Ein Haus voller Jungs (3)
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Kapitel 3 – Der Neue
* * *
Wir sahen Papa verwundert an – er wirkte, als fände er keine Worte, aber ihm lag etwas auf dem Herzen.
„Ich hab jemanden kennengelernt,“ brachte er nach einer kurzen Pause hervor.
Es fühlte sich an, als würde die Zeit stehen bleiben. Mein Blick wanderte instinktiv zu Sammy, dem die Farbe aus dem Gesicht wich. Er starrte Papa einige Sekunden lang entgeistert an, dann sprang er auf und lief in sein Zimmer.
Papa seufzte.
„Das hatte ich befürchtet. Alles okay, Großer?“
Ich nickte.
„Gib mir ein paar Minuten,“ sagte ich und folgte meinem Bruder. Die Tür hatte er verschlossen, aber ich konnte ihn schluchzen hören. Ich klopfte vorsichtig gegen die Tür.
„Sammy, ich bins.“
„Komm rein,“ wimmerte mein Bruder durch die Tür. Er lag auf seinem Bett, mit dem Gesicht in seinem Kopfkissen. Ich setzte mich neben ihm aufs Bett und kraulte ihm den Rücken. Sammy ließ das kurz über sich ergehen, dann drehte er sich zu mir und drückte sein Gesicht in meine Brust.
„Du hast Angst, oder?“
Sammy nickte. Angst war in unseren Leben immer ein ständiger Begleiter gewesen, auch in den letzten Jahren, wo eigentlich alles toll für uns lief. Angst, dass sich alles ändern würde, das wir wieder verlassen würden. Natürlich wussten wir beide, dass wir diese Angst nicht haben mussten, aber Angst ist leider nicht immer vernünftig.
Ich nahm Sammy in den Arm und wuselte ihm langsam durch die Haare. Langsam beruhigte er sich, aber das konnte jeden Moment wieder umschlagen. Ich selbst musste auch kämpfen, um mir nicht zu viele Sorgen zu machen, aber als großer Bruder sah ich es immer als meine Aufgabe, Sammy zu schützen, egal, was es mich kostet.
Ein leises Klopfen am Türrahmen riss mich aus meinen Gedanken. Papa stand dort, und so offen unser Haushalt war, gerade in solchen Situationen legte er Wert darauf, nicht ohne Erlaubnis in unsere Zimmer zu kommen.
„Darf ich reinkommen?“
Ich nickte ihm zu. Streng genommen war es zwar Sammys Zimmer, aber die Entscheidung traf ich jetzt für ihn, damit wir uns seiner Angst gemeinsam stellen konnten. Papa setzte sich neben uns aufs Bett.
„Jungs, hört mal. Als Papa Simon so kurz, nachdem ihr zwei zu uns kamt, gestorben ist, hatte ich wirklich Bedenken, ob ich das packe. Ihr wart frisch aus eurer alten Familie raus, wart noch viel zu jung, um das alles richtig zu verstehen, und wir hatten alle drei unsere Päckchen zu tragen, eure unverhältnismäßig groß im Vergleich zu meinem. Aber ich habe mich entschieden, mich durchzubeißen und auf euch zu konzentrieren, damit ihr beide das Zuhause bekommt, das ihr von Anfang an verdient hattet. So kam es, dass ihr aus meinen Pflegesöhnen meine richtigen Söhne in allem außer Blut wurdet. Für Simon und mich als Paar wäre das zu dem Zeitpunkt noch praktisch unmöglich gewesen, aber nachdem er starb, hatte ich das Gefühl, dass es sein Wunsch gewesen wäre. Und ich glaube, wir drei haben viel geschafft, auch wenn es nicht immer einfach war. Ich bereue keine Sekunde davon. Dafür gebt ihr mir zu viel zurück, mehr als ihr ahnt.“
Er pausierte kurz. Sammy klammerte sich nach wie vor an mich.
„Nachdem ich Simon zu Grabe tragen musste, glaubte ich, nie wieder jemanden so lieben zu können wie ihn. Und ich hab auch nicht danach gesucht. Aber jetzt hat es sich einfach ergeben. Ich hätte es euch vielleicht früher sagen sollen, aber andererseits wollte ich euch nicht verunsichern, solange es noch nichts ernstes ist. Aber eins kann ich euch versprechen.“
Papa kam noch etwas näher.
„Ihr zwei seid mein ein und alles. Ihr zwei seid meine Jungs. Und ich gebe euch für nichts und niemanden her. Ich hab ihm gesagt, dass es uns nur um Dreierpaket gibt, und er sieht das auch so mit seinem Sohn, auch wenn er sich das Sorgerecht mit seiner Ex-Frau teilt.“
Ich legte einen meiner Arme um Papa, den anderen ließ ich auf Sammys Rücken.
„Du hast auch ein Recht darauf, wieder mit jemandem glücklich zu sein,“ sagte ich.
Papa lächelte.
„Das sind die Momente, in denen ich vergessen könnte, dass du erst vierzehn bist. Heißt dass, du gibts ihm eine Chance?“
Ich nickte.
„Um mehr bitte ich euch nicht. Was ist mit dir, Sammy?“
Ich drehte den Kopf etwas, aber Sammys Gesicht war immer noch verborgen.
„Er ist wirklich nett,“ fügte Papa hinzu. „Ich glaube, du wirst ihn mögen. Wenn ihr einverstanden seid, würde er uns morgen besuchen und ihr könnt ihn selbst kennenlernen. Und er hat einen Sohn in eurem Alter, aber den habe ich auch noch nicht kennengelernt.“
Sammy nickte vorsichtig.
„Ich will heute Nacht bei dir schlafen,“ sagte er.
„Darfst du,“ antwortete Papa. „Was ist mit dir, Luki?“
Ich schüttelte den Kopf. So gerne ich das auch hatte, Sammy hatte es deutlich nötiger, und ich fand, er brauchte Papa ein wenig für sich.
„OK, dann kommst du ins Kinderbett.“
Dazu sagte ich nicht nein. Nicht, dass ich eine Wahl hatte. Also, Papa würde uns nie zu irgendwas zwingen, aber wir hatten eine Art Verständnis entwickelt, und wenn er sagte, ich schlafe im Kinderbett, dann tat ich das auch, denn wenn er es sagte, war es das Beste für mich. Ich neigte als großer Bruder dazu, mich selbst zurückzustellen, und deshalb hatte Papa ein besonderes Auge auf mich, damit ich mich nicht selbst vernachlässige. Wir standen vorsichtig auf und gingen ins Zimmer, Sammy nach wie vor in meinem Arm. Dort angekommen löste er sich von mir und legte sich auf den Wickeltisch. Angesichts der Umstände war es erst recht nicht überraschend, dass seine Windel nass war. Während Papa sich um ihn kümmerte, holte ich Bodys für uns beide aus dem Schrank und zog meinen schon mal an. Als ich fertig war, verschloss Papa gerade Sammys neue Windel. Sammy setzte sich auf, ich reichte ihm den Body und er zog ihn sich über den Kopf. Papa verschloss ihn und clippte seine Schnullerkette daran fest. Dann machte Sammy mir Platz und Papa wiederholte die Wickelprozedur bei mir, bevor ich auch meine Schnullerkette bekam. Papa führte mich zum Kinderbett, steckte mir den Schnuller in den Mund und deckte mich zu.
„Schlaf gut, Großer. Wenn’s doch nicht alleine geht, kommst du einfach rüber,“ sagte er und küsste mich auf die Stirn. Ich nickte, er schaltete das Babyfon an und verließ das Zimmer mit Sammy an der Hand.
Dass Papa einen neuen Freund hatte, war wohl kaum ein Weltuntergang. Und trotzdem wirbelten die Fragen durch meinen Kopf. Was, wenn ich ihn nicht mochte? Oder Sammy? Wusste er von unseren Macken? Und wenn ja, würde er damit klar kommen? Ich wollte auf keinen Fall, dass die Beziehung am Ende daran scheitert. Dann hätte es wieder an uns gelegen.
Natürlich war das Quatsch. Es hatte nie an uns gelegen. Wir hatten keine Schuld an dem, was uns früher passiert war. Aber daran musste ich mich, und auch Sammy, immer wieder erinnern.
Ich bin bei weitem nicht so Schnulleraffin wie mein Bruder, aber das waren die Momente, in denen ich ihn wirklich schätzte, denn er hielt mich davon ab, die ganze Nacht über die Wenns und Abers nachzudenken. Ich musste daran glauben, dass alles gut werden würde. Und wenn es hart auf hart käme, würde Papa sein Versprechen halten.
Das tat er immer.
* * *
„Ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann,“ sagte ich und musste dabei alles geben, um nicht gleich wieder in Tränen auszubrechen. „Die zwei waren doch schon vorher schwer traumatisiert, und jetzt, wo sie gerade dabei waren, sich an uns zu gewöhnen…“
Ich konnte nicht weiter, mein Hals schnürte sich völlig zu. Frau Schuster reichte mir ein Taschentuch und wartete geduldig, bis ich mich wieder gefasst hatte.
„Der Tod ihres Lebensgefährten wirft natürlich alle Beteiligten aus der Bahn,“ sagte sie. „Dafür müssen Sie sich nicht schuldig fühlen.“
„Natürlich, aber die zwei haben natürlich Angst. Und ich auch. Sie haben Angst, dass sie ins Heim müssen, oder schlimmer, wieder in ihre alte Familie. Und ich habe Angst, dass man sie mir wegnimmt, weil man meint, dass ich das alleine nicht leisten kann. Was nicht weit hergeholt wäre.“
„Wir haben es nicht eilig, Kinder aus Pflegefamilien zu holen und in Heimen unterzubringen. Selbst die besten Heime können keine Familie ersetzen.“
„Natürlich nicht, aber wenn ich das nicht schaffe, welche Wahl haben Sie dann?“
Frau Schuster pausierte kurz.
„Ich glaube, dass Sie dazu fähig sind. Die Frage ist, wollen Sie das schaffen?“
„Natürlich! Simon und ich haben uns nicht leichtfertig darauf eingelassen, Kinder in Pflege zu nehmen.“
„Dann unterschätzen sie sich nicht selbst. Sie haben ein gutes Einkommen, auch wenn sie jetzt alleinerziehend sind. Auch wenn sie sicher nicht wenig arbeiten, lässt die Natur ihres Berufs auch etwas Homeoffice zu. Und im Gegensatz zu vielen Eltern, mit denen ich zu tun habe, haben sie sich bewusst dafür entschieden, Väter zu werden.“
Da hatte sie Recht. Wir hatten sogar Wert auf eine Lebensversicherung gelegt, sodass im Todesfalle der überlebende Partner eine Rente bekommen würde, der finanzielle Teil war also weitgehend sicher.
„Das ist alles richtig, aber wie soll ich den beiden die Angst nehmen, mich wieder verlassen zu müssen?“
„Das können Sie nicht. Nicht, solange sie selbst diese Angst haben. Und wahrscheinlich wird es auch danach lange dauern, bis es zu den beiden durchgedrungen ist. Aber es gibt vielleicht eine Möglichkeit, Ihnen diese Angst zu nehmen.“
Ich sah Frau Schuster fragend an. Sie zog ein Formular hervor und schob es zu mir. Es war ein Adoptionsantrag.
„Wie Sie wissen, können homosexuelle Paare derzeit nicht adoptieren. Die einzige Ausnahme wäre eine Stiefkindadoption. Aber jetzt sind Sie eine Einzelperson. Eine, die in meinen Augen sowohl fähig als auch bereit ist, für diese zwei alles andere als einfachen Jungen ein liebevoller Vater zu sein.“
Ich sah das Formular ungläubig an. Es lag mir fern, dies als Glück im Unglück zu bezeichnen, immerhin war es nur durch den Tod meines Lebensgefährten möglich gewesen. Aber konnte es eine Art Zeichen sein?
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber eins wurde mir klar – Simon hätte es so gewollt.
„Ich bin bereit dazu,“ sagte ich.
„Sehr gut. Ich werde Sie nicht anlügen, es gibt keine Garantie, dass das klappt. Aber ich sehe gute Chancen, dass entweder das Gericht die Zustimmung der leiblichen Eltern ersetzt oder sie überzeugt werden, die beiden Jungen selbst zur Adoption freizugeben.“
„Wenn Sie glauben, dass es klappen kann, bin ich bereit, es zu versuchen.“
„Das freut mich. Aber seien sie sich darüber im Klaren, dass Luka und Sammy im Falle eines Erfolges Ihre Söhne werden, und Sie ihr Vater, mit allen dazugehörigen Rechten und Pflichten.“
Ich sah zu Boden – ich wollte diese Entscheidung nicht alleine treffen, aber ich war der Einzige, der sie treffen konnte. Ich dachte an Simon – was würde er tun? So, wie ich ihn kannte, wollte ich glauben, dass er das Risiko eingehen würde, wenn es den Jungs helfen würde. Ich sah zurück zu Frau Schuster.
„Leiten wir es in die Wege,“ sagte ich. „Sie bekommen von mir alle Unterlagen, die Sie benötigen.“
* * *
Papa hatte sich den Tag über alle Mühe gegeben, uns möglichst viele Sorgen bezüglich seines neuen Freundes zu nehmen, aber selbst nach all den Jahren lag besonders Sammy noch die Angst vor unvorhersehbaren Situationen im Blut. Mein Bruder hatte den ganzen Morgen lang an Papas sprichwörtlichem Rockzipfel gehangen. Ich selbst war bemüht, mich für Papa zu freuen – natürlich waren wir noch sehr jung gewesen, als Simon starb, und tatsächlich hatten wir nicht viel Zeit mit ihm verbringen können, aber mit der Zeit war mir klar geworden, wie schrecklich das für Papa gewesen sein musste. Was auch kam, ich würde ihm immer dankbar sein, dass er uns trotzdem großgezogen hatte.
„Eine Sache gibt es noch,“ sagte Papa plötzlich. „Das könnte es für euch einfacher machen, aber ich kann auch verstehen, wenn ihr es mir übel nehmt.“
Sammy sah Papa fragend an. Er hatte heute kaum gesprochen, deshalb beschloss ich, dass Reden zu übernehmen.
„Was denn?“
„Er weiß vom Zimmer. Und allem, was dazu gehört.“
Papa pausierte kurz, als würde er erwarten, dass erneut so eine heftige Reaktion wie letzte Nacht kommen würde.
„Ich weiß, es ist unser Geheimnis. Aber ich fand es ihm gegenüber nicht fair, etwas ernsteres eingehen zu wollen und ihm das gleichzeitig zu verschweigen. Und es heute, oder in Zukunft anzusprechen, wäre denke ich für alle Beteiligten komisch geworden. Also habe ich die Gelegenheit genutzt, als es sich ergab.“
Ich schluckte. Papas Gründe ergaben schon Sinn, aber ich konnte nicht abschätzen, was es bedeuten würde, wenn der Neue Bescheid wusste.
„Die gute Nachricht ist, ihn stört es nicht. Im Gegenteil, er interessiert sich sogar dafür, wie es euch geholfen hat. Vielleicht stellt er euch sogar ein paar Fragen dazu, aber ich denke mal, das wird er nur machen, wenn das Thema aufkommen würde.“
Sammy verbarg beschämt sein Gesicht in Papas Bauch.
„Habt ihr Angst?“ fragte Papa. Sammy nickte, ich selbst machte eine vage Handbewegung.
„Komm mal näher, Luka.“
Ich tat wie geheißen, Papa löste sich von Sammy und kniete sich hin, sodass wir alle drei auf Augenhöhe waren.
„Passt auf. Wenn alles OK ist, zeigt ihr einfach einen Daumen hoch. Wenn nicht, zeigt ihr mir mehr Finger. Wenn es gar nicht geht, zeigt ihr mir alle fünf und er fliegt achtkantig raus, einverstanden?“
Sammy lächelte, soweit ich wusste zum ersten Mal heute.
„Das machst du nicht,“ kicherte er.
„Nicht?“
„Dafür bist du viel zu lieb.“
Papa lächelte.
„Du meinst, dass ich jemanden, der sich mit meinen Jungs anlegt, nicht rausschmeiße?“
Jetzt war ich es, der kichern musste.
„OK, OK. Ich würde ihn nicht rausschmeißen. Ich würde ihn freundlich bitten zu gehen.“
Wenig später klingelte es an der Tür. Normalerweise wäre Sammy der Erste, der die Tür öffnen würde, aber dieses Mal schlich er vorsichtig in den Flur. Von dort aus sahen wir, wie Papa unseren Gast in Empfang nahm, umarmte und dann küsste, bevor sie beide gemeinsam den Hausflur verließen.
„Luka, Sammy, das ist Thomas. Thomas, das sind meine zwei Jungs, Luka und Samuel.“
„Freut mich,“ sagte Thomas und streckte seine Hand aus. „Ich hab schon ein bisschen über euch gehört. Nur gutes, natürlich.“
Ich schüttelte ihm die Hand, Sammy war zurückhaltender.
„Wir wissen erst seit gestern Abend von dir,“ sagte ich leise.
„Ich weiß, ich hab es ähnlich gehandhabt. Mein Sohn weiß auch noch nicht viel von euch dreien.“
„Ich würde sagen, wir machen uns einen ruhigen Abend,“ sagte Papa. „Abendessen, ein paar Brettspiele und sowas.“
„Das klingt gut. Aber ich bin auf alle möglichen Fragen vorbereitet,“ sagte Thomas.
„Sag das nicht zu früh,“ sagte ich und musste dabei grinsen. „Wir könnten das als Herausforderung sehen.“
Nun musste auch Sammy lächeln, auch wenn er immer noch nicht den Mund aufbekam.
„Sollen wir einen Wettbewerb daraus machen?“ fragte Thomas lachend. „Wer die meisten und persönlichsten Fragen stellt?“
„Zu meiner Zeit nannte man das Wahl, Wahrheit oder Pflicht,“ grinste Papa. „Auch wenn ich Flaschendrehen nicht als Spiel vorgesehen hatte.“
„Lieber kein Wettbewerb, sonst haben wir am Ende noch Gewinner und Verlierer,“ sagte ich.
„Das stimmt wohl,“ gab Thomas zu. „War auch nur ein Witz. Und ihr müsst auch keine meiner Fragen beanworten, wenn ihr das nicht wollt.“
„Eine Frage hätte ich schon,“ sagte ich.
„Schieß los.“
„Was arbeitest du?“
„Also eigentlich wollte ich früher Künstler werden. Aber ihr wisst ja sicher, wie das so mit den brotlosen Künsten ist. Also bin ich Erzieher geworden, da konnte ich das dann einbringen. Später habe ich noch ein Studium draufgesetzt.“
Hm. Erzieher. War das gut oder schlecht?
„Magst du Minecraft?“ meldete sich plötzlich Sammy. Thomas lächelte.
„Daran kommt man heute ja gar nicht mehr vorbei. Ja, Minecraft ist schon ziemlich cool.“
OK, das war schon mal ein Pluspunkt. Gab ja genug Leute, für die Computerspiele wortwörtlich Kinder zum Satan verführten oder sowas. Aber irgendwie passte es, so ein Spiel für einen kreativen Menschen.
„Inzwischen ist das sogar im Kindergarten Thema. Ich hab dann mal einen Creeper aus Lego gebaut – danach wollten alle Kinder einen haben.“
„Ich glaube, mit dir kann man was anfangen,“ kicherte Sammy.
„Das klingt doch schon mal beruhigend.“
„Muss die Schüssel in den Kühlschrank?“ unterbrach uns Papa und lenkte damit die Aufmerksamkeit auf eine große, verschlossene Schüssel.
„Wäre besser so,“ meinte Thomas.
„Ist das…“ ich brachte den Satz nicht zu Ende, aber auch Sammy hatte den Inhalt der Schüssel registriert.
„Ihr seid nicht die einzigen, die Marzipancreme lieben,“ grinste Thomas.
Alles klar. Thomas hatte definitiv eine Chance verdient.
Die Marzipancreme musste leider bis nach dem Abendessen warten, aber sie eignete sich hervorragend als Nervennahrung für unsere spätere Runde Risiko. Strategiespiele haben bei uns eine gewisse Tradition, ob als Brettspiel oder am PC. Dementsprechend waren wir drei relativ gut darin.
„Bei euch gibt’s ja mehr Intrigen als bei Game of Thrones,“ rief Thomas, nachdem Sammy unvermittelt ihren Waffenstillstand gebrochen und mit seinen Armeen in mehrere seiner Gebiete einmarschiert war. Sammy grinste nur zufrieden.
„Das merk ich mir,“ drohte Thomas scherzhaft. Ich nickte.
„Tu das. Mein Bruder tut immer so lieb und unschuldig, aber sobald er dich da hat, wo er dich haben will, schlägt er gnadenlos zu,“ sagte ich grinsend. Sammy verzog sein Gesicht zu einem Schmollmund.
„Hab dich trotzdem lieb – du Monster,“ kicherte ich.
„Dann ist ja klar, was wir tun müssen,“ sagte Papa, der seine Truppen zu verlegen begann. Kurz darauf verlor Sammy mehrere Gebiete an ihn.
„Oh man, immer auf die Kleinen,“ murmelte Sammy. Er war schon ein guter Schauspieler. Ich überlegte kurz, ob ich ihm beistehen sollte. Unglücklicherweise kontrollierte er Grönland und verweigerte mir damit den Nordamerika-Bonus. Unverzeihlich!
Ich ließ meine Mitspieler die nächsten Runden lang kämpfen und hielt mich im Hintergrund. Als sie merkten, was ich vorhatte, war es bereits zu spät. Wenige Runden später war ich der unumstrittene Sieger.
„Das liegt wohl in der Familie,“ meinte Thomas. „Habt ihr das von eurem Papa?“
„Jetzt mach dich mal nicht unbeliebt,“ rief dieser. „Die sind mir so geliefert worden.“
Sammy und ich grinsten breit. Wir konnten schon richtig böse Jungs sein.
„Aber langsam wird es eh Zeit für euch, euch bettfertig zu machen.“
Ich sah zur Uhr. Es ging tatsächlich schon wieder auf die 23 Uhr zu.
„Ach komm Papa, es sind Ferien!“ flehte Sammy.
„Eben, und morgen sind auch noch Ferien,“ sagte Papa. „Was willst du denn mitten in der Nacht machen, was du nicht auch tagsüber machen kannst?“
„Tröste dich, ich bleib auch nicht mehr lange wach,“ sagte Thomas. „Aber eine Frage hätte ich noch, bevor ihr schlafen geht und ich nach Hause fahre.“
„Was denn?“
„Darf ich euer Zimmer sehen?“
Sammy und ich sahen uns kurz unentschlossen an.
„Von mir aus, ja,“ sagte ich. „Aber nur, wenn Sammy nichts dagegen hat.“
Sammy überlegte kurz, dann stand er auf und bedeutete Thomas, ihm zu folgen. Ich ging vorsichtshalber hinterher, bis wir vor der Tür zum stehen kamen.
„Das müsst ihr nicht machen,“ sagte Thomas. „Ich verstehe vollkommen, wenn euch das zu früh ist.“
„Lieber jetzt,“ flüsterte Sammy. „Später traue ich mich vielleicht nicht mehr.“ Thomas nickte. Sammy öffnete die Tür, wir traten ein und Thomas sah sich kurz um.
„Ich finde das völlig in Ordnung,“ sagte Thomas. „Ich weiß nicht, was ihr genau erlebt habt, aber ich kenne es von meiner Arbeit zur Genüge. Wenn es euch hilft, damit umzugehen, oder euch auch einfach nur Spaß macht, steht es niemandem zu, darüber zu urteilen. Glaubt mir, ich wäre froh, wenn die Kinder, mit denen ich früher gearbeitet hätte, alle solche Bewältigungsstrategien gehabt hätten.“
„Du findest es also nicht komisch?“ fragte ich.
„Naja, also das hier habe ich auch noch nicht gesehen. Aber ich hab mal mit einem Jungen gearbeitet, der sich zwischendurch wie ein Mädchen benommen hat. Ich glaube nicht mal, dass er wirklich eins sein wollte, aber es hat ihm geholfen. Er hat dann eine Perücke angezogen und war dann nicht mehr Julius, sondern Jessica. Das war im ersten Moment komisch für uns und die anderen Kinder, aber nach kurzer Zeit kannten wir das und dann war es kein Thema mehr.“
Das klang ziemlich gut. Sammy machte das Licht aus, dann trafen wir uns nochmal im Esszimmer.
„Wo schlaft ihr heute?“ fragte Papa.
„Bei mir,“ sagten Sammy und ich gleichzeitig. Heute hatte scheinbar keiner von uns Bedarf, im Kinderbett zu schlafen.
„OK, dann macht euch bettfertig, ich komme gleich nochmal zu euch.“
„Gute Nacht, ihr zwei,“ sagte Thomas. „Das war ein echt schöner Abend mit euch.“
„Gute Nacht, Thomas.“
Autor: Löwenjunge (eingesandt via E-Mail)
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