Die neue Mitschülerin (20)
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Kapitel 20: Ein Windeltag und eine Shopping-Tour
Patricia verabschiedete sich um viertel vor 11 von Anna und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Chris kam ihr entgegen, die beiden grüßten sich kurz, hatten aber keine Zeit auf ein Pläuschchen, da Patricia sonst ihren Bus verpassen würde. „Sehen wir uns nachher?“, fragte sie. „Keine Ahnung. Denke schon?“, konnte Chris keine genaue Auskunft geben, ehe beide in entgegengesetzte Richtungen ihre jeweiligen Wege fortsetzten.
Anna öffnete Chris die Tür, der wie üblich die über seinen Besuch erfreute Hündin streichelte. Nach der Begrüßung gingen beide nach oben. Bereits gestern hatten sie sich ohne Worte – nicht, dass Patricia oder Pia etwas mitbekommen würden – darauf verständigt, deren Shopping-Trip für einen Windeltag zu nutzen. Dies sollte problemlos möglich sein, schließlich waren ihre Eltern noch einige Stunden arbeiten. Schnell gingen sie nach oben, um sich gegenseitig zu wickeln. Dieses Ritual hatte schon länger Einzug in diese Art von Tagen gefunden. Als beide eine Jogginghose über ihre Windeln gezogen hatten, griff Anna zu den Lenkrädern und Controllern, und forderte ihren Freund so mal wieder wortlos zu einer Runde Mario Kart heraus. Wie üblich war die Runde ziemlich umkämpft, diesmal hatte Chris aber in den späteren Rennen die Nase vorn.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er, als er den Sieg eingetütet hatte. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie nicht ganz bei der Sache gewesen war.
„Ja…was soll…ach…“, antwortete Anna, worauf Chris sich aber keinen richtigen Reim machen konnte, „es ist…Pia und Patricia.“
„Was soll denn mit ihnen sein? Hab ich was verpasst?“, hakte Chris nach.
„Nein…ich mach mir nur Sorgen.“, gestand seine Freundin.
„Aber warum denn?“, verstand Chris immer noch, worauf Anna hinauswollte.
„Was ist, wenn sie sich gut verstehen? Also, wenn sie sich zu gut verstehen?“, schaffte Anna es nur bedingt, Klarheit zu schaffen.
„Anna, ich hab wirklich keine Ahnung, was du meinen könntest.“, stirnrunzelte Chris.
„Dann mach ich mir wohl wirklich zu viele Sorgen…ich meine, die beiden sind sich ziemlich ähnlich, die werden bestimmt einen super Tag haben. Was, wenn Patricia mich dann…naja…irgendwie hinten rüber fallen lässt?“, schwadronierte Anna.
„Darum brauchst du dir glaube ich keine Sorgen machen. Das, was du über Patricia bisher so erzählt hast…naja, das wirkt fast, als wärt ihr unzertrennlich. Im Gegenteil – es wäre doch super, wenn die beiden sich gut verstehen. Vielleicht ist das ja noch ein Argument, dass Patricia dich dann häufiger besuchen kommt. Und dass du mal irgendwann ein Problem mit Pias Gegenwart hattest, wäre mir auch neu.“, versuchte Chris, seiner Freundin die in seinen Augen wirklich komplett unbegründeten Ängste zu nehmen.
„Wahrscheinlich hast du Recht…“, gab Anna zu und versuchte, die bösen Gedanken zu verdrängen.
„Ziemlich sicher habe ich Recht. Denk mal an das zwischen deinen Beinen. Ich denke, das schweißt zusammen.“, erinnerte Chris sie daran, wie Patricia und Anna überhaupt erst beste Freundinnen wurden.
„Stimmt.“, lachte Anna, „Hatte ich schon fast vergessen.“ Sie schien nun endgültig beruhigt.
„Ist sogar praktisch. Ich müsste so langsam mal.“, fügte sie mit einem Grinsen hinzu. Chris konnte sehen, wie sie die Augen schloss, und meinte auch, ein Zischen vernehmen zu können, war sich aber aufgrund der Musik des Videospiels im Hintergrund nicht ganz sicher. Sie entschlossen sich, es sich im Wohnzimmer unten gemütlich zu machen und eine Serie zu schauen. Ein weiterer Vorteil war, dass Nala nicht allein war. „Nala, komm her.“, forderte Chris die Hündin auf. Diese ließ sich das nicht zweimal sagen, legte sich neben den Rand des Sofas und genoss die Streicheleinheiten, die sie erhielt. Anna stellte Eistee und zwei Gläser auf den Tisch, ehe sie sich neben Chris setze und sich ankuschelte.
Es war mittlerweile früher Nachmittag, als Nala zu erkennen gab, dass sie in absehbarer Zeit doch mal raus müsste. Chris fragte Anna, ob Nalas Verhalten etwas zu bedeuten habe, was diese aufgrund ihrer Erfahrung natürlich sofort beantworten konnte.
„Och schade.“, sagte Chris.
„Warum denn?“, fragte Anna nichtsahnend.
„Naja, wenn wir gleich raus müssen, sollten wir wohl die Windeln ausziehen, oder?“, erklärte Chris seine Enttäuschung.
„Hm…weiß ich nicht?“, antwortete Anna. Da war es wieder: Dieses Geheimnisvolle, was Chris an ihr so liebte.
„Lust auf etwas Neues? Ein wenig Nervenkitzel?“, fragte sie herausfordernd.
„Was meinst du?“, fragte Chris vorsichtig zurück, nicht sicher, ob er wissen wollte, worauf sie hinaus wollte.
„Wenn wir die Windeln einfach anbehalten?“, erklärte Anna ihren Vorschlag.
„Was!?“, reagierte Chris leicht überfordert, „aber…sehen das dann andere Leute nicht?“
„Nein…also vermute ich…“, antwortete Anna, „ich hab das erst einmal gemacht. Ich hatte mich schon bettfertig gemacht, als Mama mich bat, noch mal mit Nala raus zu gehen.“
Chris überlegte einen Moment: „Ich glaub ehrlich gesagt, das ist mir zu unsicher.“
„Ok, verstehe ich. Will dich ja zu nichts drängen, was du nicht willst. Ich glaube, ich versuche das mal…aber…dann ziehe ich einen Rock drüber. Dann sieht man bestimmt nicht.“, sagte Anna.
Chris bewunderte sie: „Okay…wow…also ich finde das mutig.“
„Ich glaube, du machst mich mutiger, als ich bin.“, sagte Anna, als sie wieder nach unten kam, nachdem sie sich umgezogen hatte. Sie drehte sich vor Chris wie vor einem Spiegel. Er musste zugeben, dass er wirklich nichts erkennen könne.
„Willst du dann deine Windel nicht auch noch ausziehen? Und deine Jeans anziehen?“, fragte sie anschließend.
„Oh…äh…stimmt.“, lachte Chris peinlich berührt, verschwand ins Bad oben, entledigte sich seiner durchaus beanspruchten Windel, verstaute diese im Windeleimer, und zog sich seine Jeans an. Als sie vom Spaziergang wiederkamen, entschlossen sie sich, sich in Annas Bett für ein Mittagsschläfchen hinzulegen. Die Ereignisse der letzten Tage steckten den beiden noch in den Knochen, außerdem waren sie heute bereits gegen 9 Uhr aufgestanden. Und da es schließlich keinen Grund gab, in den Ferien groß vor 2 Uhr ins Bett zu gehen, hatten sie auch entsprechend wenig geschlafen.
„Hey, Patricia. Hier hinten.“, rief Pia durch den Bus und winkte ihrer Verabredung zu. Sie rückte ein, sodass sich Patricia neben sie setzen konnte.
„Hi Pia. Was planst du zu kaufen?“, fragte Patricia ohne Umschweife.
„Weiß noch nicht. Ich könnte ein paar neue T-Shirts brauchen, vielleicht auch einen Rock oder ein Kleid.“, antwortete Pia, „und du?“
„Eine Jeans auf jeden Fall. Und ansonsten im Zweifel Schuhe.“, gab Patricia zurück.
„Oh ja, gute Idee.“, freute sich Pia über diesen Vorschlag.
Sie schlenderten durch die nicht unbedingt auf ausgedehnte Shopping-Trips ausgelegte Einkaufsstraße und statteten über die Zeit sämtlichen Klamottenläden einen Besuch ab. Pia kaufte sich die gewünschten T-Shirts, ein Top, sowie zwei Kleider, bei Patricia waren es direkt zwei neue Jeanshosen sowie eine Bluse.
„Ein Kaffee, bevor wir nach Schuhen schauen? Und vielleicht eine Kleinigkeit essen?“, fragte Patricia, als es bereits halb zwei war.
„Gute Idee. Richtung Marktplatz gibt es ein Café, da gibt’s auch Brötchen und Kuchen und so.“, erweiterte Pia den Vorschlag. Dort angekommen, setzten sie sich in an einen freien Tisch im Außenbereich und vertieften sich sofort in die Karten.
„Stört es dich, wenn ich eine rauche?“, fragte Pia, nachdem sie als Erste die Karte weggelegt hatte.
„Nee, mach ruhig.“, war Patricia kurz angebunden und immer noch in die Karte vertieft. Letztlich entschieden sich beide für einen Kaffee, Pia zusätzlich für einen Nutellacrêpe, Patricia für eine Waffel mit Vanilleeis.
„Ehm…dürfte ich…vielleicht mal probieren?“, fragte Patricia in einer für sie unüblichen, etwas schüchternen Art.
„Was denn? Ach…“, sagte Pia und blickte auf ihre Zigarette. Patricia nickte.
„Oookay, klar, gerne.“, fügte Pia hinzu und reichte Patricia die Zigarette. Sie erklärte ihr, wie das Rauchen funktionierte und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als Patricia beim ersten Zug das Husten nicht unterdrücken konnte. Der zweite und dritte Zug funktionierten diesbezüglich schon besser, ehe Patricia die Zigarette zurückgab.
„Interessant.“, brachte Patricia nur hervor.
„Geht’s noch ungenauer?“, beschwerte Pia sich ironisch.
„Also…ich weiß nicht. Irgendwie anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber auch irgendwie cool. Also dieser Reiz des Verbotenen.“, antwortete Patricia ausführlicher.
„Ich weiß, was du meinst.“, gab Pia zurück, als ihre Bestellungen geliefert wurden, „ist das der einzige Grund, weswegen du mal probieren wolltest?“
„Ja. Tatsächlich reine Neugier.“, bejahte Patricia.
„Du, sag mal, wie genau haben Anna und du euch eigentlich kennengelernt? Ich weiß nur irgendwas von einer Klassenfahrt.“, fragte Pia während des Essens. Patricia schluckte. Jetzt war Improvisationstalent gefragt.
„Richtig. In der Siebten waren wir auf einer Klassenfahrt und hatten Zweierzimmer in unserer Jugendherberge. Anna hatte damals leide keinen wirklichen Anschluss in unserer Klasse und niemanden, mit dem sie auf ein Zimmer wollte. Und irgendwie wurde ich dann wohl zugelost.“, antwortete Patricia.
„Ja, soweit weiß ich das. Ist das echt schon alles?“, bohrte Pia weiter nach.
„Nein. Also klar haben wir uns abends unterhalten, aber richtig tiefe Sympathie hatte ich erst am letzten Abend vor der Abfahrt. Ein paar Jungs hatten ziemlich Mist gebaut und so durften wir alle nach Acht die Zimmer nicht mehr verlassen. Natürlich waren wir noch kein Stück müde und so haben wir uns an dem Abend am intensivsten unterhalten. Was genau, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht mehr.“, erzählte Patricia, ehe sie pausierte, um einen Schluck von ihrem Kaffee zu nehmen.
„Und weiter?“, wollte Pia wissen, die die ganze Zeit gebannt lauschte.
„Ich…ich weiß nicht, was es war. Nicht Mitleid, aber das Wort kommt noch am nächsten wahrscheinlich. Ich wusste ja, dass ich mich durchsetzen kann. Und da haben Anna und ich uns geschworen, beste Freundinnen zu werden und dass ich ihr helfe, wenn sie wieder von anderen geärgert wird. Das hat dann relativ schnell aufgehört und wir verstanden uns nach der Klassenfahrt mit der Zeit immer besser. Als Hobby teilen wir eigentlich nur Lesen, aber ehrlich: Ich glaube, du kannst dich über Bücher mit keinem so gut unterhalten, wie mit Anna.“, schloss Patricia.
„Finde ich echt spannend. Eine Frage hab ich noch…“, setzte Pia an.
„Die wäre?“, wollte Patricia wissen.
„Ich habe unter anderem Anna in den letzten Herbstferien mal zu einer Übernachtungsparty eingeladen. Sie kam auch, meinte aber, sie dürfe nicht bei mir übernachten. Hatte mich etwas gewundert und tut es immer noch, sonst wirken ihre Eltern sehr entspannt.“, formulierte Pia keine Frage, worauf Patricia sie umgehend mit einem Lachen drauf aufmerksam machte, ehe sie doch antwortete. „Weiß ich auch nicht…ihre Eltern sind was das angeht sehr speziell irgendwie. Bis Chris bei ihr übernachten durfte, hat es ja auch gedauert. Und bis sie bei mir oder ich bei ihr übernachten durfte, hatte es auch einige Zeit gedauert.“, flunkerte Patricia, was von Pia aber nicht bemerkt wurde.
„Aber jetzt erzähl du mal deine Geschichte. Wie hast du Anna kennengelernt?“, fragte Patricia.
„Das hat sie dir doch bestimmt erzählt, oder?“, wunderte Pia sich.
„Klar hat sie. Aber erzähl’s trotzdem, mich interessiert auch deine Perspektive.“
Autor: Theseus (eingesandt via E-Mail)
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