Ein Haus voller Jungs (9)
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Kapitel 9 – Ganz unverbindlich, Teil 2
* * *
Für den nächsten Abend stand das Highlight des Urlaubs an: Wir würden ins Musical gehen, genauer gesagt in König der Löwen. Das kann natürlich nur eins bedeuten.
Richtig, wir schauen vorher den Film. Also, den richtigen, nicht das mit den komischen CGI-Löwen. Wir haben hier Standards.
Ich muss zugeben, obwohl es einer unserer Lieblingsfilme ist, gehen mir bestimmte Szenen immer noch ziemlich nah. Damit war ich auch nicht alleine, denn immer, wenn wir den Film ansahen, konnte ich sehen, wie sich Sammy besonders eng an Papa kuschelte.
Ich warf einen unauffälligen Blick zu Rusty, der aber normal sitzen blieb. Die Windel schien er inzwischen ausgezogen zu haben, aber so sehr wollte ich ihm auch nicht in den Schritt schauen. Er schien eher die Art Mensch zu sein, die gelegentlich mal nen Disney-Film schaut, aber definitiv nicht die Lieder mitsingen kann.
Interessant wurde es aber dafür, als Simba und Nala „Kann es wirklich Liebe sein“ anstimmten – Sammy schien es nicht aufzufallen, aber ich konnte sehen, wie Papa Thomas einen verliebten Blick zuwarf. Dieser schien das Gleiche zu denken – um ehrlich zu sein war es das erste Mal, dass ich Papa so gesehen habe, ohne dass er in Erinnerungen an Simon schwelgte.
Für einen Moment dachte ich daran, wie ungerecht es doch war, dass Simon uns so früh verlassen musste. Aber so wie Sammy und ich ihn kennenlernen durften, hätte er sich sicher für Papa gefreut.
Rusty schien der Blick unserer Vatertiere auch entgangen zu sein, oder vielleicht wollte er es auch einfach nicht wahrnehmen. Ich konnte nur hoffen, dass sich Rusty weiter zu uns öffnen würde.
„Wisst ihr eigentlich, was passiert, wenn man in der Vorstellung einschläft?“ fragte Sammy kichernd. „Dann kommt der Platzanweiser und sagt „Naaaaa sie pennnn jaaa!““
OK, der war schon gut. Zumindest gut genug, dass es sogar Rusty ein Grinsen entlockte.
Ich glaube, so wird schon alles gut werden.
Nach der Vorstellung machten wir uns auf den Weg zu den Fähren, Rusty und ich vorraus. Aber als wir gerade an Bord gehen wollten, hielt uns einer der Mitarbeiter auf.
„Zwei können noch drauf, der Rest müsste auf die nächste warten.“
„Sollen wir vorgehen?“ fragte ich unsere zweieinhalb Hintermänner. „Wir warten dann auf euch.“
„Klingt gut. Dauert ja nicht lange,“ stimmte Papa zu. Rusty und ich bestiegen die Fähre und mühten uns zu einem der Fenster. Aber gerade, als ich in Gedanken abdriften wollte, wurde ich wieder in die Gegenwart geholt.
„Luka?“ flüsterte Rusty.
„Was ist?“
Rusty antwortete nicht, sondern deutete etwas verzweifelt auf seine Hose. Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass dort ein dunkler Fleck entstanden war. Hatte Rusty in die Hose gemacht?
„Die zweite Windel!“
Schnell kombinierte ich, was geschehen sein musste. Zum Glück wusste ich, was zu tun war – schließlich war das eine meiner Aufgaben als großer Bruder, und das galt auch für kleine Stiefbrüder in spe. Schnell zog ich meine Sweatshirtjacke, die ich für den Fall, dass es am Abend windig wird, mitgenommen hatte, aus und reichte sie Rusty, der sie sich schnell umband.
Etwa zehn Minuten später wurden wir wieder mit dem Rest unserer Familien vereint – Rustys Kopf leuchtete förmlich, aber es schien niemandem aufzufallen. Zu Fuß und in der U-Bahn sollte es zum Glück kein Problem sein, die nasse Hose zu verbergen.
„Luki, warum hat Rusty deine Jacke?“ fragte Sammy plötzlich. Rusty setzte zu einer Antwort an, ich kam ihm aber zuvor.
„War etwas frisch gerade, also hab ich ihm meine gegeben.“
Etwas löchrig, immerhin trug Rusty die Jacke ja nicht für ihren eigentlichen Zweck, aber Sammy gab sich damit zufrieden. Katastrophe abgewendet, zumindest für den Moment.
Als wir später ins Auto stiegen, setzte ich mich bewusst zwischen meine „beiden“ „Brüder“. Sammy schien zum Glück schon etwas müde zu werden, jedenfalls legte er den Kopf an meine Schulter und döste während der Fahrt etwas. Rusty blieb die ganze Zeit über still, bis wir die Haustür durchschritten.
„Ich spring schnell unter die Dusche!“ rief er und war verschwunden, bevor ihn irgendjemand aufhalten konnte.
„Dann les ich noch was, bis Rusty fertig ist,“ sagte Sammy. Das war wohl am sinnvollsten, den von uns dreien konnte ich am ehesten als letzter Duschen gehen. So zogen wir uns noch etwas auf unser Zimmer zurück, bis ich hörte, wie jemand durch den Flur lief.
„Sammy, ich glaube das Bad ist gerade frei geworden.“
Mein Bruder nickte, schnappte sich seine Sachen und ging los. Ich wartete noch ein paar Minuten, dann ging ich zu Rusty’s Zimmer und klopfte an.
„Ja?“
„Ich bins. Kann ich reinkommen?“
Statt einer Antwort öffnete sich direkt die Tür – Rusty hatte schon seinen Schlafanzug angezogen und winkte ich rein.
„Ist gut, dass du kommst. Ich wollte mich noch bei dir bedanken.“
„Wofür?“ fragte ich verdutzt, bis mir einfiel, wie ich Rusty die Jacke gegeben hatte.
„Achso… also eigentlich wollte ich mich bei dir entschuldigen.“
„Wieso entschuldigen?“
„Weil ich dich nicht gewarnt habe. Als du gestern die Windel haben wolltest habe ich nicht gedacht dass du auch reinmachst.“
„Das ist nicht schlimm. Das heute war Adrenalin pur! Wobei ich froh bin, dass mich gerade keiner gesehen hat, wie ich nackt vom Bad zum Zimmer geflitzt bin. Hatte ja meine Sachen nicht dabei.“
„Ich dachte, du willst nicht, dass man dich so sieht?“
„Stimmt, aber was soll ich sagen. Ich bin irgendwo auch ein Adrenalinjunkie.“
„Dann überrascht mich aber deine Auswahl an Fahrgeschäften im Phantasialand.“
„Es gibt verrückt, es gibt verboten und es gibt lebensmüde,“ erklärte Rusty.
„Ergibt Sinn. Und wie kam es dass du die zweite Windel angezogen hast?“
„Naja, ich hab die erste ja über Nacht anbehalten, und irgendwann musste ich dann mal. Und dann dachte ich mir halt, ich hab ne Windel an, also wieso aufs Klo gehen?“
„Klassiker.“
„War gar nicht so einfach, sie auch zu benutzen. Klingt doof, aber…“
„Man ist schon gehemmt. Ich weiß was du meinst. Tagsüber war ich ja auch da schon trocken, nachts war das eigentliche Problem.“
„Am Ende musste ich mich hinstellen. Hab mich jedes Mal erschrocken wenn es dann losging.“
„Und dann?“
„Naja, heute morgen ist mir dann aufgefallen dass du die zweite Windel hier vergessen hattest. Und dann dachte ich mir, ich teste mal fürs Musical aus ob das stimmt, was du sagtest. Dass das keiner merkt.“
„Also ich habs nicht gemerkt. Aber ich hab auch nicht gedacht dass du sie anziehst, beim Film hattest du ja keine mehr an.“
„Genau, da hatte ich mich schon sauber gemacht. War auch relativ schnell gemacht, hab ja nur klein gemacht. Groß macht ihr ja auch nicht, oder?“
„Also… meistens nein. Es ist schon blöd zum saubermachen. Ich machs gelegentlich mal, aber nur wenn ich weiß dass Papa sich dann auch kümmert. Sammy auch wenn ich oder Papa ihn wickeln.“
Eigentlich rechnete ich nach der Aussage mit einem entsetzten Blick von Rusty, aber der erzählte einfach weiter.
„Jedenfalls hätte ich nach der Vorstellung auch aufs Klo gemusst, aber wir wollten ja schnell zu den Fähren. Und was dann passiert ist, weißt du ja.“
„Lass mich raten, du hast in einem durchlaufen lassen, oder?“
„Ja, dieses Mal war es einfacher.“
„Anfängerfehler. Wenn du zu schnell machst, steigt das Risiko dass du ausläufst.“
„Das habe ich gemerkt. Die Jacke habe ich übrigens auch in die Wäsche getan, ich wollte nicht riskieren, dass da was dran ist.“
„OK gut… Also wenn du nochmal Windeln haben willst, sag einfach Bescheid.“
Rusty winkte ab.
„Vielleicht, aber ich will weiterhin nicht dass dein Bruder oder deine Papas irgendwas erfahren. Ich weiß, es wär nicht viel dabei, aber wenn sie es einmal wissen, kriegt man das nicht mehr weg.“
„Verstehe.“
„Aber ich würde dich gerne noch ein paar Sachen fragen.“
„Klar doch.“
„Naja, ich glaube das geht nochmal einen Schritt weiter als bisher.“
„Ja?“
Rusty schluckte.
„Was ist mit eurer alten Familie passiert? Also warum seid ihr nicht mehr da?“
Jetzt war ich es, der schlucken musste. Aber ich hatte gesagt, er könne fragen, also lag der Fehler klar bei mir.
„Du musst mir wirklich nichts erzählen, wenn es zu schlimm ist,“ ergänzte Rusty hastig. „Aber Papa hat ja mit vielen Kindern gearbeitet, die nicht mehr Zuhause wohnen können. Aber da besteht auch oft noch Kontakt – bei euch ja nicht mehr.“
„Das ist richtig,“ erklärte ich, während sich meine Stimme erholte. „Ich sags so, wir waren nicht gewollt.“
„Du meinst eure Mama ist schwanger geworden obwohl sie nicht wollte?“
Ich setzte zu einer Antwort an, aber Rusty unterbrach mich.
„Sorry, eure Mutter. Jona ist ja euer Papa.“
„Ich glaube schon, dass sie Kinder wollten. Aber eben Mädchen, vermuten wir zumindest. Ich weiß natürlich nicht genau, wie es in den ersten paar Jahren war, aber ich glaube, wenn es zuerst vielleicht „nur“ Vernachlässigung war, wurde es zu Hass, als Sammy geboren wurde und auch kein Mädchen war.“
„Hass? Wie… wie äußerte sich das?“
„Sie haben uns ziemlich deutlich gesagt und gezeigt, dass wir wertlos für sie sind. Eine Situation, kurz bevor wir rausgeholt wurden, weiß ich auf jeden Fall noch. Da hat Sammy unserer Erzeugerin gesagt, dass er sie lieb hat, und dafür hat er ne Ohrfeige kassiert und ist angeschrien worden.“
Rusty holte tief Luft, hörte aber weiter zu.
„Soll ich aufhören?“
Rusty schüttelte den Kopf.
„Was ist dann passiert?“
„Das weiß ich nicht mehr so genau. Sammy hat natürlich geweint, gekümmert hab aber nur ich mich. Aber das perfide war, das Sammy geglaubt hat, es sei seine Schuld. Dass er nicht gut genug ist. Dass er sie nur mehr lieb haben müsste, damit es ihr besser geht. Und das habe ich auch geglaubt. Wenn es warm war, mussten wir den Tag oft nackt im Garten verbringen und sind meist erst bei Sonnenuntergang reingeholt worden – nachdem wir mit dem Gartenschlauch abgeduscht wurden.“
„Warum?“
„Ich denke mal, sie wollten ihre Ruhe. Und nackt, damit wir keine Klamotten einsauen konnten. Vermute ich zumindest.“
„Aber sie haben euch nicht… du weißt schon?“
„Wenn du sexuellen Missbrauch meinst… das ist uns zum Glück erspart geblieben. Aber allein diese Gartensituationen – Simon hat früher FKK gemacht, und als er starb, wollte Jona erst nicht damit weitermachen, weil zu viele Erinnerungen dran hingen. Aber dann wollte er, dass ein gesundes Verhältnis zu unseren Körpern entwickeln und uns nicht erniedrigt fühlen, wenn wir uns ausziehen müssen. Hatte am Ende auch den Vorteil, dass es auch eine Verbindung zu Simon war.“
Rusty sagte eine Weile lang gar nichts, dann sah er zu Boden.
„Ich verstehe das nicht,“ flüsterte er.
„Was denn?“
„Wie kann man sowas machen? Ich meine, sein Kind… das liebt man doch?“
„Ich weiß es nicht. Frau Schuster, unsere Fallbetreuerin vom Jugendamt, hat uns irgendwann mal erklärt, dass unsere Erzeugerin wohl auch so eine Vergangenheit hatte. Vielleicht waren auch noch Schwangerschaftsdepressionen im Spiel, wenn sie nicht ohnehin schon an Depressionen litt. Aber um ehrlich zu sein, ist mir das alles ziemlich egal. Selbst wenn sie es nicht allein Schuld war, macht es das nicht weniger beschissen für uns. Und unser Erzeuger war auch nicht besser.“
„Scheiße… weißt du, für mich war es immer selbstverständlich, dass Mama und Papa mich lieb haben. Auch wenn wir uns streiten.“
„Ist es ja eigentlich auch. Nur bei manchen… da ist es komplizierter.“
Die Aussage blieb einen Moment so im Raum stehen, bis Rusty plötzlich die Stille durchbrach.
„Kann ich dich noch etwas fragen?“
„Klar,“ sagte ich und blickte zu Rusty, der etwas verlegen zur Seite sah.
„Naja, wenn das wirklich was festes zwischen unseren Vätern wird, dann wird Jona ja sozusagen mein Stiefvater.“
„Und du weißt nicht, was du darüber denken sollst?“
„Liest du Gedanken?“
„War nur geraten,“ beruhigte ich meinen quasi-Stiefbruder. Telepathie hatte ich trotz allem noch nicht entwickelt.
„OK, ich weiß, es ist nicht das gleiche, aber wie war das für euch, als ihr erfahren habt, das Jona euch adoptiert?“
Ich antwortete zunächst nicht. Diesen Moment hatte ich sehr gut in Erinnerung – für mich war er der Anfang unseres neuen Lebens.
„Ist schon OK, wenn du nicht darüber reden willst,“ sagte Rusty.
„Nein, das ist in Ordnung. Ich erzähls dir.“
Der Weg nach Hause war relativ ereignislos. Jona hatte uns wie jeden Tag abgeholt, mit den Erziehern über unseren Tag gesprochen und uns dann ins Auto gesetzt. Sammy und ich waren still – wir hatten zu oft Ärger bekommen, wenn wir im Auto gesprochen haben. Oder überhaupt. Aber es war uns nicht entgangen, das sich etwas bei Jona geändert hatte. So etwas aufzufangen, hatten wir früh lernen müssen.
„Jungs, wir drei müssen reden,“ sagte Jona, als wir das Haus betraten. Ich spürte sofort, wie sich Sammy an meinen Arm klammerte. Jona brachte uns ins Wohnzimmer, wo mein Bruder und ich das Sofa in Beschlag nahmen, während Jona sich auf den Rand des Sessels setzte.
„Du gibst uns ab, oder?“ fragte Sammy zögerlich.
„Warum denkst du das?“ fragte Jona. Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, aber für meinen Bruder war das der einzige vorstellbare Grund, wieso dieses Gespräch stattfand.
„Weil wir böse Kinder sind,“ sagte ich für ihn. Das mag übertrieben klingen, aber das habe ich wirklich geglaubt. Das haben wir beide geglaubt. Wieso sollte man uns sonst immer wieder bestraft haben, wenn wir es nicht irgendwie verdient hatten?
„Wer hat euch das erzählt?“ fragte Jona, und wir konnten beide spüren, dass die Vorstellung ihn wütend machte. Er atmete einen Moment durch, bevor er fortfuhr.
„Ihr würdet mich sowieso durchschauen, wenn ich etwas anderes behaupten würde, also werde ich ehrlich sein. Die letzten Wochen waren nicht einfach für mich. Und natürlich auch nicht für euch. Aber als Simon und ich euch aufgenommen haben, hatten wir eine grobe Vorstellung, was uns erwartet. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, hat das natürlich einiges geändert, und ja, ich war mir nicht sicher, ob ich euch gerecht werden kann.“
Jona machte eine Pause, als er merkte, das Sammy sein Gesicht in meiner Schulter vergraben hatte. Ich legte meinen Arm um ihn, und Jona legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Sammy zuckte auf und zog seine Schulter weg. Jona verstand die Nachricht und zog sich zurück.
„Ich weiß, dass ihr Angst habt, wieder in eure alte Familie oder ein Heim zu müssen. Deshalb erzähle ich euch jetzt etwas. Ich wollte eigentlich warten, bis es sicherer ist, weil ich euch nicht enttäuschen möchte, aber ich glaube, ihr solltet es jetzt schon erfahren, bevor ihr euch euren Teil denkt.“
Jona atmete noch einmal tief durch.
„Wisst ihr, was adoptieren heißt?“
Sammy schüttelte den Kopf, aber ich hatte das Wort schon mal gehört und sah verwirrt zu Jona.
„Heißt das nicht, dass man ein Kind bei sich aufnimmt?“
„Ja, auch,“ sagte Jona, „aber das habe ich mit euch beiden ja schon gemacht. Aber wenn ich euch adoptiere, wärt ihr offiziell meine Kinder und ich euer Papa. Frau Schuster vom Jugendamt hat vorgeschlagen, das zu versuchen. Es steht noch nicht fest, dass es klappt, aber wenn es klappt, müsstet ihr nie mehr in euer altes Zuhause zurück.“
Sammy drehte den Kopf, sodass er Jona mit einem Auge beobachten konnte.
„Aber warum?“ fragte er.
„Warum was?“
„Warum willst du uns haben? Uns will doch eh niemand.“
Jona streckte seine Hände zu uns aus. Ich nahm seine linke, während Sammy nach etwas zögern seine rechte nahm.
„Hört mir jetzt gut zu. Ihr seid keine bösen Jungs. Wer das behauptet, hat keine Ahnung, was er da sagt. Ich sehe hier einen großen Jungen vor mir, der sich super liebevoll um seinen kleinen Bruder kümmert und alles tun würde, um ihn zu beschützen. Ich sehe einen kleineren Jungen mit einem schönen Lächeln und einem großen Herz. Ich sehe zwei Jungen, in denen wundervolle Menschen stecken. Zwei Jungen, die eine richtige Familie verdient haben und denen ich genau das schenken möchte.“
Sammy und ich sahen Jona überwältigt an. Passierte das gerade wirklich?
„Es sei denn, ihr möchtet nicht, dass ich euer Papa werde.“
„Doch!“ rief Sammy, aber sein Hals hatte sich wohl etwas zugeschnürt.
„Ich hoffe, es klappt… Papa,“ sagte ich, aber Jona so zu nennen, fühlte sich noch nicht richtig an.
„Das hoffe ich auch. Und ihr müsst mich nicht so nennen, wenn ihr euch noch nicht wohl damit fühlt,“ sagte Jona. „Bis vor kurzem habt ihr ja jemand anderen so genannt. Bis ihr soweit seid, kann ich weiter Jona für euch sein. Das entscheidet ihr.“
Es musste klappen. Ich konnte es mir noch nicht vorstellen, aber ich wollte nicht mehr, als das es klappt. Und ich nahm mir vor, vor dem schlafengehen und auch danach das Wort Papa zu üben.
„Und es hat geklappt?“ fragte Rusty.
„Sonst würden wir wohl jetzt nicht miteinander reden,“ schloß ich. „Frau Schuster, unsere Fallbearbeiterin vom Jugendamt zu der Zeit, hat dann noch arrangiert, dass wir beim Familiengericht angehört werden. Ich weiß noch, wie der Familienrichter gefragt hat „Luka, Samuel, möchtet ihr bei Jona bleiben oder wollt ihr wieder zu euren Eltern zurück?“ Wir haben ihn praktisch angefleht, die Adoption zu erlauben, wobei ich glaube, das Sammy etwas mehr Wirkung hatte als ich. Bei der Urteilsverkündung waren wir dann nicht mehr dabei, weil bewusst unsere leiblichen Eltern rausgeschickt wurden, als wir angehört werden sollten, und fürs Urteil mussten sie natürlich wieder rein.“
„Warum das? Also wieso durften sie nicht dabei sein?“
„Damit wir ehrlich antworten konnten und uns nicht von ihnen unter Druck gesetzt fühlen mussten. Aber Jona hat uns erzählt, dass der Richter sowas in Richtung „entweder geben sie die Jungs zur Adoption frei, oder ich tue es für sie“ gesagt haben muss. Er kannte die Geschichte ja auch und war dementsprechend ziemlich angeekelt davon, dass sie uns nicht abgeben wollten. Hätten sie sich geweigert, hätte es wohl ein polizeiliches Ermittlungsverfahren gegeben.“
„Ergibt Sinn, aber warum wollten sie euch behalten? Jetzt sag nicht, dass es aus Liebe war.“
Ich lachte auf.
„Nein. Aber wenn wir wieder bei unseren leiblichen Eltern gelebt hätten, hätten die wieder für uns Kindergeld bekommen. Das war das einzige, wofür wir in deren Augen gut waren. Aber das hat der Richter zum Glück durchschaut.“
„Zum Glück,“ stimmte Rusty zu. „Das ist sowas von widerlich.“
„Ja, und zum Glück für immer vorbei.“
„Und hattet ihr seitdem noch Kontakt zu euren… Erzeugern?“
„Nicht wirklich. Am Anfang hatten wir noch Angst, dass sie irgendwas versuchen würden, aber danach kam nichts mehr von ihnen. Nicht mal ein Brief oder so – hätte ihnen was an uns gelegen, hätten sie einmal pro Jahr die Möglichkeit dazu gehabt, und mehr, wenn wir darauf geantwortet hätten. Haben sie aber nicht gemacht. Und von mir aus kann das auch so bleiben.“
„Oh man. Tut mir echt leid.“
„Muss es nicht. Dafür haben Sammy und ich jetzt den besten Papa der Welt. Ich wünschte nur, Simon wäre hier und könnte sehen, wie alles ausgegangen ist.“
Ich legte eigentlich Wert darauf, nicht zu weinen, wenn ich von solchen Dingen erzählte, aber der Gedanke an unseren zweiten Papa, den wir nur so kurz kennengelernt hatten, trieb doch eine Träne in mein Auge. Rusty legte eine Hand auf meine Schulter.
„Alles OK?“ fragte er. Ich nickte.
„Alles gut,“ antwortete ich.
„Naja, wenigstens gab es ein Happy End für euch. Ihr scheint das Ganze ja gut verarbeitet zu haben.“
„Täusch dich da nicht. Es war ein langer Weg hierher, und leider fallen wir beide manchmal noch in alte Muster zurück. Du hast am Strand echt Glück gehabt.“
„Warum?“
„Wäre das vor ein paar Jahren passiert, oder wärst du irgendjemand anderes gewesen…“
Ich pausierte kurz. Irgendwie war es schwer, das zuzugeben.
„Du wärst jetzt vielleicht im Krankenhaus.“
„So schlimm?“
Ich nickte.
„Mach mit mir was du willst. Aber sobald du dich mit meinem Bruder anlegst, fließt Blut.“
Rusty sah zur Seite.
„Er hat echt Glück mit dir. Manchmal wünschte ich, ich hätte auch einen großen Bruder, der auf mich aufpasst.“
„Hast du ab jetzt.“
„Was?“
„Rusty, ich mache keinen Unterschied zwischen Vater und Adoptivvater. Meinst du, ich mache einen Unterschied zwischen Bruder und Stiefbruder?“
„Schon klar, aber du kannst dich doch nicht zwingen, mich so lieb zu haben wie du Sammy lieb hast.“
„Da hast du Recht, und das wird auch nicht passieren. Jedenfalls nicht von heute auf morgen. Aber wenn das mit unseren Papas so bleibst, gehörst du zur Familie.“
Ich grinste.
„Ob es dir passt oder nicht.“
Rusty lächelte, wenn auch etwas zögerlich.
„Danke Luka,“ flüsterte er. „Das ist lieb von dir.“
Jetzt war er es, der grinste.
„Oder soll ich Luki sagen?“
„Ganz so weit sind wir noch nicht, Kleiner. Das dürfen nur Sammy und Papa. Außer du willst den Kopf gewaschen bekommen.“
Ich bemerkte, wie Rusty leicht errötete. Aber war es wegen der halb spaßigen, halb ernst gemeinten Drohung, oder weil mir das „Kleiner“ rausgerutscht war?
Bevor einer von uns weiterreden konnte, klopfte es ein weiteres Mal an der Tür.
„Herein?“ rief Rusty. Die Tür öffnete sich und mein Bruder steckte den Kopf ins Zimmer.
„Ach, hier bist du,“ rief er. „Ist das ne Privatparty oder darf ich auch reinkommen?“
„Party würde ich das jetzt nicht nennen,“ erklärte ich.
„Gut, weil langsam wird es Zeit für die Heia,“ kicherte Sammy. „Sagt Papa jedenfalls.“
Da hatte er nicht ganz unrecht, es ging ja schon auf die Geisterstunde zu.
„Gute Nacht ihr zwei,“ sagte Rusty. „Schlaft gut.“
„Danke, du auch,“ antwortete Sammy, dann nahm er meine Hand und zog mich aus dem Zimmer.
„Denk ich das nur oder wirst du langsam ziemlich dicke mit Rusty?“ fragte er, als wir ein paar Meter von der geschlossenen Tür entfernt waren.
„Wir reden im Moment viel,“ erklärte ich.
„Aber er mag mich doch auch, oder?“ fragte Sammy zögerlich.
„Bestimmt,“ beruhigte ich ihn. „Ich glaube, es für ihn nur etwas einfacher mit mir, weil ich der ältere bin. Er will uns aber wirklich kennenlernen.“
„Wenn ihr das nächste mal redet, kannst du ihn dann bitte fragen, ob ich dazukommen darf? Ist auch OK, wenn er nein sagt.“
„Mach ich. Und jetzt komm, Kleiner. Sagen wir noch Papa Gute Nacht und dann ab ins Bett.“
Autor: Löwenjunge (eingesandt via E-Mail)
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