Die Fußball-Jungs (8)
Dieser Eintrag ist Teil 8 von 8 der Serie Die Fußball-Jungs
Windelgeschichten.org präsentiert: Die Fußball-Jungs (7)
Die Fußball-Jungs – Kapitel 8
Noah hatte einen fantastischen Start in den Tag! An diesem Montagmorgen hatte er nur mit Mama zusammen gefrühstückt, da sein großer Bruder Jonathan zum Arzt musste und deswegen länger schlafen durfte. Das fand der Grundschüler eigentlich voll gemein, aber wenigstens hatte Mama so mehr Zeit für ihn gehabt und las ihm sogar von der Kinderseite der Tageszeitung vor. Zufrieden hatte er mit seiner nassen Pampers auf dem Küchenstuhl gesessen, seinen Kakao getrunken und aufmerksam zugehört, während das Radio leise im Hintergrund das neuste Lied von Lady Gaga spielte. Da er sich das Badezimmer heute nicht mit seinem Bruder teilen musste, konnte er seine Nachtwindel länger als sonst an Schultagen genießen. So gemütlich das Frühstück zu zweit auch war, langsam hatte er sich für die Schule fertig machen müssen. Mama half ihm natürlich und kümmerte sich um die gut gefüllte Nachtwindel ihres Sohnes. Nachdem er sich gründlich die Zähne geputzt hatte, schlüpfte er in seine Schuhe, zog die Klettverschlüsse zu und schulterte den Schulranzen.
„Tschüss Mama, hab dich lieb!“
„Ich dich auch, Noah. Bis nachher!“, hauchte Heike ihrem Sohn ins Ohr, während sie ihm zum Abschied eine Umarmung gab.
Mit seinem Schulranzen von Scout auf dem Rücken trat Noah nach draußen, wo er von angenehm frischer Morgenluft und dem Zwitschern der Vögel begrüßt wurde. Seitdem er in der dritten Klasse war, begleitete ihn Mama nicht mehr auf dem morgendlichen Weg zur Schule. In einem gemütlichen Tempo ging der Achtjährige den gewohnten Weg zur örtlichen Grundschule, wo schon hektisches Treiben herrschte. Einige Schüler wurden von ihren Eltern mit dem Auto gebracht, während andere mit dem Bus ankamen. Vor dem Eingang stand ein weinender Erstklässler, dessen Trinkflasche im Schulranzen ausgelaufen war, einige ältere Kinder jagten sich quer über den Pausenhof und eine der Lehrerinnen kam gehetzt mit einem Stapel Hefte an ihrem Arbeitsplatz an. Zuvorkommend hielt Noah ihr die Tür auf und begab sich in seinen Klassenraum, wo er an seinem Platz am Gruppentisch seine Sachen auspackte, bevor der Unterricht losging. Ein Zwicken im Bauch signalisierte dem Zweitklässler, dass der Frühstückskakao seine Blase erreicht hatte. Aber ehe er noch schnell auf die Toilette gehen konnte, ließ sich der Achtjährige vom wilden Treiben der anderen Kinder mitreißen und schob den Gedanken beiseite.
Der Geräuschpegel in der Klasse 3a war ohrenbetäubend als Frau Schneider, die Klassenlehrerin der unruhigen Grundschüler, den Raum betrat. Mit einem lauten Knall ließ sie ihre schwere Ledertasche auf das Pult vor der Tafel fallen und zeigte ihren Schülerinnen und Schülern so, dass der Matheunterricht begann.
„Guten Morgen, Kinder.“
„Guten Mooorgen, Frau Schneider.“, riefen die Schüler im Chor.
Die Pädagogin holte ihr Unterrichtsmaterial heraus und breitete es auf dem Lehrerpult aus.
„Bevor wir anfangen, müssen wir noch einmal über Maxis verschwundene Fußballkarte sprechen.“
„Fußballsticker!“, korrigierte der Torwart der D-Jugend. Er hatte schon vor dem Unterricht mit Frau Schneider gesprochen und ihr erklärt, dass der Aufkleber von Thomas Müller nicht wieder aufgetaucht war und sich über das Wochenende auch keiner seiner Mitschüler bei ihm gemeldet hatte.
Noahs Hände begannen zu schwitzen. Er war derjenige gewesen, der am Freitag in der großen Pause den Sticker des Topstürmers vom FC Bayern München aus der Brotdose seines Klassenkameraden entwendet und ihn zuhause in sein eigenes Stickeralbum geklebt hatte.
Die Miene der Grundschullehrerin verdunkelte sich. Sie wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich klären, damit sie ungestört mit dem Unterricht beginnen konnte. Mit einer eindringlichen Ansprache sollte sich der Übeltäter doch schnell zu erkennen geben.
„Also Jungs“, wurde Frau Schneider lauter, „hat einer von euch den Aufkleber geklaut?“
Noah wippte mit seinem Fuß hin und her. Der Achtjährige versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Hätte Frau Schneider ihn im Verdacht gehabt, dann hätte sie doch garantiert schon seine Mutter angerufen. So wie nach der Prügelei in der großen Pause, die er vor zwei Wochen mit einem frechen Zweitklässler hatte. Der Druck seiner Blase wurde durch die Nervosität immer stärker.
Auch der Rest der Klasse blieb still. Die Jungs der 3a schauten sich gegenseitig an und rätselte nun, wer den Sticker entwendet hatte. Außer Noah natürlich. Als Maxis Blick ihn traf, wusste der Stickerdieb, dass er es nicht durchhalten würde, weiter den Unschuldigen zu spielen. Er musste raus aus der Situation! Nur wie? Er konnte sich in diesem Moment ja nicht einfach melden und Frau Schneider fragen, ob er schnell auf die Toilette gehen durfte, auch wenn er gerade jetzt so dringend pinkeln musste. Einfach aus dem Klassenraum zulaufen war auch keine Option. Fieberhaft überlegte er, wie er schnellstmöglich verschwinden konnte. Da traf es ihn plötzlich wie einen Schlag: Wenn ein Schüler in die Hose machte, dann wurde er sofort ins Sekretariat geschickt, damit die Eltern telefonisch informiert werden konnten. Noah war das seit seiner Einschulung auch ein paar mal passiert. Seine Mama kam dann schnell von der Arbeit, fuhr ihn nach Hause und kümmerte sich um die nasse Hose. Natürlich war sie damals alles andere als begeistert, dass sie ihren Arbeitstag so abrupt beenden musste. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, presste der blonde Lockenkopf seine Oberschenkel zusammen und beugte sich leicht nach vorne auf den Gruppentisch, wo sein Mathebuch und die coole ausklappbare Fußball-Federmappe lag. Wie in Trance schloss er die Augen und versuchte loszupinkeln. Auch wenn Noah sich oft einpinkelte, manchmal in die Hose, oft in seine Windel, gab es da trotzdem diese innere Barriere, gegen die er ankämpfen musste. Wie beim Ausflug zur Fabrik, als ihm gar nichts anderes übrig blieb, als in seine Windel zu pullern. Er drückte, genau wie im Wald vor der alten Schuhfabrik. Erst kam nichts. Doch dann merkte er plötzlich, wie der warme Urin seine Hose bis zu den Knien durchnässte. Jetzt war der Urinfluss nicht mehr aufzuhalten! In seinem Kopf war für einen kurzen Moment völlige Stille. Bis die Hand seines Sitznachbarn Lukas ihn an der Schulter packte und ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückholte.
„Noah, du pinkelst dir in die Hose!“, rief der Junge mit den braunen Haaren und der dicken Brille aufgeregt und sorgte so für schallendes Gelächter bei den anderen Kindern. Der Angesprochene schaute an sich herunter und sah, dass nun ein großer Pipi-Fleck seine Hose zierte. Auch wurde sein Po klitschnass und angenehm warm.
„Was ist da los, Lukas und Noah?“, Frau Schneider konnte die Situation zuerst nicht einordnen. Alberten die beiden mal wieder einfach nur herum, oder hatte sich Noah tatsächlich in die Hose gemacht?
„Ich…ähh…“, Noah wurde rot im Gesicht und suchte nach einer Antwort. Jedoch kam ihm sein Sitznachbar zuvor: „Er hat die Hose nass! Richtig doll nass!“
Empört schaute Noah zu Lukas, mit dem er seit dem Kindergarten befreundet war. Musste er das unbedingt so laut durch die ganze Klasse krähen?
„Ihhh, wie eklig!“, beschwerte sich Mia, das blonde Pferdemädchen vom Gruppentisch nebenan.
Es folgte ein heilloses Chaos. Die Kinder der Klasse 3a redeten wild durcheinander, sodass Frau Schneider Mühe hatte, wieder Ruhe in den Klassenraum zu bringen.
„Ruhe Kinder, bitte!“, rief sie und ging auf den Jungen mit der nassen Hose zu, „Noah, komm bitte mit ins Sekretariat. Und ihr seid bitte leise und holt die Hausaufgaben raus, die ihr zu heute auf hattet.“
Beschämt stand Noah auf und folgte seiner Lehrerin. Seine Jeans klebte an den Oberschenkeln und fühlte sich unangenehm an. Ganz im Gegensatz zu der vollgepullerten Pampers heute Morgen. Der Vergleich wurde dem Grundschüler jetzt erst so richtig bewusst. Die Windel fühlte sich auch im benutzten Zustand wahnsinnig toll an.
Frau Schneider öffnete die Tür und nickte der Sekretärin Frau Gruber zu. Ihr Schüler hielt sich schützend die Hände vor den Pipi-Fleck und versuchte, der grimmigen Verwaltungskraft der Fichtenwalder Grundschule nicht in die Augen zu schauen. Sie war nämlich dafür bekannt, dass sie immer nur meckern konnte und ziemlich streng zu den Kinder war.
„Magst du bitte sie Mutter von Noah aus der 3a anrufen? Er hatte einen Unfall, wie du siehst.“, instruierte Frau Schneider die Sekretärin, die sogleich die Handynummer von Noahs Mama heraussuchte und zum Telefonhörer griff. Noah schluckte, denn er wusste genau, dass Mama nicht begeistert sein würde und es zuhause garantiert Ärger gab.
In der Hausarztpraxis hatten Heike und Jonathan im Wartezimmer Platz genommen. Der Siebtklässler holte seinen MP3-Player aus der Hosentasche und entwirrte das Kopfhörerkabel. Er war sauer! Wie konnte Mama nur von seinem Problem mit dem Bettnässen erzählen? Hatte Marlons Mutter mitbekommen, worum es ging? Garantiert, schließlich stand sie direkt hinter den beiden. Frustriert schaltete Jonathan das kleine Gerät an und steckte sich die zwei Stöpsel in die Ohren. So konnte Mama wenigstens kein Gespräch mit ihm anfangen und das peinliche Thema noch weiter vertiefen. Das Schlagzeug-Intro von „Know your Enemy“ der amerikanischen Rockband Green Day ertönte und ließ Jonathan die Welt um sich herum ausblenden. Er schnappte sich eine Fußballzeitschrift vom kleinen Tisch in der Mitte des Raumes und vergrub sein Gesicht darin.
Die schneeweiße Tür schwang auf und Marlons Mutter betrat das Wartezimmer. Ihre große Handtasche stellte sie neben Heike ab und setzte sich zu ihr.
„Hallo Heike, du auch hier? Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.“, fragte sie in einem überfreundlichen Tonfall.
„Hallo Sabine. Nein, seitdem unsere Jungs in verschiedene Klassen gehen nicht mehr.“
Marlons Mutter Sabine schlug die Beine übereinander und rückte ihre modische Brille zurecht.
„Hab ich das eben richtig gehört? Dein Großer macht nachts ins Bett?“, fragte sie schockiert.
Heike räusperte sich: „Also…ähh…“
„Ach Heike, ich hab doch selber vier Kinder. Das ist doch nichts schlimmes.“, versuchte die Frau Mitte Vierzig Heike zu beruhigen, „Solange es nur Pipi ist.“
Heike schaute verwirrt: „Wie…wie meinst du das?“
„Also Joris, mein jüngster Sohn, der will mit seinen Vier Jahren immer noch eine Windel für das große Geschäft. Das ist vielleicht anstrengend, sag ich dir!“
Heike musste sich beherrschen, nicht mit den Augen zu rollen. Was war das denn bitte für ein bescheuerter Vergleich? Natürlich konnte man ein Kindergartenkind nicht mit ihrem zwölfjährigen Sohn vergleichen. Dass es Kinder gab, die trotz Toilettentraining ihren Stinker noch in die Windel machen wollten, davon hatte Heike schon gelesen. Toilettenverweigerungssyndrom nannte man das in der medizinischen Fachsprache. Aber das war eine völlig andere Baustelle, als Jonathans Probleme mit dem Bettnässen!
„Das geht bestimmt vorbei, wenn er in den Kindergarten kommt. Da merkt er ja, dass die anderen Kinder auf die Toilette gehen und keine Windeln mehr brauchen.“, versuchte Heike das Gesprächsthema weg von ihrem Sohn zu lenken. Zum Glück konnte Jonathan durch seine Kopfhörer nichts hören.
„Hoffentlich, Heike! So langsam wird mir das echt zu viel mit dem Kleinen. Das mit dem Pipi klappt schon richtig gut, aber…“
„Ich verstehe schon!“, würgte Heike ihre Gesprächspartnerin ab. Sie brauchte keine Details zu der Geschichte. Sabine war für ihre einseitigen Monologe bekannt. Das hatte Heike bei den Elternabenden schon immer tierisch genervt. Egal ob Nachmittagsbetreuung, das Mensaessen oder der Schwimmunterricht: Über jedes Thema musste sie ausgiebig ihren Senf dazugeben und die Veranstaltung so unnötig in die Länge ziehen.
Kurze Zeit später wurden Jonathan und seine Mutter von der Sprechstundenhilfe aufgerufen und ins Behandlungszimmer vom Kinderarzt Dr. Vogel geschickt. Der Mann jenseits der Sechzig, mit der Glatze und dem weißen Vollbart, war seit jeher der Kinderarzt der beiden Brüder. Er hatte die Jungs von klein auf an begleitet und wusste daher auch, dass Noah nachts noch nicht trocken war. Mit einem mulmigen Gefühl setzte sich Jonathan auf die Behandlungsliege. Er fühlte sich unwohl und wollte nicht, dass Mama von seinem Problem mit dem Bettnässen erzählte. Zuerst aber begrüßte der ältere Mann den Zwölfjährigen und seine Mutter, gab beiden die Hand und setzte sich auf seinen Drehstuhl.
„Du hast die beim Fußball den Arm geprellt, Jonathan?“, fragte er mit ruhiger Stimme, worauf der junge Patient stumm nickte, „Dann lass mich doch mal sehen.“
Behutsam tastete der Doktor den verletzten Arm ab.
„Genau da tut es noch weh, wenn ich den Arm bewege.“, merkte Jonathan an, als Dr. Vogel fast an seiner Schulter angelangt war.
„Das wird noch einige Zeit dauern, bis die Prellung verheilt ist.“
Im Gesicht des Siebtklässlers konnte der Kinderarzt seine Sorgen erkennen. Hieß das etwa Fußballvebot? Womöglich sogar in den Sommerferien?
„W-wie lange dauert das? Und wann kann ich wieder Fußball spielen?“, stammelte Jonathan besorgt.
„Ich denke, dass du die nächsten zwei Wochen auf jeden Fall pausieren musst. Dann sehen wir weiter.“
Missmutig blickte der Zwölfjährige auf seine Schuhe. Warum mussten sich die Erwachsenen immer so kompliziert ausdrücken? Dr. Vogel wollte doch bestimmt nur beschönigen, dass er erst einmal nicht zum Training oder auf den Bolzplatz konnte! Dabei war Fußball doch sein Leben! Viel cooler als andere Sportarten oder Hobbies. Und da Mama ihm zur Strafe die Playstation weggenommen hatte, konnte er nicht einmal Fifa spielen und so wenigstens virtuell seiner Leidenschaft nachgehen.
Dr. Vogel machte ein paar Eintragungen am Computer und betrachtete kurz den Bildschirm. Die Sprechstundenhilfe hatte neben der Prellung noch einen weiteren Vermerk gemacht: Bettnässen. Natürlich wusste der Kinderarzt, dass der Jüngste der Familie, der achtjährige Noah, seit jeher Probleme damit hatte. Er wendete sich wieder seinem Patienten zu und schaute ihn freundlich an.
„Und da gibt es ja noch ein Problem, das wir besprechen müssen.“, versuchte er sich behutsam an das heikle Thema heranzutasten, „Du machst momentan nachts ins Bett?“
Jonathan wurde rot und in seinem Bauch machte sich ein Gefühl von Wut breit. Warum hatte Mama das der Sprechstundenhilfe gesagt und warum musste er sich jetzt dafür rechtfertigen? Er konnte doch überhaupt nichts dafür, dass sein Bett morgens nass war!
Beschämt nickte der Zwölfjährige wortlos und schaute demonstrativ zu Boden. Es war ihm einfach zu unangenehm, dem Doktor in die Augen zu gucken.
„Weist du…so etwas ist auch in deinem Alter nichts ungewöhnliches. Es kann ganz verschiedene Gründe haben, warum du nicht wach wirst, wenn du nachts pieseln musst. Zum Beispiel die beginnende Pubertät bei dir. Dein Körper verändert sich gerade in einem rasenden Tempo. Du machst quasi riesengroße Schritte in Richtung Erwachsenwerden. Da kann es durchaus mal zu Phasen kommen, wo die Blase einfach nicht hinterher kommt. Aber das bedeutet nicht, dass das jetzt für immer so bleibt!“
„Ich will einfach, dass das aufhört!“, maulte Jonathan mürrisch.
„Das ist ein total blödes Thema, ich weiß. Aber du kannst mit deiner Mutter und mir da offen drüber reden. Zusammen werden wir da sicherlich eine Lösung finden.“
Der Siebtklässler ballte wütend seine Fäuste und wurde laut: „Nein! Kann man gar nicht!“
Schockiert klammerte sich Heike an den ledernen Riemen ihrer Handtasche. Sie konnte an seinen leuchtenden Augen erkennen, dass ihr Sohn stinksauer war.
„W-was meinst du, Großer?“, fragte Heike besorgt.
„Immer erzählst du allen, dass ich…“, Jonathan stockte, „Marlons Mutter hat das eben voll gehört und Samstag im Krankenhaus hast du mich auch bei Noah verraten!“
„Das hat deine Mutter bestimmt nicht in böser Absicht gemacht.“, versuchte Dr. Vogel zu beschwichtigen.
„Aber das ist voll peinlich!“, schnaufte Jonathan.
„Natürlich ist das Thema unangenehm. Das versteht deine Mutter gewiss auch.“, sprach der Kinderarzt mit ruhiger Stimme weiter, „Aber jetzt müssen wir zuerst einmal schauen, dass wir das Problem in den Griff bekommen.“
Nach einem kurzen Durchatmen beruhigte sich der Zwölfjährige etwas und hörte dem Doktor zwar mit grimmiger Miene, aber doch aufmerksam zu.
„Vielleicht hast du einfach nur eine Harnwegsinfektion. Die kann man behandeln und das Problem wäre gelöst. Dafür müsstest du eine Urinprobe abgeben, die wir im Labor untersuchen lassen.“, erläuterte Dr. Vogel das weitere Vorgehen und holte einen kleinen Plastikbecher aus dem weißen Wandschrank des Behandlungszimmmers, „Musst du gerade zufällig mal pullern?“
Hektisch schüttelte Jonathan den Kopf. Da sollte er hinein pissen? Wie eklig war das denn bitte?
„Dann nehmt ihr den bitte mit und gibt ihn hier ab, wenn er voll ist. Am besten pieselst du gleich morgens hinein, bevor du in die Schule gehst.“
Heike verstaute den Becher in ihrer Handtasche: „Und wenn es keine Infektion ist?“
„Wenn wir eine Harnwegsinfektion ausschließen können, dann werden wir weiter nach der Ursache des Bettnässens forschen. Also Blutuntersuchung und ein Ultraschall der Blase. Das würde dann ein Facharzt für Kinderurologie machen. Aber alles zu seiner Zeit. Für dich ist jetzt erst einmal wichtig, dass deine Mutter und auch dein kleiner Bruder verständnisvoll damit umgehen. Also kein Schimpfen, kein Ärgern und kein Streit.“
Jonathan schluckte. All die Jahre hatte er Noah damit aufgezogen und ihm das mit den Pampers unter die Nase gerieben. Kaum eine Möglichkeit hatte er ausgelassen, seinen Bruder damit zu verspotten. Der kleine Nervzwerg war damit so leicht zu provozieren. Und jetzt sollte er von ihm verlangen, sich nicht darüber lustig zu machen? Der Siebtklässler merkte, dass sich das Blatt gewendet hatte und fühlte, wie sich sein Magen bei diesen Gedanken verkrampfte.
Nachdem Heike und Jonathan die Arztpraxis wieder verlassen hatten, schaute Heike auf ihr Handy, das sie lautlos gestellt hatte, um nicht gestört zu werden. Besorgt sah sie auf die Anzeige des Mobiltelefons, wo drei entgangene Anrufe angezeigt wurden! Es war eine Telefonnummer mit der örtlichen Vorwahl, aber keine ihr bekannte Nummer. Nachdem sie ein paar Tasten gedrückt hatte, ertönte das Freizeichen. Kurz darauf dröhnte eine tiefe Frauenstimme aus dem kleinen Lautsprecher: „Gruber, Grundschule Fichtenwald! Holen sie bitte sofort ihren Sohn ab. Er hat eine nasse Hose und kann nicht weiter am Unterricht teilnehmen.“
Kurze Zeit später wurde Jonathan am Lise-Meitner-Gymnasium abgesetzt und Heike fuhr weiter zur Grundschule. Telefonisch sagte sie auf der Arbeit Bescheid, dass sie heute doch nicht mehr ins Büro kommen würde. Ihr Chef war alles andere als erfreut darüber, wusste aber, dass die alleinerziehende Mutter keine andere Wahl hatte, als spontan einen Tag Urlaub zu nehmen.
Kaum an der Grundschule angekommen, betrat Heike auch schon den hell erleuchteten Flur, der mit selbstgemalten Bildern der Schülerinnen und Schüler geschmückt war. Das Sekretariat war neben dem Lehrerzimmer und mit einem Türschild in Regenbogenform gekennzeichnet. Die zweifache Mutter klopfte an und wurde hereingebeten.
„Mamaaa!“, rief Noah und rannte zu seiner Mutter. Die Zeit im Sekretariat mit der mies gelaunten Frau Gruber war furchtbar gewesen! Seine vollgepinkelte Hose war mittlerweile kalt und unangenehm geworden und er schämte sich sehr, obwohl er den Pipi-Unfall ja selber herbeigeführt hatte.
„Da sind sie ja endlich!“, fuhr Frau Gruber Noahs Mutter barsch an, „Ich hab hier zu tun und kann nicht die Aufpasserin für ihren Sohn spielen!“
„Entschuldigen sie die Verspätung. Aber ich musste noch…“, versuchte Heike sich zu erklären, wurde aber von der alten Sekretärin unterbrochen.
„Das spielt keine Rolle. Gehen sie bitte jetzt, ich muss weiterarbeiten!“
Heike griff nach Noahs Hand und zog ihn hinaus auf den Flur der Grundschule, ohne sich zu verabschieden. Von so einer beispiellosen Unfreundlichkeit wollte sie sich nicht beirren lassen. Es war kein Geheimnis, dass Frau Gruber jeden, egal ob Schüler oder Elternteil, grundsätzlich in dieser schrecklichen Art abfertigte!
„Ohje, dein Po ist ja ganz nass, Noah.“, musterte Heike ihren Sohn und suchte nach etwas, was sie zwischen Kindersitz und nasser Hose legen konnte, um schlimmeres zu verhindern. Im Kofferraum fand sie eine Plastiktüte von Aldi. Die würde wenigstens den Stoffbezug der Sitzerhöhung schützen. Vorsichtig setzte sich Noah auf die Tüte und wurde von Mama angeschnallt.
Die beiden fuhren nach Hause, wo Heike erst einmal durchatmen musste. Normalerweise hätte sie Noah erst einmal eine Standpauke gehalten, warum er sich schon wieder in die Hose gemacht hatte. Aber nach diesem unglaublich stressigen Vormittag musste sie auch mal an sich denken, schickte ihren Sohn unter die Dusche und kochte sich eine Tasse Entspannungstee. Sie hatte nicht die Kraft, jetzt noch mit dem Achtjährigen zu schimpfen und auch gingen ihr die Worte von Dr. Vogel nicht aus dem Kopf. Trotz all der zusätzlichen Arbeit, die Noahs nasse Hosen und Jonathans nasse Bettwäsche mit sich brachte, musste sie verständnisvoll reagieren. Zwar hätte sie im Moment lieber geschrien, musste sie doch an Noahs traurige Augen denken, als sie ihn aus dem Sekretariat abgeholt hatte. Das Leben mit den beiden Jungs war nicht immer einfach. Es war nicht wie in einer dieser Vorabendserien, die am Wochenende im ZDF liefen, wo immer alle glücklich und zufrieden waren. Kaum ein Tag verging, an dem sich ihre Söhne nicht stritten, oder mit Noah schimpfen musste, weil er einfach keine Lust auf seine Hausaufgaben hatte. Der Job einer Mutter war es eben, an 365 Tagen im Jahr für ihre Kinder da zu sein. Tag und Nacht und sieben Tage in der Woche. Ihr Ex-Mann Frank hatte es dagegen einfach: Er hatte die Jungs nur jedes zweite Wochenende und musste sich da selten mit Schulaufgaben herumplagen. Und selbst dann wohnte er ja wieder bei seiner Mutter auf dem alten Bauernhof seiner Eltern und hatte dadurch die Oma von Jonathan und Noah zur Hilfe. Er wusste vermutlich gar nicht, wie man seinem jüngeren Sohn die Nachtwindel anzog, da nach der Trennung dafür immer seine Mutter eingesprungen war. Das sah ihm ähnlich! Schon früher hatte er Heike mit dem Windelwechseln alleine gelassen, da das seiner Meinung nach ja eh Aufgabe der Mutter war. Kopfschüttelnd nippte Heike an ihrem Tee und wurde sogleich von Noahs hellen Stimme aus ihren Gedanken gerissen.
„Mamaaaa? Kommst du maaal?“, rief der Achtjährige von oben herunter.
„Ich komme, Schatz.“, seufzte Heike und stellte die Tasse auf der Küchenzeile ab.
Im Obergeschoss des Einfamilienhauses stand Noah mit einem Handtuch um die Hüfte gewickelt vor seinem Kleiderschrank und begutachtete den Inhalt. Seine blonden Locken hingen nun nass von seinem Kopf herunter, wodurch er fast wie ein kleiner Surfer aus einem amerikanischen Teenie-Film aussah.
„Kann ich das T-Shirt mit Pikachu drauf anziehen?“, fragte der kleine Wirbelwind und tippelte von einem Fuß auf den anderen.
„Kannst du. Ich such dir die Sachen raus. Du gehst aber erst mal aufs Klo, mein Lieber!“
Noah versuchte die Bitte seiner Mutter wie sonst auch zu ignorieren: „Ich muss nicht.“
„Noah, ich sehe ganz genau, dass du musst!“, wurde Heike ernst, „Ab aufs Klo.“
„Nö, muss ich gar nicht!“, maulte Noah, obwohl er am Blick seiner Mutter erkennen konnte, dass er keine Wahl hatte.
So blieb dem Grundschüler nichts anderes übrig, als auf die Toilette zu gehen. Heike kam mit einem Stapel Klamotten ins Badezimmer und half ihrem Sohn beim Anziehen. Auch beim Föhnen der Haare musste sie ihm zur Hand gehen. So setzte sich der Kleine frisch geduscht und gekämmt kurze Zeit später an den Küchentisch und schlug das Mathe-Arbeitsheft auf. Schriftliche Multiplikation stand auf dem Plan. Völliger Käse, wie der Drittklässler fand!
Heike hatte durch den spontanen freien Tag mal wieder etwas Zeit für sich. Mit einem guten Buch zog sie sich ins Wohnzimmer zurück, ließ jedoch die Küchentür offen, um noch mit einem halben Ohr bei Noah zu sein. Er konnte sich leicht ablenken und brauchte immer mal wieder einen kleinen Tipp. Doch nach und nach meisterte er die Aufgaben und präsentierte seiner Mutter stolz die vollgeschriebenen Seiten im Arbeitsheft. Zufrieden entließ ihn Heike in sein Zimmer, wo er sich wieder auf seine Ritterburg stürzte und im Handumdrehen das übliche Kinderzimmer-Chaos anrichtete. Vormittags zuhause zu sein war echt cool. Die anderen Kinder mussten noch in der Schule hocken und er konnte spielen und musste nicht still auf seinem Platz sitzen. Völlig vertieft spielte Noah den Rest des Vormittags mit seinem riesigen Playmobil-Fundus und bemerkte kaum, wie seine Mutter das Zimmer betrat, als Jonathan schon längst von der Schule zurück war.
„Du Noah, deine Lehrerin Frau Schneider hat gerade hier angerufen. Der Maxi aus deiner Klasse vermisst so einen Aufkleber mit den Fußballspielern drauf. Und er sagt, dass du ihm den geklaut haben könntest. Kannst du mir dazu etwas sagen?“
Autor: Spargeltarzan | Eingesandt via Mail
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Sehr interessant tolle Fortsetzung ☺
Es bleibt spannend. Mir gefällt die Geschichte sehr.