Die neue Mitschülerin (42)
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Kapitel 42: Der Nachbar
Auch wenn es eine kurzfristige Aktion war, standen am Samstagmorgen nicht nur Anna und Chris, sondern auch Pia am Kleifeldener Bahnhof und warteten auf den Zug, der sie ins Ruhrgebiet brachte, wo sie dann in Richtung Neuss umsteigen würden. Sie hatte sich am Vorabend bei Anna gemeldet und wollte wissen, wie es ihrer Freundin ging. Diese erzählte kurz von dem Gespräch und den Wochenendplänen und keine zehn Minuten später hatte Pia die anderen Beteiligten um ihr Einverständnis gefragt, ob sie mitkommen dürfe.
„Liebe Fahrgäste, bitte beachten sie: Die Regionalbahn 90 nach Dortmund Hauptbahnhof verspätet sich um etwa zehn Minuten. Grund dafür sind Verzögerungen im Betriebsablauf.“, hallte plötzlich eine nur halbwegs verständliche Durchsage durch den Bahnhof.
„Geht ja super los.“, kommentierte Anna. Ihre Laune verschlechterte sich merklich.
„Sind doch nur zehn Minuten.“, beruhigte Pia sie, „wir haben in Dortmund doch zwanzig Minuten Zeit zum Umsteigen. Außerdem können wir die Zeit hier noch nutzen.“
„Ach ja, und womit?“, fragte Anna pampig. Pia nickte nur in Richtung des Raucherbereichs. Anna und Chris verstanden und vor allem Anna war von der Idee dahingehend angetan, dass sie kurzerhand befand, in diesem Moment auch eine Zigarette brauchen zu können. Wie üblich gab ihr Pia auf Anfrage eine ab.
„Willst du eigentlich direkt heute zu deiner Mutter?“, fragte Pia beim Rauchen.
„Naja, Montag müsste ich wohl wieder in die Schule, oder?“, fragte Anna zurück, „Also: Ja. Wahrscheinlich kurz zu Patricia, Sachen ablegen und dann geht’s los.“
„Das wird schon, Schatz.“, ermutigte Chris seine Freundin, „ich bin ja auch dabei.“ – Er erkannte Annas Zweifel in ihrer Stimme, als sie Pia antwortete. Für den Moment war allerdings nicht viel dagegen machbar und so wechselte das Gesprächsthema auf Schulisches, vor allem Pia erzählte ausführlich von der Klausur, die Anna hätte mitschreiben sollen.
Am Bahnhof in Neuss wurden die drei von Patricia jeweils mit einer Umarmung begrüßt, wobei Anna zuletzt, dafür aber am längsten an der Reihe war.
„Wie geht’s dir?“, fragte Patricia ihre beste Freundin.
„Ging schon mal besser. So langsam bin ich echt aufgeregt.“, gestand Anna.
„Das wird bestimmt.“, munterte Patricia sie auf, „willst du eigentlich gleich direkt dahin? Oder erstmal zu mir? Sachen ablegen? Gedanken sortieren? Mut antrinken?“
„Haha.“, machte Anna nur, „Sachen wegbringen klingt gut. Gedanken sortieren klingt auch gut, aber eher theoretisch.“
„Und Mut antrinken?“, wiederholte Patricia schelmisch.
„Wie gesagt: Haha. Vielleicht heute Abend. So im Nachgang.“, merkte Anna an.
„Irgendwie ist dein Zeitplan unlogisch. Das ist vom Prinzip so, als wäre dein erster Schritt, die Pizza in den Ofen zu tun und dein zweiter Schritt, die Pizza aus der Verpackung zu nehmen.“, stirnrunzelte Patricia.
„Du bist doof.“, verdrehte Anna die Augen, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.
„Ich hab dich auch lieb.“, erwiderte Patricia nur, woraufhin Anna zunehmend aufgelockert schien. Der Fußweg zum Haus, in dem Patricia wohnte, war ebenso eine willkommene Ablenkung wie das neu aufgekommene Thema Schule, bei dem vor allem Patricia und Pia ins Gespräch kamen und sich dabei über die in ihren Augen komplett veraltete Literatur, die man im Unterricht besprach, aufregten. Allein schon aufgrund der Ausdrucksweise würde doch kein normaler Mensch so etwas verstehen können, war der sicherlich etwas übertriebene Tenor.
„Ihr müsst euch auch einfach mal die Zeit nehmen und Textstellen vielleicht auch mal mehrfach lesen. Dann kann man auch dreihundert Jahre alte Dramen verstehen.“, ging Anna allerdings nicht vollends mit der Meinung der anderen mit.
„Es ist aber auch nicht jeder wie du. Nicht jeder liest so gerne wie du und manche haben auch nicht die Zeit.“, warf Chris ein, der allerdings im Deutschunterricht merkte, dass er durchaus von Anna profitierte, die ihn erfolgreich so lange nervte, seine Lektüren zu lesen, bis er nur noch nachgeben konnte.
„Mag sein. Deswegen sorge ich ja bei dir dafür, dass du das liest, was du lesen musst.“, sagte Anna und streckte die Zunge raus, während Patricia auf den Fußweg vom Bürgersteig zur Haustür bog.
„Also, ich versuche dann mal mein Glück…“, verabschiedete Anna sich von Pia und Patricia und nahm Chris an die Hand, als die vier wenig später wieder draußen standen. Pia und Patricia hatten vereinbart, die Zeit für eine Shoppingtour zu nutzen, während Anna mit Unterstützung von Chris versuchte, Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter herzustellen. Da die Adresse, die sie vom Briefumschlag hatte, in die entgegengesetzte Richtung der Bushaltestelle lag, die Pia und Patricia ansteuerten, trennten sich die Wege tatsächlich direkt vor der Haustür.
„Was ist das eigentlich für eine Gegend, in die wir gehen?“, fragte Chris.
„Interessante Frage…“, erwiderte Anna und schaute Chris leicht überrascht an, „also das Haus ist ein Mehrfamilienhaus mit zwanzig Wohnungen oder so. Von solchen Häusern gibt’s da in der Straße mehrere. Ist jetzt nicht die schönste Wohngegend in Neuss. Und auch eher für Singles, die Wohnungen sind wohl eher kleiner als größer.“
„Wann hast du das denn herausgefunden?“, wunderte Chris sich.
„Donnerstagmorgen, als du in der Schule warst. Also die Straße kannte ich und wusste etwa, wo ich sie suchen muss. Und zu dem Haus habe ich einfach mal ein bisschen recherchiert.“, erklärte Anna, die im Folgenden von ihrer Seite aus keine Initiative zeigte, das Gespräch aufrecht zu erhalten. So ging sie mit Chris schweigend durch die Straßen, bis dieser schließlich fragte, was sie denn als erstes sagen wolle.
„Uff…ehm…gute Frage. Ich stelle mich einfach vor? Und dann ergibt sich ja wohl eine Situation…die man aber wohl eher schwer planen kann.“, erkannte Anna, dass sie sich darüber durchaus hätte Gedanken machen können. Jetzt war es aber auch zu spät, schließlich war das angesteuerte Ziel nicht mehr weit entfernt.
Vor der Haustür brauchte sie zunächst einen Moment, um das richtige Klingelschild zu finden. Es war etwas vergilbt und der Name nicht mehr allzu gut lesbar. Schließlich aber atmete sie zweimal tief durch und drückte die Klingel. Nichts passierte, der Geräuschpegel, der von den vorbeifahrenden Autos erzeugt wurde, wurde nicht durch ein Summen der Tür unterbrochen. Anna drückte die Klingel nochmal, aber auch nach einer Minute passierte nichts. Enttäuscht drehte sie sich zu Chris um.
„Was machen wir denn jetzt?“, fragte sie, ihre Stimmung war ihrem Ton deutlich entnehmbar.
„Hm…warten…? Also…tut mir leid…eine bessere Idee habe ich auch nicht wirklich.“, antwortete Chris. Keine weitere Minute überlegten beide, ob es nicht doch etwas Sinnvolleres gäbe, als die Haustür sich öffnete. Anna und Chris drehten sich blitzschnell um und erblickten einen älteren Mann, bestimmt um die achtzig Jahre alt, der mit einem Gehstock in der Hand und nicht mehr ganz sicher auf den Beinen wirkend aus dem Haus heraustrat und sich sichtlich erschrak, als die zwei jungen Menschen sich zu ihm umdrehten.
„Oh…entschuldigen Sie bitte. Wir wollten Sie nicht erschrecken. Wir haben nur gehofft…Sie wären jemand anders.“, erklärte Anna.
Der Mann brauchte einen Moment um sich zu sammeln: „Na ihr habt mich erschreckt.“ Die Erleichterung, dass der kurze Schreck einen harmlosen Ausgang zu nehmen schien, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Entschuldigung.“, wiederholte Chris, der als Erster die Gunst der Stunde erkannte: „Verzeihen Sie, kennen Sie zufällig eine Sonja Wehrmann, die hier wohnt?“
„Was?“, fragte der Mann und deutete an, dass sein Gehör nicht mehr das Beste war, „Ah…Sonja. Ja, nette junge Frau. Die hilft mir immer beim Einkaufen.“, antwortete er.
„Aber…Sie sehen aus, als wollten Sie gerade selbst einkaufen. Also mit ihrer Tasche auf der Schulter.“, meinte Chris, einen Widerspruch in den Aussagen des Mannes zu erkennen.
„Was?“, fragte dieser erneut, nur um gleich darauf zu erkennen zu geben, dass er doch alles verstanden hatte, „Ja…ich brauche noch einen Apfel. Das schaffe ich noch allein. Außerdem ist Sonja sowieso arbeiten.“
„An einem Samstag?“, fragte Anna kritisch nach, die den Eindruck hatte, dass der Rentner etwas verwirrt war.
„Ja. Sie arbeitet in irgend so einem Kiosk. Der hat auch samstags auf.“, erklärte der Senior.
„Ah, verstehe. Können Sie mir sagen, wann sie wiederkommt?“, fragte Anna, die die neue Spur zu ihrer leiblichen Mutter begierig verfolgte.
„Kindchen, das weiß ich auch nicht. Meistens irgendwann gegen zwei.“, antwortete der Senior, „warum willst du das überhaupt wissen?“
„Ah…entschuldigen Sie…ich…ich bin…ach, das ist kompliziert.“, versuchte Anna, der Frage auszuweichen.
„Ihr seid aber keine von diesen Schwindlern, oder?“, fragte der Alte und hob dabei fast drohend seinen Stock.
„Was? Eh…nein.“, antwortete Anna schnell, obwohl sie von dieser Frage überrumpelt war, „wie kommen Sie darauf?“
„Das hört man doch immer wieder im Radio.“, entgegnete der Mann, „Von diesen Enkelbetrügern oder sonst was für eine Masche.“
„Aber wir wollen ja zu Sonja und nicht zu Ihnen.“, versuchte Anna, die Situation weiter zu erklären. Mit Erfolg – der Alte dachte einen Moment nach und nickte dann.
„Aber was wollt ihr dann von Sonja. Wer seid ihr?“, fragte er weiter.
„Ich bin Sonjas Tochter…“, hatte Anna in der Zwischenzeit die ihrer Meinung nach richtigen Worte gefunden. Erstaunt blickte der alte sie an: „Das kann nicht sein. Sonja hat keine Tochter.“, erwiderte er, „Sie lebt alleine hier!“ – Wieder hob er drohend seinen Gehstock, nahm ihn allerdings fast sofort wieder herunter, als er merkte, dass er ihn zweckgemäß verwenden musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Was? Hat sie nicht mal was von einer Tochter erzählt?“, fragte Chris ungläubig, während er zeitgleich Anna tröstete.
„Hm…“, überlegte der Alte, „einmal. Aber ihre Tochter würde doch hier leben. Also kuscht euch! Und hört auf, eure krummen Dinger zu drehen!“
Kopfschüttelnd wollte Chris gerade Anna einen Schritt vom Haus wegführen, um dem Senior aus dem Weg zu gehen, als dieser sagte: „Was wollte ich nochmal hier? Ach ja, die Post holen.“ – um anschließend festzustellen, dass er seinen Briefkasten nur im Haus öffnen konnte.
„Nein, Sie wollten einen Apfel kaufen.“, verbesserte Chris den Mann.
„Einen Apfel? Ja, jetzt weiß ich’s wieder.“, freute sich der Mann und machte sich so schnell er konnte auf den Weg vom Haus weg, allerdings nicht, ohne noch ein Wort an Chris zu richten: „Vielleicht seid ihr ja doch keine Betrüger. Aber eins weiß ich: Wenn Sonja was erzählt, rufe ich sofort die Polizei.“
„Was ist das denn für einer?“, fragte Chris, ohne eine Antwort zu erhalten.
„Keine Ahnung. Vielleicht will sie mich ja doch nicht mehr kennenlernen.“, meinte Anna verzweifelt an.
„Ach was, der Brief war doch eindeutig. Und du weiß ja gar nicht, was der Typ von dir weiß oder auch nicht weiß.“, erklärte Chris.
„Hm…möglich.“, erwiderte Anna nur.
„Aber wenn deine Mutter gegen zwei erst wieder kommt, haben wir noch fast eine Stunde…Pokémon fangen?“, schlug Chris vor.
„Hm…von mir aus. Sicherlich eine gute Ablenkung. Aber wir gehen da lang.“, bestimmte Anna und deutete in die Richtung, in die der Rentner nicht ging.
Autor: Theseus (eingesandt via E-Mail)
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