Die Geheimnisse der Kerkwald-Geschwister (3)
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Eigentlich läuft alles ganz gut für die drei Kinder der Familie Kerkwald: Die vierzehnjährige Robin ist eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse, schmeißt nebenbei den halben Familienhaushalt und kümmert sich rührend um ihren kleinen Bruder Jakob. Der wird bald Elf, ist seit ein paar Monaten mehr oder weniger stolzer Fünftklässler und endlich dabei, das mit dem Trockenwerden richtig hinzubekommen. Und der Älteste der Drei, David, von seinen Freunden entweder „Dave“ oder schlichtweg „Kerkwald“ genannt, ist grundsätzlich sehr zufrieden mit seiner Rolle als Enfant-Terrible. Doch all das ändert sich an einem schicksalshaften Oktobertag …
Kapitel 3 – Die Provinz
„8 Uhr?“, fragte Franzi einige Stunden später enthusiastisch. Zusammen mit Robin und Leo saß die Fünfzehnjährige in der hintersten Sitzreihe des alten Linienbusses und musste fast brüllen, um den großen Dieselmotor, der schwer arbeitend unter ihren Sitzen grollte, zu übertönen. Es war schon fast vier Uhr Nachmittags und auf der anderen Seite der großen Glasscheiben hing die Sonne bereits tief über den Tannenbäumen am Horizont. Robin saß, ja lag beinahe, auf einem der beige-braunen Plastiksitze und drückte mit ihren dunkelroten Chucks gegen den Fensterteiler während sie im Takt zur Musik auf ihrem schwarzen Lederrucksack herumtrommelte. Ihre hellbrauen Locken leuchteten förmlich im Lichte der konturierenden Abendsonne: „8 Uhr?“, wiederholte die Fünfzehnjährige die Frage ihrer Freundin: „Nee, muss heute Abend auf Jakob aufpassen. Ich komm frühestens um 10“, wiegelte sie augenrollend ab und kommentierte ihre eigene Äußerung mit einem verstohlenen Lächeln.
„Schon wieder?“, bemitleidete Franzi ihre beste Freundin während der Bus über die enge Landstraße rumpelte.
Robin hörte auf, mit ihrem Rucksack zu trommeln und fuhr sich stattdessen mit der Hand verlegen durch ihre lockigen Haare: „Jaa, meine Eltern sind doch auch beide auf der Demo.“
„Oh man, das ist so dumm!?“, regte sich die Fünfzehnjährige mit dem langen blonden Zopf auf und Robin war sich nicht sicher, ob Franziska damit noch die Tatsache meinte, dass sie heute Abend Ersatzmama für Jakob spielen würde müssen, oder ob sie sich schon wieder über die Bürgerinitiative und deren bevorstehende Demo aufregte: „Windräder!“, rief Franzi und trat gegen den Sitz vor sich: „Wo ist euer scheiß Problem?“
Zaghaft und ungewöhnlich leise, zumindest für ihre Verhältnisse, antwortete Robin ihrer gereizten Freundin: „Mein Vater meint, dass ihr nur deswegen für die Windräder seid, weil Enercon euch das Land teuer abkaufen will …“
„Nein, ich bin dafür, weil sich hier einfach mal etwas ändern muss“, antwortete Franzi aufgebracht und fuchtelte wild mit ihren Händen herum: „Der Knopp und seine Leute sind doch alle nur dagegen, weil sie wollen, dass hier alles so bleibt wie es ist! Mensch Robin, es gibt so vieles, was in Kleinfeldern mal passieren könnte. Müsste! Aber hier passiert seit Jahrhunderten nie irgendetwas weil immer irgendein alter Sack meint dass doch grade alles super ist weil es in diesem bescheuerten Kuhdorf schon immer so war wie jetzt!“
„Chill“, bremste Leo die aufgebrachte Fünfzehnjährige in seiner Stimmbruch-Tonlage: „Hast du heute Che Guevara gefrühstückt oder was?“, scherzte der Junge. Doch das war nicht die Reaktion, die Franzi sich erhoff hatte. Grimmig starrte die Jugendliche aus dem Fenster in den vorbeihuschenden Wald und für ein paar Momente sagte niemand etwas. Der blonde, immerzu lächelnde Fünfzehnjährige mit den gewinnenden blauen Augen wandte sich verlegen Robin zu, doch die zuckte nur mit den Schultern. Eigentlich hatte Franzi ja recht. Das Einzige, was es hier gab, waren Feuerwehrfeste, Schützen- und Fußballverein und manchmal beschlich einen das Gefühl, dass Party und gute Laune in Kleinfeldern nur dann erwünscht waren, wenn sie von einem Vereinsvorstand in Sitzungen organisiert und vorbereitet worden war. Vom Schriftführer dokumentiert und in einer Vollversammlung beschlossen, versteht sich.
„Lass uns lieber über heute Abend reden“, brach Franzi plötzlich die Stille noch bevor der Bus den Wald wieder verlassen hatte. Zwischen den hohen Tannen war es fast schon dunkel und die aus der Decke herausragenden Neonleuchten tauchten den Fahrgastraum des Busses in ein bizarres Licht.
„Kommt Laura auch mit David?“, beeilte sich Leo, etwas zu finden, was das Gespräch am Laufen hielt.
„Hm, ka“, antwortete Robin. Es war wirklich komisch, dass ihr Bruder ausgerechnet mit Laura zusammengekommen war und damit nun auch ein Teil ihres erweiterten Freundeskreises geworden war. Plötzlich war das einfach passiert. Nachdem beide all die Jahre im selben Dorf, in derselben Schule, selbst in der gleichen Klasse aufgewachsen waren und sich nie füreinander interessiert hatten waren sie seit Franzis vierzehntem Geburtstag ein Paar. Robin war fast ein wenig beleidigt gewesen, als Franzi ihr davon erzählt hatte, hätte sie doch erwartet, zuerst von David selbst davon zu erfahren. Nicht unbedingt, weil sie gehofft hätte dass ihr großer Bruder diese hocherfreuliche Nachricht von sich aus mit ihr teilen würde. Trotz des äußerst freundschaftlichen Verhältnisses, dass die beiden älteren Kerkwald-Geschwister zueinander pflegten, war die Liebe ein Thema, dass die beiden Jugendlichen untereinander ausgesprochen selten thematisierten. Die Fünfzehnjährige hatte viel mehr erwartet, dass sie an David eine Veränderung hätte bemerken müssen. Euphorie, Aufgeregtheit oder einfach irgendetwas anderes, das den Eindruck erwecken würde, dass sich für David irgendetwas wichtiges in seinem Leben geändert hatte. Aber David hatte sich null verändert.
Noch während sich die drei Jugendlichen über den anstehenden Freitagabend austauschten und sich die Stimmung trotz Franzis Revoluzzerrede rasch wieder auflockerte, verstummte das Rattern des alten Motors und wich dem mechanischen Surren des betagten Retarders als der Linienbus sein Tempo verlangsamte und von der Landstraße in die Ausfallstraße in Richtung des Heimatdorfes der drei Jugendlichen einbog. Der altertümliche, sämtliche Häuser überragende Kirchturm baute sich am Horizont auf und wenig später wurde auch die backsteinerne Mehrzweckhalle sichtbar, die zugleich Turnhalle für die örtliche Grundschule und Versammlungsstätte für sämtliche Trachtenvereine war. Als schließlich auch noch die ockerfarbenen und weißen Fassaden der Einfamilienhäuser des nördlichen Neubaugebietes erkennbar wurden, war der Bus bereits fast im Dorf angekommen. Das hölzerne, mit einem kleinen Giebeldach verzierte Willkommensschild flog an den im Bus sitzenden Kindern und Jugendlichen vorbei, gefolgt von einem wesentlich größeren und schlichter wirkenden Plakat, auf das Jemand mit roter Farbe in riesigen Buchstaben geschrieben hatte ,Nein zu den Windrad-Monstern – Kleinfeldern wehrt sich!‘.
Der Bus rollte durch das kleine, aus dem Schlachthof, ein paar Handwerksbetrieben und Lagerhallen bestehende Industriegebiet, bevor er schließlich in Richtung des Dorfplatzes abbog. Neben dem Ladenpark nahe der Autobahnauffahrt sorgte es mit seinen Gewerbesteuereinnahmen dafür, dass Kleinfeldern überhaupt noch eine eigenständige Gemeinde mit eigenem Rathaus und Bürgermeister war und nicht schon vor Jahren in den nahegelegenen, von den Alt-Eingesessenen verhassten Nachbarort Großfeldern eingemeindet worden war.
Robin war schon dabei, aufzustehen, als dem Bus aus einer der kleinen Querstraßen ein silberner Minivan entgegenkam. Die Fünfzehnjährige musste gar nicht auf das Kennzeichen schauen, um zu erkennen, dass ihr grade das Familienauto entgegenkam. Ihre Mutter musste wohl grade unterwegs sein zum großen Globus-Warenhaus, um all die Sachen einzukaufen, die sie im Hofladen nicht besorgen konnte. Wurde aber auch mal Zeit.
Routiniert lenkte die Mittvierzigerin das treue Gefährt über die holprige Dorfstraße in Richtung Ortsausgang während aus dem Autoradio achtziger-Popsongs dudelten und auf der Rückbank ein ruhiger Jakob in seinem dunkelblauen Kindersitz lümmelte.
Im Gegensatz zu seiner älteren Schwester hatte der Fünftklässler das Glück, am Freitag bereits nach der sechsten Stunde nach Hause zu kommen und diese Tatsache war heute auf den glücklichen Umstand, dass auch Eva nur eine Halbschicht hatte, getroffen. Recht bald nachdem seine Mama nach Hause gekommen war, hatte der Zehnjährige, auf deren explizite Nachfrage hin, das schlechte Ergebnis in seinem Vokabeltest gebeichtet und war augenblicklich erleichtert gewesen. Klar, das hatte ein mittelschweres Donnerwetter gegeben, Eva hatte ihren jüngsten Sprössling sofort an die Hausaufgaben verdonnert und anschließend noch beinahe eine halbe Stunde lang Vokabeln mit ihm geübt. Das Ergebnis stellte sich äußerst durchwachsen dar, doch Jakob war eines dieser Kinder, denen man einfach nicht lange Böse sein konnte. Doch den DS, den er grade erst neben der Badewanne wiedergefunden hatte, hatte er für die nächste Woche trotzdem wieder abgeben müssen.
Zwei Stunden später saß der schmächtige Zehnjährige nun in seinem Kindersitz, hatte sowohl den Vokabeltest als auch seinen Pipiunfall vom Vormittag schon vergessen und startete nun mit dem Gewissen, alle Hausaufgaben für den anstehenden Montag bereits erledigt zu haben in das bevorstehende Wochenende. Die nasse Drynites hatte er direkt als erstes, kaum war er durch die Haustüre geschritten, entsorgt und gegen das Exemplar, was nun noch immer trocken unter seiner dunkelgrünen Cargohose residierte, getauscht. Nunmehr von allen Sorgen befreit summte er leise zur Radiomusik und beobachtete die auf der Weide neben der Landstraße grasenden Kühe. Es dauerte nicht lange, da wichen die Kühe eng aneinaderstehenden Tannen, Tannen, so dicht und groß, dass sie beinahe sämtliches Tageslicht schluckten und das Fahrzeuginnnere in ein diffuses, dunkles Licht tauchten. Die Scheinwerfer des treuen Familienvans sprangen an und erleuchteten die schnurgrade Landstraße vor ihnen. Sie fuhren über die große Brücke an der Autobahnauffahrt, die die abgeschiedene Gegend mit den großen Städten im Norden verband und es dauerte nicht lange, bis sie auf einen riesigen, nur zur Hälfte überhaupt mit Autos bevölkerten Parkplatz einbogen.
Kaum hatte Eva den silbernen Opel Zafira in der nächstbeste Parklücke zum Stehen gebracht, hatte Jakob sich bereits abgeschnallt und war aus dem Auto gesprungen. Nach vielen Stunden des Rumsitzens, zuerst in der Schule und nun auch noch auf der Rückbank des Familienvans wurde der Fünftklässler plötzlich wieder von seinem Bewegungsdrang übermannt. Der Zehnjährige sprintete über den Parkplatz zu dem Metallunterstand in dem die Einkaufswagen bereitstanden, löste mit einem gekonnten Griff den vordersten Wagen aus der Reihe, dollte ihn an, sprang, kaum war das Gefährt schnell genug, hinten auf den Einkaufswagen drauf und rollte mit dem verbliebenen Schwung bis zum Auto zurück: „Whuiiiiiiii“, rief er voller Enthusiasmus während seine dunkelblaue Jacke im Wind des stürmischen Herbsttages flatterte: „Darf ich den Wagen schieben?“, bettelte er seine Mutter freudig an.
Eva nickte, doch fügte, kaum nahm Jakob mit dem Wagen wieder Schwung auf, hinzu: „Aber schieben, nur schieben! Ja, Jakob?“, ermahnte sie ihren Jüngsten während dieser offensichtlich nicht hinhörte: „Ja, Jakob?“
„Klaro! Bin doch schließlich Jakob und nicht Neinkob!“, kicherte der Zehnjährige als er die wiederholte Ermahnung realisierte und verlangsamte sein Tempo wieder.
Kaum hatten sie den großen, fensterlosen Kasten betreten, steuerte Jakob gewissenhaft die Getränkeabteilung links vom Eingang an und er und seine Mutter luden Sprudel- und Saftkästen in den unteren Träger des Einkaufswagens. Der örtliche Globus war einer jener Hyper-Supermärkte, auf deren riesiger Verkaufsfläche es weit mehr zu erstehen gab als nur Lebensmittel. Neben für einen Supermarkt naheliegenden Warengruppen wie Drogerieartikel konnte man in den langen Gängen eigentlich alles finden, was man sich nur vorstellen konnte: Kleidung, Elektronikartikel, Fahrräder, ja selbst mehrere Regalreihen voller Spielwaren – Und das war auch der Grund, warum der Zehnjährige voller Begeisterung zugestimmt hatte, als seine Mutter ihn vor einer halben Stunde gefragt hatte, ob er denn mit zum Einkaufen fahren wöllte.
Gewissenhaft folgte er ihr mit dem durch die Getränkekisten mittlerweile wesentlich schwerer zu lenkenden Einkaufswagen in die Regalreihe mit den Konservendosen und wartete einige Minuten geduldig, bevor er zu den gelben Legoregalen im Nachbargang lief und Eva die Gewissheit hatte, die nächste Viertelstunde alleine und völlig ungestört einkaufen zu können.
Mit leuchtenden Augen stand Jakob vor dem breiten, mit allerhand blauen Pappschachteln bestückten Regal, schlich langsam an den City-Sets vorbei, ignorierte die Friends-Modelle und blieb wie gebannt vor den Ninjago-Boxen stehen. Da war Lloyds roter Samurai-Roboter für nur 29 Euro und 99 Cent, aber auch das große Set um den Ultraschall-Racer, den Jakob eigentlich ohnehin wesentlich cooler fand. Oder Jays Jetfighter! Aber eigentlich war ihm klar, dass es nach seinem Abschneiden im Vokabeltest grade äußerst schlecht um seine Lego-erquengel-Chancen stand. Würde er jetzt versuchen, seine Mutter vom Kauf eines der doch so begehrenswerten Bausteinsets zu überzeugen, würde das vermutlich deutlich nach hinten losgehen und dazu führen, dass das Thema wohl selbst beim nächsten Großeinkauf noch Tabu sein würde. Aber das war kein Grund, die dunkelroten Pappschachteln nicht doch ein paar Momente voller unbändiger Sehnsucht zu bestaunen. Jakob stellte sich auf die Zehenspitzen, griff nach dem kleinen Paket, welches die rote Roboteractionfigur beherbergte und drehte es auf die Rückseite um die mitgelieferten Figuren zu bestaunen, als plötzlich jemand seinen Namen rief: „Jaaaaaaaaaakoob!“ Aufgeregt, geradezu begeistert rief ein rothaariger Junge mit großer Brille, knallrotem Kaputzenpullover und schriller Stimme seinen Namen und kaum hatte der Angesprochene hochgesehen, fing er an zu strahlen und quiekte euphorisch zurück: „Liiiiiiiiiinus!“
Linus und Jakob kannten sich im Grunde genommen schon ihr ganzes Leben lang. Beide wussten nicht mehr, wie sie sich kennen gelernt hatten, nur, dass es irgendwann mit drei im Kindergarten gewesen sein musste, war ihnen klar. Sie waren unzertrennlich gewesen. Zusammen hatten der Windeljunge und das Kind mit dem Klebepflaster auf einem Auge die Giraffengruppe unsicher gemacht und auch in der Grundschule saßen sie vier Jahre lang nebeneinander, hatten Vormittags mehr oder weniger still auf hellbraunen Holzstühlen gesessen und Nachmittags Legoburgen gebaut oder waren auf Bäume geklettert. Bis zwei weiße, auf dickem Blatt gedruckte A4-Seiten die beiden Jungen getrennt hatten. An einem warmen, sonnigen Julitag vor etwa einem halben Jahr war es passiert. Die Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse der katholischen Grundschule Kleinfeldern saßen still, gespannt und aufgeregt an ihren Tischen, während ihre Klassenlehrerin weiße Blätter verteilte: Das Grundschul-Abschlusszeugnis. Und während Jakob trotz seiner Verspieltheit und der häufigen Träumereien der Besuch des Gymnasiums nahegelegt wurde, stand bei Linus in dem grauen Kästchen am Ende des Blattes nur das Wort ,Realschulempfehlung‘. Für Jakob war der Fall klar gewesen: Dann würde er eben nach den Sommerferien auch auf die Realschule in Großfeldern gehen!
Doch das war nicht passiert. Seine Eltern, seine ehemalige Klassenlehrerin, seine Großeltern, selbst Robin – alle hatten dem Zehnjährigen versucht zu erklären, dass er diese Entscheidung nicht anhand eines einzigen Freundes treffen durfte. Und Jakob war überfordert gewesen, hatte sich gewünscht, die Sommerferien würden niemals zu Ende gehen und war schließlich, er wusste eigentlich gar nicht mehr, wer das letztendlich für ihn beschlossen hatte, wie seine beiden älteren Geschwister auf dem riesigen Gymnasium in der zwanzig Kilometer entfernten Kreisstadt gelandet. Und mit jedem Monat, der vergangen war, hatten Linus und er sich seltener gesehen.
Doch in diesem Moment war all das vergessen. Jakob strahlte begeistert beim Anblick seines Sandkastenfreundes während dieser auf den ihm so wohlbekannten Jungen zu rannte und seine Arme gewinnend ausbreitete. Die beiden Zehnjährigen waren so erfreut über ihr ungeplantes Wiedersehen, dass sie sich, aufgeregt auf- und abhüpfend umarmten und begeistert kreischten. Kaum eine Sekunde später hatte Linus den Ninjago-Roboter jedoch aus Jakobs Hand geklaut und rannte laut brüllend durch den Gang: „Hohl dir Lloyd doch!“
Linus neue, schwarze Adidas-Turnschuhe quietschten ohrenbetäubend als sie im Zickzack über die schwarz-braun-gepunkteten Schwerlastfliesen rannten und auch Jakobs dunkelblaue Klettschuhe erzeugten einen Höllenlärm. Die Geräuschkulisse glich der einer Turnhalle. Linus sprintete durch die Tiefkühlabteilung, bog ab in die Textilabteilung und quetschte sich unachtsam zwischen zwei runden Kleiderständern hindurch während Jakob ihm dicht auf den Fersen war. Der schwarzhaarige Zehnjährige versuchte nach seinem Freund zu greifen, doch Linus verstand es gut, im richtigen Moment unerwartet die Richtung zu ändern. Sie rempelten ein paar Jugendliche an, flitzten durch die Gemüseabteilung und Jakob hatte seinen Freund beinahe gepackt, da sprang dieser spektakulär über einen gelben Aufsteller wieder in den Hauptgang, während er seinen Kopf in Richtung seines Verfolgers gedreht hatte.
Der Junge mit der roten Stachelfrisur rempelte beinahe eine ältere Dame an, drehte sich entschuldigend um und stolperte dabei gegen einen entgegenkommenden Einkaufswagen.
„Linus! Jakob!“, wurden sie lautstark von der Frau die ein paar Meter entfernt vor einem der großen Regale stand und sich zur Überraschung der beiden Jungen als Jakobs Mutter entpuppte, ermahnt. Sofort war die Verfolgungsjagt beendet. Die Kinder froren augenblicklich ein, verschnauften möglichst unauffällig und Linus realisierte, dass der vor ihm stehende Einkaufswagen zu Jakobs Familie gehörte. Unauffällig versteckte er den schwarzroten Legobausatz zwischen den weiß-blauen Drynites-Jumbopackungen im Korb. Inklusive des neongrünen Pampers-Monatspacks nahmen die Windelpackungen ein beträchtliches Volumen im Einkaufswagen ein, doch das war nichts, worüber die beiden Jungen auch nur einen einzigen Gedanken verschwenden würden. Außerhalb der Schule war es für Jakob deutlich weniger wichtig, sein Pipi-Problem geheim zu halten und für Linus gehörten Windeln eh schon immer zu seinem besten Freund dazu. Klar, in der dritten und vor allem vierten Klasse hatte sich das echt verändert, nachdem Jakob zu der Selbsterkenntnis gelangt war, dass große Jungs nicht mehr in die Hosen machten und von da an ernsthaft versuchte, seine Drynites nur im Notfall zu benutzen. Aber Linus hatte sich auch nicht daran gestört, dass sein bester Freund aus berechtigtem Ekel vor den Schultoiletten bis zur zweiten Klasse jedes Mal, wenn er gemusst hatte, mehr oder weniger absichtlich in seine Pullups gestrullert hatte. Klar, er war nicht der einzige Zweitklässler gewesen, der sich den Toilettengang angesichts der miefigen, uralten Schulklos verkniffen hatte. Aber im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden, die ohnehin alle viel besser einhalten konnten und dazu noch möglichst wenig tranken, hatte Jakob weder auf die Erdbeermilchflasche in der großen Pause, noch auf die Apfelschorle in seiner leuchtend blauen Trinkflasche verzichten wollen und einfach jeden, aber auch wirklich jeden einzelnen Tag, seine Nur-zur-Sicherheit-Hochziehwindeln vollgepinkelt. Und im Kindergarten, als sich noch niemand ernsthaft damit beschäftigt hatte, dem damals sechsjährigen Wirbelwind den regelmäßigen Toilettengang beizubringen, war es für Linus auch nichts sonderlich Bemerkenswertes gewesen, wenn sein Freund mitten im Spiel einfror, in die Hocke ging und seinen Stinker in die Pampers drückte. Nur um anschließend so zu tun als wäre nichts passiert und unschuldig weiterzuspielen.
Aber für Linus gab es weitaus relevantere Dinge an Jakob, als die Nebensache, dass er halt noch in die Hose machte. Seine Fantasie – egal, ob es ein langweiliger Museumsbesuch war, die fünfte Stunde Religionsunterricht, Jakob erfand immer irgendein Spiel, eine Geschichte, einen Wettbewerb, der alles viel lustiger, spannender oder spaßiger machte. Es passierte echt selten, dass man sich langweilte, wenn man Zeit mit dem schmächtigen Jungen verbrachte. Jakob war nicht eines dieser Kinder, die ihre Freundschaften hauptsächlich darüber schlossen, dass sie ganz viele coole Spielzeuge hatten, eigentlich hatte der Zehnjährige echt nicht so viele Spielsachen. Einen großen, unsortierten und aus verschiedenen Jahrzehnten stammenden Legohaufen, den er von seinen großen Geschwistern geerbt hatte sowie ein außerordentlich gut mit Fantasy-Romanen und kindgerechten Sachbüchern gefülltes Bücherregal, aber ansonsten? Doch wenn man mit ihm zusammen spielte, dann wurden schnell auch Stöcker zu Spielzeugen, Plastikbecher, selbst Geodreiecke. Eigentlich war in Jakobs Welt alles ein potentielles Spielzeug. Und Jakob wiederrum? Der schätzte Linus Quasselfähigkeiten, wie sich der rothaarige Zehnjährige eigentlich aus jedem Unfug wieder herausreden konnte, seine Witze und die Tatsache, dass er eigentlich immer für seinen besten Freund dagewesen war, wenn der ihn gebraucht hatte.
Kaum lies Eva die beiden Jungen wieder aus den Augen um ihrem Einkauf nachzugehen, begannen diese beinahe Instantan damit, Pläne für das Wochenende zu schmieden. Mit leuchtenden Augen schlug Jakob seinem Freund vor, dass dieser doch am heutigen Abend bei ihm übernachten könnte: „Mama ist auch weg, nur Robin passt auf uns auf!“, nannte er unter anderem aufgeregt als Argument: „Wir haben Cars 2 zuhause!“
„Ähhhh …“, antworte Linus zögerlich: „Bin heute Abend schon bei Jerry, sorry!“, entschuldigte sich der rothaarige Junge während sich Jakobs Miene trübte. Wer war denn Jerry? Ersetzte Jerry ihn jetzt?
„Aber … morgen?“, schlug Linus vor als er Jakobs Reaktion deutete und konnte sich der Begeisterung seines ehemaligen besten Freundes sicher sein:
„Jiiiii!“, quiekte der Zehnjährige mit den glatten und dennoch verstrubbelten schwarzen Haaren und hüpfte vor Freude. Das würde ein Super-Samstag werden! Während die beiden Kinder Pläne ob des morgigen Tages schmiedeten, liefen sie durch die großen, breiten Gänge des Hypermarktes zurück in die Spielwarenabteilung und Linus schwärmte Jakob von den neuen, schier riesigen Star-Wars-Sets, die es dieses Jahr zu kaufen gab, vor: „Das ist übel krass! Die machen jetzt riesen Sets, einen ganzen Sternenzerstörer, aber nicht in klein sondern mega riesig!“, rief er begeistert und vergaß dabei beinahe, zu atmen: „Mit fast viertausend Teilen! Das Ding ist übel krass, hab ich mal im Laden gesehen!“
Erfürchtig deutete Linus mit seinem Finger auf die schwarze, im obersten Regal stehende Packung, die Fernab der Reichweite der beiden Kinder in der obersten Regalreihe, wo die ganzen teuren Sets lagerten, für die man einen Mitarbeiter fragen musste.
Den beiden Jungen blieb leider nicht all zu viel Zeit, bis Linus Mutter, die offenbar genauestens gewusst hatte, wo sie ihren Sohn in diesem Moment hatte suchen müssen, mit ihren Einkaufswagen in die Legoregalreihe einbog, erfreut Jakob grüßte aber ihren Sohn anschließend freundlich bat, nun doch bitte endlich zur Kasse mitzukommen.
„Jo, bis morgen!“, verabschiedete sich Linus und hielt seine Hand zu einem Highfive hin, den Jakob prompt in einen Handgriff umwandelte, aus dem er erst nach einigen Sekunden wieder losließ. Jakob sah seinem Freund noch kurz hinterher und drehte sich dann wieder zu den Spielzeugregalen um. Doch das war jetzt auch nicht mehr dasselbe. Außerdem würde seine Mutter auch sicherlich bald mit ihrem Einkauf fertig werden und dann wäre es bestimmt besser, wenn sie ihn nicht erst suchen müsste. Langsam schlurfte Jakob aus dem Gang heraus, hielt noch kurz bei den Matchbox-Rennbahnen und den Siku-Autos bevor er wieder in den vorderen Teil des Ladens, in welchem er seine Mutter zuletzt zurückgelassen hatte, schlenderte.
Für Eva war es eine willkommene Erleichterung, dass Jakob nun doch noch beim Befüllen des Einkaufswagens mithalf. Nachdem sich ihr zehnjähriger Wirbelwind an den Legomodellen sattgesehen hatte, sich mit seinem Freund eine Verfolgungsjagt durch den ganzen Laden geliefert hatte und obendrein noch eine Verabredung für den nächsten Tag geschlossen hatte, war Jakob auch wesentlich ruhiger und konzentrierter beim Schieben des Einkaufswagens zugange. Er war manchmal kein einfaches Kind. Hibbeliger als seine Geschwister es in dem Alter gewesen waren und gleichzeitig oft in seiner eigenen Welt versunken, einer Welt aus der man ihn ab- und an auch einmal herausholen musste weil er sich sonst darin verlor. Aber er war auch so ein liebes Kind! Nachdem er nun ansatzweise ausgetobt war, folgte er seiner Mama gewissenhaft mit dem großen Einkaufswagen, verwaltete akribisch die Einkaufsliste und strich bereits erworbene Produkte genauestens durch. Als David noch so alt gewesen war, wie es ihr jüngster Sohn heute war, hätte er ihr niemals freiwillig beim Wocheneinkauf geholfen. So ließ sich Eva von ihrem jüngsten Sprössling sogar dazu breitschlagen, ein billiges, schwarzes Ninja-Halloweenkostümset, bestehen aus einem bedruckten Overall und einem außergewöhnlich großen, anthrazitfarbenen Plastikschwert, das wohl der eigentliche Grund für Jakobs Verlangen war, in den Einkaufswagen zu legen. Immerhin war nächste Woche Halloween und er hatte tatsächlich noch kein Kostüm, da musste Eva ihrem Sohn Recht geben.
Sie stellten sich grade an einer der vielen Kassenschlangen an und Eva lies ihren Sohn noch ein letztes Mal den Einkaufszettel durchgehen, um sich zu vergewissern, dass sie auch tatsächlich nichts vergessen hatten. Kein Schulheft, kein spezielles Duft-Shampoo, nicht die speziell-kleinen Knopfbatterien – es gab wirklich verdammt viel Zeug, das ein fünfköpfiger Haushalt brauchte. Jakob ging die Liste durch und nickte nach einem kurzen Moment bestätigend: „Jap! Einmal hin, alles drin!“, machte er den Werbespruch einer Supermarktkette nach und kicherte. Der Zehnjährige drehte wie zur Bestätigung den Einkaufswagen in die Schlange hinein und ging dazu über, die bunten Süßigkeitspackungen in den Regalen vor ihm zu begutachten. Eva seufzte innerlich und stellte sich schon darauf ein, ihrem Quengelkind laut und deutlich ,Nein‘ zu sagen, da fiel ihr ein anderes Detail an ihrem Sohn auf. Jakob hatte die Beine überkreuzt und stand angespannt, kerzengrade vor dem Einkaufswagen: „Bärchen, musst du mal aufs Klo?“, fragte sie alarmiert.
„Nöööö“, antwortete Jakob gelassen und drehte seinen Kopf vom Süßigkeitenregal weg in Richtung seiner Mutter. Plötzlich weiteten sich seine Augen: „Doch!“, korrigierte er sich panisch, drückte augenblicklich eine Hand zwischen seine Beine und blickte sich hektisch um.
„Die Toiletten sind am Eingang, neben der Information! Da, beim großen I, siehst du?“, erklärte Eva und zeigte auf den Informationsschalter auf der anderen Seite der breiten, fensterlosen Halle: „Beeil dich, Großer! Du schaffst das!“, ermunterte sie den Zehnjährigen, während dieser einen Moment lang wie eingefroren dastand: „Komm! Los“, animierte Eva ihren Sohn.
„Entschuldigung, könnten sie meinen Sohn kurz durchlassen?“, bat sie den älteren Herrn vor ihnen in der Schlange, woraufhin sich Jakob flink am Kassenband vorbei drängelte und durch die Halle sprintete. Mit voller Kraft drückte er die Toilettentüre auf, flitzte durch den Vorraum und schaffte es in letzter Sekunde noch vor das rettende Pissoir.
Als Eva ein paar Minuten später auf der anderen Seite des Kassenbandes wieder auf ihren Sohn traf, konnte sie an dessen strahlen sofort ableiten, dass er mit seinem Sprint wohl Erfolg gehabt haben musste. „Und?“, fragte sie trotzdem neugierig.
„Habs geschafft! Nix in die Hose gegangen!“, flüsterte Jakob leise aber stolz während im selben Moment die Drynitespackungen, von dem charakteristischen, lauten Piepton des Scanners begleitet, über die Kasse huschten.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Es macht immer Spaß, deine Geschichten zu lesen, und die Freude, die du am Formulieren hast, fühlt man auch als Leser.
Bloß: Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das noch die Einleitung ist und bald die Handlung richtig einsetzt oder ob es gar keine richtige zusammenhängende Geschichte gibt. Ich bleibe gespannt.
Vielen Dank für deinen Kommentar! 😀
Hm, ja, da sprichst du etwas aus, was viele denken. Ich kann dir sagen: Es ist immer noch die Einleitung! 😀
Und ja, diese ist laaaaaang – das merke ich mittlerweile auch selber. Das liegt zum einen daran, dass ich der Meinung war, dass die drei Storylines (eine für jedes Geschwisterteil) glaubhafter wirken, wenn sie langsam eingeführt und aufgebaut werden – daher die lange Einleitung. Durch den Anfang in 2022 habe ich versucht, ein bisschen „Foreshadowing“ zu betreiben und zu zeigen, wohin die Geschichte gehen wird, aber da war ich etwas sehr subtil – eventuell auch zu subtil. 😀
Und zum anderen, ich glaube, das merkt man auch deutlich. habe ich diese Geschichte nicht nach dem Schema „Das ist die Story und dafür brauche ich diese Chraraktere“ entworfen, wie meine Geschichten zuvor, sondern eigentlich umgekehrt „Das sind die Charaktere über die ich gerne schreiben würde und zwar, hmm, lass mich überlegen, eine Story in der …“.
Aber, das ist vielleicht ein Lichtblick: „Die Provinz“ ist das dritte von vier Einleitungskapiteln – und mit jedem Einleitungskapitel geht es näher auf die Haupthandlung zu und die Ereignisse nehmen Fahrt auf. Und Kapitel 5 und 6 sind dann auch schon das finale des Einleitungsaktes: Danach stehen alle „Schachfiguren“ auf ihren Ausgangspositionen und es kann losgehen. Bis dahin bitte ich um Geduld. 😀
Vielen Dank für deinen Kommentar! 😀
Hm, ja, da sprichst du etwas aus, was viele denken. Ich kann dir sagen: Es ist immer noch die Einleitung! 😀
Und ja, diese ist laaaaaang – das merke ich mittlerweile auch selber. Das liegt zum einen daran, dass ich der Meinung war, dass die drei Storylines (eine für jedes Geschwisterteil) glaubhafter wirken, wenn sie langsam eingeführt und aufgebaut werden – daher die lange Einleitung. Durch den Anfang in 2022 habe ich versucht, ein bisschen „Foreshadowing“ zu betreiben und zu zeigen, wohin die Geschichte gehen wird, aber da war ich etwas sehr subtil – eventuell auch zu subtil. 😀
Und zum anderen, ich glaube, das merkt man auch deutlich. habe ich diese Geschichte nicht nach dem Schema „Das ist die Story und dafür brauche ich diese Chraraktere“ entworfen, wie meine Geschichten zuvor, sondern eigentlich umgekehrt „Das sind die Charaktere über die ich gerne schreiben würde und zwar, hmm, lass mich überlegen, eine Story in der …“.
Aber, das ist vielleicht ein Lichtblick: „Die Provinz“ ist das dritte von vier Einleitungskapiteln – und mit jedem Einleitungskapitel geht es näher auf die Haupthandlung zu und die Ereignisse nehmen Fahrt auf. Und Kapitel 5 und 6 sind dann auch schon das finale des Einleitungsaktes: Danach stehen alle „Schachfiguren“ auf ihren Ausgangspositionen und es kann losgehen. Bis dahin bitte ich um Geduld. 😀
Hallo Giacomo,
ich habe schon vor Jahren dein Buch über dein Zusammentreffen mit deinem eigenen , 11 jährigen Ich aus der Vergangenheit, Mi großem Vergnügen gelesen !
Bei dir trifft ein sehr angenehmer Schreibstil auf eine Geschichte mit einem, zumindest im Grundzügen , schon zu Beginn