Die Geheimnisse der Kerkwald-Geschwister
Windelgeschichten.org präsentiert: Die Geheimnisse der Kerkwald-Geschwister
Klappentext:
Eigentlich läuft alles ganz gut für die drei Kinder der Familie Kerkwald: Die fünfzehnjährige Robin ist eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse, schmeißt nebenbei den halben Familienhaushalt und kümmert sich rührend um ihren kleinen Bruder Jakob. Der wird bald Elf, ist seit ein paar Monaten mehr oder weniger stolzer Fünftklässler und endlich dabei, das mit dem Trockenwerden richtig hinzubekommen. Und der Älteste der Drei, David, von seinen Freunden entweder „Dave“ oder schlichtweg „Kerkwald“ genannt, ist grundsätzlich sehr zufrieden mit seiner Rolle als Enfant-Terrible. Doch all das ändert sich an einem schicksalshaften Oktobertag …
Die Geheimnisse der Kerkwald-Geschwister
Kapitel 1 – Diese Familie!
Überfordert dröhnte der Motor des kleinen Fiats während Jakob das alte Auto vorsichtig die dunkle Bergstraße hinaufbugsierte. Vor den Lichtkegeln der gelben Scheinwerfern fielen dicke Schneeflocken zu Boden und die Spurrillen, die sie bei ihrer Fahrt ins Tal hinein erzeugt hatten waren kaum mehr erkennbar. Das Fahrzeugradio war bereits seit vielen Jahren defekt, sodass nur das Rauschen der gegen die Kälte ankämpfenden Heizung und das Vibrieren des Armaturenbrettes den Innenraum mit Geräuschen erfüllte.
„Schalten …“, murmelte David vom Beifahrersitz aus erschöpft und sah zu seinem kleinen Bruder hinüber. Ein wenig beleidigt riss Jakob den Schaltknüppel rabiat in die hintere Schaltgasse, ein Ruck ging durch das kleine Fahrzeug und das Motorengeräusch wechselte zu einem angestrengten, hellen Klackern. David nickte anerkennend und sah zu dem Jugendlichen, ja jungen Erwachsenen anfang Zwanzig auf dem Fahrersitz hinüber.
„Das ist aber auch steil hier!“, verteidigte sich der Fahrer, der den Blick seines großen Bruders nicht gesehen haben musste um genau zu wissen wie David ihn grade ansah.
„Ja total“, antwortete der Sechsundzwanzigjährige gänzlich ohne sarkastischen Unterton. Im Gegenteil: „Is auch wirklich schwer hier. Sorry, ich will einfach nur ankommen“, nickte er verständnisvoll, während er an der Gummidichtung des vorderen Dreiecksfensters herumpiddelte. Jakob atmete langsam aus und zwinkerte seinem Bruder zu: „Das schaff ich schon auch noch!“, lachte er, während er überflüssigerweise den Blinker setzte und in eine kleine Einfahrt abseits der ohnehin schon schmalen Passstraße einbog. Der ehemals neongrüne Kleinwagen war wirklich das einzige Auto weit und breit, welches an diesem Tag, um diese Uhrzeit, noch auf der Straße unterwegs war. Jakob brachte den Wagen in angemessenem Respektabstand zu den zwei großen schwarzen Autos mit deutschem Kennzeichen zum Stehen, riss die Handbremse so weit nach oben wie es ging und drehte den Zündschlüssel aus dem Schloss. Mit einem Mal war es dunkel und still. Synchron rissen die beiden Brüder die pappdünnen Fahrzeugtüren auf, stiegen aus und öffneten den knarzenden Kofferraumdeckel. Die Männer beluden ihre Arme mit so vielen Holzscheiten wie möglich, drückten unsanft den Kofferraumdeckel nach unten und eilten, ohne den Wagen abzuschließen, durch das Schneegestöber in Richtung der Blockhütte aus dessen Fenstern ihnen einladend warmes Licht entgegenstrahlte. Wer würde in dieser Gegend schon ein Auto stehlen? Und dann auch noch während der Weihnachtstage?
„Meine Güte, ihr habt aber ganz schön lang gebraucht um das bisschen Holz zu holen!“, lachte Robin, nachdem sie ihren beiden frierenden Brüdern Zutritt zum Ferienhaus verschafft hatte.
„Jakob ist gefahren“, wehrte sich David und zeigte in Richtung seines Bruders, welcher sich umgehend empört mit den Worten „Ja, sonst wären wir bestimmt gar nicht angekommen!“ verteidigte und für einen Moment, fand Robin, war alles wie früher.
Doch Jakob und David verloren sich nicht in Zankereien. Fleißig arbeiteten die beiden Brüder zusammen und so waren die Holzscheite rasch an ihren Bestimmungsort verfrachtet worden. Eine Teilmenge war postwendend in dem eisernen Kamin, der die einzige Wärmequelle in der ansonsten schutzlos der Kälte ausgelieferten Blockhütte darstellte, gelandet. David verzog sich in die Küche um seinem Freund bei der Zubereitung des einzig wahren Weihnachtschilis beizustehen und Robin und Jakob nahmen ihre Schachpartie, die durch den Mangel an Feuerholz eine Stunde zuvor unsanft unterbrochen worden war, wieder auf.
Es dauerte nicht lange, bis es ein weiteres Mal an der Türe klopfte und ein Ehepaar Mitte fünfzig die Ferienhütte betrat, ihre nassen, schneebedeckten Winterjacken ausschüttelte und auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Eingang ablegte: „Mensch, das riecht ja wirklich fabelhaft“, schwärmte Volker mit der sonoren Stimme eines älteren Mannes während er seine kühlen Hände aneinanderrieb: „Meine Güte, hätte mir doch bloß vor zehn Jahren mal Jemand gesagt, dass sich Kinder doch irgendwann auszahlen!“, lachte er augenzwinkernd. Während sich ihr Mann neben Jakob und Robin auf dem Sofa am Kamin niederlies, schlich sich die Endvierzigerin mit den lockigen rotbraunen Haaren die ihre Tochter so eindeutig von ihr geerbt hatte, neugierig in die Küche und fragte den Verlobten ihres ältesten Sohnes über die Tücken der Chilizubereitung aus.
In den nächsten Stunden stellte das ausglimmen und nachlegen der Holzscheite im Feuerschlund des Kaminofens den einzigen Zeitmaßstab für die Bewohner des Blockhauses dar. David kehrte zu seinen Geschwistern aufs Sofa zurück und das Trio wechselte mitsamt Vater zu einer Partie Uno.
Irgendwann, niemand wusste mehr genau wie spät es war, hatten Eva und Marc den großen, verrußten Topf ins Wohnzimmer herübergetragen und anschließend noch ein paar Flaschen guten Wein daneben platziert woraufhin sich die übrigen Familienmitglieder wie von alleine am großen Esstisch versammelt hatten.
Eine dem Weihnachtsabend angemessene, friedlich-fröhliche, ruhige Stimmung herrschte am Esstisch. Die beiden Eltern, ihre drei erwachsenen Kinder und auch Davids Verlobter Marc genossen die vertraute, gemütliche Atmosphäre in der Blockhütte am schneebedeckten Berghang. Lange hatten sie einander nicht mehr gesehen. Robin war, das stand ihr ähnlich, umweltbewusst mit dem Nachtzug aus Stockholm, wo sie zur Zeit ihr Auslandssemester verbrachte, angereist. David und Marc waren mir ihrem neuen Tesla über ein paar Ladestopps hinweg den weiten Weg bis in die entlegene zentraleuropäische Berggegend gefahren und selbst Nesthäkchen Jakob war dieses Jahr mitsamt seinem großen Tatonka-Backpacker-Rucksack mit dem Flugzeug aus Hamburg angereist ohne vorher einen Schlenker zu seinem ehemaligen Elternhaus zu machen.
So erleichtert, wie der einundzwanzigjährige Jurastudent war, dass die Onlinevorlesungen mittlerweile Geschichte waren und er endlich so etwas wie ein Studentenleben in der Großstadt erfahren durfte, so froh waren er und die anderen Anwesenden an der großen Tafel nun auch, dass die Familie endlich einmal wieder zusammen gekommen war. Sie hatten so viel zusammen erlebt. All die vergangenen Jahre.
Kaum war das Weihnachtsessen verspeist, hatten die Gespräche begonnen und bei einer Gruppe Menschen, die beinahe das ganze Leben zusammen verbracht hatten, reichten manchmal Kleinigkeiten um Erinnerungen hervorzurufen: „So hat Jakob früher auch immer an seinen Gläsern rumgespielt“, kommentierte dessen Mutter, als der junge Erwachsene mit der flachen Handfläche über seinem halbvollen Wasserglas kreiste und es durch gezielte Fingerbewegungen in eine konstante Rotation versetzte: „So viele Gläser haben deswegen das zeitliche gesegnet, das hat mich wirklich zur Weißglut getrieben!“, lachte Eva. Der Angesprochene stützte seinen Kopf beleidigt auf der freien Handfläche auf und verdrehte ironisch-genervt die Augen: „Mooah!“, schmollte er.
„Awww, Bärchen“, reagierte seine große Schwester auf der anderen Tischseite verzückt lächelnd. Seine Schwester, die für Jakob all die Jahre oft die Rolle der Ersatzmama übernommen hatte. Bei jeder anderen Person, die auf die tollkühne Idee gekommen wäre, den stolzen Studenten bei seinem alten Spitznamen zu rufen, hätte er wohl lautstark und wortreich protestiert. Aber nicht bei Robin. Die würde das immer dürfen.
„Bääääääärchen“, neckte ihn nun auch David und kassierte umgehend einen sachten Tritt von Bruder zu Bruder. David, wiederrum, durfte das nicht. Der würde das nie dürfen.
Der 26 Jahre alte Berufseinsteiger zuckte zusammen und wich dem Wollsockenfuß seines ehemals kleinen Bruders aus während Eva ungläubig mit dem Kopf schüttelte: „Jungs!“, lachte sie, woraufhin ihre beiden Söhne ertappt zu ihr hinübersahen und augenblicklich in ihren Streitereien einfrohren.
Doch Eva war bereits ins Schwärmen geraten: „Ach, wisst ihr noch, als wir das erste Mal hier waren? Ihr habt das Haus gehasst die ersten Tage, aber am Ende wolltet ihr gar nicht mehr weg!“
„Och ja, schaut euch nur Davids Gesicht an, man könnte ja meinen, wir hätten ihn damals dazu gezwungen!“, kommentierte Volker gelassen lachend das Foto, das er auf seinem kleinen Smartphone rausgesucht hatte.
„Habt ihr ja auch!“, wehrte sich David und alle Anwesenden brachen in heiteres Gelächter aus. Volker wischte weiter durch die alten Urlaubsfotos. Ein Bild der jugendlichen Robin, sichtbar gut gelaunt und mit Snowboard unterm Arm kam zum Vorschein. Von allen drei Kindern hatte sie sich im Laufe der letzten zehn Jahre augenscheinlich am wenigsten verändert. „Papa, zeig das doch auf dem TV an“, riet David seinem alten Herrn als sich bereits die Hälfte der Anwesenden hinter dem kleinen Handydisplay versammelt hatte.
„Ach, das geht mit meiner alten Kiste doch gar nicht“, wiegelte der Familienvater ab, doch da hatte David sich das Gerät schon geschnappt, dreimal auf dem kleinen Display herumgetippt und kurz darauf erleuchtete bereits der kleine Flachbildschirm, der in der rechten Ecke des kombinierten Wohn-Esszimmers auf der Anrichte stand. Es war immerhin fast 2023, mittlerweile gab es auch in entlegenen Berghütten moderne Flachbildschirme mit Drahtloswiedergabe und Satteliteninternet. Auch so ein Unterschied zu ihrem ersten Besuch vor zehn Jahren, resümierte David – damals waren sie, ohne Datenverbindung im Ausland, ohne Wlan, zwei Wochen gefühlt gänzlich abgeschnitten vom Rest der Welt gewesen. Natürlich, das hörte sich, wenn man es sich heute vorstellte, gar nicht unbedingt nach etwas Schlimmem an. Nach Entspannung, Abschalten. Aber damals, mit 15? Es war die Hölle gewesen!
Während die Familie vom Esstisch auf das gemütliche Sofa umsiedelte, begann ein Videoclip zu laufen. Augenscheinlich aufgenommen in der selben Hütte, sogar im selben Raum. Durch die kleinen Kachelfenster schien helles weißes Licht und auf der dunkelbraunen Couch lümmelte ein offenkundig schlecht gelaunter Teenager, in dessen Ohren grellweiße Kopfhörerstöpsel steckten. Das Bild wackelte ein wenig, dann zeigte es David in Großaufnahme
„Filmst du jetzt echt?“, fragte der Teenager genervt, ohne von seinem kleinen schwarzen Telefon hochzusehen. Ein grimmiger, schmaler Jugendlicher mit doppeltem Lippenpiercing, einem erstaunlich schlecht zum Wetter passenden, verschlissenen „Example“-Shirt und nackenlangen, glatten schwarzen Haaren.
„Du hattest ein Piercing?“, flüsterte Marc ungläubig staunend zu dem an seiner Schulter lehnenden, zehn Jahre älteren David, während das Kamerabild weiter durch den Raum schwenkte. David kicherte peinlich berührt und rollte innerlich die Augen beim Anblick seines früheren Ichs.
Der Ausschnitt schwenkte über den alten Teppichläufer bis in die Ecke vor dem lodernden Kamin. Ein Haufen Legosteine kam ins Bild und inmitten der Steine hockend ein schmächtiger, etwa zehnjähriger Junge mit schwarzen Haaren und einem verstrubbelten, glatten Pony: „Hiiii!“, kicherte das Kind, das einmal Jakob gewesen war, legte den Kopf schief und winkte fröhlich in die Kamera. Der Junge trug einen warmen, rot-hellblauen Frotteeschlafanzug, an dessen kuscheligkeit sich Jakob selbst zehn Jahre später noch gut erinnern konnte. Kaum hatte er in die Kamera gewunken, widmete er sich auch schon wieder seinem Spiel.
„Och Bärchen, du warst sooo ein süßes Kind“, quiekte Robin beim Anblick ihres kleinen Bruders verzückt und wuschelte dem Studenten durch dessen Haare wie sie es früher immer gemacht hatte.
Das Bild schwenkte, von allerlei Knarz-, Krach, und anderen Griffschallgeräuschen begleitet, wackelig durch den Raum. Das helle, bläuliche, vom Schnee vor der Hütte reflektiert werdende Licht lies die Szenerie deutlich ungemütlicher wirken als es die orangenen, gedämpften Glühlampen an diesem Abend fast genau zehn Jahre später taten. Um die Garderobe verteilt lag ein großer Haufen Schuhe, allerlei Winterjacken, Skihosen und Jakobs leuchtend roter Schneeanzug. Im nächsten Moment wurde es plötzlich hektisch: „Los, die Skikurse fangen gleich an!“, rief Eva wie aus dem Nichts. Die Mutter der drei Kinder lugte aus einer der Zimmertüren hinaus und hatte die ruhige, friedliche Situation die bislang im Videoclip vorherrschte, abrupt beendet: „David, zieh dir was richtiges an, du kannst doch so nicht rausgehen!“, mahnte sie in aufgebrachtem Unterton und kaum hatte sie ihre Aufforderung zuendegesprochen, fiel ihr Blick bereits auf dessen kleinen Bruder: „Jakob, hast du schon ne frische Pampers an?“, fragte sie drängelnd.
Ertappt blickte der Angesprochene von seinem Legohaufen auf und zögerte kurz, dann schüttelte der etwa zehnjährige Junge seinen Kopf. Eva seufzte genervt und rief: „Robin, kannst du Jaki bitte noch schnell wickeln bevor ihr losgeht?“, doch da wurde der Ton aus den kleinen Lautsprechern bereits von den Anwesenden überlagert.
„Pampers? Jakob?“, lachte Marc überrascht und sah seinen Schwager ungläubig an: „Wie alt warst du da, Zehn oder so?“
Peinlich berührt senkte der frischgebackene Student den Kopf und fixierte mit den Augen seine Zehenspitzen. David legte eine Hand auf den Unterarm seines Freundes um ihm zu signalisieren, dass er das Thema an dieser Stelle nicht unbedingt vertiefen musste. Doch der Schaden war bereits angerichtet:
„Meine Güte“, erinnerte sich die Mutter der drei Kinder: „Das war früher soooo ein Thema mit Jakob. Jeden Tag hat er sich in die Hose gemacht und wehe, man hat ihn darauf angesprochen. Und dann die Pampers, ewig hat er sich gewehrt gegen die Dinger, und kaum … was bin ich froh, dass wir das hinter uns haben, Jakob“,
„Ach, so schlimm war das doch auch nicht …“, verteidigte Robin ihren Schützling während der nur verlegen schnaufte. Er sah wieder hoch zum kleinen, an der Wand angebrachten Flachbildschirm. Der kleine Junge sprang auf und sprintete durch das Wohnzimmer auf seine Schwester zu und jetzt, wo Vergangenheits-Jakob aufgestanden war, sah man auch deutlich die Windel, die unter seiner Schlafanzughose spannte. Natürlich, er musste noch seine Nachtwindel angehabt haben und die war morgens immer mehr als gut benutzt gewesen. Dieses Gefühl würde er niemals vergessen. Das nasse, heiße, dick aufgequollene und glibbrige Paket zwischen seinen Beinen, das seit er denken konnte jede Nacht Schwerstarbeit geleistet hatte um seinen Bett samt Schlafanzug trocken zu halten. All die Jahre hatte Jakob dieses Gefühl gehasst, nur um es, da musste er etwa so alt gewesen sein wie in dem Video was in diesem Moment über den Bildschirm flimmerte, plötzlich lieben zu lernen. Und nun, zehn Jahre später, lange nachdem er letzten Endes doch endlich trocken geworden war, versteckten sich im Deckelinnenfach seines Backpackerrucksackes bunt bedruckte Erwachsenenwindeln weil der Gedanke an Windeln ihn seitdem einfach nicht mehr loslassen wollte. Angefangen hatte das Ganze weit von dieser Berghütte entfernt, vor vielen, vielen Jahren. Vor etwas mehr als zehn Jahren, um genau zu sein …
Irgendwo in der westdeutschen Provinz im Oktober des Jahres 2012
„Ich hasse dich, du Hurensohn!!“, schrie ein sichtlich aufgebrachter Zehnjähriger und warf einen faustgroßen, im orange-schwarzen Wilde-Kerle-Design gehaltenen Stofffußball mit voller Wucht nach seinem großen Bruder. Der stand im Türrahmen von Jakobs Kinderzimmer und machte angesichts der ausgesprochenen unbedrohlichkeit des weichen Stoffballes keinerlei Anstalten, auszuweichen. Stattdessen lachte David nur. Der Fümfzehnjährige brauchte ein paar Sekunden um sich zu entscheiden, über welcher der Aktionen seines kleinen Bruders er sich lustig machen sollte. Da war der Umstand, dass ausgerechnet sein kleiner Bruder ihn Hurensohn genannt hatte und damit zielsicher eine der wenigen Beleidigungen ausgewählt hatte, mit der er sich angesichts ihrer Verwandschaft direkt auch noch selbst gedisst hatte. Oder die Tatsache, dass es beinahe komödiantisch wirkte, mit einem Stoffball beworfen zu werden, bei dem David sich gar nicht so sicher war, ob das Ding überhaupt als Indoor-Ballersatz, oder eigentlich als Kuscheltier gedacht war. Es tat jedenfalls so weh wie ein Wattebällchen. Doch der Zehntklässler entschied sich, mit dem offensichtlichen zu gehen: „Junge ich hab deinen blöden DS nicht, den hast du locker selbst verloren!“, sagte er selbstsicher mit einem breiten, überlegenen Grinsen im Gesicht, was seinen kleinen Bruder nur noch mehr von Davids Schuld überzeugte. Jakob rief seinem viereinhalb Jahre älteren Bruder noch einen wütenden Fluch ins Gesicht bevor er seine Zimmertüre zuknallte und sich frustriert auf den Sitzsack unter seinem Hochbett fallen lies. David zuckte mit den Schultern und schlenderte locker nach unten in Richtung Küche.
Vor einer halben Stunde war der Fünftklässler aus der Schule zurückgekommen. Es war eigentlich ein guter Schultag gewesen. Nichts war passiert, was seine Laune sonderlich in den Keller gezogen hätte, im Gegenteil. Seine Englischlehrerin hatte den Vokabeltest, bei dem er sich einigermaßen sicher sein konnte, dass ihn kein gutes Ergebnis erwarten würde, immer noch nicht korrigiert. Und die Doppelstunde Sport war auch super gewesen: Die meiste Zeit der Unterrichtsstunde hatten sie Brennball gespielt, eine Art Baseball-Adaption, nur ohne den namensgebenden Schläger und den dazugehörigen Pitcher. Jakob war zwar angesichts seiner Größe nicht unbedingt der beste Fänger in seiner Klasse, doch das hatte er mehr als wettmachen können, als es um das Rennen von Base zu Base gegangen war. Entsprechend stolz, für sein Team zwei grandiose Homeruns eingefahren zu haben hatte er am Ende der Stunde die Umkleidekabine betreten. Und dann, das hatte dem Schultag zusätzlich einen großen Pluspunkt verschafft, war dieser auch schon fast wieder vorbei gewesen. Nur noch eine Stunde Politik mit seinem Lieblingslehrer, dann war Jakob schon wieder im Bus auf dem Weg nach Hause unterwegs gewesen. Achja, nicht zu vergessen natürlich die Tatsache, dass seine Drynites noch völlig, hundertprozentig, trocken gewesen war.
Gewesen war. Seine Deutschlehrerin würde Jakob, wenn man sie fragen würde, jetzt darauf aufmerksam machen, dass dieser Satz im Plusquamperfekt formuliert gewesen war. Ein furchtbar kompliziertes Wort. Eine Zeitform, die Sachen beschreibt, die in der Vergangenheit passiert sind, aber schon abgeschlossen, vollendet sind. Vollendet, im Sinne von: Hat sich erledigt. Seine trockene Drynites? Die hatte sich erledigt.
Irgendwann zwischen dem Moment, wo er zufrieden seinen dunkelblauen Schulranzen in die Chaosecke neben der Haustüre geworfen hatte, in sein Zimmer gerannt war um die nächsten Level im Storymodus von ,New Super Mario Bros‘ zu entdecken und dem Moment, indem er nun schlecht gelaunt bäuchlings auf seinem Sitzsack lag und die Legosteine auf dem Boden unter ihm anstarrte, musste es passiert sein. Sein Pullup war nass, warm und völlig zweifelsfrei nicht mehr trocken. Totaler Mist.
Nur wenige hundert Meter entfernt stand zur selben Zeit eine gut gelaunte Fünfzehnjährige, gekleidet in eine elegante, figurbetonende helle Jeans und einen gemütlichen, etwas zu großen, hellbraunen Pullover, in der kurzen Schlange vor der Kasse des kleinen Hofladens und wippte mit ihren Füßen zum Takt eines Liedes, das nur sie selbst hören konnte. Der iPod in ihrer Tasche spielte den neusten Ohrwurm des Jahres, ,Call me Maybe‘ von Carly Rae Jepsen und während einer der beiden ikonischen weißen Stöpselkopfhörer tief in Robins linkem Ohr steckte, hatte sie den anderen nur lose über ihre rechte Ohrmuschel gestülpt um die Menschen um sie herum trotz der lauten Musik noch verstehen zu können. Still formte sie ihre Lippen synchron zum Liedtext, so als würde sie Playback singen. In dem blauen Plastikkorb, dessen Henkel sie mit den vor ihrem Bauch verschränkten Armen festhielt, stapelten sich neben allerlei Gemüse auch zwei Nudelpackungen, sodass Robins Einkaufskorb beinahe den Charakter eines kleinen Wocheneinkaufs bekommen hatte.
Der Hofladen des großen Bauernhofes war nur spärlich besucht. Angesichts der Uhrzeit standen vor Robin nur drei ältere Frauen in der Schlange, doch die schienen sich besonders viel Zeit beim Bezahlvorgang zu lassen. Würde heute Franzi statt deren Mutter an der Kasse des Ladens stehen, wäre sie vermutlich schon längst in der Schlange vorgezogen worden. Oder aber, Franzi hätte einfach grob notiert, was Robin in ihrem Korb gehabt hatte und die Bezahlung hätte dann irgendwann ihre Mutter übernommen.
Aber Franzi hing noch im Informatik-Wahlpflichtfachunterricht fest und wäre Robins Doppelstunde Spanisch heute nicht ausgefallen, würde sie jetzt auch noch nicht in der Hofladenschlange stehen und sich gleich um das Mittagessen der fünfköpfigen Familie kümmern können. Beziehungsweise um das Essen für die drei Mitglieder ihrer Familie, die heute überhaupt schon vor sechs Uhr Abends Zuhause sein würden. Konzentriert tippte Robin eine SMS in das kleine Handy, das unter dem Korbhenkel zwischen ihren beiden Händen lag.
Junges Fräulein?“, ermahnte Franzis Mutter die Fünfzehnjährige freundlich, bevor diese ertappt aber nicht minder elegant ihr Handy in den Einkaufskorb zwischen das Gemüse gleiten lies und aufsah: „Was darf es heute sein?“, fragte die Frau mit den hochgesteckten grauen Haaren die Schülerin.
„Habt ihr noch Hack da?“, fragte Robin, während sie den Korb auf dem hölzernen Tresen abstellte und der Bäuerin das Addieren der Beträge überlies.
„Ein bisschen Schwein noch von heute Morgen“, antwortete ihr Franzis Mutter, während sie sich bereits die Einweghandschuhe überstülpte: „Wieviel darfs denn sein?“, sagte sie in einem überspitzt-förmlich-freundlichen Ton, der sie beide zum Schmunzeln brachte.
„Äääähm“, überlegte die Fünfzehnjährige kurz und zählte gedanklich die Anzahl der Personen, die später von ihrer Gemüse-Hack-Pfanne köstigen würden, hoch. Jakob musste bereits Zuhause sein und auch David würde heute wohl nicht bei seiner Freundin zu Mittag essen. Andererseits erwartete sie beinahe schon, dass ihre Eltern, wenn sie heute Abend nach Hause kommen würden, sich auch eine Portion genehmigen würden: „Ach, mach mir doch bitte 800 Gramm!“, bat sie Franzis Mutter.
„Mensch, das ist doch alles, was wir noch haben!“, brüstete sich die Bäuerin.
„Familieneigentum“, scherzte Robin keck und spielte auf die Arbeit ihrer Mutter im örtlichen Schlachthof an. Die Fünfzehnjährige vollführte das rhetorische Kunststück, der Bäuerin gleichzeitig mitzuteilen, dass sie heute kein Geld zum bezahlen der grade gekauften Lebensmittel dabei hatte und sich darüber hinaus noch den Einkaufskorb ausleihen würde um das ganze Gemüse nach Hause zu transportieren. In ihre Schultasche, die sie immer noch auf ihrem Rücken trug, hätte das wohl auch nicht mehr reingepasst …
Als die Neuntklässlerin etwas später bereits das Hackfleisch in der Pfanne anbriet, war sie nicht überrascht, als ihr kleiner Bruder, vom unwiderstehlichen Duft der angebratenen Zwiebeln angelockt, in die Küche hineingeschlichen kam. Den Fünftklässler hatte eine Mischung aus Langeweile. Neugierde und dem Wunsch, vor den Mathehausaufgaben davon zu laufen, in die Küche getrieben. Falls Jakobs Abitur an nicht gemachten Mathehausaufgaben scheitern würde, könnte er ja auch immer noch eine Ausbildung zum Ninja machen, zumindest, wenn man der Reaktion seiner großen Schwester glaubte: „Bärchen!“, erschrak sie sich: „Wo kommst du denn her?“
Über Jakobs betrübtes Gesicht huschte ein Lächeln: „Ninjageheimnis!“, kicherte er, während seine Schwester ihm über den Kopf streichelte. „Magst du mir beim Kochen helfen?“, schlug sie dem fast elfjährigen Jungen vor. Keine Ultraspaßaktivität, doch in der Küche konnte man sich gut unterhalten. Und das taten die beiden Geschwister. Jakob schnitt die Paprika, den Schnittlauch sowie die Tomaten klein, kümmerte sich um die Nudelzubereitung und erzählte seiner großen Schwester währenddessen von seinem tollen Schultag, erwähnte Beiläufig, dass seine Drynites den gesamten Schultag ,knochentrocken‘ überstanden hatte, aber lies auch die Tatsache, dass er sich völlig sicher war, dass sein großer Bruder ihm seinen DS geklaut haben musste nicht unerwähnt. In einem Nebensatz erwähnte der Zehnjährige das, so als wäre es keine große Sache für ihn, doch Robin wusste ganz genau, dass sie sich nach dem Essen besser bald darum kümmern sollte.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Wiedereinmal ein fabelhaften Anfang. Ich könnte mir so schreiben.
Danke für dein Lob! 😀
WOW!! Ich bin erstaunt! Schon wieder so eine gute Geschichte! Es macht Spaß deine Geschichten zu lesen. Bitte schreib weiter!
Bin schon am weiterschreiben, Kapitel 2 kommt bald! 😀
Ein toller Anfang und ein so schönes Cover. Hast du das selbst gestaltet?
Schreib bald weiter. Ich freu mich drauf.
Vielen Dank für dein Lob! Ja, hab ich selbst gezeichnet/gelayoutet und hatte viel Spaß daran! Hätte ich bei der Verwandlung rückblickend auch mal machen sollen! 😀
@giaci9 besteht die Möglichkeit, dass du mir für Escortbaby auch eins machst? Würde mich total freuen! Aber nur, wenn du Zeit und Lust dazu hast.