Die Verwandlung (18)
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Day 20 Part 3 – Windelpolizei
„Dagobert?“, fragte Yannik leise nach ein paar Minuten Stille. Die beiden Jungen lagen rücklings auf dem Gipfel des dunkelgrünen, mit Luft aufgeblasenen Hüpfberg, hatten ihre Hände hinter den Köpfen verschränkt und starrten auf die am blauen Himmel vorbeiziehenden Wolken. Vor einer halben Stunde waren Joel und Lisa abgeholt worden, ein Abschied, der nicht nur Yannik, sondern auch Finn schwergefallen war, immerhin hatte er so viele lustig-dämliche Aktionen mit Joel abgezogen. Und Yannik und Lisa, das war eh eine ganz andere Geschichte gewesen. Rasch war bei den beiden Klassenkameraden daraufhin ein Gefühl von Erschöpfung eingetreten und die Jungen hatten sich auf den ohnehin nur spärlich besuchten Hüpfberg verzogen.
Finn runzelte die Stirn, drehte seinen Kopf zur Seite und sah den Jungen, der ihm in so kurzer Zeit so vertraut geworden war, skeptisch an: „Dagobert Duck? Wo denn?“
Yannik streckte seinen Arm in Richtung Himmel und neigte den Kopf neben den seines Freundes um dessen Perspektive besser nachempfinden zu können: „Daaaa! Der Zylinder, der Schnabel und der buschige Bart!“, erläuterte der Zehnjährige während er auf eine Wolke deutete, der man mit gezielt eingesetzter Fantasie durchaus die Ähnlichkeit zu ebenjener Comicfigur nachsagen konnte.
„Okay, Jaaa, ich sehs!“, gab Finn zu und kicherte, während der Hüpfberg leicht wackelte
„Oaaaaaah!“, rief Yannik plötzlich aufgeregt: „eine Boeing E3 Sentry!“
Finns Augen sprangen suchend durch die Wolken: „Ääääääh?“
„Keine Wolke, in echt!“, erklärte Yannik und deutete zu einem grauen Flugzeug, das den Himmel an ihrem oberen Blickfeld durchschnitt. Finn kniff die Augen zusammen: Das sah echt merkwürdig aus für ein Flugzeug, hinter den Flügeln schien es eine Art runde Plattform zu haben, so etwas hatte er noch nie gesehen!
Noch bevor Finn seinen Freund fragen konnte, verlor sich Yannik in einem Erklärmonolog: „Die sind voll cool! Das sind Boeing 707 von der US-Armee, mit einem riesigen Radar auf dem Dach um Feldaufklärung zu betreiben. Und sei mal still, dann hörst du die Triebwerke. Ziemlich laut, oder? Das liegt daran, dass die E3-Boeings quasi die einzigen 707er sind, die noch mit den originalen Triebwerken fliegen. Das Grundmodell ist immerhin aus den Fünfziger Jahren! Ziuuuuuuusch“, machte der begeisterte Junge das Geräusch der Triebwerke nach.
„Oookay?“, antwortete Finn erstaunt, brauchte einen Moment um alle Informationen zu verarbeiten und fragte verwundert: „Magst du Flugzeuge?“
„Ja, voll!“, antwortete ein Yannik, der es fertigbrachte, auf einmal sogar noch begeisterter als sonst zu sein: „Die sind doch mega cool, oder? Wie die durch die Luft gleiten, oder mit mehreren hundert Stundenkilometern landen. Ich will später mal Pilot werden! Und du?“
Yanniks Redeschwall hatte so abrupt geendet wie er begonnen hatte und während für einen Moment nur die Triebwerke des Flugzeuges in der Luft und das Gekreische der Kinder am Boden zu hören war, stockte Finn: „Ich?“, fragte er.
„Was willst du mal werden?“, fragte der blonde Zehnjährige.
Finn sah seinen Freund erschrocken an: „Ääääh“, antwortete er: „nix, glaube ich?“
„Wie, nix?“, fragte Yannik so, als hätte er Finns Antwort nicht verstanden: „Nix?“
„Neeee“, sprach Finn leise, während er mit seinen Augen das kleiner werdende Flugzeug verfolgte: „Keine Ahnung. Ich will … nicht … Ich will nicht, dass sich was ändert …“
„Bist du ein Konservativer?“, platzte Yannik in den sich formenden Satz seines Freundes hinein.
„Hä?“, fragte Finn verwundert und verstand nicht, was sein Freund da grade meinte.
„Mama sagt, die wollen nicht, dass sich was ändert“, erklärte Yannik kichernd: „Warn Scherz“, präzisierte er.
Aufgebracht begann Finn sich zu rechtfertigen: „Ist doch egal was in der Zukunft ist! Keine Ahnung, was ich mal werden will, wenn ich Erwachsen bin! Das ist doch kacke. Warum wollen alle immer Erwachsen sein? Ist doch cool, wie es jetzt ist!“
„Heeey, chill!“, antworte Yannik seinem aufgebrachten Freund in einem coolen Tonfall, den dieser so gar nicht von diesem Zehnjährigen kannte. Kurz sahen sich die beiden Jungen schockiert an, dann begann Yannik die Stille zu brechen: „Warum nicht? Als Erwachsener sagt dir niemand, was du zu tun hast. Und niemand lacht dich aus. Leute behandeln dich mit Respekt und du kannst selbst entscheiden, wie du dein Leben gestaltest.“
Finn brauchte eine Weile, um sich eine sinnvolle Antwort zu überlegen. Er musste an das denken, was ihm sein Vater erzählt hatte und an Pauls Kinderzimmer. An die klatschnasse Windel zwischen seinen Beinen und daran, dass sie eben noch so getan hatten, als wäre er ein Achtjähriger. Unbemerkt rann eine Träne aus seinem Augenlid, kullerte über sein linkes Ohr, seine braunen Haare und versickerte im dicken grünen Planenstoff, auf dem sie lagen.
Leise antwortete Finn: „Wenn man als Erwachsener selbst entscheiden kann, was man tut, warum hüpft hier kein Erwachsener rum?“
„Was?“, fragte Yannik verdutzt und runzelte die Stirn.
„Was?“, antwortete Finn verteidigend.
„Warum sollte hier ein Erwachsener rumhüpfen?“, fragte der blonde Junge verwundert.
„Warum hüpft hier keiner rum?“, drehte Finn die Frage wieder um: „Verliert man als Erwachsener den Spaß am Hüpfen? Kannst du dir das vorstellen? Oder machen die das alle nur deshalb nicht, weil das kindisch wirkt, weil man das halt nicht mehr macht als Erwachsener? Was, wenn das so ist wie früher? Im Kindergarten hab ich immer gedacht, in der Schule ist alles voll cool, aber eigentlich ist Schule doch vor allem nervig und den ganzen Tag spielen war viel besser, ehrlich, oder?“
Interessiert hob Yannik seinen Kopf und stützte ihn mit dem Ellenbogen auf den beständig wackelnden Untergrund unter ihnen: „Naja, aber Schule ist schon spannender. Außerdem darf man in der Schule auch mehr machen als im Kindergarten. Im Kindergarten durfte ich nicht so lange aufbleiben zum Beispiel. Oder Computerspielen! Man darf doch immer mehr, je älter man wird!“
„Nö gar nicht, manche Sachen darf man auch nicht mehr, es verändert sich nur was man darf!“
„Was darf man denn nicht mehr?“, antwortete Yannik skeptisch.
„Man darf nicht mehr in die Hose machen!“
Yannik konnte ein Lachen nicht unterdrücken: „Das ist ja wohl das schlechteste Argument was dir hätte einfallen können, da bist du wohl das wandelnde Gegenbeispiel! Und außerdem stimmt das gar nicht so. Das darfst du auch als Erwachsener, warum nicht? Wer soll dich daran hindern, die Windelpolizei?“
Jetzt musste auch Finn lachen. Das hörte sich an wie in einer schlechten Windelgeschichte. Als Erwachsener einfach so in die Hose zu machen. Klar, es gab wirklich Erwachsene, die das genau so machten wie er, Windeln tragen und so tun, als wären sie ein Kind, nur das diese dafür nicht so tun mussten, als würden sie ins Bett machen und auch nicht von ihrer nervigen Mutter andauernd aufs Klo geschickt wurden, das war wirklich ein Vorteil, konnte er nicht leugnen.
„Wiuiuiuiu, Windelpolizei! Wir suchen einen Jungen, der noch in die Windeln macht, obwohl er nicht mehr im Kindergarten ist und führen aus diesem Anlass verdachtsunabhängige Kontrollen durch“, sagte Yannik in einem gespielt scharfen Tonfall, während er sich zurückhalten musste, nicht loszulachen. In seiner rechten Hand hielt er eine imaginäre Taschenlampe um eine Verhörsituation nachzustellen: „Darf ich einmal ihren Kindergartenausweis sehen?“
„Mich kriegt ihr nie!“, schrie Finn als Reaktion spielerisch und schlitterte auf seinem Windelpo den wackelnden Hügel herunter.
„Stehenbleiben, Hosenscheißer!“, rief Yannik definitiv zu laut, um eine angemessene Diskretion gegenüber den anderen Kindern zu wahren und lief seinem Freund hinterher, während sich rasch eine Verfolgungsjagdsituation entfaltete, welche sich von der, mit der die beiden Jungen vor einem halben Tag ihre Erkundung des Spielplatzes begonnen hatten, nur durch Nebensächlichkeiten unterschied. Die Mittagssommerhitze lies langsam nach und eine angenehm kühle Brise strich durch das Gras, über das sich zwei Jungen lachend jagten, die bereits vergessen hatten, über was sie eben noch gestritten hatten, während sie realisierten, was sie bislang alles noch nicht entdeckt hatten auf dem weitläufigen Areal. Die nächste Zeit vertrieben sich die beiden Junge an der langen Seilrutsche, auf welcher man wunderbar Geschwindigkeit aufbauen konnte, ehe sie sich etwas ruhigeres suchten, und auf den großen Wasser-Sandspielplatz stießen, wo Finn mit seinen Sandkasten-Skills, die er mit Paul entwickelt hatte, glänzen konnte.
Zwei Stunden später, es war bereits am frühen Abend gewesen, hatten die beiden Freunde den großen Sandkasten grade verlassen und sich in die Schlange an einer der größten Attraktionen eingereiht: Der Teppichrutsche! Das war das Ding, was den gesamten Freizeitpark, abgesehen vom Maislabyrinth an sich, erst berühmt gemacht hatte: Eine riesige, fünfzehn Meter hohe Rutsche, die man angesichts der Länge der Rutschpartie und der daraus resultierenden Geschwindigkeit auf einem Teppich gekniet herunterrutschte. Das Ding war etwa so hoch, wie Finn die Holztürme im Waldspielplatz in Erinnerung gehabt hatte, nur eben in echt. Ein riesiges Monstrum aus silbernem Stahl und grünem Plastik, das man schon vom Parkplatz aus hatte sehen können. Yannik und Finn standen bereits kurz vor dem oberen Plateau der Anlage und warteten mehr oder weniger nur noch darauf, dass das automatische Drehkreuz den Weg zur Rutschbahn freigab.
Müde vom Anstehen hatten sich die beiden Jungen auf die Treppenstufen gehockt und Finn hatte die Gelegenheit genutzt, um unauffällig etwas Blasendruck abzulassen. Er musste wirklich dringend, doch seine Pampers war mittlerweile so voll, dass Finn sich aus gutem Grund nicht mehr traute, viel reinzupinkeln. Der ganze Eistee, den er heute Mittag getrunken hatte, hatte deutliche Spuren in seiner Windel hinterlassen. War das in den frühen Nachmittagsstunden noch toll für den Zwölfjährigen gewesen wie seine Windel nach und nach immer dicker und flauschiger geworden war, war es mittlerweile zum Problem geworden. Erst hörte die Vorderseite seiner Pampers auf, sich nach ein paar Minuten wieder trocken anzufühlen, wenn er reingepullert hatte. Dann war das Saugmaterial zwischen seinen Beinen immer breiter geworden, schließlich war die Windel an seinem Po so stark aufgedunsen, dass sie seine Hose ein wenig nach unten zerrte. Das war alles noch super cool gewesen, hatte sich toll angefühlt, so als wäre Finn ein Kindergartenkind bei dem der Windelwechsel vergessen worden war. Doch seitdem war wieder einige Zeit vergangen und mittlerweile wurde das nicht aufgesaugte, lose im Saugkern umherfließende Pipi langsam kalt und Finns Pampers so langsam ungemütlich. Wäre Finn ein Kindergartenkind, wäre er zu seiner Mama gegangen und hätte sich einen Windelwechsel erquengelt. Hätte er doch bloß eine Wechselwindel mitgebracht. Oder auf Yanniks Warnungen gehört.
„Komm!“, rief Yannik plötzlich, nachdem sich die Schlange vor Ihnen weiterbewegt hatte und Finn nun für alle hinter ihm im Weg stand. „Hey, beeil dich mal du kleiner Pisser!“, raunte irgendwer hinter ihm. Ungünstiger Zeitpunkt für Finn, der erst einmal einen Moment brauchte, um den Strahl, der grade gegen seine Pampers prasselte zu stoppen und nur langsam und vorsichtig wieder aus der Hocke aufstand.
„Hey, der Kleine hat ne Windel an!“, tönte eine weitere Stimme hinter Finns Rücken. Der Zwölfjährige erstarrte vor Schreck und Yannik drehte sich alarmiert zu seinem Freund um.
„Looooool, was fürn Opfer“, rief ein weiterer. Yannik entdeckte hinter Finn drei Jungen im Alter von circa Zwölf Jahren, die beim Anblick von der Windel, die mal wieder aus Finns Hose herausschaute, in schallendes Gelächter verfielen. Sie trugen bunte, mit frechen Sprüchen und englischen Catchphrases bedruckte T-Shirts und einer von ihnen hatte eine grüne Basecap verkehrt herum aufgesetzt. Sie sahen so ähnlich aus, wie seine Klassenkameraden, Yannik glaubte sogar, dass er das Giftgrüne ,Get-On-My-Level‘-Shirt des in der Mitte stehenden Jungen genau so schon einmal bei Tobias gesehen hatte.
Doch das war grade unwichtig: „Hey Hosenscheißer, sollen wir deine Mami rufen?“, rief ein anderer, während Finn von der Situation überfordert paralysiert herumstand.
„Hey Baby, zum Sandkasten geht’s wo anders lang!“, gröhlte der Junge mit dem Basecap und schubste den zierlichen Finn gegen die Seitenbrüstung.
„Heeeeeeeeeey!“, schrei-kreischte Yannik in der nächsten Sekunde so laut, das es wirklich jeder im gesamten Park hören konnte. Er stemmte seine Hände in die Hüften während er von seinem um zwei Treppenstufen erhöhten Standpunkt dem Jungen, der Finn zur Seite geschubst hatte, direkt in die Augen sehen konnte: „Lasst meinen Freund in Ruhe, ihr Arschlöcher!“, schrie er und sprang gleichzeitig die beiden Treppenstufen herunter und brachte die drei Jugendlichen dazu, verwundert innezuhalten.
„Omg, noch einer!“, brach der Basecap-Junge in einem nicht minder überlegenen Tonfall die Stille: „Ey Babys, ihr stinkt!“
„Warum macht ihr das, was bringt euch das?“, schrie der Zehnjährige, ohne eine Antwort zu erwarten. Stattdessen ging nun alles sehr schnell. Basecap griff Yannik an den Kragen seines orangenen Sweatshirts, doch Yan schnappte mit einem Arm nach der Kappe des großen Jungen, packte sie, und lies sie über dem Gelände nach unten in die Tiefe fallen.
„Heeeeeey!“, schrie der nun kappenlose Junge in einem Tonfall, der plötzlich gar nicht mehr so cool klang, während Yannik in derselben Sekunde nach Finns Hand griff, mit seinem Freund die letzten, mittlerweile freigewordenen Stufen nach oben hochstolperte und eilig die Rutsche herunterrutschte. „Das habt ihr davon!“, rief Finn in einem spontanen Anfall von Übermut, als sie an den verdattert auf der Treppe stehenden Jugendlichen vorbeirutschten und zeigte ihnen den Mittelfinger. Auch Yannik konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als die beiden am Ende der Rutsche von ihrem weichen Gefährt aufsprangen und eilig wegliefen.
Viele Stunden später schlurfte ein erschöpfter Finn wieder über die rauen, knarzenden Holzdielen im Obergeschoss des Bauernhofes, den sein neuer bester Freund bewohnte. Sichtlich ausgepowert trottete er aus dem angenehm warmen Badezimmer und gähnte. Seine nasse Cargohose hatte er auf dem Badewannenrand liegen lassen und war mit einer frisch-kuscheligen Pampers und seinem immer noch ungewohnt flauschigen, blaugrünen Dinosaurier-Schlafanzug bestens vorbereitet darauf, sich in Bälde auf eine Reise ins Abenteuer-Traumland zu begeben. Es war nach objektiven Finn-ins-Bett-geh-Kriterien noch gar nicht so spät, erst neun Uhr Abends. Aber der Tag hatte es in sich gehabt, Finn war sowas von Erschöpft und auch Yannik war auf der Rückfahrt im Auto kurz eingeschlafen. Gähnend drückte der Zwölfjährige die altertümliche Holztüre zum Zimmer des Zehnjährigen auf, doch blieb angesichts des überraschenden Anblicks, dem er nun zuteil wurde, wie angewurzelt im Türrahmen stehen.
„Heeey!?“, quiekte Finn verwundert. In seiner Hängematte schaukelte sitzend ein Yannik, der in seinen Händen ein Pyjamahöschen hielt. Eines seiner Pyjamahöschen!
„Ähhh …“, Yannik lehnte den Kopf zur Seite, ließ die weiße Hochziehwindel auf den Boden der Hängematte fallen und sah zu seinem im Türrahmen eingefrorenen Freund hoch: „Die sind schon krass, die Dinger!“
Finn zog überrascht die Augenbrauen hoch und verschränkte grinsend seine Arme: „Nach der Aktion eben brauchst du wohl auch saugfähige Unterwäsche?“, neckte er seinen besten Freund kichernd.
„Neee, du Blödkopf“, antwortete Yannik verlegen: „Ich find die nur spannend, also, aus chemischer Sicht. Können so viel Flüssigkeit bilden, viel krasser als jeder Schwamm.“
„Hm, ja, stimmt … okay“, antwortete Finn, unterdrückte ein Grinsen und bemühte sich, möglichst gleichgültig zu wirken. Er überlegte einen Moment lang, wackelte verspielt mit seinem Oberkörper herum und sagte dann betont unschuldig: „Ich frag deine Mama mal, ob ich noch einen Kakao haben kann vor dem Einschlafen, willst du auch einen?“
Nachdem, was Yannik am Ende im Spielepark getan hatte heute war Finn sich aus eigener Erfahrung relativ sicher, dass seinen besten Freund andere Gedanken angetrieben hatten. Folglich gab es nur eine Sache, die er in dieser Situation richtig machen konnte: Yannik noch ein paar Minuten mehr Privatsphäre ermöglichen. Zwar hatte er gehofft, sein Freund würde ihm sein Vorhaben einfach offen gestehen, was ja nach allem, was sie heute zusammen erlebt hatten echt keine große Sache war, aber konnte auch so mehr als genug nachfühlen wie der Zehnjährige sich grade fühlte.
Erleichtert nickte der Angesprochene und fügte ein: „Jau, mega gerne!“ hinzu, als Finn sich bereits umgedreht hatte um aus dem Zimmer zu verschwinden. Er lies sich absichtlich Zeit als er die knarzende Treppe herunterging, sah sich noch ein wenig die lustigen Postkarten, die an der Wand hingen an und brauchte ein paar Minuten, bis er unten in der Küche ankam. Es war bereits dunkel geworden draußen, am Küchentisch saß, lediglich von einer einzelnen hellen Lampe erleuchtet, Yanniks Mutter und abgesehen von den Lichtleisten, welche die Arbeitsfläche der selbstgezimmerten Einbauküche beleuchteten, war der Raum fast dunkel.
„Na, Finn?“, fragte eine zufriedene und entspannte Lena den kleinen Jungen während sie ihr Buch auf dem Tisch ablegte: „Bist wohl doch noch nicht so müde?“
„Doch, voll“, antwortete Finn verlegen, gähnte und fragte langsam: „Aber können wir noch einen Kakao haben? Das wäre jetzt echt cool!“
Lena lachte: „Na gerne doch! Warm oder kalt?“
Finn, der eigentlich gar nicht an die Möglichkeit eines warmen Kakaos gedacht hatte, freute sich: „Boah, warm wäre toll!“
„Na dann“, bemerkte Lena, stand auf und bezog den Jungen spielerisch in die Aufgabe mit ein: „Willst du mithelfen?“
Finn war überrascht. Das war er nicht gewohnt. Entweder, er machte Sachen ohnehin selbst, weil seine Eltern eh selten zuhause waren, oder aber, Elisabeth und Karl machten sowas dann lieber eilig alleine, da das dann schneller ging. Oder natürlich, sie ermahnten ihn genervt. Aber so? Lena schien alle Zeit der Welt zu haben und das war wundervoll: „Klaro!“, lächelte Finn.
Die Endzwanzigerrin stellte sich zu ihm an den Herd und trug dem Jungen der Reihe nach allerhand Aufgaben auf die bei der Zubereitung des Kakaos anfielen, lies ihn einen Kochtopf seiner Wahl aus dem großen Topfkarussell raussuchen, griff währenddessen über Finns Kopf im hohen Hängeschrank nach dem Kakaopulver und lies den Zwölfjährigen anschließend noch entscheiden, ob er den Kakao lieber mit „Hafermilch oder normaler Kuhmilch“ zubereiten wollte. Finn hatte zuerst verwundert geschaut und war drauf und dran gewesen das Original auszuwählen. Warum sollte er auch nicht? Doch dann hatte ihn seine kindliche Neugierde überrumpelt und er hatte vorsichtig-skeptisch einen Schluck Hafermilch probiert. Man merkte zwar, dass das keine richtige Milch war, aber schlecht schmeckte es nicht. Gewissenhaft entleerte Finn die passende Menge aus dem Tetrapack in den von Lena bereitgestellten Messbecher und schüttete diesen in den Topf, den er auf dem spannenden Herd von Yanniks Familie abgestellt hatte. Der Herd war keine große schwarze Glasfläche wie Finn das eigentlich von überall sonst kannte, aber auch kein altertümliches Gerät mit vier kreisrunden schwarzen Metallplatten. Es war eine Konstruktion aus einer silbernen Grundplatte, aus welcher sieben verschiedene runde, duschkopfartige Düsen hervorschauten, über welcher wiederrum ein schwarzes Metallstangengeflecht verlief, auf welchem man die Töpfe abstellen konnte.
„So, jetzt machen wir erstmal die Milch heiß, dann kommt das Kakaopulver dazu. Willst du den Herd selbst anmachen?“, fragte Lena, die längst bemerkt hatte, dass der neue Freund ihres Sohnes offenbar zum ersten Mal vor einem Gasherd stand.
Der Junge nickte stumm und neugierig. Lena deutete mit ihrem Zeigefinger auf den Knopf und Finn drehte den Regler auf, bis Lena freundlich „Stopp“ sagte: „Soo, das war jetzt aber noch nicht alles. Jetzt musst du auf den kleinen schwarzen Knopf drücken“, leitete Lena an. Finn drückte.
„Boaaah!“, flüsterte der Junge staunend, als die kleinen blauen Flämmchen plötzlich aus den Austrittsöffnungen des Gasbrenners züngelten. Fasziniert beugte er sich herunter auf die Höhe der Arbeitsplatte um den Flammen zuzusehen und wirkte dabei so begeistert, dass Lena unwillkürlich lächeln musste und Finn über den Kopf streichelte.
Die junge Mutter musste wieder an den Moment denken, als ihr die beiden Jungen beim Abholen aus dem Spieleland entgegengekommen waren. Ihr Sohn mit einem großen, unübersehbaren nassen Fleck auf seiner Jeans und dessen Freund mit seiner überstrapazierten Windel. Finn hatte in der Situation betreten zu Boden geschaut, wissend, dass Lena jeden Moment auch seinen nassen Po bemerken würde und bereits in der Erwartung der fälligen Standpauke. Ihr Sohn hingegen, war freudestrahlend zu ihr rübergerannt und hatte sie erst einmal umarmt, sodass Lena hatte aufpassen müssen, dass ihre Kleidung nicht auch noch verschmutzt wurde: „Großer, was hast du denn gemacht?“, hatte sie möglichst frei von jeglicher Wertung aber doch mit verwundertem Unterton gefragt.
„Mama, nix schlimmes!“, hatte Yannik unbekümmert festgestellt: „Finn und Ich haben gespielt dass wir Acht Jahre alt wären. Und dann musste ich irgendwann aufs Klo im Spiel aber wir waren grade voll cool dabei und ich wollte nicht unterbrechen, wie früher! Und dann hab ichs irgendwann nicht mehr halten können und hab in die Hose gestrullert. Passiert ja mal, mit acht!“, erklärte sich der Zehnjähriger mit der Strubbelfrisur während Finn ungläubig daneben stand und abwechselt auf Yannik und auf Lena starrte. Das durfte Yannik doch nicht verraten!
Lena brauchte einen Moment, doch dann antwortete sie, bestimmt und liebevoll: „Mein Großer, du kannst dir aber doch nicht einfach in die Hose pieschern, nur weil du nicht aufhören willst zu spielen!“
Yannik verdrehte die Augen verlegen in Richtung Himmel: „Jaaaa, Mama. Weiß ich doch! Das hat doch nur zum Spiel, das wir Acht sind, gehört!“
„Ich weiß, mein Schatz“, antwortete Yanniks Mutter: „Und mein kleiner, achtjähriger Sohn kriegt jetzt eben etwas Ärger dafür, dass er beim spielen in die Hose pullert“, zwinkerte sie ihm zu. Finn war schockiert: Lena spielte mit!
„So, Yanni, jetzt rennst du aber nochmal fix auf die Toilette, bevor wir losfahren. Nicht, dass nochmal was in deiner Hose landet!“, sagte Lena fröhlich und stupste ihrem Sohn auf die Nase.
Yannik kicherte verlegen: „Nee Mama, ich war ja eben erst. War ja nur zum Spaß, passiert nicht wieder, vertrau mir!“
In verbindlicherem Tonfall wiederholte Lena ihre Aufforderung: „Großer, Ab aufs Klo!“, löste die Umarmung und klopfte ihrem Sohn auffordernd auf die Schultern. Finn wurde neidisch. Wenn seine Mama ihn aufs Klo geschickt hatte, dann war das zwar auch immer eine nicht-verhandelbare Aufforderung gewesen, aber nie hatte seine Mutter dabei einen so netten und liebevollen Tonfall gewählt.
Während Yannik loslief, schwenkte Lenas Blick fragend zu Finn. Sie suchte einen Moment lang nach den richtigen Worten und kniete sich dann vor dem Sechstklässler hin: „Und du?“, fragte sie einfach nur.
Finn starrte peinlich berührt auf seine dreckigen Klettverschlusschuhe, wackelte nervös mit seinen Beinen und schwieg. Er wusste nicht ganz genau, was Lena meinte. Ob er auch aufs Klo musste? Die Antwort erübrigte sich wohl von selbst.
„War das für dich auch ein Spiel?“, fragte sie ihn. Finn schwieg aber nickte dann zögerlich.
„Nagut“, hatte Lena geseufzt, war wieder aufgestanden und hatte aus dem Kofferraum des grünen Hochdachkombis zwei Handtücher rausgesucht und sie notgedrungen über die Kindersitze auf der Rückbank gelegt. Zweieinhalb Stunden später, stand nun derselbe Junge neben ihr, starrte fasziniert auf die umhertanzenden Flammen des Gasherdes und schien immer noch dasselbe Spiel zu spielen wie vor ein paar Stunden auf dem großen Spielplatz. War es überhaupt ein Spiel?
Während Finn wie hypnotisiert auf die Feuerzungen blickte, lies er gedanklich den Tag Revuee passieren. Es war großartig gewesen. Selbst die nicht so schönen Momente waren im Vergleich eigentlich immer noch cool gewesen. Als Lisa seine Windel bemerkt hatte und ihn ausgelacht hatte, oder als er nach dem Kettcarfahren hatte feststellen müssen, dass seine Pampers endgültig übergelaufen war, sein Po und sogar der rote Plastikschalensitz nass geworden waren. Er hatte schockiert zu Yannik rübergesehen, der hatte sofort begriffen was los war und statt die Kettcars wieder zur Ausleihe zurückzubringen und eine Standpauke zu kassieren waren die beiden einfach lachend weggerannt. Und selbst die großen Jungs, die ihn wegen seiner Windel geärgert hatten, waren rückblickend nur eine kleine Unannehmlichkeit gewesen, auch wenn ihm das in der Situation nicht so vorgekommen war. Zum Glück war Yannik da gewesen.
Drei Stunden später war all der Trubel des Tages, all die Aufregung für Finn wieder in Vergessenheit geraten, während er in der ruhigen, dunklen Küche stand, in der die Zeit still zu stehen schien. Die Milch war mittlerweile warm geworden, der Zwölfjährige hatte das Kakaopulver aus der messingfarbenen Dose in ausreichender Menge eingerührt und selbst die Zuckerdosierung hatte er mit Lenas Hilfe gut hinbekommen: „Hast du toll gemacht!“, lobte Lena ihn liebevoll, während Finn die warme Flüssigkeit in die zwei bereitstehenden Tassen abgoss.
„Danke“, kicherte Finn verlegen, bevor er einen Moment zögerte und Lena umarmte: „Danke“, flüsterte er noch ein weiteres mal.
Es dauerte noch einige Minuten, bis Finn wieder, nun beladen mit zwei heißen Kakaotassen, bei seinem Freund im Zimmer ankam. Yannik hatte sich bereits in sein Hochbett zurückgezogen, doch nahm das warme Getränk nur zu gerne entgegen. Ein paar Minuten unterhielten sich die Jungen noch, bevor sie erschöpft einschliefen und die halbvollen Kakaotassen wieder abkühlten. Selbst das Pyjamahöschen, dass er für Yannik in seiner Hängematte hatte liegen lassen, der eigentliche Anstoß für seinen Ausflug in die Küche, war für Finn nun in Vergessenheit geraten.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Mensch, wie kann man bloß so geil schreiben?
Gefällt mir von mal zu mal immer mehr.
Nur schade, dass es so lange dauert, bis ein neuer Teil kommt.
Gehörst zu den besten, die man hier vorfinden kann, und das sind beileibe nicht sonderlich viele.
toll. Super geschrieben wie immer.
Ja, in der Tat, kann mich meinen Vorkommentatoren nur beipflichtend anschießen. Alle Achtung!
Geile Geschichte