Drei Beginne
Windelgeschichten.org präsentiert: Drei Beginne
Vorwort:
In letzter Zeit beginne ich immer wieder damit, neue Windelgeschichten zu schreiben, ohne dass dabei jemals ein fertiges Produkt herauskommt. Daher wollte ich mich nach eurer Meinung richten. Ich habe im Folgenden die Anfänge dreier meiner begonnen Geschichten aufgelistet. Früher oder später werde ich wahrscheinlich mehrere dieser Geschichten fertigstellen, doch es liegt an euch welche die Erste sein soll. Bitte hinterlasst mir einen Kommentar, in dem ihr für eine der Geschichten stimmt.
Bitte beachtet dabei, dass diese Beginne natürlich unterschiedlich lang und zu unterschiedlichen Graden fertiggestellt sind. So kann ein Beginn vielleicht schöner formuliert als der andere sein, weshalb ich euch bitte, die Texte eher nach dem Inhalt als nach der Rechtschreibung und Redegewandtheit zu beurteilen.
Vielen Dank und viel Spaß beim lesen.
1.) Dimension der Windeln
Das Grollen war bereits dumpf zu hören. Ich sah die Gebäude in der Ferne in sich zusammenfallen. Die Welle der Zerstörung kam nun immer näher auf mich zu. Häuser in etwa 100 Metern Entfernung verschwanden im Erdboden. Der Boden unter mir bebte auf. Die Staubwolke war nur noch um die 30 Meter von mir entfernt. Ich wusste, dass Rennen keinen Sinn hatte. Ich konnte das Grollen bereits unter meinem Füßen spüren. Ich schloss meine Augen und holte tief Luft.
Das laute Piepsen meines Weckers riss mich aus meinem Alptraum. Ich war schweißgebadet unter meiner warmen Bettdecke. Ich warf einen Blick auf das blau schimmernde Hologramm auf meinem Nachttisch. In schlichten Ziffern stand dort geschrieben:
11:34 Sa, 17. 2. 2057
Nachdem ich mich aus meinem Bett gekämpft und mich angezogen hatte, sah ich aus meinem Fenster. Ich lebte mit meiner Familie in einem Hochhaus, aus dem man einen guten Blick auf die Stadt hatte. Ich konnte die Bäume des Parks sehen, an denen bereits die ersten grünen Blätter im Wind flatterten. Weiter hinten waren die Fabriken zu sehen, die durch hohe graue Rohre ihren Qualm in den Himmel spien. Dahinter konnte man die Umrisse der Skyline sehen, die durch den Dunst teilweise verdeckt wurden. Die Morgensonne warf ein goldenes Licht auf die Dächer der Häuser. Für einen solchen Ausblick hatte mein Vater sicher viel Geld gezahlt, jedoch war ihm nichts zu teuer, denn wir waren durch ihn reich geworden. Er hatte viele Jahre über andere Dimensionen und Wege, wie man diese betreten könnte, geforscht, jedoch meist ohne jeglichen Erfolg. Doch vor etwa zwei Jahren war ihm ein Durchbruch gelungen. Er hatte es geschafft, ein Portal in eine andere Welt zu herzustellen. Nicht nur das, denn es war ihm ebenfalls möglich, über eine Eingabe das Portal mit jeder Dimension zu verbinden, die man eintippte. So war es der Menschheit möglich, eine unbevölkerte Erde in einer alternativen Dimension zu finden. So fand das Problem der Überbevölkerung endlich eine Lösung und mein Vater wurde zum Multimillionär. Außerdem erhielt er 2055 den Nobelpreis für seine Leistungen. Wir mussten uns nie wieder Gedanken über Geld machen. Jedoch hatte ich ein Geheimnis, bei dem mir Geld nicht helfen konnte. Bereits seit mehreren Jahren besorgte ich mir heimlich Windeln. Ich konnte selber nicht genau sagen, was ich an ihnen fand und trotzdem fühlte es sich für mich richtig an, sie zu tragen. Meine Eltern und meine zwei Schwestern wussten natürlich nichts davon, allerdings war es nicht immer einfach, es vor ihnen zu verstecken. Ich trug sie immer, wann ich nur konnte, aber ich musste verdammt gut aufpassen. Diese Nacht hatte ich wieder eine getragen. Das weiche Gefühl der Windel brachte mir einfach Geborgenheit. Ich zog meine Schlafanzughose und darunter meine Windel aus. Ich warf sie in meinen Mülleimer, der die Pampers direkt in kleinste Einzelteile pulverisierte und keinen Verdacht hinterließ, dass hier je eine Windel existiert hatte. Es war Samstag, also würde es bis zum Frühstück wahrscheinlich noch eine ganze Weile dauern. Also hockte ich mich vor mein Bett und zog darunter eine metallene Box hervor. Ich legte meinen Daumen auf den Fingerabdrucksensor der Kiste. Ein Motor ratterte dumpf und das Schloss sprang auf. Ich hob den Deckel an und sah hinein. Die Kiste war leer. Ich seufzte. Entweder ich müsste den Vormittag ohne Windel verbringen oder ich könnte mich dazu aufraffen in der Stadt eine neue Packung zu kaufen. Ich war eigentlich noch ziemlich erschlagen, weil ich nicht besonders gut geschlafen hatte, und wollte am liebsten in meinem Zimmer bleiben, jedoch wusste ich, dass ich es bereuen würde, wenn ich es nicht machen würde. Also öffnete ich meinen Schrank und nahm den weißen Ganzkörperanzug aus Dehnfaser heraus, der sich mit einem Knopfdruck an der Schulter perfekt an meinen Körper anpasste. Ich zog schnell mein Bezahlungsarmband an und nahm den Aufzug nach unten. Auf dem Weg zur Tür schnappte ich mir meine Schuhe und machte mich schließlich auf den Weg zum Drogerieladen. Während ich durch die Straßen lief, sah ich mich nach links und rechts um. Ein Springbrunnen vor einem Modeladen spritzte Wasser in Form des Logos der Marke in die Luft. Viele Bildschirme mit Werbung für verschiedenste Produkte leuchteten mir überall hell entgegen. Lebensgroße Hologramme von Menschen sprachen mich an, ob ich nicht ihre Produkte kaufen wolle. Auf einem Parkplatz neben der Straße spielten einige Kinder mit Magnetschuhen, die ein paar Zentimeter über dem Boden schwebten und sich somit gut zum herumfahren eigneten. Das Getrommel eines Mannes, der mit Stöcken auf einem Eimer spielte, hallte in den Straßen wieder. An der Eisdiele vorbei, um die Ecke herum und ich war endlich beim Laden. Es war inzwischen Routine für mich, den Laden zu betreten und den dritten Gang ganz bis zum Ende entlangzugehen. Hier wurde ich fündig. Ich wusste schon genau, welche Größe mir passte. Mit gleich zwei Packungen ging ich zur Kasse. Ein Schulkamerad stand weiter vorne in der Reihe, er schien jedoch beschäftigt damit, sich die verschiedenen Kaugummisorten im Regal anzusehen. Noch nie wurde ich von irgendjemandem gesehen und ich hatte inzwischen kaum Angst, dass das jemals passieren würde.
Ich war an der Reihe. Die Kassiererin saß hier oft und hatte schon viele male meine Windeln eingescannt. Ich fragte mich immer was sie sich dabei dachte. Am wahrscheinlichsten war es, dass sie mich für inkontinent hielt, aber damit konnte ich mich anfreunden. Was sollte sie schon sagen? Sicher verschwendete ich zu viele Gedanken damit und es war ihr eigentlich vollkommen egal.
Sie zog die Packungen über den Scanner und legte sie auf die Ablage neben der Kasse. Ich hielt mein schwarzes Armband an den Zahlungsbereich an der Kasse. Nach einem Piepsen erschien auf dem Bildschirm daneben der Betrag, der abgezogen wurde. Windeln zu kaufen war über einen längeren Zeitraum alles andere als günstig, aber das war für mich zum Glück kein Problem.
Zu Hause angekommen zog ich direkt wieder eine frische Windel an. Direkt überkam mich ein Gefühl der Entspannung. Ich legte mich auf mein Bett und entschied, dass der heutige kurze Ausflug genug Bewegung für einen freien Tag gewesen war. Ich schloss froh die Augen bei dem Gedanken, den Rest des Tages im Bett in einer weichen Windel zu verbringen. Es wäre wahrscheinlich eine gute Idee noch etwas weiter zu schlafen, ich hatte ja schließlich nichts zu tun. Ich kuschelte mich in die Decke und kringelte mich ein. Ich atmete tief aus und döste ein wenig vor mich hin. Doch die Ruhe hielt nicht allzu lange an. Der Klingelton meines Handys begann schrill zu spielen. Genervt drehte ich mich zu meinem Nachtisch und tastete ohne Erfolg mit geschlossen Augen nach der Lärmquelle. Grummelnd öffnete ich meine Augen und wollte möglichst schnell auf den roten Knopf auf dem Bildschirm drücken, doch ich sah, dass es Adrian war. Ich ging dran.
„Hey, Daniel!“, kam es aus dem Handy.
„Hey, wie gehts?“, gab ich zurück.
„Gut. Wollen wir uns heute mal treffen?“, fragte er, „Auf dem Schrottplatz oder so?“
„Naja“, begann ich, denn ich hatte den Tag ja alleine in der Windel verbringen wollen.
„Du willst doch nur deine Windel tragen, hab ich recht?“, ertappte er mich. Er war der Einzige, der darüber Bescheid wusste.
„Das macht nichts“, sagte er, „Du kannst die Windel ja einfach anbehalten und wir gehen auf den Schrottplatz, da ist doch sowieso kaum jemand.“
Ich fand den Vorschlag gar nicht so schlecht, doch nur hatte ich noch nie eine Windel außerhalb meines Zimmers angehabt. Ich dachte kurz nach.
„Nagut“, willigte ich ein, „Bis gleich auf dem Schrottplatz.“
„Bis dann!“, sagte Adrian.
Anstatt meines Ganzkörperanzugs zog ich eine etwas dickere Hose, ein T-Shirt und eine Lederjacke an, damit mit man die Windel nicht sehen konnte und machte mich auf den Weg.
Vor dem Zauntor des Schrottplatzes wartete Adrian bereits auf mich. Wir begrüßten uns. Es war ziemlich abgelegen und im Umkreis von 100 Metern war nicht außer Wiesen zu sehen. Die lauten Geräusche der Stadt waren hier nur noch aus der Ferne zu hören. Die Sonne schien und ließ die vielen metallenen Teile in den Schrotthaufen aufblitzen. Jedes mal wenn wir hierher kamen, waren die Stapel immer ein wenig weiter gewachsen. Wir liefen durch die Wege zwischen dem Schrott entlang und sahen uns die Einzelteile an. Es war überwiegend Elektronik darin zu sehen. In den letzten Jahren gab es unzählige Neuerfindungen, die das Alte verdrängte. So endete vieles hier. Zwischen Einzelteilen, deren Zweck schon lange nicht mehr zu erkennen war, sah ich einen grünen Volvo. Die Scheiben waren kaputt, so auch die Scheinwerfer. Der Lack fehlte an einigen Stellen. Ein Spiegel fehlte und von den Rädern waren auch nur noch zwei übrig geblieben. Ich staunte. So einen hatte ich seit bestimmt drei Jahren nicht mehr gesehen. Die Modelle von damals sahen so anders aus. Sie waren aus unzähligen vielen Bauteilen zusammengesetzt, ganz anders als die Autos der heutigen Zeit, die meist aus einem Teil hergestellt wurden.
„Hey, komm mal her!“, hörte ich Adrian begeistert rufen, „Das musst du dir ansehen!“
Obwohl ich den alten Wagen gerne noch länger bestaunt hätte, lief ich zu ihm. Er stand vor einem Stapel aus Sachen, die wohl noch nicht allzu lange hier auf dem Schrottplatz waren. Vieles sah noch durchaus funktionstüchtig aus. Ich sah einige Computer, ein Fahrrad, doch eines stand besonders heraus: Ein Gerät des Unternehmen Hephaistos. Es war die Maschine, die mein Vater vor einigen Jahren entwickelt hatte. Ich hatte sie nur einmal gesehen, als er mir die Maschine in seiner Werkstatt gezeigt hatte. Sie war nicht viel größer als ein Türrahmen und aus Osmium hergestellt. Es waren einige blaue Signalleuchten mit Beschriftungen der rechten Seite angebracht. Unten waren die Seiten verstärkt und erheblich dicker. An der Innenseite waren kleine Löcher in gleichmäßigen Abständen in das Metall gesägt. Es hingen einige Kabel an der linken Seite heraus. Aus meiner Erinnerung wusste ich, dass dort ein Computer anzuschließen war, um die Maschine kontrollieren zu können. Mit einem PC war die Maschine vielleicht sogar noch benutzbar.
„Krass oder?“, sagte Adrian, genauso überwältigt wie ich.
Das war es allerdings. Portale waren der normalen Gesellschaft normalerweise gar nicht zugänglich, ich wunderte mich, wie eines in diesem Zustand hier landen konnte. Es war viel zu gefährlich der Öffentlichkeit den Zugang zu anderen Dimensionen zu geben. Denn das bedeutete viel Macht zu haben. Wenn sich ein Irrer dazu entscheiden würde, eine Epidemie, ein Monster oder sonstiges auf die Menschheit loszulassen, würde ihn dadurch nichts mehr daran hindern. Es gab unendliche Dimensionen, also unendliche Möglichkeiten.
Adrian und ich wussten beide, dass wir es hier nicht stehen lassen konnten. In den falschen Händen konnte schlimmes damit angerichtet werden. Die Frage war nur, wie wir das anrichten sollten. Es an einer Müllpresse abzugeben war zu riskant. Wir konnten uns nicht darauf verlassen, dass es nicht doch jemand für eigene Zwecke benutzen würde.
„Irgendwo müssen wir es verstecken“, sagte Adrian entschlossen.
„Das ist mir klar“, antwortete ich nachdenklich, „Die Frage ist nur wo.“
Wir setzten uns auf eine umgedrehte Badewanne und dachten nach. Wir grübelten beide mit konzentrierten Gesichtern vor uns hin.
„Bei mir können wir es auf keinen Fall verstecken“, sagte ich, „Ich muss meinen Keller mit allen anderen aus dem Haus teilen. Das dauert keine zwei Tage bis das jemand gefunden hat.“
„Bei mir könnte es auch schwierig werden“, dachte Adrian nach. Seine Augen leuchteten auf und er schnippte mit dem Finger: „Aber ich habe eine Idee!“
Die kleine Hütte war nur an einer Seite mit weinroter Farbe gestrichen. Es sah aus, als hätte man sich verschätzt und als wäre die Farbe beim Streichen ausgegangen. Um das Haus herum standen einige Laubbäume, sowohl große als auch kleine. Das Haus selbst schien bald von der Natur verschlungen zu werden, denn das Gras um die Hütte war hoch und viele Ranken und Efeu bahnten sich den Weg bis aufs Dach. Ich sah Adrian mit etwas Sorge an. Er hingegen lächelte. Wir liefen durch das hohe Gras auf das verfallene Haus zu. Adrian klopfte an der Tür. Es klang als wäre selbst das schon zu viel für das alte Holz.
„Wer ist denn da?“, fragte eine raue Stimme von innen.
„Hier ist Adrian, dein Neffe“, rief er.
Mit einem Quietschen öffnete sich die Tür. Im Rahmen stand ein dürrer Mann mit flusigen Haaren. Er trug eine Latzhose und ein Unterhemd, das einmal weiß gewesen sein musste.
„Hey, Adrian!“, begrüßte er ihn mit einem festen Händedruck, „Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!“
Adrian lächelte ein wenig verlegen.
„Ich sehe, du hast Besuch mitgebracht!“, sagte er und gab mir ebenfalls die Hand, „Ich bin Willi!“
„Ich bin Daniel“, sagte ich.
„Kommt rein!“, forderte er uns auf.
Wir betraten die Hütte. Durch die Spalten zwischen den Brettern drang etwas Licht. An Fenstern wurde scheinbar gespart, denn es gab nur eines an zwei von den vier Seiten. Der Geruch erinnerte mich an alte Möbel. Kein Wunder, es ließen sich ohne Ende Schränke und alte Sofas finden. Trotzdem strahlte alles eine gemütliche Atmosphäre aus. In einer Ecke stand ein Stapel aus Tellern und Pfannen auf einer Spüle. Daneben war ein Gasherd.
„Fühlt euch wie zu Hause!“, sagte Willi mit seiner rauen Stimme, „Ihr kommt gerade richtig, ich habe Pfannkuchen gemacht.“
Er drückte uns beiden einen bunt bemalten Teller mit einem in Honig getränkten Pfannkuchen in die Hand.
„Ich bin zwar kein großer Kochkünstler, aber ich weiß wie man gute Pfannkuchen macht!“, sagte Willi zufrieden. Die Pfannkuchen waren wirklich gut, jedoch war dies nicht der Grund, warum wir hergekommen waren. Ich stupste Adrian an.
„Oh!“, sagte er und schluckte noch schnell das Pfannkuchenstück herunter, „Genau, richtig.“
„Was ist denn?“, fragte Willi.
„Wir wollten mit dir reden“, sagte er ernst, „Es ist sehr wichtig.“
„Es geht doch hoffentlich nicht wieder um den Singwettbewerb deiner Mutter, oder?“, fragte Willi scherzend.
„Nein“, sagte Adrian, „Um einiges interessanter.“
Mit seinem Truck kamen wir wieder am Schrottplatz an. Er parkte den Wagen vor dem Zaun. Wir stiegen aus und leiteten ihn zwischen den Haufen hindurch zu unserer Entdeckung. Ich atmete auf als ich sah, dass es immer noch am gleichen Ort stand. Wir stellten uns alle davor und betrachteten es.
„Ist das etwa…?“, begann Willi unglaublich.
Wir nickten nur.
„Das darf hier auf gar keinen Fall stehen bleiben!“, beschloss er.
„Das gleiche haben wir uns auch gedacht“, sagte Adrian.
„Also ich schlage vor, dass wir das Ding auf den Truck heben und bei der nächsten Gelegenheit bei einer Müllpresse abliefern“, sagte Willi.
„Aber was ist, wenn die es behalten und es für ihre Zwecke nutzen?“, sagte ich besorgt, merkte aber selbst, wie lächerlich es klang.
„Das wird nicht passieren“, sagte Willi selbstbewusst, „Kann es sein, dass ihr das Teil einfach nur behalten wollt?“
„Nein“, verteidigten wir uns schnell.
„Wir dachten nur, dass das die sicherste Option ist“, versuchte ich es zu rechtfertigen.
„Mich legt ihr nicht rein“, sagte Willi grinsend, „Aber von mir aus.“
Adrian und ich sahen uns an und mussten lächeln.
„Aber unter einer Bedingung!“, erklärte er, „Wenn ihr unbedingt wollt, können wir es zusammenschrauben, aber niemand betritt damit ohne meine Erlaubnis eine andere Dimension. Das ist viel zu gefährlich. Und ihr dürft es an keinen weitererzählen. Ruck zuck steht dann die Polizei vor der Tür. Alles klar?“
Wir stimmten nickend zu. Doch eigentlich war ich ziemlich enttäuscht. Zu gerne hätte ich erforscht, welche alternativen Dimensionen es dort draußen gibt. So viele unglaubliche Dinge, die ich niemals zu sehen bekommen würde. Doch ich konnte Willi gut verstehen. Unendliche Möglichkeiten bedeutete auch unendliche Gefahren.
Zu dritt hievten wir den schweren Rahmen auf die Ladefläche. Wir waren sehr vorsichtig, denn es sollte keinesfalls beschädigt werden. An den Auflagestellen polsterten wir es mit alten Decken ab. Auf einmal hörte ich hinter einem Haufen aus Autoreifen ein Rumpeln. Ich drehte erschrocken um. Wenn uns jemand beobachtet hatte, wie wir eine Portalmaschine vom Schrottplatz hatten mitgehen lassen, würde es bestimmt gemeldet werden. Ich entschied mich, nachzusehen. Mit schleichenden Schritten näherte ich mich langsam dem Haufen aus Reifen. Bildete ich mir das ein oder konnte ich einen Schatten zwischen den Spalten sehen? Schritt für Schritt kam ich immer näher.
„Hey!“, kam es vom Wagen, „Wollen wir heute noch losfahren oder willst du hier übernachten?“
Ich sah zum Truck.
„Ich komme schon!“, rief ich zurück. Sicher war es nur eine Katze gewesen, die eine Maus gesehen hatte und meine Paranoia erzählte mir, dass wir beobachtet wurden. Es würde uns schon niemand gesehen haben.
…
2. Neue Erkenntnisse
Der Unterricht war langweilig. Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hätte, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass das tägliche Geschwafel der Lehrer mein Gehirn langsam zum Schmelzen brachte. Das, was aus dem Mund der meisten Lehrer kam, konnte man wohl kaum Inhalt nennen. Die Lehrer hatten kaum etwas mit den Schülern gemeinsam, doch in der Eigenschaft, die Stunde mit irgendetwas außer Schulstoff zu füllen, waren sie einander recht ähnlich. Jeder Tag fühlte sich gleich an. Immer die gleiche Stimmung, immer der gleiche Ablauf.
Aufstehen, essen, zur Schule fahren, herumsitzen, lesen, zuhören, nach Hause fahren, essen, Hausaufgaben machen, essen, schlafen.
Nichts wünschte ich mir sehnlicher herbei als Veränderung, vollkommen egal, ob sie positiv oder negativ sein würde.
Hauptsache. Etwas. Neues.
Ich persönlich hielt nicht gerade Viel vom Glück oder vom Schicksal. Bei jedem Horoskop und bei jeder spirituellen Weissagung wusste ich nicht anders als den Kopf zu schütteln, doch heute schien das Universum meine Wünsche in Vollfüllung zu bringen.
Die Tür zum Klassenraum ging plötzlich auf. Dass Herr Stoltner unterbrochen wurde, schien ihn genauso wenig zu stören wie uns. In abgenutzten schwarzen Winterstiefeln und einer durchlöcherten Jeans, die man schon in den 90ern nicht mehr angezogen hätte, kam in Mädchen in die Klasse. Sie trug ein blau-weiß kariertes Hemd und darüber eine Lederjacke. Ihr gesamter Kleidungsstil war sehr ausgefallen, doch am meisten fielen ihre Haare auf. Man konnte fast mit Sicherheit sagen, dass sie ihr eigener Friseur war. Ihre Haare waren kurz und leuchteten in grellem Pink.
„Hey, ich bin Jaiyana und bin ab jetzt in eurer Klasse“, sagte sie lustlos, „Nennt mich aber bitte nur Jay.“
„Hallo, äh, Jay“, begrüßte unser Biolehrer sie. Sie war schon auf dem Weg zur hintersten Reihe um sich zu setzen.
„Willst du uns nicht ein wenig von dir erzählen?“, versuchte Herr Stoltner sie wieder nach vorne zu holen. Jay sah kurz an die Decke als würde sie überlegen.
„Nein“, antwortete sie kurz und setzte sich.
„Ok, na dann“, druckste er herum, „ja, dann … machen wir mal weiter.“
So begann er, uns zum dritten Mal etwas über die Funktionen von Synapsen zu erklären. Obwohl er versuchte, auch wenn auch nicht mit großem Erfolg, seine Begeisterung für das Thema auf die Schüler zu übertragen. Doch die Aufmerksamkeit der meisten, besonders die der Jungs, galt dem Mädchen mit pinken Haaren in der letzten Reihe. Sie hingegen sah unschuldig zum Fenster hinaus.
In der Pause stupste mich Ralph an.
„Na, da läuft doch was“, sagte er hämisch.
„Wo läuft was?“, fragte ich geistesabwesend und sah ihn mit verträumten Augen an.
„Es ist wohl schlimmer als wir gedacht haben“, imitierte er einen Doktor.
„Da ist gar nichts!“, verteidigte ich mich, „Ich hab nur heute Nacht wenig geschlafen.“
Ralph grinste.
„Jaja, ich wette, dass du in Gedanken gerade dabei bist sie zu küssen.“
„Überhaupt nicht!“, sagte ich und gab ihm einen Schlag gegen die Schulter.
„Wusste ich’s doch“, sagte er lachend.
„Du bist doch nur neidisch“, versuchte ich das Thema auf ihn zu lenken.
„Wenn ich wollte, würde ich die Alte sofort abschleppen“, sagte er, so protzig wie er war.
„Trau dich doch“, gab ich zurück.
„Es sieht mir ganz so aus, als hättest du doch ein paar Gefühle für sie“, leistete Ralph weiter Detektivarbeit.
„Denkt doch was du willst“, sagte ich, als wäre es mir egal und wir liefen beide zur Cafeteria um uns etwas zu essen zu holen.
Wir hatten zum Glück noch eine Stunde Englischunterricht vor Schulschluss, obwohl ich gerne noch ein wenig länger in der Nähe von Jay gewesen wäre.
An diesem Abend hatte ich seit langer Zeit zum ersten mal wieder einen Grund mich auf den morgigen Tag zu freuen.
Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, versuchte ich, so gut ich konnte, meine Aufregung zu verbergen. Wie immer öffnete ich die Tür zum Klassenraum. Unauffällig warf ich einen Blick in die letzte Reihe und beinahe verwandelte sich meine gespielte Enttäuschung in echte. Sie saß nicht an ihrem Platz.
Gespielt lässig fragte ich einen der Jungen namens Frederik nach ihr: „Weißt du wo Jay ist?“
„Keine Ahnung“, sagte er. Er sah mich an und lächelte verschmitzt.
„Stehst du etwa auf sie?“, fragte er neugierig.
„Äh, nein“, antwortete ich auf die Frage, „Es wundert mich nur. An einem Tag stellt sie sich als die Neue in der Klasse vor und gleich am nächsten Tag ist sie nicht da.“
Er zuckte ratlos mit den Schultern.
„So wie die auf mich wirkt macht sie sowieso was sie will“, erklärte er, „Wahrscheinlich hat sie gesehen, was für eine Loser-Klasse wir sind und jetzt schwänzt sie halt. So einfach ist das.“
„Ok“, sagte ich, eigentlich unzufrieden mit der Antwort und setzte mich auf meinen Platz. Gelangweilt tippte ich mit den Fingern auf dem Tisch und sah mich um. Eine der Gruppen, die sich immer morgens in der Klasse bildeten, bestand aus Mädchen. Ab und zu wollte sich ein Junge dazugesellen, jedoch ohne jeden Erfolg. Die Mädchen schnatterten über alles Mögliche. Ich machte mir nicht zu viele Hoffnungen, aber wenn jemand in der Klasse etwas von Jay wusste, dann sie. Jede kleinste Geschichte von anderen Mädchen wurde sofort untereinander weitererzählt, vielleicht ja auch die von Jay.
Ich stand auf und ging mit langsamen Schritten auf die Traube aus schnatternden Mädchen zu. Ich tippte Alina auf die Schulter. Sie war die einzige, zu der ich Kontakt hatte und von der ich nicht sofort als Loser abgestempelt wurde. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten und hatten uns immer gut miteinander verstanden.
Ich flüsterte ihr ins Ohr, sodass nur sie es hören konnte und als ob ich die anderen nicht stören wollte: „Weißt du wo Jay ist?“
Wie ich es mir gedacht hatte, fragte eine andere aus dem Kreis, bevor Alina mir etwas sagen konnte: „Was wird den da geflüstert?“
Ich tat beinahe so, als wäre es ein Geheimnis.
„Ach, nichts“, sagte ich. Mir war klar, dass sie dort nicht widerstehen konnten. Die Frage, die sie mir sonst nicht beantwortet hätten, interessierte sie ganz plötzlich.
„Sag schon“, sagten gleich zwei von ihnen.
„Ist ja gut“, sagte ich, als würde ich ein Geheimnis preisgeben, „Ich wollte nur wissen wo Jay ist.“
„Ohh, ist da jemand verliebt?“, fragte ein Mädchen sofort.
„Wisst ihr es denn?“, fragte ich, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Ich habe euch gesagt, was ihr wissen wolltet, jetzt seit ihr dran“, verhandelte ich. Sie sahen sich an und zögerten.
„Nagut“, begann ein Mädchen, „Gestern wurde ihr nach dem Unterricht gesagt, dass sie heute früh beim Schulleiter im Büro erscheinen soll.“
„Warum das denn?“, fragte ich fassungslos.
Da ging plötzlich die Tür auf.
Anstelle von Herrn Stoltner stand dort eine relativ junge Frau mit dunkelblonden Haaren und schlanker Figur. Sie trug einen Schwarzen Rock und ein weißes Hemd. Sie legte ihre Tasche auf das Lehrerpult und setzte sich darauf. Alle nahmen ihre Plätze ein.
„Hallo, ich bin Frau Scholz“, stellte sie sich vor, „Da Herr Stoltner eine Operation am Knie hatte, werde ich die nächsten Wochen euren Biounterricht halten. Da ich nicht genau informiert wurde welches Thema ihr genau behandelt habt, habe ich mir erlaubt etwas für ein neues Thema vorzubereiten. Ich dachte mir, dass wir die nächsten Wochen eines der wichtigsten Themen in euerm Alter behandelt, nämlich Sexualkunde.“
Wie erwartet ging ein kleines Kichern durch die Reihen.
„Am besten fangen wir gleich an“, sagte sie unternehmungslustig und kramte einen Stapel Arbeitsblätter aus ihrer Tasche. Ein Aufstöhnen ging durch die Klasse.
„Keine Angst“, sagte Frau Scholz, „Der Unterricht wird nicht so theoretisch bleiben.“
„Wahrscheinlich dürfen wir dann in der nächsten Stunde ein Kondom über eine Banane rollen oder so“, flüsterte Ralph neben mir.
„Vielleicht…“, gab ich zurück.
„Würdet ihr bitte aufhören zu reden“, ermahnte uns Frau Scholz, „Bitte fangt jetzt mit den Arbeitsblättern an.“
Ich kramte einen Stift aus meinem Mäppchen und begann das Bild der ersten Aufgabe zu beschriften. Es war das männliche und das weibliche Geschlechtsteil abgebildet. Wir sollten zuerst alles ausfüllen, was wir selbst wussten und anschließend beim Vergleichen die restlichen Begriffe ergänzen. Wahrscheinlich hätte ich viele der Lücken ausfüllen können, aber ich konnte an nichts anderes als Jay denken. Mit der gegeben Abbildung auf dem Blatt vor mir und meiner Vorstellung von Jay dauerte es nicht lange bis mein Kopf die beiden Bilder verknüpfte. Ich stellte mir vor wie sie nackt vor mir stand, ihre runden Brüste direkt vor meiner Nase und ihre funkelnden Augen auf mich gerichtet.
Ich schüttelte meinen Kopf. Ich sollte mir das nicht vorstellen. Das war pervers. Ich fühlte mir beinahe wie ein Spanner. Ich vertrieb den Gedanken aus meinem Kopf und widmete mich dem Arbeitsblatt.
Einige Minuten Stillarbeit später verglichen wir.
„Wie heißt dieser Bereich?“, fragte Frau Scholz und zeigte mit dem Finger auf das Bild des Overheadprojektors. Ein paar Hände hoben sich.
„Ja, Finn!“, nahm sie einen Schüler dran.
„Das ist die, äh, Klitoris“, sagte er und wurde dabei immer leiser. Einige Mädchen kicherten.
„Richtig, die Klitoris“, wiederholte Frau Scholz laut für die ganze Klasse. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Sie machte die Tür auf und herein kam Jay, heute mit einer schwarzen Mütze.
„Hallo“, begrüßte Frau Scholz sie, „Und du bist…“
„Jay, die neue Mitschülerin“, vollendete sie ihren Satz.
„Schön“, sagte Frau Scholz und schlug die Hände zusammen, „Dann setz‘ dich doch. Und nimm doch bitte diese Mütze ab.“
Jay setzte sich auf ihren Platz und zog ihre Mütze vom Kopf. Frau Scholz fuhr fort mit der Besprechung des Arbeitsblatts während sie auf die Abbildung deutete bis wir fertig waren.
Dann läutete die Glocke. Frau Scholz wollte noch das Thema der nächsten Stunde ankündigen, doch bevor sie irgendetwas sagen konnte, stürmten alle bereits zur Tür heraus.
Ich konnte Ralph nirgends auf dem Schulhof sehen, also setzte ich mich auf eine der Bänke und beobachtete das Geschehen. Die jüngsten Schüler waren mit Abstand am quirligsten. Sie rannten scheinbar ziellos herum, liefen gegeneinander, rappelten sich wieder auf und rannten direkt weiter. Eigentlich waren sie diejenigen, die am meisten aus dieser Betonwüste eines Schulhofs machten. Währenddessen spielten die Schüler der Mittelstufe oft Karten und redeten miteinander. Von den Oberstufenschülern war kaum etwas zu sehen, da die meisten von ihnen sich in der Pause aus der Stadt etwas zu essen holten. Viele erkannte ich, die meisten davon waren natürlich auch aus meinem Jahrgang.
Plötzlich leuchteten aus der Menge pink leuchtende Haare. Ich musste nicht lange überlegen, zu wem diese gehörten. Unauffällig sah ich zu ihr hinüber. Es kam mir komisch vor, dass sie ihre Schultasche mit sich herumschleppte. Eigentlich machte das niemand während der Pause. Vermutlich hatte sie nur keine Ahnung weil sie neu war. Jay sah sich kurz um und verschwand hinter einer der Hecken, die am Rande neben des Schulhofs standen. Ich wusste nicht genau warum, aber ich stand auf und begann in ihre Richtung zu schlenkern. So unauffällig, dass sie es hoffentlich nicht bemerken würde, allerdings auch schnell genug um ihr folgen zu können. Ich überlegte, was sie wohl dort tat, doch bevor ich zu einer möglichen Antwort kam, stand ich schon vor der Hecke. Ich hatte mir nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, was ich eigentlich tun sollte, wenn ich an der Hecke ankommen würde. Sollte ich einfach wieder gehen oder mal nachsehen? Was sollte sie denn schon machen? Sie würde doch höchstens ein wenig Handy spielen und sich verstecken, um nicht erwischt zu werden. Also fasste ich den Entschluss und trat hinter die Hecke.
Der Anblick ließ mich einen kleinen Schrei ausstoßen. Jay saß auf dem Gras, jedoch fehlte ihr sowohl Hose, als auch irgendetwas darunter. Neben ihr lag eine Verpackung und mehrere Tüten. Ich erstarrte förmlich in meiner Position.
Sie drehte sich herum.
Für einen Teil einer Sekunde, starrten wir uns nur gegenseitig an. Meine Starre löste sich. Ich drehte mich sofort weg und hielt mir eine Hand vor die Augen. Sie zog hektisch ihre Hose hoch und sah mich vorwurfsvoll an.
„Äähh, ich hab gar nichts gesehen“, sagte ich schnell.
„Spionierst du mir etwa nach?“, fragte sie empört.
„Ich, ähm, wollte nur mal sehen, also-„, stotterte ich mit zusammengekniffenen Augen.
„In Ordnung, du hast es ja schon gesehen“, sagte sie, als wäre sie besiegt worden, „Sag es nur bitte keinem weiter, ok?“
Ich öffnete meine Augen wieder und sah auf sie hinunter.
„Du trägst Windeln?“, fragte ich überraschter als ich eigentlich wollte.
„Ja, und jetzt verschwinde“, gab sie zurück.
„Wenn du eine Schwache Blase hast, dann habe ich totales Verständnis für dich“, sagte ich, „Da kannst du ja nichts für.“
„Wenn es so wäre“, sagte sie.
„Ist es denn nicht so?“, wollte ich wissen, „Jetzt hast du mich aber verwirrt.“
„Das geht dich gar nichts an“, sagte sie.
„Ich will doch nur wissen, warum du Windeln trägst, obwohl du ja scheinbar gar keine brauchst“, sagte ich.
„Es macht mir halt Spaß“, erklärte sie.
„Warum das denn?“, sagte ich, „Das ist doch total nervig.“
„Ich habe mir schon gedacht, dass du es nicht verstehen würdest“, sagte Jay beinahe enttäuscht.
„Bitte erklär es mir“, bat ich, „Du hast gesagt, dass es die Freude bereitet, warum denn?“
„Weil es cool ist, einfach auf alle zu scheißen und das zu tun worauf man Bock hat“, sagte sie, „Das Leben ist doch so langweilig, aber das Risiko, dass man erwischt werden kann, macht das Ganze doch sehr viel spannender.“
„Ich komme immer noch nicht dahinter“, gab ich zu. Jay und ich waren eine kurze Weile still.
„Weißt du was“, begann sie, „Ich glaube es ist am besten, wenn du es einfach mal selber ausprobierst.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich.
„Du kannst eine von meinen Windeln haben und die dann für den Rest des Tages tragen“, erklärte sie, „Dann wirst du genau verstehen, was ich meine.“
Ich schaute überrascht.
„Du meinst, ich soll-„, sagte ich.
Die Glocke läutete. Ich sah Jay fragend an. Sie zog eine der Windeln aus der Packung und warf sie mir vor die Füße.
„Mir ist egal, was du machst, aber ich ziehe jetzt meine Windel an“, sagte sie.
Jay zeigte mir mit einer Geste, dass ich mich umdrehen sollte und ich konnte das Knistern der Windel und anschließend den Reißverschluss einer Jeans hinter mir hören. Ich drehte mich wieder herum. Sie packte schnell ihre Sachen in ihren Rucksack und lief Richtung Klassenraum. Sie drehte sich noch einmal zu mir um und lächelte mir zu.
„Komm schon, wir müssen rein!“, rief sie mir zu.
Ich sah zuerst zu ihr und drehte mich dann zur Windel, die vor mir auf dem Boden lag. Besser sollte ich mich jetzt schnell entscheiden, wenn ich nicht zu spät kommen wollte. Ich schloss die Augen und dachte nach.
Schließlich schnappte ich mir die Windel, zog meine Hose und meine Boxershorts herunter und zog die weiche Pampers an. Schnell zog ich meine Jeans wieder darüber und machte mich auf zum Klassenraum.
…
3.) Eine Woche in einer anderen Welt
Schon seit ungefähr einem halben Jahr wohnte meine Stiefschwester Zoey in Köln, um dort zu studieren, doch die Zeit erschien mir sehr viel länger als nur sechs Monate. Wir hatten uns immer gut verstanden, hatten jedoch nie ein sehr enges Verhältnis gehabt. Doch jetzt wo sie nicht mehr mit beim Mittagessen saß, wenn ich von der Schule nach Hause kam, fehlte sie mir. Sie schien viel mit ihrem Studium zu tun zu haben und hatte nie wirklich Zeit mit uns Telefonate zu führen oder eine gelegentliche Nachricht zu schreiben.
Umso überraschter war ich, als meine Eltern beim Abendessen begannen über ihre Ferienpläne zu reden.
„Hör mal, Schatz“, begann meine Mutter, „Es ist nicht mehr lange bis zu den Herbstferien.“
„Zum Glück!“, unterbrach ich sie scherzend. Sie schmunzelte.
„Also“, fuhr sie fort, „Dein Vater und ich hatten uns die Ferien etwas anders als sonst vorgestellt. Eigentlich fahren wir drei ja immer zu dritt in den Urlaub, aber du bist schließlich auch schon ein halber Erwachsener und willst bestimmt mal deine eigenen Pläne in den Ferien in die Tat umsetzen, deshalb…“
Um dem Roman, der gerade druckreif aus dem Mund meiner Mutter gequollen kam, ein Ende zu setzen, fragte ich: „Was willst du mir sagen, Mama?“
„Nun ja, wir dachten daran, dass wir zu zweit Urlaub machen und du vielleicht die Ferien bei Zoey verbringst“, erklärte sie, „Weil wir nicht wollen, dass du zwei Wochen lang alleine bist.“
Ich war positiv überrascht. Normalerweise wäre ich dagegen bei jemand anderem die gesamten Ferien zu verbringen, aber bei Zoey würde ich gerne in den Herbstferien bleiben. Einerseits hatte ich sie eine Ewigkeit lange nicht mehr gesehen und andererseits hatte ich sie nie für ganz unattraktiv gehalten.
„Hat sie denn schon zugesagt?“, erkundigte ich mich, bevor ich mich zu früh freute.
„Ich habe sie vorhin angerufen“, erklärte mein Vater mit dem Mund voller Kartoffelbrei, „Sie sagt, sie muss ein paar Sachen fürs Studium erledigen, aber ansonsten passt sie gerne auf dich auf.“
Als wäre es nahezu unbedeutend, nickte ich, doch innerlich zog sich ein breites Grinsen über mein Gesicht. Ganze zwei Wochen würde ich bei Zoey verbringen, nur wir zwei. Besser hätte es nicht kommen können.
Am Freitag Abend vor den Ferien packte ich alles was ich brauchte in meinen schwarzen Koffer. Klamotten, Zahnbürste und Sonstiges. Mir fiel erst zu spät auf, dass ich wohl besser einen größeren Koffer hätte nehmen sollen. Doch mir fehlte der innere Antrieb, den gesamten Inhalt des Koffers noch einmal auszuräumen. Ich schaffte es schließlich doch, den Deckel des mit Mühe zuzudrücken.
Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich stellte den Wecker auf meinem Nachttisch auf 7:30 Uhr, machte das Licht aus und schloss meine Augen.
Anders als erwartet, weckten mich die ersten Lichtstrahlen des Sonnenaufgangs anstatt der laute Ton des Weckers. Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit. Es war 7:03.
Da ein wenig zeitlicher Spielraum wohl nicht schaden würde, machte ich mich auf den Weg zur Dusche. Ich schaltete das Radio im Bad ein.
„-eher kältere Temperaturen mit bis zu 5 Grad“, begann der Moderator die Wettervorhersage vorzulesen. Ich sollte also besser meine Winterjacke mitnehmen, um mich gegen den scheinbar frühzeitigen Winter zu rüsten.
Abgetrocknet schlüpfte ich in meine Jeans und in meinen grauen Pullover, bevor ich ins Wohnzimmer ging. Meine Eltern waren schon lange abgereist, ihr Flug war um 5:45 gewesen.
Ich sammelte mir aus allen Schränken und Schubladen der Küche ein Frühstück zusammen. Mit meinen doch sehr limitierten Erfahrung was die Kochkunst angeht, machte ich mir ein Spiegelei, dass ich von beiden Seiten anbriet. Dazu rührte ich mir mit den Überresten der Cornflakes aus der Vorratskammer und Jogurt ein Müsli. Ich genoss mein Frühstück, ich hatte ja schließlich alle Zeit der Welt.
Die Uhr zeigte genau 8 Uhr, als ich meine Winterjacke anzog, meinen Rucksack schnappte und mich mit meinem Rollkoffer auf den Weg zum Bahnhof machte. Es waren nur einige hundert Meter, die ich laufen musste, also setzte ich mir Kopfhörer auf und hörte etwas Musik, während ich durch die leeren Straßen lief. Ich schien heute die einzige Person mit Plänen in dieser Stadt zu sein. Zum Glück hatte ich auf den Wetterbericht gehört, sonst wäre ich wahrscheinlich als Eisklotz an der Bahnstation angekommen.
Der ICE fuhr früher ein als angekündigt, also hielt sich meine Wartezeit im tolerablen Bereich. Alles lief genau so, wie ich es mir am Vorabend ausgemalt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis ich meinen Platz gefunden hatte. Scheinbar war Köln gerade nicht das beliebteste Reiseziel, denn nur ungefähr jeder zehnte Platz war besetzt. Auch die Sitze in meiner Reihe waren leer, also setzte ich mich ans Fenster. Für einen Sitzplatz mit schöner Aussicht nahm ich gerne ich Kauf, vielleicht von später hinzusteigenden Leuten von meinem Platz verscheucht zu werden.
Es waren noch ganze 8 Minuten bis zur Abfahrt, die ich noch herumsitzen musste. Schon nach weniger als einer Minute übernahm die Langeweile meine Gedanken. Ich sah mich um und musterte die wenigen Leute, die im Zug saßen. Ich fragte mich, was ihr Grund war, diesen Zug zu nehmen. Besuchten sie eine entfernte Verwandte? Fuhren sie regular zu ihrem Arbeitsplatz?
Ich konnte nur raten. So gerne ich es auch gewusst hätte, aus ihren Gesichtern ließ es sich nicht ablesen. Ich wusste nicht, wer diese Personen waren, jedoch galt das auch andersherum. Niemand wusste, dass ich zu meiner Stiefschwester Zoey fahren würde, um dort die Ferien zu verbringen. Diese Namenlosigkeit löste in mir ein wohliges Gefühl der Sicherheit aus.
Der Zug setzte sich endlich in Bewegung und erwachte zum leben. Mit der wärmenden Decke der Anonymität schaute ich aus dem Fenster und sah, wie der Zug den Bahnhof verließ.
Meiner Meinung nach hätte die Fahrt für immer weitergehen können. Es entspannte mich, die verschiedenen Landschaften zu betrachten, im Wissen, die nächsten zwei Wochen Ferien zu haben. Doch schneller als erwartet wurde als nächster Halt Köln angekündigt. Ich setzte mir meinen Rucksack auf und nahm den Griff meines Koffers in die rechte Hand und machte mich, während der Zug zum Stillstand kam, auf den Weg zum Ausgang.
Im starken Kontrast zum beinahe leeren Zug waren die Menschenmassen am Bahnhof kaum ertragbar. Es war schwierig, aus dem Überfluss aus visuellen und auditiven Informationen die entscheidenden herauszufinden. Jeder in der Menge verfolgte nur sein eigenes Ziel, ohne Rücksicht auf den anderen zu nehmen. Als ich endlich die letzte Rolltreppe nach oben nahm, fühlte ich mich wie von einem Monster ausgespuckt. Ich war nunmal nicht an das Leben in der Großstadt gewöhnt, ich kannte aus meiner Heimatstadt nur ruhige Gassen und nette Geschäfte. Mit der Navigation in einer so großen Stadt würde ich mich auch noch vertraut machen müssen, doch fürs Erste war Google Maps das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte. Ich durchsuchte den Nachrichtenverlauf zwischen Zoey und mir. Da stand es: Gerberstraße 21
Ich tippte die Adresse ein und machte mich mit dem Blick auf die Karte auf den Weg.
Ich konnte den Sehenswürdigkeiten und hohen Gebäuden kaum Aufmerksamkeit schenken, denn jeder kurzes Aufblicken vom Bildschirm kostete mich meistens, einmal falsch abzubiegen. Schon auf der Hälfte der Strecke war mir klar, dass das die wohl längsten sechs Kilometer meines Lebens sein würde. Das mir unvertraute Wirrwarr aus Straßen, Wegen und Gassen schien immer weiter zu wachsen, während ich lief, bis ich endlich das Straßenschild gefunden hatte.
Ich las die Hausnummern, während ich langsam den Bürgersteig entlangging.
13, 15, 17, … 21.
Entgegen meiner Erwartungen lag eine kleine Bäckerei vor mir. Nur bei genauerem Hinsehen konnte man die beinahe versteckte Holztür sehen. Daneben waren zwei Klingelschilder. Das eine war bereits vergilbt und hatte mit Sicherheit viele Regengüsse miterlebt. Das andere hingegen sah einladend und neu aus.
Ich klingelte. Nach einigen Sekunden kam es durch die Sprechanlage: „Feltmann.“
„Hallo, ich bin’s, Conrad“, sagte ich.
„Ah, komm rein“, sagte Zoey einladend.
Das Schloss summte laut und die Tür sprang auf. Ich zog meinen Koffer mit hinein, der durch den engen Flur sehr sperrig wurde. Die knarzenden Treppenstufen kam Zoey nach unten gestürmt. Sie hatte sich ein ganzes Stück verändert, seitdem sie ausgezogen war. Ihre gelockten braunen Haare, waren jetzt nur noch Schulterlang. Sie trug einen weiten Strickpullover aus dunkelroter ausfransender Wolle. Ihre weite Hose konnte man fast für den Bestandteil eines Pyjamas halten. Sie war aus dünnem Stoff hergestellt und mit bunten Mustern verziert. Ich hatte sie nicht einmal zu Hause in solchen Klamotten gesehen.
„Hey, wie gehts?“, begrüßte sie mich und umarmte mich mit ihrem kratzigen Pulli, „Alles gut gelaufen auf der Fahrt?“
„Jaja, mir gehts gut“, gab ich zurück, „Sind ja schließlich Ferien.“
Zoey lachte.
„Komm“, sagte sie, „Ich helfe dir schnell.“
Ohne mir Zeit zum Antworten zu geben, schnappte sie mein Gepäck und hievte es die Holztreppe herauf. Ich ging ihr hinterher. Sie stieß die Tür zu ihrer Wohnung auf.
„Willkommen in meinem Reich“, sagte sie beinahe klischeehaft. Ich sah mich erstaunt um. Wir standen im Wohnzimmer, in dem aber neben einem Esstisch mit zwei Stühlen auch eine gemütliche Ecke mit Sofas, Sitzsäcken und eine Stehlampe untergebracht waren. Es war deutlich, dass nicht auf ein bestimmtes Farbschema geachtet wurde, sondern Zoey alles in ihr zu Hause aufgenommen hatte, was sich anbot. Der gesamte Raum war riesig und erinnerte eher an ein Atelier, als an eine Studentenwohnung. Geschuldet war die wahrscheinlich den Backsteinmauern und großen Fenstern, die sich in der Ecke hinter den Sofas von einem halben Meter über dem Boden bis unter die Decke erstreckten. So hatte man einen guten Blick auf die Kreuzung, an der das Gebäude lag. Es wunderte mich, dass Zoey so eine gute Wohnung hier in Köln erwischt hatte. Als hätte ich gefragt, erklärte sie: „Ich arbeite unten drunter in der Bäckerei, zwar fällt mein Gehalt etwas knapper aus, aber dafür muss ich mich nicht um die Miete kümmern. Cool, nicht wahr?“
„Allerdings“, sagte ich.
„Eigentlich ist es hier nie so ordentlich“, gestand sie während sie sich, die Hände in die Seiten gestemmt, im Raum umsah, „Ich habe nur für dich aufgeräumt.“
Ich schmunzelte.
„Die Mühe hättest du dir gar nicht machen müssen“, erklärte ich, „Bei mir sieht es auch nicht gerade so vorbildlich aus.“
„Keine Sorge“, gab Zoey zurück, „In spätestens drei Tagen ist hier wieder alles beim Alten.“
„Na dann…“, sagte ich.
„Komm, ich zeig dir mal das Zimmer.“
„Bekomme ich ein eigenes Zimmer?“, fragte ich erstaunt.
„Nicht ganz“, erklärte sie, „Ich wollte dich nicht dazu zwingen auf der harten Couch zu schlafen, also kannst du mit mir im Bett schlafen, wenn es dir nichts ausmacht. Platz genug ist auf jeden Fall.“
„Ja, danke, kein Problem“, antwortete ich mit einer Spur der Nervosität in meiner Stimme.
„Ok, dann ist ja gut“, sagte sie. Sie zögerte kurz.
„Oh, mir fällt gerade ein, ich muss noch eine Freundin anrufen“, wechselte sie das Thema.
„Oh, in Ordnung“, sagte ich, „Ich lege mich mal aufs Sofa, dann kannst du hier telefonieren.“
Ich schloss hinter mir die Tür und ging über den knarzenden Holzboden zur Sitzecke.
Ich ließ mich auf die Couch fallen, die statt nachzugeben laut aufquietschte. Zoey hatte absolut Recht, es war wahrscheinlich unmöglich auf einem so unbequemen Schlafplatz die Augen zuzumachen.
Die bunten Kissen, gegen die ich mich lehnte, waren zwar ein wenig staubig, aber relativ weich. Ich schnappte mir eine der Zeitschriften, die zerknickt zwischen anderen Magazinen auf dem Glastisch vor dem Sofa lag.
Die Themen waren nicht ungewöhnlich und fast alle ereignislos, auch wenn das Blatt mit allen Mitteln versuchte, es anders darzustellen. Während ich Zoey dumpf im Nebenzimmer telefonieren hörte, blätterte ich gelangweilt durch die dünnen und bereits verknitterten Seiten, überflog die meisten Artikel nur, bis eine Überschrift meine Aufmerksamkeit erregte. Der Zeitung entsprechend, wirkte der Titel nicht außerordentlich seriös, dennoch weckte dieser mein Interesse.
„Gewickelt modisch unterwegs: Werden Windeln zum neuen Modetrend?“
Was für ein aufgeblasener Schwachsinn, dachte ich mir sofort. Doch aus irgendeinem Grund laß ich weiter.
„Windeln soll nicht länger Kleinkindern und Menschen mit Inkontinenz vorenthalten sein, so lautet das Motto der Modekette „Wathos“.
Ich könnte hören, wie Zoey sich am Telefon verabschiedete. Ohne viel nachzudenken riss ich den Artikel aus der Zeitung heraus und knäulte ihn in meine Hosentasche. Zoey kam wieder aus dem Zimmer. Sichtbar nachdenkend ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Ich müsste ein paar Sachen besorgen und eine Freundin von mir würde mitkommen“, erklärte sie, „Willst du hier bleiben oder auch mitkommen?“
Die Langeweile hatte mich heute schon genug geplagt, es war jetzt bestimmt genau das Richtige, etwas zu tun und nicht nur rumzusitzen.
„Klar, gerne“, sagte ich.
„Nimm am besten ein bisschen Geld mit, vielleicht willst du ja auch was kaufen“, sagte sie.
Ich tippte auf meine Hosentasche.
„Habe ich schon“, sagte ich kurz.
„Gut, dann los“, sagte sie und zog schon ihre dicke Felljacke und ihre Winterstiefel an und war schon beinahe auf dem Weg nach unten.
„Warte“, sagte ich, „Läuft das jetzt auf das Besorgen von ein paar Sachen oder auf eine Shoppingtour hinaus?“
Während Zoey schon die Treppen hinunterlief drehte sie sich zu mir um.
„Beides.“
Nachdem wir Sophie am vereinbarten Ort gefunden hatten und wir uns einander vorgestellt hatten, machten wir uns auf den Weg.
In der Mittagszeit war die Stadt noch voller als der Bahnhof. Die Menschenmassen bewegten sich wie durch Honig in zwei Richtungen die Straßen entlang und wir hatten keine andere Wahl als Teil dieser Menge zu sein. Wollte man in die andere Richtung, musste man die Straßenseite wechseln, um in den entgegenlaufenden Strom zu gelangen. Zoey zeigte sich trotz der vielen Menschen ziemlich fröhlich und uns gegenüber extrovertiert. Ich hatte sie früher immer als eine ruhige und zurückhaltende Person in Erinnerung. Wer weiß, vielleicht hatte sie ihre Unsicherheiten im Geiste der Großstadt besiegt, vielleicht täuschten mich meine Erinnerungen.
Durch welche Märkte oder Feste dieser Trubel an Menschen auch angelockt wurde, wir mussten unfreiwillig daran teilnehmen. Nur in den Läden hatte man das Gefühl wieder richtig atmen zu können. So wurden wir von der Menge die Straßen entlang geschoben und bogen ab und zu in eines der Geschäfte ab.
Als Sophie den Vorschlag machte, in einen Klamottenladen abzubiegen, wusste ich bereits, was auf mich zukam. Mit offenen Mündern liefen die beiden durch das Geschäft, schnappten sich verschiedene Röcke und Kleider, zeigten diese einander und mussten meist nach einem Blick auf das Preisschild suchen, wo sie es hergenommen hatten.
Doch nach einiger Zeit hielten beide einen Stapel von anzuprobierenden Klamotten unterm Arm. Sophie verschwand in einer der Umkleidekabinen, derweil Zoey sich noch weiter durch die Haufen an Blusen und Jacken wühlte. Wahrscheinlich würde ich mein Geld nicht in diesem Laden lassen, aber dennoch nahm ich mir eine Jeans mit in eine Umkleidekabine, um sie anzuprobieren. Während ich ungeschickt versuchte, mich in die Hose zu quetschen bemerkte ich etwas. Die Wand zur Kabine neben mir war nicht richtig festgeschraubt worden, weshalb eine feiner Spalt zwischen den Brettern entstand. Ich warf einen Blick hindurch und sah Sophie. Nur mit Unterwäsche bekleidet hielt sie sich vor dem Spiegel ein blaues Kleid mit aufgestickten Blumen an. Ich war wie gebannt. Ihre Figur war sehr schlank, beinahe dünn, aber auf keine ungesund aussehende Weise. Ihre Brüste waren relativ flach, aber es passte sehr gut zu ihrem restlichen Erscheinen. Ich riss meinen Blick los.
Mir kam ein Gedanke. Aus der Tasche meiner Jeans, die am Haken der hölzernen Wand hing, kramte ich den zusammengeknüllten Zettel heraus und versuchte ihn mit wenig Erfolg an einem Brett glatt zu streichen. Lesbar war er zumindest. Ich schloss an die Stelle des Textes an, bei der ich aufgehört hatte.
„Wir haben der Geschäftsführerin Anna Guns unsere brennenden Fragen zu ihrer revolutionären Idee gestellt.
Interviewer: Wie stellen Sie sich das genau vor, ist das Ganze ein erotischer Kick oder steckt wirklich ein Zweck dahinter?
Anna: Nein, es soll tatsächlich Menschen den Alltag erleichtern. Denken sie doch einmal daran, wie lange jeder täglich auf der Toilette verschwendet.
Interviewer: Da haben Sie Recht, aber wie wollen Sie Erwachsene dazu motivieren, Windeln zu tragen?
Anna: So wie jeder Modetrend, muss einfach nur irgendjemand beginnen und sobald der Funken übergesprungen ist, will plötzlich jeder Windeln tragen.
Interviewer: Aber jeder Modetrend hat doch auch ein Ende, befürchten Sie denn nicht das Gleiche für Ihre Produkte?
Anna: Ganz so einfach ist das nicht. Ich möchte nicht nur einen neuen Trend starten, sondern die Gesellschaft in dieser Hinsicht verändern.
Interviewer: Sie sind also eine richtige Pionierin.
Anna: Ja, das könnte man so sagen.
Interviewer: Wie wollen sie es denn anstellen, dass Leute langfristig Windeln tragen?
Anna: Dazu haben wir die sogenannten Starterwindeln entwickelt. Unsere besten Leute arbeiten schon lange an dem Produkt, aber um die Funktion kurz zu fassen: Wenn ein Käufer eine der Windeln nachts anzieht, wird während des Schlafens ein kleiner Vibrationsmotor aktiviert, der dem Körper durch sexuelle Stimulation signalisiert, dass die Windel etwas Positives ist. So lässt sich im Gehirn des Nutzers sozusagen einprogrammieren, dass sie die Windel brauchen und mögen.
Interviewer: Führt das anschließen bei der Person also zu Inkontinenz?
Anna: Genau. Aber nicht nur das, sondern der Kunde selbst wird weiterhin von sich aus Windeln tragen wollen.
Interviewer: Fürchten Sie nicht, dass Nutzer Ihres Produktes von anderen ausgeschlossen werden könnten?
Anna: Ich bin mir sicher, dass, sobald es die neue Norm ist, es ganz normal ist, Windeln zu tragen.
Interviewer: Ab wann sind Ihre Produkte denn erhältlich?
Anna: Wir testen schon längere Zeit unsere Artikel an bezahlten Testern und in ein paar Tagen werden unsere Produkte auch in beinahe allen Drogerien erhältlich sein.
Interviewer: Dann wünsche ich Ihnen viel Glück mit ihrer Produktreihe und bedanke mich herzlich für Ihre Zeit.
Anna: Ich bedanke mich ebenfalls.“
Ich war zugleich verwundert und verwirrt. Umso mehr ich nachdachte, desto mehr fühlten sich meine Gedanken genauso wie die Masse in den Straßen an.
Gedrosselt, schleichend, kraftlos.
Mein Gehirn begann alle möglichen Fragen zu formulieren, die alle mit den gleichen Wörtern begannen, doch sofort wieder von der nächsten Phrase verdrängt wurden, bevor ich darüber nachdenken konnte.
„Kommst du?“, hörte ich dumpf, beinahe von meinen Gedanken übertönt. Ich schreckte auf.
„J-ja, ich komme“, gab ich zurück. Ich zog meine Hose wieder an und stopfte den Artikel schnell wieder in meine Tasche. Die Jeans hängte ich wieder an ihren Platz zurück und nachdem Zoey und Sophie gezahlt hatten, verließen wir den Laden und verschmolzen wieder mit der Menge.
Derweil wir uns mit kleinen Schritten durch die Menge bewegten, kreisten immer noch die gleichen Gedanken in meinem Kopf herum. Ich musste mich konzentrieren, dass nicht in meinen Gedanken versank und die vielen Menschen und Eindrücke um mich herum in ein Gemisch aus Farben verschmolzen. Trotzdem gelang es mir, langsam einen Gedanken nach dem anderen zu fassen.
Es war zwar unwahrscheinlich, aber wenn die Produkte von Wathos erfolgreich sein sollten und jeder künftig Windeln tragen würde, würde dies eine immense Kontrolle über den Kunden bedeuten. Bereits viele Unternehmen sind mit Suchtmitteln reich geworden, auch wenn sich viele ihrer eigenen Abhängigkeit klar bewusst sind und sich von dieser lösen wollen. Würde genau dieser Faktor fehlen, dass aktiv versucht wird, gegen die Sucht vorzugehen, stünde dem Aufstieg eines Modetrends zur Gesellschaftsnorm nichts mehr im Wege. Alle würden Windeln tragen, weil sie es einerseits durch ihre Inkontinenz müssten, es aber auch von sich heraus wollten. Niemand würde Kritik äußern und niemand würde sich gegen die Änderung wehren. Mit einem Monopol in einer solchen Stellung wäre Geld eventuell gar nicht das größte Ziel, sondern die Macht.
Zoey machte am Abend Nudelauflauf für uns zwei. Sie war eine wirklich gute Köchin.
Wir saßen am Holztisch im Wohnzimmer, das nicht von einer Deckenlampe sondern von vielen Stehlampen und bunten Lichterketten beleuchtet wurde. Draußen war es bereits dunkel. Es fühlte sich fast wie am Heiligabend an. Immer noch dachte ich ab und zu an den Zeitungsartikel, während ich mit Zoey zusammen die Nudeln ungeschickt in mich hinein schaufelte. Ich war mir nicht sicher, ob ich mir Gedanken machen sollte. Was könnte ich denn schon ausrichten? Sollte ich einfach alles seinen Lauf nehmen lassen, egal ob das Unternehmen Erfolg hat oder nicht? Sollte ich Zoey davon erzählen?
Es würde wahrscheinlich am besten sein, die Sache für mich zu behalten und abzuwarten. Vielleicht war meine Reaktion völlig übertrieben gewesen und es würde nichts passieren.
Nachdem wir gegessen und abgeräumt hatten, beschäftigten wir uns noch abwechselnd mit Kartenspielen und Fernsehen, bevor wir schlafen gehen wollten.
Im Bad kramte ich alles aus meinem Kulturbeutel heraus und verteilte es vor dem Spiegel. Ich putzte mir die Zähne, wusch mit das Gesicht und zog meine Schlafklamotten an. Bereit fürs Bett legte ich mich schon einmal unter die Bettdecke und machte es mir bequem. Derweil machte sich Zoey im Bad fertig.
Das Bett war zwar nicht klein, aber auch kein Doppelbett, wir würden also ziemlich nahe beieinander schlafen. Zoey war ohne Zweifel sehr hübsch, weshalb ich mich einerseits freute neben ihr zu schlafen, andererseits machte es mich ein wenig nervös.
Scheinbar brauchte sie noch etwas länger, um sich bettfein zu machen, also schnappte ich mir ein Buch aus meinem Koffer und laß ein paar Seiten. In dem Moment, als ich das Kapitel fertig gelesen hatte, hörte ich, wie Zoey das Licht im Bad ausschaltete. Als sie das Zimmer betrat, viel mir beinahe das Buch aus der Hand. Meine Gedanken von vorhin flogen wieder kreuz und quer durch meinen Kopf. Die Sorgen, die ich hatte, überschnitten sich plötzlich mit der Realität. Denn das, was Zoey dort trug, war keine Unterhose. Auf der Windel erkannte ich sofort das blaue Logo aus dem Zeitungsartikel.
Ich dachte nach, aber meine Gedanken waren zu schnell, als dass ich eine rationale Entscheidung hätte treffen können.
Hätte ich besser denken können, hätte ich vielleicht eine bessere Lösung gefunden, als einfach nur zu schweigen. Ich schämte mich dafür, so einfallslos zu sein. Vielleicht trug sie heute zum ersten Mal eine Windel und ich könnte verhindern, dass sie dauerhaft Windeln benutzte. Ich überlegte und kam zu einem Schluss.
Wahrscheinlich war es für sie keine Neuheit, Windeln zu tragen, sonst würde sie wohl nicht direkt vor meiner Nase mit diesen herumlaufen. Obwohl dies eine eher beunruhigende Vorstellung war, war ich froh, dass keine Verantwortung auf mir lastete, sie davon abzuhalten.
Sie legte sich neben mich ins Bett.
„Ich gehe schon mal schlafen“, sagte sie müde, „Du kannst ja noch ein wenig lesen.“
„Ja…klar“, sagte ich, immer noch überfordert mit der Situation, „Ich gehe jetzt besser auch schlafen.“
„Okay“, murmelte sie, die Augen schon geschlossen und ihr Kissen umarmend.
Ich legte das Lesezeichen einige Seiten weiter hinten als vorher zwischen die Blätter und schaltete das letzte Licht im Raum aus.
Die Decke war zwar nicht besonders dick, aber ich wickelte mich so gut wie möglich darin ein und suchte eine gemütliche Position zu finden. Ich legte mich auf die Seite und lauschte der Stille. Ab und zu meinte ich, in der Ferne ein Auto zu hören, doch es war so leise, dass ich mir im nächsten Moment schon nicht mehr sicher war, ob ich tatsächlich etwas vernommen hatte. Ich merkte bereits die ersten Fäden von beginnenden Träumen, die langsam in meinem Gedanken zu wachsen begannen und schlief ein.
Es war noch ziemlich früh, als ich meine Augen wieder öffnete. Es konnte höchstens 8 Uhr sein. Ich beschloss, noch ein wenig weiterzuschlafen, als ich merkte, wie Zoey sich von hinten an mich drückte. Ich zuckte ein wenig zusammen. Ich konnte ihre Brüste an meinem Rücken spüren.
„Kein Grund dich zu erschrecken“, sagte Zoey ruhig, „Ist ja mit Sicherheit nicht das erste Mal, dass du von meiner Weiblichkeit mitbekommst.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Noch nie hatte ich sie so sagen gehört.
„Aber, Zoey“, versuchte ich mich zu artikulieren.
„Warum bist du denn so nervös?“, wollte sie wissen, „Ist es etwa wegen meiner Windel?“
Ich schwieg.
Sie ließ ihre warme Hand meinen Rücken hinunter sanft bis zu meinen Beinen gleiten. Ein leichtes Zucken ging durch meinen Körper, als sie über meine Unterhose strich und sanft und spielerisch zupackte.
„Abgesehen von deinem Pimmel ist es da unten ja ganz schön leer“, hauchte Zoey mir ins Ohr, „Sicher, dass du nicht auch mal eine Windel anziehen willst?“
Ihre Hand in meinem Schritt spielte an meinen Hoden. Ich nahm ihre Hand und legte sie beiseite.
„Was ist denn?“, fragte sie, „Ich bin nicht einmal deine echte Schwester, das ist nichts Verbotenes wenn wir das machen.“
Ich brachte kein Wort zustande. Zoey wirkte wie ausgetauscht. Sie verhielt sich ganz anders als sonst, nicht so wie die echte Zoey. Es war, als hätte jemand ihr Gehirn umprogrammiert…
Bei diesen Gedanken fiel bei mir der Groschen. Die Windel hatte Zoey nicht nur dazu gebracht, sie zu mögen und zu brauchen, sondern hatte nebenbei noch ihren Charakter beeinflusst und verändert.
Mir wurde ganz plötzlich heiß.
Das ist nicht Zoey.
Ich riss die Decke von mir, sprang aus dem Bett, riss beinahe die Lampe vom Nachttisch und stolperte blindlings aus dem Zimmer. Zoeys Rufen wurde immer dumpfer, alles um mich herum schien sich zu drehen, Stimmen in meinem Kopf und Realität verschmolzen.
Das ist nicht Zoey.
Paranoid vor meinen eigenen Gedanken sah ich mich panisch um.
Das ist nicht Zoey.
Wie warmes Wachs tropften die Farben meiner Umgebung nach unten. Die bunten Tropfen mischten sich zusammen zu einem tiefen, alles umgebendes Schwarz.
…
Autor: Anonym (eingesandt via E-Mail)
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Hammer geil!!
Wieso muss ich mich für eins entscheiden?
Alle drei sind richtig toll geschrieben.
Vielen Dank für das positive Feedback. Wie gesagt werde ich eine der Geschichten zuerst fertigstellen, die anderen sind aber wahrscheinlich auch früher oder später an der Reihe. Würde mich sehr interessieren, was dein Favorit ist.
LG Daric
Das mit dem Jahr 2057 lass lieber sein, solche Geschichten enden meistens nicht und wirken realitätsfern. Persönlich würde mich interessieren wie es mit Jay weitergeht.
Danke für das Feedback, ich hatte für die Geschichte in 2057 schon einen Plot geplant, mit dem ich ziemlich zufrieden bin, wobei aber Windeln eher nicht im Mittelpunkt stehen. Mit deiner Vermutung, dass die Geschichte ziemlich lang würde, liegst du wahrscheinlich auch richtig. 🙂
LG Daric
Also alle 3 sind nicht schlecht. Die Geschichte von Jay ist interessant aber am meisten interessiert es mich wie es mit Conrad und Zoey weiter geht. So eine Schwester hätte ich auch gern. Hoffe sie kann ihm überzeugen und vielleicht mischt die Freundin Sophie auch noch mit. Bin total gespannt wie es weiter geht.
Mich würde es am meisten interessieren wie es mit Zoey und Conrad weitergeht.
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