Die neue Mitschülerin (46)
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Kapitel 46: Seelenverwandt oder nicht?
„Du bist auch adoptiert?“, fragte Anna Lena verwundert, „Das ist ja ein Zufall.“
„Ja, bin ich. Wenn du magst kann ich dir meine Geschichte gerne erzählen…“, bot Lena an. Anna war von dieser Offenheit verwundert, schließlich kannten die beiden sich erst wenige Minuten. Sie fing sich jedoch sehr schnell und nahm Lenas Angebot an. Sicher war sie sich, dass das nicht schaden könne. Doch bevor Lena dazu kam, mit dem Erzählen zu beginnen, erreichten Chris, Pia und Patricia den Tisch wieder.
„Ehm…hi?“, fragte Patricia irritiert, als sie in Hörweite stand und erkannt hatte, dass Anna bereits mit den Fremden im Gespräch war.
„Hi“, antwortete Oliver, der ebenso keine Anstalten machte, Initiative zu ergreifen, sich oder seine Begleiterin vorzustellen.
Anna seufzte: „Das sind Oliver und Lena. Oliver ist der Freund von meinem Bruder. Und Lena ist eine Bekannte von ihm, die hier eine Ausbildung macht.“ – Bei diesen Worten deutete sie auf die beiden Menschen, die sie soeben selbst erst kennengelernt hatte, bei den folgenden auf die drei Menschen, mit denen sie gemeinsam zum Weihnachtsmarkt gegangen war. – „Und das sind Patricia, Pia und Chris. Letzterer ist mein Freund. Pia ist eine neue Freundin, die ich an meiner neuen Schule kennengelernt habe und Patricia meine beste Freundin, die ich hier in Neuss kennengelernt habe.“
„Okay…habt ihr euch zufällig hier getroffen?“, fragte Patricia.
Oliver ergriff das Wort: „Kann man so sagen. Tatsächlich sehe ich Anna gerade das erste Mal persönlich. Bisher kannte ich sie nur von Fotos von Jan. Das reichte aber, um fast sicher zu sein, wer da eben allein an einem Tisch stand.“
„Cool“, kommentierte Patricia, „dann schließt euch doch gerne uns an, würde ich sagen.“ – Bei diesen Worten blickte sie fragend in die Runde und erhielt zustimmendes Nicken.
„Was für eine Ausbildung machst du denn hier, Lena?“, fragte sie schließlich weiter.
„Zur Erzieherin. Nichts besonderes also.“, antwortete sie knapp und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Patricia ging sofort dazwischen: „Wohnst du schon immer hier? So wie Anna euch gerade vorgestellt hat, klingt das nicht so.“
„Tue ich auch nicht“, erklärte Lena, „gebürtig komme ich aus der Nähe von Krefeld. Hatte nach dem Abi dann das Bedürfnis, mein eigenes Leben anzufangen. Zu Hause war es nicht immer ganz einfach, das wollte ich auch gerade erzählen, als ihr hier ankamt.“
„Oh, das tut mir leid“, kam von Patricia schnell und blickte Lena erwartungsvoll an.
„Muss es nicht“, antwortete diese lachend, „kannst ja nichts dafür, dass ich es nicht immer leicht hatte.“
Patricias Neugier war ebenso geweckt wie die der anderen. Lenas Geschichte wollte sie unbedingt hören, traute sich aber nicht, nachzufragen. Zu ihrer Überraschung blickte diese dann Anna an, als sie das Wort ergriff: „Also. Ich habe ja eben gesagt, dass ich gewissermaßen dein Schicksal teile und auch nicht bei meinen leiblichen Eltern groß geworden bin. Zumindest zuletzt nicht. Als ich sieben Jahre alt war, hatten wir einen schweren Autounfall. Ich kann mich da gar nicht mehr richtig dran erinnern. Ich weiß nur, dass ich in einem Krankenhaus aufgewacht bin. Bin mit einem gebrochenen Bein glimpflich davon gekommen – meine Eltern haben’s leider nicht geschafft.“
Es war, als wäre um die Sechsergruppe herum die Zeit angehalten worden. Niemand nahm die sich bewegenden Menschenmengen oder das Reden und Lachen war, das von ihr ausging. Niemand schien die richtigen Worte zu finden. Lena brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, Oliver blickte verlegen Löcher in die Luft, schließlich kannte er diese Geschichte bereits. Chris war es, der letztlich das Wort ergriff: „Das ist…schrecklich. Wie bist du damit umgegangen? Und wie ging es mit dir weiter?“
Wenige Sekunden der Stille, die wie Stunden wirkten, später antwortete Lena: „Naja, die Ärzte im Krankenhaus konnten sich zumindest ein bisschen vorbereiten, ich war soweit man mir gesagt hat, etwa einen halben Tag bewusstlos. Und ich denke mal, ich war nicht das erste Kind, dem sie beibringen mussten, dass ein Elternteil oder gar beide nicht mehr da sind, und werde wohl auch leider nicht das letzte gewesen sein. Sie haben mir das alles auf jeden Fall ganz einfühlsam erklärt. Was das alles bedeutet, habe ich erst Jahre später so richtig realisiert. Ich kam erstmal in ein Heim für Behinderte, da der Bruch in meinem Bein sehr kompliziert war. Physiotherapie hatte ich sehr lange und es hat viel geholfen. Mittlerweile muss man schon recht genau hingucken, um zu sehen, dass ich nicht ganz richtig gehen kann. Aber das ist zweitrangig – nach einigen Monaten kam eine Betreuerin zu mir und erklärte mir, dass ich vielleicht bald ein neues Zuhause habe. Zwei Tage später besuchte mich ein Paar mit einem kleinen Sohn. Sie wollten für ihren Jungen eigentlich ein kleines Geschwisterchen, hatten aber bereits bei der Geburt Komplikationen und wollten es nicht nochmal riskieren. Erst vor kurzem haben sie mir das erklärt – sie haben trotzdem mich ausgesucht, weil sie meine Geschichte so mitgenommen hat. Und meine Eltern haben sich wirklich Mühe gegeben, mich auf dem Weg ins Leben zurück zu unterstützen. Ich kann mich wirklich über nichts beschweren, aber trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass ich eben doch nur“ – bei diesem Wort malte Lena mit ihren Händen Anführungszeichen in die Luft – „das Adoptivkind bin. In meiner Sicht war Malik immer Kind Nummer Eins, auch wenn er und auch meine Eltern das sicher anders sehen und nie beabsichtigt haben, mir diesen Eindruck zu vermitteln. Eher im Gegenteil.“
„Wow…ich weiß nicht, was ich sagen soll.“, sagte Anna mit offenem Mund. Wie die anderen auch hatte sie gebannt Lenas Geschichte gehört. Mit einem Mal kamen ihr ihre eigenen Probleme viel kleiner vor. Sie überlegte, ging im Kopf noch einmal durch, was sie heute über ihre eigene Vergangenheit erfahren hatte.
„Das klingt so furchtbar. Ich…ich fühle mich gerade irgendwie schuldig. Ich dachte, meine Situation ist schlimm, aber das ist ja ein Klacks dagegen…“, fuhr Anna fort.
„Kein Grund, dich schuldig zu fühlen. Wie ich gehört habe, ist bei dir überhaupt die Information, dass du adoptiert bist, ganz akut. In unzähligen Therapiesitzungen habe ich gelernt, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und mit negativen Erlebnissen unterschiedlich umgeht. Außerdem sind unsere Situationen doch auch kaum vergleichbar…“, beruhigte Lena sie.
„Was meinst du damit genau?“, fragte Anna nach.
„Naja, ich wusste sofort, dass ich adoptiert werden würde und hätte widersprechen können. Bei einem Baby geht das natürlich noch nicht, nach dem Einverständnis zu fragen. Und ich bin sicher, dass deine Adoptiveltern auch immer ihr Bestes gegeben haben. Und bedenke, sie sind nicht weg und auch deine leiblichen Eltern sind es nicht.“, erklärte Lena.
„Naja…teilweise doch…meine Mutter hat mir gesagt, dass sie nicht einmal wisse, wer mein leiblicher Vater ist. Von Kontakt zu ihm ganz zu schweigen.“, relativierte Anna.
„Oh…das ist natürlich auch nicht schön“, kommentierte Lena, „ich könnte einen neuen Kakao brauchen.“ – Mit diesen Worten machten Oliver und sie sich auf zur wenige Meter entfernten kurzen Schlange, um neue Getränke zu holen.
„Das ist schon krass“, meinte Pia, kaum dass Oliver und Lena außer Hörweite waren, „also ich meine, was sie erzählt hat. Und abgesehen davon, dass du so mir nichts dir nichts ganz zufällig hier so jemanden triffst – eine rauchen?“
Sie holte ihre Zigaretten hervor, zündete sich eine an und reichte jeweils eine samt Feuerzeug an Anna und Patricia weiter.
„Danke“, sagten diese; Patricia fuhr fort und stimmte Pia im Wesentlichen zu: „Das ist so eine traurige Geschichte. Umso beeindruckender, dass Lena so völlig normal wirkt.“
„Allerdings. Wobei das natürlich auch Fassade sein kann“, drückte Pia ihre Sorge aus.
„Weiß nicht. Möglich“, machte Anna, „und ich dachte, meine Situation wäre schlimm…“
„Hey, ganz ruhig“, sagte Chris, der einen Arm um Anna legte, als er merkte, dass sie mit Tränen zu kämpfen hatte, „Lena hat doch gesagt, kein Grund, dich schlecht zu fühlen. Ist doch klar, dass du deine Eindrücke erstmal verarbeiten musst.“
„Das ist es nicht.“, antwortete Anna schluchzend.
„Was denn dann?“, fragte Pia.
„Meine Mutter ist nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen. Meine Adoptiveltern, die sechzehn Jahre lang für mich gesorgt haben, auch nicht. Und sie werden hoffentlich weiter für mich sorgen. Ich…ich muss mich wieder mit ihnen versöhnen.“, erklärte Anna.
„Das würde alles natürlich einfacher machen“, freute Chris sich über diese Einsicht. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Oliver und Lena langsam zurückkamen, darauf bedacht, nichts von ihren Getränken beim Gehen zu verschütten.
„Hey…ähm…könntet ihr die Kippen bitte ausmachen? Sorry, aber ich kann diesen Geruch nur sehr schwer ertragen“, bat Lena die drei Mädchen, „außerdem seid ihr doch sicher noch nicht 18, oder?“
„Ja, Mama“, antwortete Patricia genervt, „nein im Ernst, kein Problem, haben eh fast aufgeraucht.“
„Danke. Und was das ‚Mama‘ angeht: Eure Eltern wären sicher nicht begeistert, wenn sie das wüssten, oder?“, fragte Lena.
„Meine wissen’s. Rauchen außerdem selbst auch.“, erklärte Pia.
„Meine wissen’s auch. Sind nicht begeistert, aber solange ich nicht richtig anfange, akzeptieren oder dulden sie das vielmehr.“, fügte Anna hinzu.
„Meine müssen es nicht unbedingt erfahren…“, kommentierte Patricia abschließend.
„Ist dir was aufgefallen, Anna?“, fragte Chris. Sie schaute ihn nur an, ehe sie fragte, was ihr denn aufgefallen sein sollte.
„Du hast deine Adoptiveltern gerade – zumindest implizit – als Eltern bezeichnet.“, erklärte Chris. Die anderen waren erstaunt. Niemandem sonst war das aufgefallen.
„Hah“, brachte Anna verdutzt hervor, „stimmt. Naja, irgendwie habe ich ja drei Eltern. Also, hoffe ich zumindest.“
Etwa zwei Tassen Glühwein später, nachdem sich das Gespräch längst auf belanglosere Themen verlagert hatte, verabschiedeten sich Oliver und Lena. Nicht lange danach kündigte Anna auch an, bald den Heimweg antreten zu wollen. Sonst könne noch ein Unfall passieren, flüsterte sie, was Chris und Patricia sofort verstanden und Pia zum Amüsement der anderen drei einen Augenblick ratlos und verdutzt dreinblicken ließ.
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Nach der Ankunft ging Anna umgehend ins Bad. Die Toilette wollte sie nicht benutzen, riskieren, dass ihre Strumpfhose durch eine auslaufende Windel nass wurde, aber ebenso wenig. Kurzerhand entschloss sie sich, jene auszuziehen und anschließend die Windel mindestens an ihre Grenzen zu bringen. Den Boden könnte sie ja notfalls trockenwischen, doch dies war gar nicht nötig. Sie streifte sich die Windel ab, rollte sie zusammen und entsorgte sie in dem Eimer, den Patricia auch für ihre benutzte. Schnell wusch sie sich untenrum und wickelte sich bereits für die Nacht. Die eher geringe Menge Essen und die eher hohe Menge Alkohol sorgten bei ihr doch für ein leicht beschwipstes Gefühl und außerdem für Müdigkeit.
„Bist du mittlerweile eigentlich weiter, wie du mit deinen Eltern umgehen willst?“, fragte Pia, als die vier Teenager zusammen in Patricias Zimmer saßen.
„Hm“, gähnte Anna, „naja, das Gespräch suchen. Vielleicht entschuldigen? Keine Ahnung, ob ich überreagiert habe oder ob das angemessen war. Ist ein Problem von Zukunfts-Anna, die hoffentlich weniger müde ist.“
„Das wäre wünschenswert. Siehst echt fertig aus.“, kommentierte Pia frech. Anna brachte es kaum fertig, die Zunge rauszustrecken, so erschöpft fühlte sie sich auf einmal.
„Dann lass uns mal schlafen, wenn du nicht mal mehr kontern kannst.“, beschloss Patricia für alle zusammen. Anna hatte sich unterdessen bereits auf der großen Luftmatratze in der Mitte des Zimmers in ihren Schlafsack eingerollt und wartete darauf, dass Chris ihr dies gleichtat. Patricia schaltete an ihrem Bett das Licht aus, nur das Licht von Pias Handy wirkte trist, wie es noch wenige Minuten versuchte, den Raum zu erhellen.
Autor: Theseus (eingesandt via E-Mail)
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Ein interessanter Aspekt, die Geschichte einer Adoption von einer anderen Seite gesehen. Bin gespannt ob Anna die neuen Erkenntnisse annehmen kann, um dann die tüchtigen Entscheidungen zu treffen.
Der Teil ist dir gelungen