Die Geheimnisse der Kerkwald-Geschwister (12)
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Die Ereignisse des dritten Novembers, Teil 1 – Konsequenzen
- November 2012 - 9:26, Schulhof des Anne-Frank-Gymnasiums Hemmingen
Hungrig biss Robin in das saftige, halb-angebrannte Schnitzelbrötchen, während sie mit der freien Hand ihre Lederjacke zuzog und mit dem Ellebogen die Türe in Richtung Pausenhof aufdrückte. Eisiger Wind blies ihr ins Gesicht und verwirbelte ihre seit heute Morgen ohnehin unordentlichen Haare nur noch mehr. Das Schnitzelbrötchen des Schulhofkiosks war mittelmäßig, wohlwollend formuliert. Zu trocken. Schlecht gewürzt. Das Brötchen labbrig. Aber wohltuend auf ihren leeren, hungrigen Magen. Nachdem die Fünfzehnjährige die halbe Nacht wachgelegen hatte und sich den Kopf über die unglückliche Situation, in der Jakob und Franzi sie manövriert hatten, zerbrochen hatte, war sie heute Morgen erst viel zu spät aufgewacht. Eiligst hatte sie ihren kleinen Bruder geweckt, war ins Bad verschwunden, schnell unter die Dusche gesprungen und hatte es am Ende doch noch rechtzeitig zum Frühstückstisch geschafft, nur um dann dort keinen Bissen runterzubekommen.
Zwei Stunden später war ihr Appetit umso mehr zurückgekehrt und Robin zermalmte die knusprige Panade des Putenschnitzels mit ihren Zähnen, während sie sich zielstrebig durch das Gewirr auf dem Pausenhof zu der großen Treppe schlängelte, welche die zwei Ebenen des weitläufigen Schulhofes miteinander verband.
„Hey, auch mal da!“, feixte Leo gut aufgelegt, als Robin sich in den Kreis zu ihren Freunden stellte, die just oberhalb der Treppen ihren Stamm-Stehplatz hatten.
Doch Robin war in diesem Moment so gar nicht zu scherzen zumute.
„Hey“, raunte sie der neben ihr stehenden Franzi ins Ohr und touchierte mit ihrem Ellenboden unauffällig deren Taille.
Franzi verstand sofort. Warf einen Blick zu ihrer Freundin und löste sich so umgehend wie unmerklich aus dem Gesprächskreis. Stillschweigend nebeneinander hergehend warteten sie, bis sie sich ein paar Meter von ihren Freunden entfernt hatten und im anonymen Getümmel ihrer restlichen Mitschüler untergetaucht waren.
„Hast du sie?“, platzte es aus Franzi heraus.
Robin nickte stumm, griff in ihre Jackentasche und reichte ihrer Freundin zwei Schlüssel.
„Nice“, lächelte Franzi: „Hast du dir überlegt, ob du heute Abend …“, fuhr sie nun fort.
„Weißt du, du hast ganz schön Glück, dass ausgerechnet Jakob deine Schlüssel gefunden hat. Und dass ich für dich sogar meinen kleinen Bruder beklaue!“, zischte Robin ungehalten.
Franzi unterdrückte ein überraschtes Lachen: „Hey. Klauen triffts ja wohl nicht so ganz. Das waren nicht seine Schlüssel, sondern meine!“, verteidigte sie sich.
„Ey, du weißt was ich meine!“
„Ist ja guuhuuut“, beschwichtigte Franzi und legte eine Hand auf die Schulter ihrer besten Freundin, während sie ziellos über den Schulhof schlenderten.
„Außerdem ist der Rucksack das, worüber du dir viel mehr Gedanken machen solltest!“, polterte Robin: „Oder soll ich den auch noch für dich besorgen? Bei Nick einbrechen, hm?“
Franzi sah ihrer Freundin in die leidenschaftlichen, großen dunklen braunen Augen, blieb stehen und legte ihr auch noch die zweite Hand auf die andere Schulter, so als würde sie sie festhalten wollen: „Chill!“, grinste sie: „Hab ich erledigt.“
„Hmpf … Was? Wie?“, war Robin perplex.
„Der Rucksack is‘ kein Problem mehr“, beruhigte Franzi ihre Freundin: „Du musst doch nicht alles alleine machen, hm?“
„Was? Wie??“, wiederholte Robin ihre Fragen überrascht. Gestern Abend hatte sie Franzi über den Fund ihres kleinen Bruders informiert. Sich den Kopf zerbrochen über eine Lösung. Jakobs Schlüssel geklaut und sich gefragt, ob es überhaupt etwas wert war, ihn so zu hintergehen, wenn sein neuer Freund immer noch den Rucksack samt Franzis gottverdammtem Hofschlüssel bei sich hatte.
Und zack, Franzi behauptete das Problem gelöst zu haben. Im Schlaf, sozusagen. Mirnichts-dirnichts.
„Sis, mach dir mal nicht über alles so krasse Gedanken“, wiegelte die Bauerstochter ab: „Ernsthaft!“
Franzi machte eine Kunstpause, bevor sie Luft holte und die Frage stellte, die ihr die ganze Zeit schon auf der Lippe brannte: „Aber ehrlich, bist du jetzt heute Abend dabei, oder nicht?“
Robin zögerte. Es war immerhin keine banale Party oder so, zu der sie grade im Begriff war, zuzusagen. Sondern etwas, was richtig Konsequenzen haben könnte!
„Robin, du kannst mich nicht erst bitten, dass ich keine Geheimnisse vor dir hab und dann …“, platzte es wütend aus Franzi heraus: „ … und dann … mich dann so hängen lassen!“
14:15, Kreisstraße 37, Hemmingen Fahrtrichtung Kleinfeldern
Müde hatte Jakob seinen Kopf an die angenehm kühle Haltestange des Linienbusses gelehnt und starrte mit seinen Augen in die Reihen an vorbeisausenden, hochgewachsenen Tannenbäumen vor den Fenstern, ohne dabei wirklich etwas wahrzunehmen. Der Bus war fast leer, außer ihm und Fenix, neben ihm am Fenster im vorderen Teil auf einer Zweierbank sitzend, fuhren nur eine Handvoll von Schülern mit. Es kam ohnehin selten vor, dass der zwölf Meter lange Linienbus vollbesetzt war, meistens beförderte die Tour aus Hemmingen über die Dörfer hauptsächlich heiße Luft – sowie ein paar Schulkinder. Und das waren um diese Uhrzeit nur noch die paar unglücklichen Schüler, die ausgerechnet am Freitag sieben Stunden Unterricht auf dem Stundenplan hatten. Aber Jakob war es mehr als recht, dass der Bus in diesem Moment ziemlich leer war. Und nebenbei bemerkt auch die Bushaltestelle, an der sie zuvor gewartet hatten.
Leicht nach vorne gebeugt saß er da. Hatte die Oberschenkel übereinandergeschlagen. Rutschte nervös mit seinem Po vor und zurück.
Seine dunkelblaue Jeans spannte in seinem Schritt mittlerweile über einer beachtlichen Windelbeule. Jakob war sich nicht sicher, ob seine Drynites dadurch offensichtlich wurde, so wie sie ihm in diesen Momenten erschien. Man sah sofort, dass er eine ziemlich nasse Windel anhatte, fand er. Wenn Robin ihn jetzt sehen würde, würde sie ihn bestimmt zum Pipihose-frischmachen schicken. Oder wickeln, wie neulich. Wenn Mama ihn jetzt sehen würde, würde er bestimmt total viel Ärger bekommen. Dass er sich schon wieder so vollgepinkelt hatte.
Aber um zu erkennen, dass er eine vollgepinkelte Windel anhatte, musste man eben auch erst einmal wissen, wie vollgepinkelte Windeln aussahen. Und wer wusste das schon?
„Versuchst du, es noch bis zu Hause zu halten?“, murmelte Fenix plötzlich in die Stille hinein und Jakob war sich im ersten Moment gar nicht sicher, ob die Frage überhaupt an ihn gerichtet war.
Jakob grummelte und nickte dann, während er zwischen den Zähnen Luft einzog. Das hier war auch Fenix Schuld! Ohne ihn hätte er dieses Problem gar nicht!
„Hoffentlich kriegst dus besser hin wie in Englisch heute Morgen“, reüssierte Fenix nüchtern.
Verdammt, ja! So hatte das ganze Schlamassel seinen Lauf genommen.
Es waren nur Zehn Minuten gewesen, die er hatte einhalten müssen! Kaum hatte er erst einmal bemerkt, dass er ein verdammtes weiteres Mal kurz vorm einpullern stand und eigentlich sofort auf die nächste Toilette rennen müsste, hatte er auch die leichte Feuchte im Vorderteil seiner Drynites gespürt. Es war, genau genommen, sogar schon zu spät! Doch seine Blase machte keinen Hehl daraus, dass das allermeiste noch nicht in der Hochziehwindel gelandet war. Noch nicht.
Hätte er sich doch bloß nicht von dem blöden Marcel provozieren gelassen, sondern wäre einfach sofort aufs Klo gerannt. Unauffällig lies Jakob eine Hand unter seinen Tisch sinken, um sie, kaum hatte er sich vergewissert, dass niemand außer vielleicht Fenix es sehen konnte, so feste es ging zwischen seine Beine zu drücken. Mit der ganzen flachen Hand presste er dagegen.
Unauffällig lehnte sich Fenix zu ihm rüber: „Hast du … du hast keine Windel an, oder?“, flüsterte er.
Jakob sah seinen neuen Freund mit schockgeweiteten Augen an. Er durfte doch das W-Wort nicht sagen! Doch nicht in der Schule!
„Schhhh!“, antwortete Jakob erbost und verlor dabei prompt den Kampf gegen seine Blase. Für einen Sekundenbruchteil prasselte erneut heißes Pipi gegen die Frontseite seiner fast-noch-trockenen Drynites, bevor er zusammenzuckte sich unauffällig weiter nach vorn beugte, die Hand in den Schritt drückte und es irgendwie, einfach nur irgendwie, noch einmal schaffte, die Pipiflut wieder einmal zu stoppen.
Um sie herum lies Frau Fischer grade die anderen Kinder die Ergebnisse der Stillarbeitsphase vortragen und Jakob hoffte nur, es irgendwie bis zur Pause zu schaffen. Um dann über die vollen Gänge bis zum Klo zu laufen und dort noch kurz in der Schlange zu warten.
Realistisch betrachtet hatte er längst verloren.
Doch es klappte gut. Dabei war es so schrecklich schwer, gleichzeitig einzuhalten und darauf zu achten, das auch noch unauffällig zu tun.
Jakob hatte Glück, er wurde nicht zum vortragen drangenommen. Dabei sah sein Arbeitsblatt, nicht zuletzt durchs abschreiben von Fenix Ergebnissen durchaus gut aus. Aber spätestens, wenn er etwas hätte vortragen müssen, nervös geworden wäre, weil die ganze Klasse ihm zuhörte, wäre alles in die Hose gegangen. Fenix meldete sich freiwillig und selbst Jakob erkannte, wie sich Frau Fischer darüber freute. Und Fenix offenbar auch. Ansonsten war sein Sitznachbar die meiste Zeit der letzten Unterrichtsminuten damit beschäftigt, seinem neuen Freund dabei zuzusehen, wie er panisch versuchte, sich nicht in die Hose zu machen. Was sollte er auch sonst tun? Erst kurz vor der Pause, als die Ergebnispräsentation bereits abgeschlossen war und Frau Fischer noch irgendwas über he-she-it erklärte, lehnte sich Fenix wieder zu ihm rüber: „Also … ich mein … ich weiß schon. Dir ist das peinlich. Klar. Aber gestern im Wald hast du doch auch … ?“
Jakob starrte Fenix entgeistert an.
Schlug er da ernsthaft vor, er sollte sich einfach in die Windel pinkeln?
All seine anderen Freunde kannte Jakob eigentlich schon seit dem Kindergarten. Von denen hatte sich nie einer über seine Windeln lustig gemacht. Höchstens sich mal beschwert, wenn er stundenlang einen Stinker in der Pampers hatte. Aber selbst als kleine Grundschüler, wenn sie mal wieder vertieft ins Playmobil-Polizeiabenteuer waren und Jakob partout keine Klopause einlegen wollte, obwohl er offensichtlichst pullern musste, hätte Linus ihm niemals vorgeschlagen, doch einfach in die Sicherheitswindel zu machen. Seine Freunde hatten früher nie verstanden, wie es sein konnte, das er sich immer wieder lieber in die Hose pinkelte als aufs Klo zu rennen.
Und jetzt war er fast Elf, nutzte die Drynites meistens wirklich nur noch für Notfälle und da kam plötzlich „Aber gestern hast du doch“-Fenix um die Ecke.
„Aber … also …“, setzte Jakob an, ungläubig dass ausgerechnet er das mal jemandem erklären musste: „Nein!“
Fenix zuckte kleinlaut mit den Schultern: „Ookay … Ich finds echt nicht schlimm.“
Jakob wippte mit seinen Beinen vor und zurück und hibbelte auf seinem Stuhl hin und her bis endlich der erlösende Schulgong ertönte. Er hatte es tatsächlich bis zur Pause geschafft!
Hektisch sprang der Zehnjährige von seinem Stuhl auf, bereit für den Sprint zur rettenden Toilette.
Um dann doch, schon halb stehend, noch halb gebückt, zu verharren. Kaum war er aufgestanden, war die finale Barriere endgültig gefallen. Der Pipistrahl spritzte nur so aus ihm heraus und setzte die ehemals lediglich klamm-feuchte Drynites vollkommen unter Wasser. Die Hand, die immer noch zwischen seine Beine drückte, lies locker. War jetzt definitiv Zwecklos. Er hatte seinen Oberkörper leicht über seinen Tisch gebeugt und stützte sich angestrengt mit den Händen ab, während er für die nächste halbe Minute vollständig die Kontrolle über Blase und Schließmuskel verloren hatte.
Aber, das war das wichtigste gewesen: Fast keiner hatte etwas mitbekommen! Nur Fenix hatte ihn, kaum hatten sie das Klassenzimmer anschließend verlassen, keck gefragt: „Wir können direkt auf den Pausenhof gehen, oder? Du musst nicht mehr zu den Klos, oder?!“
„Nein“, hatte Jakob genervt geantwortet: „Ich muss nicht mehr zu den Klos.“
14:21, Kleinfeldern, Haus der Familie Kerkwald
,wenn dir die fuehrung durch die schule gefallen hat .. ich weis auch ne menge über kleinfeldern ;)‘, tippte Dave in sein Handy. Suchte anschließend Nicks Handynummer im Adressbuch und schickte die Nachricht raus, ohne dabei groß mit sich selbst zu hadern. Er lümmelte zurückgelehnt auf dem Bett in der Ecke seines Zimmers, während aus den großen Boxen der Stereoanlage, die er mit seinem Computer verbunden hatte, laute elektronische Musik dröhnte. Es war erst kurz nach zwei am Nachmittag, abgesehen von Robin war er alleine im Haus und genoss die dadurch entstandene Freiheit hörbar. Obwohl er nicht viel geschlafen hatte, war Dave wie ausgewechselt. Es war immerhin Freitag: Wochenende: Die Aussicht auf zwei freie Tage. Die Aussicht auf Nick! Das Leben war mit einem Mal so viel spannender geworden!
Nicks Antwort kam ausgesprochen schnell: „Nice. Dürfen wir dann auch eine Viertelstunde früher in die Pause? :D”
Das war super gewesen. Nachdem die quälend lange Mathestunde endlich durch war, hatten sie eine Deutschstunde mit ihrer Klassenlehrerin Frau Pfeiffer gehabt, die Nick, im Nichtwissen ob seines legendären Auftritts in der vergangenen Mathestunde erneut darum gebeten hatte, ,sich doch einmal deinen neuen Mitschülerinnen und Mitschülern vorzustellen‘. Und damit promptes Gelächter in der ganzen Klasse erzeugt. Diesmal allerdings hatte Nick sich tatsächlich vorgestellt. Immer noch Norddeutsch-knapp, aber wenigstens wusste Dave jetzt, dass Nick aus Hamburg kam. Nick und er waren dann zum Ende der Stunde hin früher aus dem Unterricht herausgekommen, nachdem sie der Anregung von Frau Pfeiffer gefolgt waren, dass doch mal jemand dem neuen Mitschüler das Schulgebäude zeigen könnte.
„finds heraus :)“, antwortete Dave hoffnungsvoll.
Auf der anderen Seite des Chats kniete Nick zwischen zwei Umzugskartons, auf einem stapel Farbbefleckter Werbezeitungen und starrte auf die frisch gestrichene, schwarze Wand in seinem Zimmer.
Ach David …
„Herausfinden, so wie du und Ableitungen? ^^“, tippte er in Höchstgeschwindigkeit in sein iPhone.
Dieses Oberflächliche herumgetänzel mit David war toll. David ging so unvergleichlich unbeholfen mit der ganzen Situation um, dass es schon süß war. So von sich selbst beschämt und gleichzeitig voll hervorgebrachtem, unsicheren männlichen Stolz. Die Art von Stolz, die man vor sich hertrug, um die eigene Verletzlichkeit nicht zu zeigen.
Daves Antwort folgte prompt: „brueller haha xD“
Ach David …
Nur zu gerne würde Nick den Nachmittag einfach nur mit seiner neuen Bekanntschaft verbringen. Verdammt, wozu hatte er sich nur überreden lassen?
Nick legte sein Handy auf dem Umzugskarton neben sich ab, lies seinen Kopf in die Hände sinken: „Aaaaargh“, stieß er wütend aus. Schlug mit der Faust neben die Umzugskiste rechts neben ihm, sodass sie umfiel und ihren Inhalt über den hellen Laminatboden verteilte.
Dieses Scheißkaff. Papas Scheißidee. Als würde das irgendwas besser machen! In diesem verdammten Kuhkaff hier!
Perspektivenwechsel, Neuanfang. Fucking Blabla! Welchen Perspektivenwechsel kann man denn haben, in einem Dorf mit einem derat begrenzten Geenpool, dass hier vermutlich alle Cousins voneinander waren!
Mann Ey! Er wollte zurück nach Hamburg. In die Stadt, wo etwas passierte. Man jeden Tag neue Leute kennenlernen konnte. In der Anonymität untertauchte!
Nick schreckte auf, als er das Vibrieren seines Handys zum zweiten Mal hörte: „im ernst jetzt treffen in 30 min an der bushaltestelle?“
Fragezeichen. War selten, dass David sich mal bemühte, Satzzeichen bei seinen SMS zu verwenden. Er hatte wohl wirklich sicherstellen, dass das Ganze nicht wie ein Befehl rüberkam. Traute er sich wohl nicht. LOL.
Warum denn ausgerechnet heute Nachmittag. Hoffentlich würden sie rechtzeitig wieder zurück sein.
Nick stand vor einem Freitag, der es in sich hatte. Für so etwas hatte er jetzt eigentlich weder Zeit noch Nerven. Schlimm genug, dass Papa ihm noch aufgebrummt hatte, heute Nachmittag auf Fenix aufzupassen, sodass er vorher eigentlich gar nicht aus dem Haus konnte. „Nick, das wird ein wichtiger Abend für mich, weißt du?“
Ja Papa, nicht nur für dich! Nicht nur für fucking Dich!
Ach Scheiß drauf. ACH SCHEIß DRAUF! Mit einem geübten Daumenwischer in die rechte untere Ecke entsperrte Nick sein Smartphone. Das Gerät reagierte mit einem metallischen „Klack“ und öffnete die Nachrichten-App.
„Yeah Boii. Count me in! “, antwortete Nick dem Sechzehnjährigen und so langsam formte sich ein Ausdruck der Zuversicht in seinem Gesicht.
14:22, Kreisstraße 37, Hemmingen Fahrtrichtung Kleinfeldern
Für einen kurzen Moment totaler Entspannung schloss Jakob die Augen. Er hatte verloren und konnte sich einen genervten, aber doch auch ehrlichen Seufzer nicht verkneifen. Es wurde wieder einmal warm zwischen seinen Beinen, als er seine Drynites flutete. Erneut. Zum zweiten … Moment, nein. Nicht zum zweiten Mal, das wäre ja gar nicht mal das große Problem gewesen. Es war schon das dritte Mal, dass Jakob an diesem Freitag seine Schultags-Sicherheits-Notfallwindel vollpullerte!
Es war laut gewesen. Eine Masse an Unter- und Mittelstufenschülern hatte sich zu Beginn der zweiten Pause durch das enge Treppenhaus in Richtung Schulhof geschoben. Eine der beiden Flügeltüren am Treppenausgang war verklemmt, sodass sich die Schüler am Grafittibeschmierten Ausgang stauten. Alle schrien irgendwie durcheinander und das quietschen der Turnschuhe auf dem nassen Fliesenboden hallte von den glatten Betonwänden ab.
„Boah Mann, ist das immer so voll?“, wunderte sich Fenix
Jakob schüttelte den Kopf, lehnte sich auf das alte, zerkratzte Holzgeländer und versuchte, den Grund des Staus zu erspähen: „Oaaah! Die eine Türe klemmt. Und jetzt haben sich Freddy aus der siebten und seine Freunde vor die Andere gestellt!“
Jakob stellte sich auf die Zehenspitzen im Versuch, etwas weiter in Richtung des Endes der Schlange sehen zu können. Zwecklos, die waren alle trotzdem viel größer als er.
„So verpassen wir die ganze Pause!“, meckerte Fenix.
Jakob runzelte die Stirn und drückte seinen Ellenbogen gegen einen anderen Jungen, der grade von oben runterdrängelte: „Wir müssen nach oben!“
Zielstrebig duckte der Zehnjährige sich, griff nach der Hand seines irritierten Freundes und schlängelte sich zwischen seinen Mitschülern entgegen des Stromes die Treppe hinauf. Zurück in die erste Etage, wo sie eben erst hergekommen waren und wo ihnen immer noch Klassenkameraden entgegenströmten und hoch in den zweiten Stock zu den Biologie-Fachräumen.
Hier war es Menschenleer, selbst die Flurbeleuchtung war aus, sodass die einzige Lichtquelle der Schein aus der Halle am Ende des Flures war.
„Wir nehmen ne Abkürzung!“, hatte Jakob Fenix überschwänglich entgegen gerufen und war durch den Menschenleeren Flur in Richtung der Haupthalle gerannt. Dort hatte Fenix sich an das Geländer gelehnt und über die an diesem Punkt besonders deutlich werdenden Ausmaße des Schulgebäudes gestaunt: Galerieförmig verliefen hier die Aufgänge zu den einzelnen Etagen und unter ihnen, gewissermaßen im Zentrum des Gebäudes befand sich die Aula. Jakob wollte sich grade kurz von Fenix verabschieden um nun endlich einmal die Gelegenheit eines Toilettenbesuchs wahrzunehmen, da staunte sein neuer Freund: „Was ist eigentlich das da auf der anderen Seite für ein cooler Raum?“
„Was?“, wunderte sich der Angesprochene und blieb stehen. Fenix deutete mit dem Finger. „Ach … joa. Das ist nur die Schulbücherei“, zuckte er mit den Schultern.
„Oah, sieht ja mega cool aus!“, war Fenix begeistert. Die Schulbücherei befand sich auf der ihnen entgegen gesetzten Galerieseite eine Etage unter ihnen. Der Eingang war verziert mit Lichterketten und leuchtete abwechselnd mal rot, mal grün, mal blau. Aber eigentlich war es einfach nur eine Schulbücherei. Aber klar, ein paar coole Bücher gab es da schon, musste auch Jakob zugeben: „Lass uns gleich rübergehen, ich geh nur noch schnell aufs Klo!“
Fenix widersprach: „Die Pause ist doch gleich schon wieder vorbei, lass jetzt gehen!“
„Ich muss aber jetzt pissen!“, antwortete Jakob genervt während er ungeduldig am Reißverschluss seiner Regenjacke herumspielte.
„Die Pause ist nur noch acht Minuten! Geh halt in der fünften Stunde!“, beharrte Fenix.
„Neeee! Dann lachen die Anderen wieder. Das ist scheiße.“
Fenix legte den Kopf schief, steckte die Hände in die Hosentaschen und lächelte seinen Freund an. Er machte den Mund auf, zögerte kurz, und fragte dann: „Warum pisst du nicht einfach … in deine Windeln?“
Entsetzt sah Jakob den netten Zehnjährigen, den er seit etwas mehr als Vierundzwanzig Stunden kannte, an. Bewegte hektisch seinen Kopf nach links und rechts. War hier irgendwer, der was gehört haben könnte? Nein, Niemand.
„Ja … ich mein, du hast doch eh schon reingemacht“, verteidigte Fenix seinen Vorschlag und hielt abwehrend die Hände vor seinen Oberköprer: „Jetzt kommts auch nicht mehr drauf an.“
Beleidigt schlug Jakob nach Fenix Händen: „Blödmann!“, meckerte er. Doch davon lies sich Fenix nicht beeindrucken: „Isso. Kommst du?“, fragte er seinen Freund während er einen Schritt in Richtung Bibliothek machte.
Und Jakob war mitgekommen.
In der Bibliothek hatte er dann, während er ein Drei-Fragezeichen-Buch Probe-Durchblätterte, leicht die Beine auseinander gedrückt. Mehr oder weniger zwischen den hohen Fichtenholzbücherregalen versteckt, während von draußen der Pausenlärm gedämpft durch die großen Glasscheiben hallte. Hier drin war es still und warm, sodass den Jungen in ihren Jacken beinahe zu warm wurde. Kurz musste Jakob ankämpfen, um seine innere Barriere zu überwinden, bevor das Pipi in die unter seiner Hose versteckte Drynites, hineingluckerte. Langsam und entspannt pieselte er in seinen immer dicker werdenden Pullup. Ohne Not, bis zur nächsten Unterrichtsstunde hätte er es mit Sicherheit noch geschafft. Noch während er pullerte, hob Jakob geistesabwesend den Kopf und starrte, statt auf die Buchseiten, in den Gang. Als Fenix n jehnem Moment zu ihm herübersah und ihre Blicke sich kreuzten, zwinkerte Jakob ihm vielsagend zu. Auf Fenix Mund formte sich ein frech-besserwisserisches ,siehst-du‘-Grinsen geantwortet und Jakob musste zugeben, dass er sich daran nur zu gut gewöhnen könnte.
Erst als er sich in der auf die Pause folgenden Biostunde auf einem der harten Holzsitze niedergelassen hatte, realisierte Jakob seine Situation vollständig. Als das Gefühl, was er beim hinsetzen spürte aus Wärme, glibberig-weichen Saugstoff und altbekannter Nässe bestand. Die Drynites, an seinem Po war sie pitschnass. Vorne eh. Unauffällig drückte Jakob mit zwei Fingern der rechten Hand in den dick gewordenen Saugstoffwulst, der seine Hose in seinem Schritt zum spannen brachte.
Kurz schloss Jakob seine Augen, während um ihn herum der Unterricht begann.
War ganz in seiner eigenen Welt.
Wie früher, wie in der Grundschule.
Er war ein Kind mit seiner vollgepinkelten Windel.
Wie die Drynites am Ende des Schultages immer randvoll waren. An die Geleeartige, warme Nässe, die ihn die letzten Schulstunden eines jeden Tages begleitet hatte. Wie er in der zweiten Klasse dienstags wieder Pampers anbekommen hatte, weil er jetzt sechs Stunden hatte und erst später nach Hause kam. Weil er sonst immer auslief mit den Drynites.
Das hatte er als Freibrief interpretiert. War ja auch logisch, mit der Klebestreifen-Windel konnte er nicht aufs Klo gehen, wenn er das Ding nachher wieder zubekommen wollte. Also machte er, wenn er merkte, dass er musste, mit Absicht in die Windel. Das war selbst seiner Mama klar gewesen. Dienstags war hosenpinkeln wieder erlaubt!
In der Konsequenz waren die Pampers meist schon nass gewesen, bevor Jakob überhaupt das Haus verlassen hatte. Manchmal hatte er es lustig gefunden, während des Schultages so viel in die Hose zu machen wie irgendwie möglich. Wenn er so darüber nachdachte, eigentlich hatte Jakob seine Windeln auch damals schon geliebt. Wann hatte sich das nur geändert? Es war beinahe eine Herausforderung gewesen. Er hatte extra viel getrunken. In den Pausen manchmal eingehalten, um dann im Unterricht, wenn ihm langweilig war, langsam und genüsslich, Schub für Schub, in die Pampers zu pieseln. Oder er hatte immer weiter eingehalten, bis es gar nicht mehr ging, um dann mit vollem Karacho eine wahre Sturmflut in die Windel zu spritzen. Aber egal, wie rücksichtslos er reinstrullerte, die Pampers hatten immer dicht gehalten. Das war ja das Tolle gewesen.
Nicht wie im Kindergarten. Wo seine Windeln manchmal so durchnässt waren das sogar seine Hose feucht wurde.
Tja.
So wie jetzt. Drei Stunden später, im Linienbus, neben seinem neuen Freund. Jakob musste keine Hand unter seinen Po schieben, er musste nicht aufstehen und auf seinen Sitz schauen, er war sich auch so hundertprozentig sicher, dass seine Drynites die dritte aufeinanderfolgende Pipiflut nicht überstanden hatte. Das seine Hose am Po nass war und das braune Sitzpolster mit Sicherheit auch.
Er musste gestehen, Flut Nummer drei ging wieder auf seine Kappe. Nach Reli in der siebten Stunde hatte er ganz genau gespürt, dass er pullern musste. Aber er wollte lieber sofort den Bus nach Hause nehmen, anstatt eine halbe Stunde im Schulgebäude zu warten, obwohl er wusste, wie voll seine Drynites eh schon war. Er wusste, dass das knapp werden würde. Das drei Mal volle Kanne reinpullern nicht mehr ging, wenn man fast Elf war.
Frustriert über sich selbst aber dennoch der warmen Nässe äußerst zugetan rutschte Jakob tiefer in seinen Sitz hinein als ihm plötzlich der Pipigeruch, der von ihm ausging, in die eigene Nase steig. Ob Fenix das auch roch? Fenix war ganz anders, wenn es um seine Windeln ging, als seine anderen Freunde. Unauffällig schielte Jakob zu seinem Freund hoch und beobachtete, wie der blonde Junge gespannt aus dem Fenster auf die vorbeisausende Landschaft sah. Klar, war ja auch das erste Mal, dass er diese Strecke fuhr, vermutlich. Ob er überhaupt etwas von seinem Malheur mitbekommen hatte?
„Ohaaa“, rief der blonde Zehnjährige erstaunt, war in diesem Moment offenkundig von ganz anderen Sachen Überrascht: „Was passiert denn da vor eurer Turnhalle?“
Jakob stützte sich mit den Armen ab und sah ebenfalls aus dem Fenster. Der Bus fuhr grade durch den Kleinfeldener Ortseingang, in zwei Minuten würden sie an der Haltestelle ankommen. Aber darum ging es grade nicht.
Vor der Turnhalle, gleichzeitig die Mehrzweckhalle des Ortes, stauten sich weiße Lieferwagen, schwarze Limousinen, ein regelrechter Pulk aus Arbeitern in dunkler Funktionskleidung rollte schwarze, metallbeschlagene Holzkisten hinein und fuchtelte wild gestikulierend mit den Händen herum. Kurz sah Jakob den Opa von Max, Bürgermeister Herr Knopp, der mit verschränkten Armen gegenüber eines hochgewachsenen Mannes in Jakett und schwarzem Rollkragenpulli stand, dem er grade zuzuhören schien.
„Oaah! Da ist Papa“, realisierte Fenix aufgeregt und deutete mit dem Zeigefinger auf das Gelände vor der Mehrzweckhalle, das so schnell an ihnen vorbeiflog, dass im nächsten Moment nur noch die grauen Mauern des Schlachthofes auf der anderen Seite der Fenster zu sehen waren.
„Ahh. Papa hat mir davon erzählt“, verstand Fenix: „Heute ist reden die Leute aus dem Dorf mit den Leuten, die den Windpark bauen. Also auch mit ihm. Das ist voll wichtig. Da kommen extra Leute von der Regierung für, bestimmt mit dem Hubschrauber oder so! Mega krass! Deshalb ist Papa heute Nachmittag auch nicht zu Hause, weil er das alles organisieren muss! Und stattdessen passt Nick auf mich auf!“
„Was? Krass!“, antwortete Jakob begeistert, während der Bus bremste und er aufstand und seinen Rucksack schulterte: „Äh … wir sind übrigends gleich da.“, bemerkte er, während er abwesend auf seinen Sitz starrte. Er hatte zwei große, ovale Flecken auf dem dunkelbraunen Sitzpolster hinterlassen. Fuck. Zum Glück saß sonst Niemand im vorderen Teil des Busses. Wenn jemand anderes das jetzt bemerken täte, würde er bestimmt viel Ärger bekommen, weil er den Sitz kaputt gemacht hatte. Automatisch tastete Jakobs linke Hand entlang seiner olivgrünen Cargohose hinter zu seinem Po um den Ausmaß des Schadens zu ertasten. Doch ruckartig zog er seine Hand weg und vergrub sie verlegen in der Hosentasche.
War besser, wenn er das gar nicht erst wusste, dachte er sich.
Er spürte den nassen Stoff an seinen Oberschenkeln kleben.
Jakob ging einen Schritt nach hinten und achtete darauf, hinter Fenix zur Türe zu gehen. Mit klopfendem Herzen drehte er sich um und sah den großen Bruder von Jasper aus dem Fußballverein, der hinter ihm ebenfalls zum Ausgang wollte. Hoffentlich bemerkte der nichts!
„Willst du mit zu mir kommen? Das ist echt cool wenn nur Nick da ist, wir dürfen Fernsehn schauen beim essen! Und vielleicht sogar an seinem PC spielen!“, schwärmte Fenix, während die Türen aufgingen und die paar älteren Schüler den Bus verließen. Erst ganz zum Schluss folgten Fenix und schließlich ein vorsichtiger Jakob, der neben Fenix Abendgestaltungsplänen noch ganz andere Sachen im Kopf hatte.
„Und? Kommst du mit zu mir! Nick macht heute Pizza mit mir, selbstgemacht! Die ist voll lecker!“, fragte Fenix schwärmend und fast ließ Jakob sich von seinem Enthusiasmus anstecken. Vor ihnen lag immerhin ein ganzes Wochenende, zwei Tage ohne Schule, nur Spaß und spielen mit seinem neuen Freund!
„Jaaaaa“, antwortete Jakob entschlossen, doch wurde rasch leiser, bei dem was er nun folgte: „Ich muss nur schnell nach Hause …“, er sah betreten zu Fenix: „… mir ne neue Windel anziehen!“
Der Angesprochene grinste seinen neuen Freund an, klopfte Jakob auf die Schulter und ergänzte schnippisch: „Und ne neue Hose wär auch gut …“
„Blödmann!“, meckerte Jakob, während er spielerisch nach seinem neuen Freund trat und beide Kinder lachten. Jakob schulterte seinen Rucksack und war im Begriff, in die Gasse neben der Kirche abzubiegen, als Fenix ihm hinterherrief: „Und bring die Schlüssel mit!“
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Was habe ich mich gefreut von dir zu lesen! Diesmal fand ich die Verhältnisse von den Abschnittseinteilungen sehr ausgeglichen und das war richtig richtig schön zu lesen, denn jeder der Drei und auch wir als Leser sind so auf ihre Kosten gekommen. Jetzt warte ich natürlich sehnsüchtig auf den nächsten Teil.
Ganz tolle Arbeit. Gerne weiter so!
Sehr schöner Teil. Gute Geschichte.