Die neue Mitschülerin
Windelgeschichten.org präsentiert: Die neue Mitschülerin
Die meisten Orte und alle Personen sind frei erfunden. Vorab: Bis Windeln in dieser Geschichte vorkommen, wird es eine Weile dauern, ich stelle die Charaktere, deren Beziehungen und deren Entwicklungen in den Vordergrund. Ideen nehme ich in den Kommentaren gerne entgegen. Am Anfang sind die Kapitel eher ein bisschen kurz, später werden diese ein wenig länger.
Kapitel 1: Eine Begegnung an der Bushaltestelle
Wie üblich ging Chris überpünktlich aus dem Haus, um überpünktlich an der Bushaltestelle anzukommen. Vor einigen Jahren – Chris ging in die sechste Klasse des Gymnasiums im Nachbarort – verpasste er den Bus. Da seine Eltern beide bereits unterwegs zur Arbeit waren, konnte er nicht nach Hause zurück, um einen von ihnen zu bitten, ihn in die Schule zu bringen. Also trat er wohl oder übel den rund zwanzigminütigen Gang zum Bahnhof an, er würde sich beeilen müssen, um den nächsten Zug zu bekommen und zumindest mit nicht allzu großer Verspätung in der Schule anzukommen. Der leichte Nieselregen und der kalte Herbstwind hatten ihren Anteil daran, dass Chris‘ Laune an diesem Novembermorgen nicht besser wurde. Wie es immer ist, wenn es das Schicksal schlecht mit einem meint, bog er gerade in die kurze Sackgasse ein, an deren Ende der Bahnhof lag, als sein Zug beschleunigte und bald aus dem Sichtfeld verschwand. Eine halbe Stunde würde er also auf den nächsten warten müssen. Die erste Stunde würde er versäumen. Biologie bei Frau Schmidt stand in den ersten beiden Stunden auf dem Stundenplan. Als er zu Beginn der zweiten Stunde an den Fachraum klopfte, dauerte es nicht lange, bis ein Mitschüler ihm die Tür öffnete und Frau Schmidts Gesichtsausdruck von Verwunderung, wer denn dort an der Tür geklopft haben könnte, zu Wut wechselte: „Himmel noch mal, Christian! Auf deinen Platz, sofort! Wo kommst du denn jetzt her?“, schrie sie Chris an. „Ich….äh…habe meinen Bus verpasst.“, nuschelte Chris, der sich plötzlich nicht einmal mehr halb so groß fühlte, wie er eigentlich war. „Das war ja klar. Nach der Stunde kommst du zu mir, und du kriegst eine saftige Strafarbeit!“ – Das hatte gesessen. Ebenso wie Chris, der auf seinen Platz ging, während alle Augen auf ihm lagen. Mitschüler tuschelten leise, Chris verstand aber kein Wort von dem, was sie sagten. Er verhielt sich den Rest der Stunde so unauffällig wie möglich und war sichtlich eingeschüchtert von Frau Schmidts forschem Auftreten. Am liebsten wäre er mit den anderen am Ende der Stunde in die Pause gegangen, aber natürlich hatte er Frau Schmidts Worte noch in Erinnerung und so wartete er am Stundenende darauf, dass sie die Versuchsapparaturen im Nachbarraum verstaute. „Ah, Christian, was gibt’s?“, fragt sie schon freundlicher, als sie ihren Schüler am Pult stehen sah. „Äh…ich sollte zu Ihnen kommen?“, antwortete dieser unsicher. „Stimmt, du warst ja zu spät.“, erinnerte sich die Biologielehrerin. Sie atmete tief durch und sagte mit ruhiger Stimme: „Du, ich muss mich bei dir entschuldigen. Hör zu: Neben dir sind noch drei andere heute Morgen zu spät gewesen, was mich ehrlich gesagt ziemlich genervt hat. Als du dann kamst, hat das mein Fass zum Überlaufen gebracht. Trotzdem war es nicht in Ordnung, dass ich dich so angeschrien habe und dir eine Strafarbeit aufbrummen möchte. Die anderen drei haben ja auch keine gekriegt.“ Chris schaute seine Lehrerin ungläubig an. Als sie dies bemerkte, lächelte sie sogar. „Keine Sorge, von meiner Seite aus ist der Vorfall vergessen. Dass man mal den Bus verpasst, kann passieren, und solange das nicht häufiger passiert, finde ich das nicht schlimm. Allerdings hast du die komplette erste Stunde gefehlt – die musst du von deinen Eltern entschuldigen lassen.“ – „Na, super“, dachte Chris, „dann erhalte ich ja noch eine Standpauke heute Nachmittag.“ – „Äh…ok.“, antwortete Chris seiner Lehrerin. „Ich merke, du hast mit allem gerechnet, aber nicht hiermit. Ich kann mich nur nochmal entschuldigen für mein Verhalten vorhin, das war nicht in Ordnung.“, versuchte diese, die Situation für ihren Schützling begreifbar zu machen. „Ok…also…äh…schönen Tag dann noch?“, fragte Chris, immer noch nicht sicher, was er jetzt von dieser Situation halten solle. Frau Schmidt wünschte ihm ebenfalls noch einen schönen Tag, ehe er mit vielen Fragezeichen in Richtung Schulhof aufbrach. Und auch wenn Frau Schmidt ihrer Ankündigung, seine Verspätung zu vergessen, Taten folgen ließ und ihn weiterhin mit den gleichen Maßstäben wie seine Mitschüler behandelte, hatten die Ereignisse dieses Tages trotzdem einen großen erzieherischen Effekt auf Chris. Nicht zuletzt, weil er sich wie erwartet einen Vortrag von seinem Vater anhören durfte, der aber ebenfalls nicht so schlimm war wie befürchtet. Chris erhielt seine Entschuldigung, gab sie am nächsten Tag bei der Klassenlehrerin ab, die sie zur Kenntnis nahm. Gut 24 Stunden, nachdem der Zug vor seiner Nase davonfuhr, war die Angelegenheit also geregelt, und dennoch achtete Chris von nun an darauf, immer mehr als pünktlich loszugehen. Als er in der achten Klasse war und er wie jeder zweite auch das neue Handyspiel Pokémon Go testete, erschien durch den Spielplatz, an dem sich die Bushaltestelle befand, dort eine Arena, die er so jeden Morgen bei Bedarf einnehmen konnte. So auch an diesem Mittwoch im August, dem ersten Schultag nach den Sommerferien.
Um 7.11 Uhr würde der Bus planmäßig fahren, Chris‘ Handyuhr zeigte 6.55, in fünf Minuten würde er wie üblich der erste sein, der sich zum Warten auf den Bus an die Haltestelle stellt. Er sah, dass jemand die Arena bekämpfte und sein Pokémon dort platzierte. Glücklicherweise jemand von seiner Teamfarbe. Der Trainer nutzte einen weiblichen Avatar, war also vermutlich eine Trainerin, mit dem Nickname SnowAnna16. Diesen Namen hatte er während der Ferien zum ersten Mal und dann immer mal wieder in den örtlichen Arenen gesehen, die Spielerin aber noch nicht persönlich getroffen. Würde dieser Moment gleich kommen? Tatsächlich sah er, als er in die Tulpenstraße einbog, eine Person an der Haltestelle stehen. Etwa sechzehn Jahre alt und zwischen 1,60 und 1,70 groß, trug das Mädchen ihre schwarzen Haare offen, sie waren etwas länger als schulterlang. Chris konnte noch erkennen, dass sie eine Brille mit schwarzem Rahmen trug. Er stellte sich etwa zwei Meter entfernt von ihr hin, platzierte eines seiner Pokémon in der Arena und steckte sein Handy in die Tasche. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass das Mädchen kurz von ihrem Handy aufblickte und in seine Richtung schaute. „Hi.“, begrüßte sie ihn, „du bist bestimmt Afnilp04, oder?“
„Genau“, antwortete Chris, „und du bist folglich SnowAnna16.“
„Gut gefolgert. Sag mal, du gehst nicht zufällig auch in Brogenberg aufs Gymnasium, oder?“, wechselte das Mädchen das Thema.
„Ähm…doch. Warum fragst du?“, wurde Chris ein wenig neugierig, konnte sich die Antwort aber schließlich denken. Das Mädchen hatte er noch nie zuvor gesehen.
„Ich bin mit meiner Familie in den Ferien hierher gezogen.“, bestätigte sie Chris‘ grobe Vermutung. „Das heißt dann wohl, dass ich hier richtig bin, auf den richtigen Bus warte und auch nicht versehentlich in die falsche Richtung fahre.“
„Solange du dich an mich hältst, kommst du in der Schule an.“, versicherte ihr Chris mit einem Lächeln.
Sie kamen ins Gespräch. SnowAnna16 erzählte, dass ihr Nickname in Pokémon Go sich aus ihrem tatsächlichen Namen sowie ihrer damaligen Hausnummer zusammensetze. Anna Schneefeld hieße sie nämlich im „Reallife“, wie sie es sprachlich modern ausdrückte. Vor etwa drei Wochen zog sie mit ihrer Familie nach Kleifelden, weil ihr Vater dort einen Führungsjob in einer Softwarefirma bekommen habe. Da ihre Mutter als Postzustellerin arbeite, war es für sie ein leichtes, sich versetzen zu lassen und von nun an in Kleifelden zu arbeiten. Zudem habe sie einen großen Bruder, Jan, der den familiären Umzug genutzt hatte, um in Bochum in eine Studenten-WG zu ziehen, da er dort sein Chemiestudium begonnen habe. Und auch für Anna selbst war der Umzug gut getimt, da sie nun in die Oberstufe wechseln würde. „Das heißt, wir sind in der gleichen Stufe?“, fragte Chris. „In der Einführungsphase?“, versicherte sich Anna. – „Genau“, wurde sie bestätigt. Sie erzählte weiter von sich: In ihrer alten Klasse hatte sie nicht den allerbesten Stand, sodass sie ohnehin froh war, dass die Klasse zu Gunsten des Kurssystems aufgelöst wurde, aber sie weinte ihrer alten Schule nicht wirklich eine Träne nach.
„Eigentlich hatte ich nur eine richtige Freundin, Patricia. Sie hat mein Leben an meiner alten Schule durchaus erträglich gemacht. Sie kann sich gut durchsetzen und war in meiner alten Klasse beliebter als ich, sie hat dafür gesorgt, dass man mich zumindest in Ruhe gelassen hat.“, erzählte sie fast schon ein bisschen traurig.
Chris, davon berührt, konnte sich in Annas Erzählungen durchaus wiedererkennen. Er erzählte ihr im Gegenzug, dass er eigentlich Christian hieß, einen drei Jahren jüngeren Bruder hatte, der aber nicht in Brogenberg, sondern in Haffgen zur Schule ging. „Ich hatte zwar nicht nur einen richtigen Freund, aber der beliebteste war ich auch nicht in meiner alten Klasse. Aber auch mich haben sie meistens in Ruhe gelassen. Meine Freunde, Markus und Murat, gehen aber beide nicht mehr aufs Gymnasium. Markus ist auf ein Sportinternat in Bayern gewechselt, er ist ein durchaus talentierter Fußballspieler und macht sich Hoffnungen auf eine Profikarriere. Und Murat hat keine Lust mehr auf Schule. Lange hatte er Stress mit seinen Eltern, die unbedingt wollten, dass er der erste in der Familie mit Abitur wird, aber letztlich haben sie nachgegeben, als er ihnen seine Ausbildungsstelle präsentierte. Er hat Anfang des Monats im Supermarkt angefangen als Einzelhandelskaufmann.“, erzählte Chris.
„Ich verstehe. Dann bist du vermutlich auch froh, dass du in der Stufe eine Art neue Chance bekommst, oder?“, wollte Anna wissen.
„Genau.“, antwortete der Sechzehnjährige. „Da fällt mir ein, ich habe dir noch gar nicht gesagt, woher mein Trainername in Pokémon Go kommt.“
„Lass mich raten“, forderte Anna ihn auf, „dein Lieblingspokémon ist Plinfa und du bist 2004 geboren?“
„Ja und Nein“, löste Chris das Rätsel auf, „Plinfa ist mein Lieblingspokémon, das ist richtig. Aber ich wurde bereits 2002 geboren. Die 04 kommt von meinem Lieblingsfußballverein.“, erklärte er, sich auf einen eher abfälligen Kommentar einstellend.
„Ah, Schalke?“, schlussfolgerte Anna, die Ein etwas zögerliches Nicken von Chris beobachten konnte. „Mein Bruder würde dich mögen, das kann ich dir sagen. Ich interessiere mich nicht allzu sehr für Fußball, aber durch ihn habe ich insgesamt glaube ich ganz gut im Blick, was in dem Sport so vor sich geht und auch, warum er Schalke so toll findet.“ Der Bus kam und durch die Abgänge von Murat und Markus waren Chris und Anna auch tatsächlich die einzigen beiden aus ihrer Jahrgangsstufe, die in der Tulpenstraße in den Schulbus stiegen, zumindest so weit Chris dies beurteilen konnte. Während der Fahrt tauschten sie noch ihre Handynummern aus, sodass Chris dafür sorgen konnte, dass Anna in die örtliche WhatsApp-Gruppe aufgenommen werden konnte, in der sich die Pokémon-Go-Spieler absprachen und organisierten.
Zwei Haltestellen weiter stiegen – zumindest für Chris – bekannte Gesichter ein: Tamara, Pia und Jonathan kannte er aus dem Philosophiekurs, da sie aber in unterschiedliche Klassen gingen, hatten sie nicht viel miteinander zu tun. Sicherlich war dies auch dem Umstand geschuldet, dass Herr Wohlgand, der Philosophielehrer, nicht viele Hausaufgaben aufgab und diese zum bedeutenden Teil aus vorbereitenden Leseaufgaben bestanden. Chris wusste über die drei im Grunde auch außer ihren Namen nur, dass sie zusammen in eine Klasse gingen und immer an der Haltestelle Grüner Weg ein- und ausstiegen. Jonathan sah Chris direkt beim Einsteigen und ging auf ihn zu, die beiden Mädchen folgten ihm. „Hi Chris“, begrüßte Jonathan ihn. „Hi Jonathan, und hi auch Tamara und Pia.“, antwortete er, die Mädchen grüßten zurück. „Ehm…das ist Anna“, fügte Chris hinzu und stellte die neue Mitschülerin vor: „Sie ist im Sommer hier hergezogen und geht in unsere Stufe.“ – „Oh, Willkommen. Ähm…also, Pia bin ich und die Blondine neben mir ist Tamara.“, komplettierte Pia die Vorstellungsrunde, was Tamara ihr mit einem kleinen, liebevollen Schlag in die Schulter dankte: „Ey Pia, du brauchst doch nicht direkt am Anfang das Stereotyp zu bedienen.“ Während der restlichen Fahrt wollten die drei kürzlich Zugestiegenen vor allem Anna kennenlernen und fragten diese so sehr aus, dass es ihr schon ein bisschen unangenehm wurde. Chris schaute irgendwann gedankenversunken aus dem Fenster, als er merkte, dass er die Annas Antworten schon kannte. An der Schule angekommen, stiegen sie aus dem Bus aus und Jonathan sah einen Jungen, den Chris nur vom Sehen her kannte, aber in ihren Jahrgang einordnen konnte. Jonathan begrüßte ihn als Dennis, der sich Chris dann auch vorstellte. Währenddessen gingen Tamara, Pia und Anna bereits Richtung Turnhallte, in der die Stufenversammlung stattfand und jeder seinen eigenen, individuellen Stundenplan bekommen sollte. „Wir sehen uns, bis dann“, verabschiedeten sich die Mädchen. Dennis und Jonathan machten sich einen kurzen Moment später ebenfalls auf den Weg zur Turnhalle. Chris wollte erst stehen bleiben, aber Dennis forderte ihn auf, sich den beiden anzuschließen.
Autor: Theseus (eingesandt via E-Mail)
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Hi, die Geschichte geht schön los. Das mit dem Mädchen gleich am Anfang ist eine tolle Idee. Auch sprachlich ist es stimmig, ab und zu wechselt erwachsen-auktoriale mit der perspektivischen Erzählung.
Und wenigstens eine erwachsene Person, die Lehrerin, hat eine gewisse Kontur.
In diese Richtung ginge meine Anregung: zu viele Jugendliche behindern manchmal den durchaus nötigen Tiefgang einer anspruchsvollen Erzählung. Auch wenn sie sich leichter entwickeln lassen.
Weiter so!
Bitte weiterschreiben und lass uns Leser nicht zu lange WARTEN
Das hatte ich mir auch gedacht. Julia wen du dich gern mal über das Thema Windeln und was da zu gehört austauschen magst kannst du mir gern schreiben entweder an meine Mail Adresse altenkampmarcus11@gmail.com oder über Facebook einfach Marcus Altenkamp suchen. Würde mich freuen von dir zu lesen. Mit ganz viel Liebe Grüße Marcus.
Die Geschichte ist gut