vertreiben und hängte die Klopapierrolle ein, bevor er sich erleichterte. Gerade noch rechtzeitig kam er zurück in sein Zimmer, wo gerade das Ende des Werbeblocks verkündet wurde.
Kurze Zeit später klopfte es an seiner Zimmertür und Heike steckte ihren Kopf durch den Türrahmen. Es war bereits 21:27 Uhr.
„Jonathan, machst du denen Fernseher bitte etwas leiser? Ich mach Noah jetzt bettfertig.“
„Boah Mama, der ist doch überhaupt nicht laut!“, protestierte der Zwölfjährige.
„Du kennst die Regel: Eine Stunde länger aufbleiben, aber dafür leise sein! Oder willst du etwa wieder genauso früh wie Noah ins Bett müssen?“, beendete Heike die Diskussion, bevor sie überhaupt beginnen konnte.
Mit rollenden Augen stellte Jonathan die Lautstärke mit der Fernbedienung herunter.
„Ich sag schon mal Gute Nacht, Großer! Bis morgen.“
„Gute Nacht, Mama.“, lächelte der Siebtklässler seiner Mutter zu. Natürlich wusste er genau, dass er diese Nacht nicht brav in seinem Bett verbringen würde. Er hatte extra viel Cola getrunken, damit er auf jeden Fall wach blieb, bis alle im Haus eingeschlafen waren. Dann würde er zu Simons Haus gehen und ihn zu ihrem gemeinsamen Abenteuertrip abholen. Simons Zimmer lag glücklicherweise im Erdgeschoss, sodass er nur leise an seinem Fenster klopfen musste, damit er sich durch den Hintereingang seines Elternhauses heraus schlich. Die beiden Jungs wohnten ein paar Straßen von einander entfernt. Durch den Wald, der an das Wohngebiet der Kleinstadt angrenzte, konnte man die alte Schuhfabrik gut zu Fuß erreichen.
Während Jonathan den Actionfilm weiter guckte, faltete seine Mutter unten im Wohnzimmer die Pampers für ihren jüngeren Sohn auf. Der Disney-Film war fast zu Ende und Noah sah bereits ziemlich müde aus.
„Musst du nochmal aufs Klo, Noah?“, fragte Heike, bevor sie die Babywindel unter dem Po ihres Sohnes platzierte.
„Nö, muss nicht.“, entgegnete er abwesend und starrte weiter auf den Bildschirm des Flachbildfernsehers.
Heike seufzte. Komischerweise musste Noah vor dem Wickeln nie aufs Klo. Am nächsten Morgen war die Windel dann komplett nass, sodass der Verdacht nahe lag, dass der Knirps aus Faulheit einfach lieber in die Windel pullerte. Heute hatte er während des Films zwei große Gläser Apfelschorle getrunken und war schon länger nicht mehr auf Klo gewesen. Seine Mutter wusste aber, dass die Windel am Morgen so oder so nass sein würde und wollte nun nicht noch mit dem Kleinen diskutieren. Noah wurde eingecremt und die Klebestreifen der Pampers verschlossen, bevor er in seinen Schlafanzug schlüpfte.
„Jetzt wird aber nicht noch gelesen! Du kannst ja kaum noch die Augen offen halten.“, stellte Heike fest und brachte den Grundschüler in sein Bett, wo sie ihn liebevoll zudeckte.
„Schlaf gut, mein Schatz.“
„Gute Nacht, Mama. Hab dich lieb.“, hauchte der Achtjährige.
„Ich dich auch, Noah.“
Natürlich war er in Wahrheit noch hellwach. Schließlich wollte er herausfinden, was sein großer Bruder im Schilde führte! Er machte die Augen zu, jedoch nur, bis seine Mutter das chaotische Kinderzimmer verlassen hatte. Bei all den herumliegenden Playmobilfiguren, Kuscheltieren und Spielzeugautos musste Heike genau gucken, wo sie hintrat. Das Rollo vor dem Fenster konnte nicht ganz verbergen, dass es draußen fast noch ein bisschen hell war.
Nun galt es, volle Konzentration zu bewahren! Er musste genau hinhören, ob sich im Zimmer seines großen Bruders etwas tat. Um sich die Zeit etwas abwechslungsreicher zu gestalten, fischte Noah die Stirnlampe aus dem Micki-Maus-Heft aus den Tiefen seines Nachtschranks, damit er wenigstens etwas von den Neuigkeiten aus Entenhausen lesen konnte.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Noah hochschreckte, da aus dem Zimmer seines Bruders Geräusche zu hören waren. Leise und kaum wahrzunehmen, aber doch genug, um den gewickelten Grundschüler in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen. Hastig zog er seinen Schlafanzug aus und griff nach seiner Jeans. Dabei fiel sein Blick auf die dicke Babywindel zwischen seinen Beinen. Sollte er noch schnell die Pampers ausziehen und in eine Unterhose schlüpfen? Normalerweise nahm ihm Mama morgens immer die nasse Windel ab. Nein, dafür war jetzt keine Zeit! Er musste seinen Bruder verfolgen! Also zog er schnell die Jeans über die Pampers. Es gab ihm ein komisches Gefühl. Immerhin war es schon einige Jahre her, dass er die Pampers außerhalb seines Bettes getragen hatte. Wie ein Fremdkörper zwischen seinen Oberschenkeln, der von der Jeans gegen seinen Po gepresst wurde. Genau wie damals im Kindergarten, wenn er zur Sicherheit eine Windel angezogen bekam, da er schon eine Hose nass gemacht hatte und die Ersatzhose für den Rest des Vormittags halten musste.
Auch ein T-Shirt und ein warmer Pullover mit Skatebord-Aufdruck waren schnell gefunden und angezogen. Die Stirnlampe knipste er zwar aus, aber behielt sie zur Sicherheit um den Kopf gebunden. Wenn Jonathan schon eine Taschenlampe mitnahm, wäre eine eigene Lichtquelle sicher von Vorteil!
Leise konnte man Jonathans Zimmertür hören, gefolgt von kaum hörbaren Schritten auf der Holztreppe. Der Zwölfjährige trug seine schwarze Trainingsjacke und eine dunkle Jeans, um bestmöglich getarnt zu sein. Sein kleiner Bruder beobachtete vom Ende der Treppe aus, wie er seine Sneaker schnürte und durch die Haustür schlich. Nach einem kurzen Moment des Zögerns ging Noah die Treppe ebenfalls herunter, zog die Klettstreifen seiner dunkelgrünen Kangaroos stramm und ging hinterher. Zum Glück hatte Jonathan die Taschenlampe schon angeschaltet. So konnte Noah durch den Lichtkegel genau erkennen, wohin sein Bruder ging. Die Straße entlang bis zur Kreuzung. Dort bog der Zwölfjährige in Richtung der Kirche ab, wo das Wohngebiet sich noch über etliche kleine Straßen erstreckte. Das schmale, weiße Schild mit der Aufschrift Akazienweg lies vermuten, dass Jonathan zu seinem besten Kumpel Simon ging. Der bewohnte dort mit seinen Eltern einen schicken Bungalow. Das Licht der Taschenlampe erlosch und Jonathan stiefelte zielsicher durch den Vorgarten zur hinteren Seite des Bungalows. Noah wartete an der Vorderseite, um nicht entdeckt zu werden.
Leise Stimmen waren zu hören, als die beiden Siebtklässler den Bungalow durch die Hintertür verließen. Noah duckte sich hinter die aufgereihten Mülltonnen, die ihm nur notdürftig Deckung gaben. In seinem neongrünen Skatebord-Pulli war er leicht zu erspähen.
„Noah?! Was zur Hölle machst du hier?“, fauchte Jonathan und blickte den Lockenkopf hinter den Mülltonnen entsetzt an.
Autor: Spargeltarzan (eingesandt via E-Mail)
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Absolute Spitzenklasse! Solche Geschichten liebe ich, wo eben auch die Personen wirklich einen Charakter haben, den man nachvollziehen und verstehen kann. Und wo das Thema Windeln zwar eine Rolle spielt aber nicht das einzige Thema der Geschichte ist.
Ich bin hier z.B sehr gespannt wie es mit den Fußball Stickern weitergeht. Ganz verheimlichen wird er es sicherlich nicht können.
Sehr schöne Geschichte freu mich schon auf die nächsten Teile.
Die Charaktere werden super aufgebaut und das Thema Windeln steht nicht im Vordergrund bzw. wird nicht unnötig ausgeschmückt.
Mir persönlich gefällt auch das jeglicher Zwang oder Bestrafung fehlt, finde das hat in Geschichten mit Kindern einfach nix verloren.
So schön geschrieben!
Tolle Geschichte, wieder prima erzählt, guter Schreibstil, kein Zwang, er wird nicht zum Baby erzogen usw.
Und es muss immer im spannendsten Moment aufhören.
Hoffentlich geht es bald weiter.
Was hatten die Jungs vor? Will der ältere Bruder auch Windeln? Was passiert mit dem geklauten Fußball Bild?
Um beim Thema zu bleiben: europäische Spitzenklasse. Champions League Niveau!!!
Kanns kaum erwarten weitere teile zu lesen!
Voll gut! schreib bitte weiter.