Eine neue Welt
Windelgeschichten.org präsentiert: Eine neue Welt
Vorwort:
Neulich habe ich meine Leser – Euch – um Rat gebeten, welche von dreien Geschichten ich zuerst fertigstellen solle. Die meisten Stimmen galten dieser und nachdem ich nach einem ganzen Stück Arbeit endlich fertig und zugleich sehr zufrieden mit meinem Werk bin, freue ich mich, euch dieses endlich zu präsentieren.
Jetzt also viel Spaß mit der Geschichte:
Schon seit ungefähr einem halben Jahr wohnte meine Stiefschwester Zoey in Köln, um dort zu studieren, doch die Zeit erschien mir sehr viel länger als nur sechs Monate. Wir hatten uns immer gut verstanden, wenn wir auch nicht gerade das engste Verhältnis gehabt hatten. Doch jetzt wo sie nicht mehr mit beim Mittagessen saß, wenn ich von der Schule nach Hause kam, fehlte sie mir. Sie schien viel mit ihrem Studium zu tun zu haben und hatte nie wirklich Zeit mit uns Telefonate zu führen oder eine gelegentliche Nachricht zu schreiben.
Umso überraschter war ich, als meine Eltern beim Abendessen begannen über ihre Ferienpläne zu reden.
„Hör mal, Schatz“, begann meine Mutter, „Es ist nicht mehr lange bis zu den Herbstferien.“
„Zum Glück!“, unterbrach ich sie scherzend. Sie schmunzelte.
„Also“, fuhr sie fort, „Dein Vater und ich hatten uns die Ferien etwas anders als sonst vorgestellt. Eigentlich fahren wir drei ja immer zu dritt in den Urlaub, aber du bist schließlich auch schon ein halber Erwachsener und willst bestimmt mal deine eigenen Pläne in den Ferien in die Tat umsetzen. Wir haben uns darüber einige Gedanken gemacht und sind zu einem Schluss gekommen, deshalb…“
Um dem Roman, der gerade druckreif aus dem Mund meiner Mutter gequollen kam, ein Ende zu setzen, fragte ich: „Was willst du mir sagen, Mama?“
„Nun ja, wir dachten daran, dass wir zu zweit Urlaub machen und du vielleicht die Ferien bei Zoey verbringst“, erklärte sie, „Weil wir nicht wollen, dass du zwei Wochen lang alleine bist.“
Ich war positiv überrascht. Normalerweise wäre ich nicht gerade begeistert, bei jemand anderem die gesamten Ferien zu verbringen, aber bei Zoey würde ich gerne in den Herbstferien bleiben. Einerseits hatte ich sie eine Ewigkeit lange nicht mehr gesehen und andererseits hatte ich sie nie für ganz unattraktiv gehalten.
„Hat sie denn schon zugesagt?“, erkundigte ich mich, bevor ich mich zu früh freute.
„Ich habe sie vorhin angerufen“, erklärte mein Vater mit dem Mund voller Kartoffelbrei, „Sie sagt, sie muss ein paar Sachen fürs Studium erledigen, aber ansonsten passt sie gerne auf dich auf.“
Als wäre es nahezu unbedeutend, nickte ich, doch innerlich stahl sich ein breites Grinsen über mein Gesicht. Ganze zwei Wochen würde ich bei Zoey verbringen, nur wir beide. Besser hätte es nicht kommen können.
Am Freitagabend vor den Ferien packte ich alles, was ich brauchte, in meinen schwarzen Koffer. Klamotten, Zahnbürste und Sonstiges. Mir fiel erst zu spät auf, dass ich wohl besser einen größeren Koffer hätte nehmen sollen. Doch mir fehlte der innere Antrieb, den gesamten Inhalt des Koffers noch einmal auszuräumen. Schließlich schaffte ich es doch, den Deckel mit Mühe zuzudrücken.
Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich stellte den Wecker auf meinem Nachttisch auf 7:30 Uhr, machte das Licht aus und schloss meine Augen.
Anders als erwartet, weckten mich die ersten Lichtstrahlen des Sonnenaufgangs anstatt der laute Ton des Weckers. Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit. Es war 7:03.
Da ein wenig zeitlicher Spielraum wohl nicht schaden würde, machte ich mich auf den Weg zur Dusche. Ich schaltete das Radio im Bad ein.
„-eher kältere Temperaturen mit bis zu 5 Grad“, begann der Moderator die Wettervorhersage vorzulesen. Ich sollte also besser meine Winterjacke mitnehmen, um mich gegen den scheinbar frühzeitigen Winter zu rüsten.
Abgetrocknet schlüpfte ich in meine Jeans und in meinen grauen Pullover, bevor ich ins Wohnzimmer ging. Meine Eltern waren schon lange abgereist, ihr Flug war um 5:45 gewesen.
Ich sammelte mir aus allen Schränken und Schubladen der Küche ein Frühstück zusammen. Mit meinen doch sehr limitierten Erfahrung, was die Kochkunst angeht, machte ich mir ein Spiegelei, dass ich von beiden Seiten anbriet. Dazu rührte ich mir mit den Überresten der Cornflakes aus der Vorratskammer und Jogurt ein Müsli. Ich genoss mein Frühstück, schließlich hatte ich ja alle Zeit der Welt.
Die Zeiger zeigten genau 8 Uhr, als ich meine Winterjacke anzog, meinen Rucksack schnappte und mich mit meinem Rollkoffer auf den Weg zum Bahnhof machte. Es waren nur einige hundert Meter, die ich laufen musste, also setzte ich mir Kopfhörer auf und hörte etwas Musik, während ich durch die leeren Straßen lief. Ich schien heute die einzige Person mit Plänen in dieser Stadt zu sein. Doch der Gedanke, dass nur mir alleine heute so eine Reise bevorstand, gefiel mir.
Zum Glück hatte ich auf den Wetterbericht gehört, sonst wäre ich wahrscheinlich als Eisklotz an der Bahnstation angekommen.
Der ICE fuhr früher ein als angekündigt, also hielt sich meine Wartezeit im tolerablen Bereich. Alles lief genau so, wie ich es mir am Vorabend ausgemalt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis ich meinen Platz gefunden hatte. Scheinbar war Köln gerade nicht das beliebteste Reiseziel, denn nur ungefähr jeder zehnte Platz war besetzt. Auch die Sitze in meiner Reihe waren leer, also rückte ich ans Fenster. Für einen Sitzplatz mit schöner Aussicht nahm ich gerne ich Kauf, vielleicht von später hinzusteigenden Leuten von meinem Platz verscheucht zu werden.
Es waren noch ganze 8 Minuten bis zur Abfahrt, die ich noch herumsitzen musste. Schon nach weniger als einer Minute übernahm die Langeweile meine Gedanken. Ich sah mich um und musterte die wenigen Leute, die im Zug saßen. Ich fragte mich, was ihr Grund war, diesen Zug zu nehmen. Besuchten sie eine entfernte Verwandte? Fuhren sie regulär zu ihrem Arbeitsplatz?
Ich konnte nur raten. So gerne ich es auch gewusst hätte, aus ihren Gesichtern ließ es sich nicht ablesen. Ich wusste nicht, wer diese Personen waren, jedoch galt das auch andersherum. Niemand wusste, dass ich zu meiner Stiefschwester Zoey fahren würde, um dort die Ferien zu verbringen. Diese Namenlosigkeit löste in mir ein wohliges Gefühl der Sicherheit aus.
Der Zug setzte sich endlich in Bewegung und erwachte zum Leben. Mit der wärmenden Decke der Anonymität schaute ich aus dem Fenster und sah, wie der Zug den Bahnhof verließ.
Während der Zug mit beeindruckender Geschwindigkeit die Schienen entlang preschte, betrachtete ich die Welt, die in Windeseile an mir vorbeizog.
Dabei musste ich daran denken, wie sich Zoey wohl auf dieser Fahrt gefühlt hatte, als sie ausgezogen war. Ich zumindest hatte das Prinzip, dass Kinder, wenn sie alt genug sind, scheinbar ausziehen müssen noch nie gemocht. Als müsste man sich beweisen und sich als fähig zeigen in der wilden Natur zu überleben. So etwas war doch in der heutigen Zeit vollkommen überflüssig. Viele sprachen immer vom flügge werden, aber um frei zu sein, muss man nicht sein Nest verlassen. Wenn etwas gut war, warum sollte man davon loslassen?
Doch daran mochte ich jetzt noch nicht denken. Lieber wollte ich die Fahrt genießen, die meiner Meinung nach für immer hätte weitergehen können. Es entspannte mich, die verschiedenen Landschaften zu betrachten, im Wissen, die nächsten zwei Wochen Ferien zu haben. Doch schneller als erwartet wurde als nächster Halt Köln angekündigt. Ich setzte mir meinen Rucksack auf und nahm den Griff meines Koffers in die rechte Hand und machte mich, während der Zug zum Stillstand kam, auf den Weg zum Ausgang.
Im starken Kontrast zum beinahe leeren Zug waren die Menschenmassen am Bahnhof kaum ertragbar. Es war schwierig, aus dem Überfluss aus visuellen und auditiven Informationen die entscheidenden herauszufiltern. Jeder in der Menge verfolgte nur sein eigenes Ziel, ohne Rücksicht auf den anderen zu nehmen.
Als ich endlich die letzte Rolltreppe nach oben nahm, fühlte ich mich wie von einem Monster ausgespuckt. Ich war nunmal nicht an das Leben in der Großstadt gewöhnt, ich kannte aus meiner Heimatstadt nur ruhige Gassen und nette Geschäfte. Mit der Navigation in einer so großen Stadt würde ich mich auch noch vertraut machen müssen, doch fürs Erste war Google Maps das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte. Ich durchsuchte den Nachrichtenverlauf zwischen Zoey und mir. Da stand es: Gerberstraße 21
Ich tippte die Adresse ein und machte mich mit dem Blick auf die Karte auf den Weg.
Ich konnte den Sehenswürdigkeiten und hohen Gebäuden kaum Aufmerksamkeit schenken, denn jedes kurze Aufblicken vom Bildschirm kostete mich meistens, einmal falsch abzubiegen. Schon auf der Hälfte der Strecke war mir klar, dass das die wohl längsten sechs Kilometer meines Lebens sein würde. Das mir unvertraute Wirrwarr aus Straßen, Wegen und Gassen schien immer weiter zu wachsen, während ich lief, bis ich endlich das Straßenschild gefunden hatte.
Ich las die Hausnummern, während ich langsam den Bürgersteig entlangging.
13, 15, 17, … 21.
Entgegen meiner Erwartungen lag eine kleine Bäckerei an einer Straßenecke vor mir. Erst nach einigen Augenblicken bemerkte ich die schmale Holztür weiter rechts. Daneben waren zwei Klingelschilder. Das eine war bereits vergilbt und hatte mit Sicherheit viele Regengüsse miterlebt. Das andere hingegen sah einladend und neu aus.
Ich klingelte. Nach einigen Sekunden kam es durch die Sprechanlage: „Feltmann.“
„Hallo, ich bin‘s, Conrad“, sagte ich.
„Ah, komm rein“, sagte Zoey einladend.
Das Schloss summte laut und die Tür sprang auf. Ich zog meinen Koffer mit hinein, der durch den engen Flur sehr sperrig wurde. Die knarzenden Treppenstufen kam Zoey nach unten gestürmt. Sie hatte sich ein ganzes Stück verändert, seitdem sie ausgezogen war. Ihre gelockten braunen Haare, waren jetzt nur noch schulterlang. Sie trug einen weiten Strickpullover aus dunkelroter ausfransender Wolle. Ihre weite Hose konnte man fast für den Bestandteil eines Pyjamas halten. Sie war aus dünnem Stoff hergestellt und mit bunten Mustern verziert. Ich hatte sie nicht einmal zu Hause in solchen Klamotten gesehen.
„Hey, wie gehts?“, begrüßte sie mich und umarmte mich mit ihrem kratzigen Pulli, „Alles gut gelaufen auf der Fahrt?“
„Jaja, mir gehts gut“, gab ich zurück, „Sind ja schließlich Ferien.“
Zoey lachte.
„Komm“, sagte sie, „Ich helfe dir schnell.“
Ohne mir Zeit zum Antworten zu geben, schnappte sie mein Gepäck und hievte es die Holztreppe herauf. Ich ging ihr hinterher. Sie stieß die Tür zu ihrer Wohnung auf.
„Willkommen in meinem Reich“, sagte sie mit einem ironischen Hauch von Klischee. Ich sah mich erstaunt um. Wir standen im Wohnzimmer, in dem aber neben einem Esstisch mit zwei Stühlen auch eine Ecke mit Sofas, Sitzsäcken und eine Stehlampe untergebracht waren. Außerdem thronte ein riesiger Fernseher auf einem niedrigen Regal vor der Sitzgruppe.
Es war deutlich, dass nicht auf ein bestimmtes Farbschema geachtet wurde, sondern Zoey alles in ihr zu Hause aufgenommen hatte, was sich anbot. Der gesamte Raum war riesig und erinnerte eher an ein Atelier, als an eine Studentenwohnung. Geschuldet war dies wahrscheinlich den Backsteinmauern und großen Fenstern, die sich in der Ecke hinter den Sofas von einem halben Meter über dem Boden bis unter die Decke erstreckten. So hatte man einen guten Blick auf die Kreuzung, an der das Gebäude lag. Es wunderte mich, dass Zoey so eine gute Wohnung hier in Köln erwischt hatte. Als hätte ich gefragt, erklärte sie: „Ich arbeite unten drunter in der Bäckerei, zwar fällt mein Gehalt etwas knapper aus, aber dafür muss ich mich nicht um die Miete kümmern. Cool, nicht wahr?“
„Allerdings“, sagte ich.
„Eigentlich ist es hier nie so ordentlich“, gestand sie während sie sich, die Hände in die Seiten gestemmt, im Raum umsah, „Ich habe nur für dich aufgeräumt.“
Ich schmunzelte.
„Die Mühe hättest du dir gar nicht machen müssen“, erklärte ich, „Bei mir sieht es auch nicht gerade so vorbildlich aus.“
„Keine Sorge“, gab Zoey zurück, „In spätestens drei Tagen ist hier wieder alles beim Alten.“
„Na dann…“, sagte gespielt erleichtert.
„Komm, ich zeig’ dir mal das Zimmer.“
„Bekomme ich ein eigenes Zimmer?“, fragte ich erstaunt.
„Nicht ganz“, erklärte sie, „Ich wollte dich nicht dazu zwingen auf der harten Couch zu schlafen, also kannst du mit mir im Bett schlafen, wenn es dir nichts ausmacht. Platz genug ist auf jeden Fall.“
„Ja, danke, kein Problem“, antwortete ich mit einer Spur der Nervosität in meiner Stimme.
„Ok, dann ist ja gut“, sagte sie. Sie zögerte kurz.
„Oh, mir fällt gerade ein, ich muss noch eine Freundin anrufen“, wechselte sie das Thema.
„Oh, in Ordnung“, sagte ich, „Ich lege mich mal aufs Sofa, dann kannst du hier telefonieren.“
Ich schloss hinter mir die Tür und ging über den knarzenden Holzboden zur Sitzecke.
Ich ließ mich auf die Couch fallen, die statt nachzugeben laut aufquietschte. Zoey hatte absolut recht, es war wahrscheinlich unmöglich auf einem so unbequemen Schlafplatz die Augen zuzumachen.
Die bunten Kissen, gegen die ich mich lehnte, waren zwar ein wenig staubig, aber relativ weich. Ich schnappte mir eine der Zeitschriften, die zerknickt zwischen anderen Magazinen auf dem Glastisch vor dem Sofa lag.
Die Themen waren nicht ungewöhnlich und fast alle ereignislos, auch wenn das Blatt mit allen Mitteln versuchte, es anders darzustellen. Während ich Zoey dumpf im Nebenzimmer telefonieren hörte, blätterte ich gelangweilt durch die dünnen und bereits verknitterten Seiten, überflog die meisten Artikel nur, bis eine Überschrift meine Aufmerksamkeit erregte. Der Zeitung entsprechend, wirkte der Titel nicht außerordentlich seriös, dennoch weckte dieser mein Interesse.
„Gewickelt modisch unterwegs: Werden Windeln zum neuen Modetrend?“
‚Was für ein aufgeblasener Schwachsinn‘, dachte ich mir sofort. Doch aus irgendeinem Grund las ich weiter.
„Windeln soll nicht länger Kleinkindern und Menschen mit Inkontinenz vorenthalten sein, so lautet das Motto der Modekette „Wathos“.
Ich könnte hören, wie Zoey sich am Telefon verabschiedete. Ohne viel nachzudenken riss ich den Artikel aus der Zeitung heraus und knäulte ihn in meine Hosentasche. Zoey kam wieder aus dem Zimmer. Sichtbar nachdenkend ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Ich müsste ein paar Sachen besorgen und eine Freundin von mir würde mitkommen“, erklärte sie, „Willst du hier bleiben oder auch mitkommen?“
Die Langeweile hatte mich heute schon genug geplagt, es war jetzt bestimmt genau das Richtige, etwas zu tun und nicht nur herumzusitzen.
„Klar, gerne“, sagte ich.
„Nimm am besten ein bisschen Geld mit, vielleicht willst du ja auch was kaufen“, sagte sie.
Ich tippte auf meine Hosentasche.
„Habe ich schon“, sagte ich kurz.
„Gut, dann los“, sagte sie und zog schon ihre dicke Felljacke und ihre Winterstiefel an und war schon beinahe auf dem Weg nach unten.
„Warte“, sagte ich, „Läuft das jetzt auf das Besorgen von ein paar Sachen oder auf eine Shoppingtour hinaus?“
Während Zoey schon die Treppen hinunterlief drehte sie sich zu mir um.
„Beides.“
Nachdem wir Sophie am vereinbarten Ort gefunden hatten und wir uns einander vorgestellt hatten, machten wir uns auf den Weg.
In der Mittagszeit war die Stadt beinahe so voll wie der Bahnhof. Die Menschenmassen bewegten sich wie durch Honig in zwei Richtungen die Straßen entlang und wir hatten keine andere Wahl als Teil dieser Menge zu sein. Wollte man in die andere Richtung, musste man die Straßenseite wechseln, um in den entgegenlaufenden Strom zu gelangen. Zoey zeigte sich trotz der vielen Menschen ziemlich fröhlich und uns gegenüber extrovertiert. Ich hatte sie früher immer als eine ruhige und zurückhaltende Person in Erinnerung. Wer weiß, vielleicht hatte sie ihre Unsicherheiten im Geiste der Großstadt besiegt, vielleicht täuschten mich aber meine Erinnerungen.
Durch welche Märkte oder Feste dieser Trubel an Menschen auch angelockt wurde, wir mussten unfreiwillig daran teilnehmen. Ironischerweise hatte man nur in den Läden das Gefühl wieder richtig atmen zu können. So wurden wir von der Menge die Straßen entlang geschoben und bogen ab und zu in eines der Geschäfte ab.
Als Sophie den Vorschlag machte, in einen Klamottenladen abzubiegen, wusste ich bereits, was auf mich zukam. Mit offenen Mündern liefen die beiden durch das Geschäft, schnappten sich verschiedene Röcke und Kleider, zeigten diese einander und mussten meist nach einem Blick auf das Preisschild suchen, wo sie es hergenommen hatten.
Doch nach einiger Zeit hielten beide einen Stapel von anzuprobierenden Klamotten unterm Arm. Sophie verschwand in einer der Umkleidekabinen, derweil Zoey sich noch weiter durch die Haufen an Blusen und Jacken wühlte. Wahrscheinlich würde ich mein Geld nicht in diesem Laden lassen, aber dennoch nahm ich mir eine Jeans mit in eine Umkleidekabine, um sie anzuprobieren. Während ich ungeschickt versuchte, mich in die Hose zu quetschen bemerkte ich etwas. Die Wand zur Kabine neben mir war nicht richtig festgeschraubt worden, weshalb ein feiner Spalt zwischen den Brettern entstand. Ich warf einen Blick hindurch und sah Sophie. Nur mit Unterwäsche bekleidet hielt sie sich vor dem Spiegel ein blaues Kleid mit aufgestickten Blumen an. Ich war wie gebannt. Ihre Figur war sehr schlank, beinahe dünn, aber auf keine ungesund aussehende Weise. Ihre Brüste waren relativ flach, aber es passte sehr gut zu ihrem restlichen Erscheinen. Ich riss meinen Blick wieder los.
Mir kam ein Gedanke. Aus der Tasche meiner Jeans, die am Haken der hölzernen Wand hing, kramte ich den zusammengeknüllten Zettel heraus und versuchte ihn mit wenig Erfolg an einem Brett glattzustreichen. Lesbar war er zumindest. Ich schloss an die Stelle des Textes an, bei der ich aufgehört hatte.
„Wir haben der Geschäftsführerin Anna Guns unsere brennenden Fragen zu ihrer revolutionären Idee gestellt.
Interviewer: Wie stellen Sie sich das genau vor, ist das Ganze ein erotischer Kick oder steckt wirklich ein Zweck dahinter?
Anna: Nein, es soll tatsächlich Menschen den Alltag erleichtern. Denken Sie doch einmal daran, wie lange jeder täglich auf der Toilette verschwendet.
Interviewer: Da haben Sie recht, aber wie wollen Sie Erwachsene dazu motivieren, Windeln zu tragen?
Anna: So wie jeder Modetrend, muss einfach nur irgendjemand beginnen und sobald der Funken übergesprungen ist, will plötzlich jeder Windeln tragen.
Interviewer: Aber jeder Modetrend hat doch auch ein Ende, befürchten Sie denn nicht das Gleiche für Ihre Produkte?
Anna: Ganz so einfach ist das nicht. Ich möchte nicht nur einen neuen Trend starten, sondern die Gesellschaft in dieser Hinsicht verändern.
Interviewer: Sie sind also eine richtige Pionierin.
Anna: Ja, das könnte man so sagen.
Interviewer: Wie wollen sie es denn anstellen, dass Leute langfristig Windeln tragen?
Anna: Dazu haben wir die sogenannten Starterwindeln entwickelt. Unsere besten Leute arbeiten schon lange an dem Produkt, aber um die Funktion kurzzufassen: Wenn ein Käufer eine der Windeln nachts anzieht, wird während des Schlafens ein kleiner Vibrationsmotor aktiviert, der dem Körper durch sexuelle Stimulation signalisiert, dass die Windel etwas Positives ist. So lässt sich im Gehirn des Nutzers sozusagen einprogrammieren, dass sie die Windel brauchen und mögen.
Interviewer: Führt das anschließend bei der Person also zu Inkontinenz?
Anna: Genau. Aber nicht nur das, sondern der Kunde selbst wird weiterhin von sich aus Windeln tragen wollen. Wir haben auch noch ein paar weitere Funktionen geplant, aber das ist alles noch in der Testphase.
Interviewer: Fürchten Sie nicht, dass Nutzer Ihres Produktes von anderen ausgeschlossen werden könnten?
Anna: Ich bin mir sicher, dass, sobald es die neue Norm ist, es ganz normal ist, Windeln zu tragen.
Interviewer: Ab wann sind Ihre Produkte denn erhältlich?
Anna: Wir testen schon längere Zeit unsere Artikel an bezahlten Testern und in ein paar Tagen werden unsere Produkte auch in beinahe allen Drogerien erhältlich sein.
Interviewer: Dann wünsche ich Ihnen viel Glück mit ihrer Produktreihe und bedanke mich herzlich für Ihre Zeit.
Anna: Ich bedanke mich ebenfalls.“
Ich war zugleich verwundert und verwirrt. Umso mehr ich nachdachte, desto mehr fühlten sich meine Gedanken genauso wie die Masse in den Straßen an.
Gedrosselt, schleichend, kraftlos.
Ich versuchte zu verstehen, was ich gerade genau gelesen hatte. Mein Gehirn begann alle möglichen Fragen zu formulieren, die alle mit den gleichen Wörtern begannen, doch sofort wieder von der nächsten Phrase verdrängt wurden, bevor ich darüber nachdenken konnte.
„Kommst du?“, hörte ich dumpf, beinahe von meinen Gedanken übertönt. Ich schreckte auf.
„J-ja, ich komme“, gab ich zurück. Ich zog meine Hose wieder an und stopfte den Artikel schnell wieder in meine Tasche. Die Jeans hängte ich wieder an ihren Platz zurück und nachdem Zoey und Sophie gezahlt hatten, verließen wir den Laden und verschmolzen wieder mit der Menge.
Derweil wir uns mit kleinen Schritten durch die Masse bewegten, kreisten immer noch die gleichen Gedanken in meinem Kopf herum. Ich musste mich konzentrieren, dass nicht in meinen Gedanken versank und die vielen Menschen und Eindrücke um mich herum in ein Gemisch aus Farben verschmolzen. Trotzdem gelang es mir, langsam einen Gedanken nach dem anderen zu fassen.
Es war zwar unwahrscheinlich, aber wenn die Produkte von Wathos erfolgreich sein sollten und jeder künftig Windeln tragen würde, würde dies eine immense Kontrolle über den Kunden bedeuten. Bereits viele Unternehmen sind mit Suchtmitteln reich geworden, auch wenn sich viele ihrer eigenen Abhängigkeit klar bewusst sind und sich von dieser lösen wollen. Würde genau dieser Faktor fehlen, dass aktiv versucht wird, gegen die Sucht vorzugehen, stünde dem Aufstieg eines Modetrends zur Gesellschaftsnorm nichts mehr im Wege. Alle würden Windeln tragen, weil sie es einerseits durch ihre Inkontinenz müssten, es aber auch von sich heraus wollten. Niemand würde Kritik äußern und niemand würde sich gegen die Änderung wehren. Mit einem Monopol in einer solchen Stellung wäre Geld eventuell gar nicht das größte Ziel, sondern die Macht.
Zoey machte am Abend Nudelauflauf für uns zwei. Das Studentenleben hatte sie scheinbar zu einer top Köchin gemacht, denn ihr Essen schmeckte toll.
Wir saßen am Holztisch im Wohnzimmer, das nicht von einer Deckenlampe, sondern von vielen Stehlampen und bunten Lichterketten beleuchtet wurde. Draußen war es bereits dunkel. Es fühlte sich fast wie am Heiligabend an. Immer noch dachte ich ab und zu an den Zeitungsartikel, während ich mit Zoey zusammen die Nudeln ungeschickt in mich hinein schaufelte. Ich war mir nicht sicher, ob ich mir Gedanken machen sollte. Was könnte ich denn schon ausrichten? Sollte ich einfach alles seinen Lauf nehmen lassen, egal ob das Unternehmen Erfolg hat oder nicht? Sollte ich Zoey davon erzählen?
Es würde wahrscheinlich am besten sein, die Sache für mich zu behalten und abzuwarten. Vielleicht war meine Reaktion völlig übertrieben gewesen und es würde nichts passieren.
Nachdem wir gegessen und abgeräumt hatten, beschäftigten wir uns noch abwechselnd mit Kartenspielen und Fernsehen, bevor wir schlafen gehen wollten.
Im Bad kramte ich alles aus meinem Kulturbeutel heraus und verteilte es vor dem Spiegel. Ich putzte mir die Zähne, wusch mir das Gesicht und zog meine Schlafklamotten an. Bereit fürs Bett legte ich mich schon einmal unter die Bettdecke und machte es mir bequem. Derweil machte sich Zoey im Bad fertig.
Das Bett war zwar nicht klein, aber auch kein Doppelbett, wir würden also ziemlich nahe beieinander schlafen. Zoey war ohne Zweifel sehr hübsch, weshalb ich mich einerseits freute neben ihr zu schlafen, andererseits machte es mich ein wenig nervös.
Scheinbar brauchte sie noch etwas länger, um sich bettfein zu machen, also schnappte ich mir ein Buch aus meinem Koffer und las ein paar Seiten. In dem Moment, als ich das Kapitel fertig gelesen hatte, hörte ich, wie Zoey das Licht im Bad ausschaltete.
Als sie das Zimmer betrat, fiel mir beinahe das Buch aus der Hand. Meine Gedanken von vorhin flogen wieder kreuz und quer durch meinen Kopf. Die Sorgen, die ich hatte, waren plötzlich nicht mehr nur ferne Gedanken, sondern wurde direkt vor mir zur Realität. Denn das, was Zoey dort trug, war keine Unterhose. Auf der weißen Windel erkannte ich sofort das blaue Logo aus dem Zeitungsartikel.
Ich dachte nach, aber meine Gedanken waren zu schnell, als dass ich eine rationale Entscheidung hätte treffen können.
Hätte ich besser denken können, hätte ich vielleicht eine bessere Lösung gefunden, als einfach nur zu schweigen. Ich schämte mich dafür, so einfallslos zu sein. Vielleicht trug sie heute zum ersten Mal eine Windel und ich könnte verhindern, dass sie dauerhaft Windeln benutzte. Ich überlegte und kam zu einem Schluss.
Dass sie heute die Windeln zum ersten Mal trug, war unwahrscheinlich. Wahrscheinlich war es für sie keine Neuheit, Windeln zu tragen, sonst würde sie wohl nicht direkt vor meiner Nase mit diesen herumlaufen.
Sie legte sich neben mich ins Bett.
„Ich gehe schon mal schlafen“, sagte sie müde, „Du kannst ja noch ein wenig lesen.“
„Ja…klar“, sagte ich, immer noch überfordert mit der Situation, „Ich gehe jetzt besser auch schlafen.“
„Okay“, murmelte sie, die Augen schon geschlossen und ihr Kissen umarmend.
Ich legte das Lesezeichen einige Seiten weiter zwischen die Blätter und schaltete das letzte Licht im Raum aus.
Die Decke war zwar nicht besonders dick, aber ich wickelte mich so gut wie möglich darin ein und suchte eine gemütliche Position zu finden. Ich legte mich auf die Seite und lauschte der Stille. Ab und zu meinte ich, in der Ferne ein Auto zu hören, doch es war so leise, dass ich mir im nächsten Moment schon nicht mehr sicher war, ob ich tatsächlich etwas vernommen hatte. Ich merkte bereits die ersten Fäden von beginnenden Träumen, die langsam in meinem Gedanken zu wachsen begannen und schlief ein.
Es war noch ziemlich früh, als ich meine Augen wieder öffnete. Es konnte höchstens 7 Uhr sein. Ich beschloss, noch ein wenig weiterzuschlafen, als ich merkte, wie Zoey sich von hinten an mich drückte. Ich zuckte ein wenig zusammen. Ich konnte ihre Brüste an meinem Rücken spüren.
„Kein Grund dich zu erschrecken“, sagte Zoey ruhig, „Ist ja mit Sicherheit nicht das erste Mal, dass du die Reize einer Frau kennenlernst.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Noch nie hatte ich sie so etwas sagen gehört.
„Aber, Zoey“, versuchte ich mich zu artikulieren.
„Warum bist du denn so nervös?“, wollte sie wissen, „Ist es etwa wegen meiner Windel?“
Ich schwieg.
Sie ließ ihre warme Hand meinen Rücken hinunter sanft bis zu meinen Beinen gleiten. Ein leichtes Zucken ging durch meinen Körper, als sie über meine Unterhose strich und sanft aber spielerisch zupackte.
„Abgesehen von deinem Pimmel ist es da unten ja ganz schön leer“, hauchte Zoey mir ins Ohr, „Sicher, dass du nicht auch mal eine Windel anziehen willst?“
Ihre Hand in meinem Schritt spielte an meinen Hoden. Ich nahm sie beim Handgelenk und legte sie beiseite.
„Was ist denn?“, fragte sie, „Ich bin nicht einmal deine richtige Schwester, das ist nichts Verbotenes wenn wir das machen. Du hast doch sicher auch schon einmal darüber nachgedacht.“
Ich brachte kein Wort zustande. Zoey wirkte wie ausgetauscht. Sie verhielt sich ganz anders als sonst, nicht so wie die echte Zoey. Es war, als hätte jemand ihr Gehirn umprogrammiert…
Bei diesen Gedanken fiel bei mir der Groschen. Die Windel hatte Zoey nicht nur dazu gebracht, eine physikalische und mentale Abhängigkeit zu dieser zu schaffen, sondern hatte nebenbei ihre Charakterzüge verändert und ihre Personalität beeinflusst.
Mir wurde ganz plötzlich heiß.
Das ist nicht Zoey.
Ich riss die Decke von mir, sprang aus dem Bett, riss beinahe die Lampe vom Nachttisch und stolperte blindlings aus dem Zimmer. Zoeys verwundertes Rufen wurde immer dumpfer, alles um mich herum schien sich zu drehen, Stimmen in meinem Kopf und Realität verschmolzen.
Das ist nicht Zoey.
Paranoid vor meinen eigenen Gedanken sah ich mich panisch um.
Das ist nicht Zoey.
Wie warmes Wachs tropften die Farben meiner Umgebung nach unten. Die bunten Tropfen mischten sich zusammen zu einem tiefen, alles umgebenden Schwarz.
Als ich aufwachte, lag auf meinem Kopf ein kalter Waschlappen und die Decke war mir bis unter das Kinn gezogen. Es war schön bequem und bis auf ein wenig Kopfschmerzen ich fühlte mich entspannt. Ein wenig mehr Schlaf könnte wohl nicht schaden. Gerade wollte ich die Augen wieder schließen, als mich plötzlich die Ereignisse von vorhin wie ein Ziegelstein trafen. Panik durchströmte meinen Körper. Sofort sah ich mich um, um zu sehen, wo Zoey war. Ich drehte meinen Kopf Richtung Bad, als ich von dort einige Geräusche hörte.
Langsam lehnte ich mich nach vorne, um einen Blick zu erhaschen. Stück für Stück richtete ich mich auf und spähte um die Ecke. Abwartend sah ich ins Badezimmer.
Plötzlich Fußschritte.
Sofort legte ich mich wieder ins Bett und zog mir die Decke bis unter die Nase, als würde sie mir Schutz bieten. Unwissend, was ich erwarten sollte, krallte ich meine Finger in den Stoff der Daunendecke. Was sollte ich tun? Meine Gedanken stockten und mir war unklar, wie ich mit der Situation umzugehen war. Auch wenn diese Person genau aussah wie Zoey, war sie im Inneren doch ein Fremder. Ein Unbekannter.
Ich überlegte, was ich tun sollte. Hier zu bleiben erschienen mir keine Option zu sein. Ich strengte mich an.
Ein Gedanke schoss durch meinen Kopf: weglaufen.
Schon das erste Hindernis könnte meinen Plan zum Scheitern verurteilen, denn bevor ich irgendetwas tun konnte, musste ich an der offenen Badezimmertür vorbei. Mit angehaltenen Atem und gespitzten Ohren lauschte ich aufmerksam. Eine gefühlte Minute wagte ich mich nicht zu rühren und lag mit weit offenen Augen unter der Decke. Noch viel lauter als die gedämpften Geräusche aus dem Bad hörte ich meinen Herzschlag in den Ohren. Ich durchdachte meinen Plan. Plötzlich überkam mich der Pessimismus. Ich hatte doch gar keine Chance. Allein das knarzende Holz würde mich schon bei den ersten Schritten verraten. Bis zum Treppenhaus zu gelangen erschien unmöglich. Sollte ich es doch lieber lassen? War es vielleicht doch nicht das Risiko wert? Entmutigt sank ich noch tiefer in mein Kissen und wollte innerlich aufgeben. Ich atmete langsam aus.
Doch die Götter schienen es gut mit mir zu meinen, zumindest zog ich diesen Schluss aus dem, was ich aus dem Bad hören konnte. Zuerst kleine, dann größere Tropfen, die auf dem Fliesenboden aufkamen.
Zoey hatte die Dusche angestellt.
Mein Herz, das sich gerade erst wieder beruhigt hatte, begann wieder laut zu schlagen. Das war meine Chance. Meine einzige Chance. Das durfte ich auf keinen Fall versemmeln. Noch einen kurzen Moment wartete ich ab, wagte es kein Geräusch zu machen. Das klappernde Geräusch des Duschvorhangs, wie er zur Seite und wieder zurückgezogen wurde.
Das war mein Startsignal!
Ich warf die Decke beiseite, sprang aus dem Bett und rannte ins Wohnzimmer. Von meinen Klamotten zog ich nur das nötigste an, Jeans, Pulli, Socken. Alles saß schief, doch darauf kam es nicht an. Ich schnappte meinen Rucksack vom Sofa und zog hastig meine Jacke über. Meine Winterschuhe band ich nicht einmal, bevor ich die Treppen hinuntereilte.
Ich stürmte stolpernd den Flur entlang und öffnete schwungvoll die Tür zur Straße. Bereit zum Rennen aber ohne Plan stand ich da. Mist! Ich hätte mir vorher wirklich mehr Gedanken machen sollen. Eher aus dem Bauchgefühl als aus einer rationalen Entscheidung heraus machte ich mich schnellen Schrittes zur nächstgrößeren Straße auf. Natürlich wusste ich, dass Zoey noch nicht einmal die Dusche verlassen hatte, dennoch wollte mich die Erwartung nicht loslassen, jeden Moment Schritte hinter mir zu hören, gefolgt von einer kalten Hand auf der Schulter. Meine Schritte beschleunigten sich.
An einer Straße angekommen warf ich nach links und rechts einen scharfen Blick. Da! Eine Bushaltestelle. Egal wohin, Hauptsache weg.
Ich wartete auf einem der Sitze an der Sitze. Wie kalt dieser war, kümmerte mich weniger, das Warten war meine eigentliche Angst. Nervös wippte ich mit meinem Bein auf und ab.
Ein Bus hielt an der Haltestelle und ohne viel Nachzudenken stieg ich ein.
„Wohin?“, fragte der Fahrer.
Ich warf einen Blick auf die Endstation auf der Leuchttafel.
„In die Zöglerstraße.“
„Erwachsener oder Kind?“
„Erwachsener.“
„2,50 € bitte.“
Ich griff in meine Hosentasche. Zuerst die linke, dann die rechte. Ein heißer Schauer durchlief meinen Körper. Ich hatte mein Portmonee vergessen. Hektisch durchwühlte ich all meine Jackentaschen nach Kleingeld. Ein paar 20- und 50-Cent Münzen und viel Kupfergeld.
„Junge, wenn du das Geld nicht hast, dann geh wieder“, sagte der Busfahrer ungeduldig.
„Ich hab‘s gleich“, erwiderte ich, ohne zu wissen, ob das die Wahrheit war. Klimpernd legte ich den Münzhaufen auf die metallene Zahlfläche.
Der Fahrer stöhnte auf und begann das Geld einzusortieren.
„Da fehlen sieben Cent.“
So ein Mist, das durfte doch nicht wahr sein!
Auf dem vordersten Sitz saß ein Mädchen in meinem Alter.
„Entschuldigung, könntest du mir ein paar Cent leihen?“, fragte ich so freundlich, wie es mir der Stress erlaubte. Schmerzhaft langsam sah sie von ihrem Handy auf.
„Wozu brauchst du die denn?“, fragte sie.
„Ist für mein Ticket“, erklärte ich gehetzt.
Nun fuhr mich der Fahrer wieder an.
„Ich habe echt keine Zeit für deine Aktion hier! Entweder du hast jetzt das Geld oder du lässt uns mit deinem Theater in Ruhe und verschwindest.“
Ich sah das Mädchen mit flehendem Blick an. Sie rollte nur ihre Augen, griff in ihre Hosentasche und drückte mir zehn Cent in die Hand. Ich legte es sofort dem Busfahrer vor die Nase.
„Na endlich“, sagte er genervt und gab mir das Ticket.
Gegenüber von dem Mädchen war noch ein Platz frei, also setzte ich mich dort hin, gerade noch rechtzeitig, bevor der Fahrer das Gaspedal durchtrat und den Bus beinahe zum Abheben brachte.
Erleichtert atmete ich aus und sah aus dem Fenster. Mein Herzschlag beruhigte sich wieder.
„Wohin fährst du denn?“
Ich sah zum Mädchen.
„Ist kompliziert“
Sie warf einen schrägen Blick auf mich.
„Ich finde, du könntest mir ruhig mal sagen, warum du so ein Theater gemacht hast, immerhin hättest du ohne mich eine halbe Stunde auf den nächsten Bus warten müssen.“
Ihre erwartungsvollen Augen lächelten mich an.
„Naja“, begann ich, „Also meine Stiefschwester hat sich irgendwie komisch verhalten. Sie ist sonst eigentlich nie so, keine Ahnung…“
„Und?“, fragte sie neugierig, „Deshalb fliehst du praktisch vor ihr?“
Sie lachte.
„Man sollte sich ja besser aus der Gefahrenzone begeben, bevor die Situation eskaliert.“
Mit einem neckenden Grinsen lehnte sie sich zu mir nach vorne.
„Also, die Wahrheit bitte.“
Ich zögerte. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, war meine Geschichte alles andere als glaubhaft, ja sogar lächerlich. Aber was sollte ich denn sonst sagen?
„Sie hat so ein neuartiges Produkt ausgetestet und irgendwie hat sie das verändert.“
„Und was war das?“, fragte sie neugierig, als würde sie mit einem Kleinkind sprechen.
„Ich weiß auch nicht genau, ich glaube, es waren so … Inkontinenzprodukte.“
Anders als erwartet füllte nicht ihr lautes Auflachen den Bus, stattdessen machte sich Stille breit. Ihr Lächeln verschwand.
„Meinst du diese Windeln?“, fragte sie mit gesenkter Stimme.
„Ähm, … ja“, erwiderte ich ebenfalls mit leiser Stimme.
Sie dachte sichtbar nach. In ihren Augen spiegelten sich plötzlich die gleichen Gefühle wie meine wider.
Sie sah zur Seite aus dem Fenster, als würde sie nachsehen, ob wir beobachtet würden.
„Weißt du“, sagte sie, „Meine Mutter verhält sich auch seit ein paar Tagen seltsam. Sie ist so dauerfreundlich und…“
Sie suchte nach den passenden Worten.
„Sie ist wie ausgetauscht.“
Das Mädchen sah mich besorgt an und schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte.
„Trägt deine Mutter denn auch die gleichen Windeln?“
„Weißt du, bei uns ist es mit dem Geld immer ein wenig knapp. Meine Mutter tut, was sie kann, damit es uns gut geht. Eines Tages hat sie uns erzählt, sie testet ein neues Produkt für eine Firma aus, wofür sie natürlich bezahlt würde.“
Sie holte tief Luft.
„Sie wollte ja nur das Beste für uns und ein wenig dazuverdienen, aber hätte ich gewusst, was das mit ihr anstellt, hätte ich das niemals zugelassen.“
Sie seufzte.
„Das Beste ist es wohl, wenn ich einfach mit ihr rede.“
In Gedanken an Zoey zog sich in mir alles zusammen. Es war wahrscheinlich gar keine gute Idee, mit ihr zu reden.
„Vielleicht solltest du das lieber lassen“, riet ich ihr.
„Wie meinst du das?“
„Ich denke, du solltest jetzt lieber nicht mit ihr reden.“
„Seit wann kannst du mir sagen was ich zu tun und zu lassen habe? Ich kenn‘ dich ja kaum.“
„Ich meine das ja nicht böse, es ist nur zu deinem eigenen Schutz.“
„Schutz? Vor meiner eigenen Mutter?“
Sie sah mich ungläubig an.
„Ich bin mir ja selbst nicht sicher, aber die Windeln scheinen den Charakter einer Person komplett auszutauschen, quasi zu überschreiben. Wer weiß, wie sich deine Mutter noch verändert hat. Wir können keinem trauen, der diese Produkte genutzt hat. Die sind alle unberechenbar. Das ist jetzt ein Fremder! Jemanden den du nicht kennst!“
Eingeschüchtert von meinen Worten, schwieg sie. Sie presste die Lippen aufeinander und eine Träne rollte ihre Wange herab, die sie schnell wieder mit dem Ärmel wegwischte.
Meine Wortwahl war wohl doch etwas hart gewesen. Sanft legte ich meine rechte Hand auf ihr Knie.
„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“
Sie schniefte.
„Schon in Ordnung, du hast ja recht.“
Sie sah aus dem Busfenster.
„Und was jetzt?“, fragte sie. Ich überlegte, denn ich wusste es auch nicht.
„Ich hab eine Idee“, sagte sie.
Ich hörte gespannt zu.
„Meine Tante lebt hier in der Nähe. Wir müssten nur noch ein paar Stationen weiterfahren.“
„Aber woher wollen wir wissen, ob sie nicht auch diese Windeln trägt?“, wollte ich besorgt wissen.
„Ganz sicher nicht. Die kauft nur Ökozeug und sowas. Würde sie Windeln tragen wären die höchstens aus Stoff.“
Ich lächelte. Sie sah mit ihren immer noch nassen Augen hoch in meine Augen und lächelte ebenfalls. Sie streckte ihre Hand aus und ließ sie in meine fallen.
„Ich bin übrigens Marie.“
Wir sahen beide aus dem Fenster.
„Conrad.“
Wir waren an der Haltestelle angekommen.
„Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen“, sagte Marie laut, beinahe übertönt vom Aufheulen des Busses.
„Sind aber höchstens 400 Meter. Komm schon.“
Nebeneinander liefen wir durch die immer schmaler werdenden Straßen, die schließlich nur noch Gassen waren, bis wir vor einer kleinen Tür standen.
Marie drückte auf die Klingel.
Es dauerte eine Weile, bis von innen das Klicken mehrerer Schlösser und Ketten zu hören war. Die Tür öffnete sich und eine Frau mittleren Alters mit grauem Dutt schaute heraus.
„Marie!“, rief sie freundlich. Die beiden umarmten sich.
Mich sah sie mit spitzem Blick an.
„Bist du ihr Freund?“
Wir wechselten betretene Blicke.
„Ja, also, eigentlich… kennen wir uns noch nicht so lange.“
„Ich bin Conrad“, schob ich noch schnell hinterher.
„Na dann kommt mal herein, ich habe gerade Kaffee aufgesetzt.“
Unsere Schuhe und Jacken zogen wir im Flur aus und folgten ihr in ihre Wohnung.
Ob es unordentlich war oder ob es ein System gab, welches nur sie durchschaute, war mir nicht ganz klar. Papierstapel türmten sich wie Raumteiler in den Zimmern auf, Gläser mit Inhalten, die sowohl Experiment als auch Nahrungsmittel sein konnten, standen in Sammlungen auf den Schränken und Grünes aller Art wuchs auf den Fensterbänken. Maries Beschreibung einer Ökotante war passend, wenn nicht sogar eine Untertreibung.
„Wollt ihr auch einen Kaffee?“
„Ich gerne“, sagte Marie.
„Und du?“
„Äh, nein danke.“
Sie huschte wieder in die Küche und kam kurz darauf mit zwei Tassen Kaffee, Milch und Zucker zurück.
„Setzt euch, setzt euch.“
Wir ließen uns auf einer gelb bezogenen Couch nieder, sie setzte sich auf einen Holzstuhl.
„So, warum seid ihr denn hier?“, fragte sie, während sie sich Sojamilch in ihren Kaffee schüttete.
Wir wechselten überfragte Blicke.
„Ihr zwei Schätzchen müsst mir schon sagen, was los ist, denn mein Bauchgefühl sagt mir, dass ihr etwas auf dem Herzen habt. Und helfen kann ich euch nur schwer, wenn ihr mir nichts erzählt.“
Ich sah zu Marie. Ihr besorgter Blick war deutlich genug, um zu sagen, dass die Wahrheit momentan wahrscheinlich nicht das Beste ist.
„Ihr habt doch nicht etwa finanzielle Gründe mich zu besuchen, nicht?“, scherzte sie.
„Nein, das nicht“, begann ich, „Maries Mutter geht es im Moment nicht so gut. Wahrscheinlich hat sie die Grippe erwischt und wir wollten uns nicht anstecken.“
Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und setzte diese wieder ab. Mit hochgezogenen Augenbrauen nickte sie dann zustimmend.
„Absolut richtig. Die Ansteckungsgefahr sollte man nicht unterschätzen. Viele beachten das gar nicht.“
Scheinbar hatte ich mit dieser Ausrede genau den Gesundheitsgeist in ihr getroffen.
„Und warum bist du dabei? So wie ich das verstanden habe bist du ja nicht ihr Freund.“
„Tante Evelin!“, kam es entrüstet von Marie.
„Ich frage ja nur.“
„Schon gut“, sagte ich, „Wir wollten uns sowieso ein wenig kennenlernen und wir dachten, dass wir jetzt deshalb nicht den Kontakt verlieren. Natürlich nur, wenn das in Ordnung ist.“
„Das kriegen wir schon hin. Einer von euch kann auf dem Sofa schlafen und eine Matratze habe ich auch noch.“
„Super, vielen Dank!“
„Ist doch keine Ursache.“
Sie verschwand mit ihrer inzwischen leeren Tasse in der Küche. Ich sah mich im Raum um und dachte über die heutigen Ereignisse nach. Es war ein wirklich chaotischer Tag und eine Pause war nun mehr als notwendig. Einige der Dinge, die heute geschehen waren, schienen mir immer noch nirgends anders als in Alpträumen möglich zu sein. Als könnte ich meine schlechten Gedanken einfach damit aus meinem Kopf schaffen, atmete ich mit geschlossenen Augen einmal tief ein und wieder aus.
1… 2 … 3 … 4 … 5
Mit einem finalen langen Ausatmen öffnete meine Augen wieder. Ich bemerkte, dass Maries besorgte Blicke mich trafen. Mit einem ruhigen Lächeln versicherte ich ihr, dass es nichts gab, worüber man sich sorgen sollte. Doch mich selbst konnte ich mit einem einfachen Lächeln nicht täuschen. Meine eigenen Sorgen ließen sich leider nicht so einfach beschwichtigen. Nachdenkend zupfte ich an meinem Ohrläppchen und durchbohrte mit leerem Blick die verdorrte Petersilie auf dem Fenstersims, als wüsste sie die Antwort auf meine Fragen.
Auch als wir später einen Film schauten, konnte ich mich kein Stück darauf konzentrieren. Immer noch wollten die gleichen Gedanken in meinem Kopf keine Ruhe geben. Bei dem Gedanken an Zoey drehte sich jedes Mal mein Magen um. Dass ich heute kaum etwas gegessen hatte, trug wohl auch nichts Positives dazu bei. Immer wenn ich daran dachte, dass ich nie wieder die Zoey, die ich kannte, treffen würde, machte mir wirklich zu schaffen.
Nachdem wir zu Abend gegessen hatten und es inzwischen draußen dunkel geworden war, machten wir uns langsam bettfertig. Obwohl die Übernachtung sehr spontan und ohne jegliche Ausstattung dazu stattfand, ließen sich doch alle Dinge, die wir brauchten, finden.
Mit offenen Augen lag ich mit dem Rücken auf der Matratze. Ich lag bequem, besonders für eine spontane Unterkunft, aber trotzdem starrte ich an die Decke, anstatt zu schlafen. Ich blickte auf den gelegentlich aufblinkenden Rauchmelder über mir und wünschte, dass ich irgendeine Möglichkeit hätte das alles zu verhindern. Wenn ich doch irgendetwas tun könnte…
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem starken Kaffeegeruch in der Nase auf. Ich sah auf das Sofa. Die Wolldecke, die letzte Nacht als Bettdecke gedient hatte, war bereits wieder ordentlich zusammengelegt und von Marie war keine Spur.
Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und erhob mich von der Matratze. Gähnend streckte ich meine Glieder und macht mich, der Quelle des Kaffeedufts nach, auf den Weg in die Küche.
An dem kleinen Holztisch mit zwei Stühlen saßen Marie und ihre Tante, beide mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Ihre Blicke erinnerten an die von zwei feinen Damen, die gerade beim Teetrinken gestört worden waren.
„Hat es die Schlafmütze auch endlich geschafft?“, neckte Marie mich, „Es tut mir leid, aber es gibt nur zwei Stühle und wer zuerst kommt, malt zuerst, also musst du wohl auf dem Boden frühstücken.“
Beide lächelten verschmitzt.
„Schon gut, ich brauche nur eine kalte Dusche und ein wenig frische Luft um aufzuwachen“, erwiderte ich wohlgesonnen.
„Ich darf doch das Bad benutzen?“, versicherte ich mich.
„Fühl die wie zu Hause.“
Ich nickte und machte mich auf Richtung Badezimmer.
„Aber in der Dusche wird nicht gepinkelt!“
„Tante Evelin!“
Ich lächelte nur und schloss die Tür hinter mir. Meine inzwischen nicht mehr allzu frischen Klamotten faltete ich ordentlich und legte die auf die Heizung vor dem Fenster. Unten auf der Straße erblickte ich eine Frau. Sie war wohl ebenfalls eine Testerin, ihre Silhouette war nicht zu verkennen. Ein junger Mann neben ihr schien ebenfalls eine Windel zu tragen. Dann erblickte ich ein Mädchen, etwa in meinem Alter, deren Hosenbund den weißen Rand ihrer Windel ebenfalls nicht verdeckte. Mein Blick wanderte immer schneller von Person zu Person und immer mehr Windeln entdeckte ich. Niemals konnten das alles nur Tester sein. Nicht wenige hatten sogar einen Schnuller im Mund. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück und zog rasch die Vorhänge zu.
Nach diesem Anblick hatte ich eine kalte Dusche mehr als nötig. Doch während das eisige Wasser auf meine Schultern prasselte, waren meine Gedanken immer an einem anderen Ort. So viele Dinge gingen mir durch den Kopf, dass es mir schwerfiel, nicht den roten Faden zu verlieren. Zuerst dachte ich daran, wie ich dem ganzen ein Ende setzen könnte, aber diese Aufgabe war schier unmöglich. Wie sollte ich das überhaupt anstellen? Einfach das Firmengebäude finden und „Hallo“ sagen? Das würde wohl kaum funktionieren. Sollte ich das tatsächlich versuchen, bräuchte ich einen wasserfesten Plan.
„Wie lange willst du denn noch das Bad besetzen?“
Marie klopfte an der Tür.
Ich hatte ganz vergessen, wie lange ich schon geduscht hatte. Hastig drehte ich das Wasser ab und sprang aus der Dusche.
„Sorry, ich bin gleich fertig.“
Ich nahm eines der Handtücher aus dem Schrank und trocknete mich ab. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich gar keine frischen Klamotten dabei hatte. Ohne eine andere Wahl zog ich mir wieder die gleichen Klamotten an und schloss das Bad auf.
Marie stand vor mir mit genervtem Blick.
„Ich mache mir hier schon fast in die Hose.“
Sie stürmte ins Bad und schloss eilig die Tür hinter sich.
„Tut mir leid“, sagte ich abwesend.
Mit immer noch nassen Haaren setzte ich mich auf das Sofa. Aus Gewohnheit zog ich mein Handy aus der Tasche.
‚12 verpasste Anrufe‘
Noch bevor ich mein Smartphone entsperrte, wusste ich bereits, von wem diese Anrufe kamen, was mir aber nur mehr Angst bereitete.
Mit der Hoffnung den Gedanken zu verdrängen, öffnete ich Google und tippte auf die Suchleiste.
„Wathos Firma Standort“
Erstaunlicherweise war sie zu Fuß nur etwa eine halbe Stunde entfernt. Am liebsten hätte ich mich sofort auf den Weg gemacht, doch erst jetzt fiel mir ein, dass ich es noch gar nicht mit Marie besprochen hatte, geschweige denn jegliche Art von Plan zu haben.
Sie kam gerade wieder aus dem Bad und bürstete im Laufen ihre Haare.
„Hey Marie“, begann ich. Sie blieb stehen.
„Hm?“
Mit einer unauffälligen Geste deutete ich zum Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren. Zusammen warfen wir einen Blick durch den Spalt. Es dauerte einen Moment, bis Marie verstand und sich die Hand vor den Mund schlug. Die Angst in ihren Augen war unverkennbar.
„Wenn meine Tante das sieht, bekommt sie doch einen Herzinfarkt.“
Nach einigen Sekunden löste sie sich wieder aus ihrer Starre.
„Schnell, auch die anderen Vorhänge zu.“
Wir eilten von Fenster zu Fenster und zogen Rasch ein Vorhang nach dem anderen zu. Dann standen wir uns wieder gegenüber.
„Und jetzt?“, fragte Marie ängstlich.
Ich kratzte meine Nase.
„Ich weiß es nicht.“
Nervös sah Marie erst in die Küche dann zu den Fenstern. Sie suchte verzweifelt nach einer Lösung. Sie brauchte einige Anläufe, um eine Frage zu stellen.
„Wie, also…
Wie dachtest du….
Was sollen wir denn jetzt machen? Wenn sich bald nichts ändert wird sie es sowieso erfahren.“
Wild gestikulierte sie mit den Händen. Ich sah zuerst auf den Boden, dann zu Marie.
„Deswegen sollten wir etwas unternehmen.“
„Aber was denn, ich meine-“
Sie stockte.
„Du willst das doch nicht etwa alleine versuchen?“
Doch genau das war mein Plan. Es war zu erwarten, dass Marie weniger als glücklich darüber sein würde.
„Können wir nicht einfach die Polizei dafür rufen?“
„Die haben wohl Wichtigeres zu tun, als einer Firma für Inkontinenzprodukte hinterherzuspionieren. Dazu brauchen die ja erst einmal etwas gegen die in der Hand. Beweise. Beweise, die ich liefere.“
„Und wie willst du das anstellen?“
Ich fuhr durch meine Haare.
„Ich könnte mich als Tester ausgeben. So komme ich ins Gebäude und mit Sicherheit auch an einige Informationen. Die sind ja schließlich der Schlüssel.“
Maries Blick war voller Sorgen.
„Und was ist, wenn das nicht klappt?“
„Das passiert schon nicht, das weiß ich, in Ordnung?“
Akzeptierend nickte sie zart.
„Ich schaff‘ das schon“, sagte ich und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Marie widersprach mir nicht. Stattdessen sah sie mir mit großer Sorge als auch mit viel Stolz tief in die Augen. Ich erwiderte ihren Blick. Wir beide wussten, dass diese Aktion nicht ungefährlich sein würde. In unseren Augen spiegelte sich wider, wie viel wir füreinander empfanden und wie sehr wir darum fürchteten, es zu verlieren. Unsere Blicke sprachen mehr als tausend Worte jemals hätten ausdrücken können. Unsere Gesichter näherten sich langsam und ihre Lippen landeten auf den meinen. Ich legte meine Arme auf ihre Schultern und sie tat es mir nach. Am liebsten hätten wir für immer so verweilt. Jetzt schien alles so perfekt, jede Sorge schien wie weggeblasen. Doch wir lösten uns und landeten wieder auf dem Boden der Realität.
Wieder sah sie mir besorgt in die Augen.
„Und wann willst du gehen?“
Ich selber musste mich kurz sammeln, bevor ich sprach.
„Je früher, desto besser.“
Hinnehmend nickte sie mit dem Blick auf dem Boden. Sie atmete ein.
„Nagut. Ich kümmer‘ mich so lange um Tante Evelin.“
Ich lächelte.
„Ich pack‘ das schon.“
„Und was ist, wenn das alles vorbei ist?“
„Dann ist der Spuk hoffentlich vorbei. Niemand trägt mehr Windeln, deine Tante bemerkt erst gar nichts davon und wir können wieder nach Hause.“
Dabei musste ich wieder einmal an meine Stiefschwester denken. Innerlich betete ich, dass die alte Zoey da noch irgendwie drinsteckte. Dann könnte man sie bestimmt auch zurückgewinnen. Doch ich verdrängte den Gedanken schnell wieder.
An der Haustür umarmten wir uns noch einmal lange und innig.
„Viel Glück!“, rief Marie mir noch hinterher und winkte.
Marie rief: „Ich hole dich dann ab, schick einfach eine Nachricht!“
Ich streckte beide Daumen in die Höhe, während ich um die Ecke bog und winkte ihr noch einmal zu, bevor ich sie nicht mehr sehen konnte.
Auf dem Weg ging ich noch einmal alles durch, wir besprochen hatten und rief nochmal jeden Schritt auf. Mein Handy war aufgeladen und ich war bereits in der Rolle des Testers. Auch mein Instrument zum Sammeln von Beweisen war bereit. Nur die Kamera meines Mobiltelefons sah aus meiner Hosentasche und selbst die war kaum zu erkennen, konnte aber alles problemlos filmen. Ich konnte meinen Herzschlag in den Ohren hören, aber ich versuchte mich auf das Wesentliche zu fokussieren und nicht nervös zu werden.
Obwohl die Uhrzeit momentan keineswegs von Bedeutung war, ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich nervös auf die tickenden Zeiger blickte.
„14:07, 14:07, 14:07…“
Beim plötzlichen Schlag am Arm schrak ich auf. Die Frau, die ich angerempelt hatte, warf mir einen brüskierten Blick zu, bevor sie sich wieder umdrehte und weiterging. Mein „Entschuldigung“ kam wohl auch zu spät, angenommen sie hatte es überhaupt gehört.
Bevor ich den Plan ein zweites Mal durchgehen konnte, stand ich bereits vor dem Bürogebäude. Wie vor einem langen Tauchgang holte ich ein letztes Mal tief Luft und schritt durch die Vordertür.
Mit selbstbewusstem Gang ging ich durch die Eingangshalle auf den Aufzug zu und drückte die Taste.
Hätte ich den Aufzug nicht mit einer älteren Dame, die mich kritisch musterte, teilen müssen, hätte ich im Spiegel noch einmal meine Haare gerichtet. Zwar war meine Absicht hier weder ein Vorstellungsgespräch, noch musste ich jemanden von mir überzeugen. Doch trotzdem tat ich mein Bestes, um den jungen, unerfahrenen Tester mit finanziellen Beweggründen in mir zu wecken.
Auf der 12. Etage öffneten sich die Türen des Aufzugs. Hinter einer Glastür mit Metallrahmen konnte ich eine Rezeption erkennen. Ich drückte die Klingel neben dem Schild, auf dem der Schriftzug „Wathos“ in modernem Stil in eine Metallplatte eingraviert war.
Die Tür sprang auf und die füllige Frau hinter der Theke warf mir nur einen missbilligenden Blick zu.
„Ich wollte gerne die neuen Produkte testen.“
Mein Ziel war es, möglichst schnell das ganze hinter mich zu bringen, also kam ich direkt zum Punkt. Sie setzte sich ihre Lesebrille auf und kramte eine Liste hervor.
„Haben Sie denn angerufen?“
Das hatte ich nicht.
„Nein, habe ich nicht.“
„Das ist ungünstig. Sie müssen sich vorher anmelden.“
Mit all dem Selbstvertrauen, das ich besaß, tat ich so, als sei das gar kein Problem.
Demonstrativ warf ich einen Blick den Gang entlang ins Wartezimmer.
„Da sind aber noch einige Stühle frei.“
Am Ende des Ganges wartete das Wartezimmer auf mich, bei dem genauso wenig an Designereinrichtung wie auf dem ganzen Stockwerk gespart wurde. Es waren noch zwei weitere Personen dort, die sich die Zeit mit Zeitschriften lesen vertrieben. Mit einem kurzen Nicken begrüßten wir uns. Ebenfalls schnappte ich mir ein Magazin vom Tisch in der Mitte und begann zu lesen. Erst dann fiel mir ein, dass es wohl nicht unklug war, jetzt anzufangen zu filmen, denn ich würde wohl kaum Zeit haben, den Aufnahmeknopf zu drücken, wenn ich aufgerufen würde und mein Handy in meiner Hosentasche war. Also zog ich mein Mobiltelefon aus der Tasche und startete ein Video. Folglich steckte ich mein Handy wieder so ein, dass nur die Kamera zu erkennen war.
Mehrere Male streckte ich meine Finger aus und ballte sie wieder zu einer Faust zusammen. Zur Ablenkung betrachtete ich die beiden Personen, mit denen ich das Wartezimmer teilte. Vom Alter her konnten die beiden ein Paar sein, das sie an beiden Enden des Raumes Platz genommen hatten, sprach jedoch nicht sonderlich dafür. Der Mann brauchte beinahe zwei Stühle, während der der Frau noch Platz für ihre Handtasche ließ.
Der Gedanke, dass diese Personen ebenfalls Windeln tragen würden, wäre unter anderen Umständen wahrscheinlich ein Grund zum Lachen gewesen. Im jetzigen Kontext erschienen mir Windeln zwar auf eine seltsame Weise bedrohlich, doch mir war klar, dass es die Kontrolle über Menschen war, die mir so Angst einflößte.
„Conrad Feltmann bitte.“
„Ja, hier.“
Ich stand auf und folgte der jungen Dame, die mich die Flure entlangführte. Im Vorbeigehen versuchte ich die Schilder an den Türen zu lesen, bekam aber immer nur Schnipsel mit.
„Hier hinein, bitte.“
Ich betrat den Raum, vor dem die Frau stehengeblieben war.
Sie schloss die Tür hinter sich und deutete mir, mich an den Tisch zu setzen. Sie setzte sich mir gegenüber. Einige Papiere lagen vor mir, daneben auch eine weiße Plastikverpackung. Vor ihr stand ein Laptop.
„Sie möchten also die Inkomtinenzprodukte der zweiten Generation testen?“
Ich nickte.
„In Ordnung, zuerst müssen Sie mir bitte Ihr Mobiltelefon geben.“
Ich sah zu ihr auf.
„Warum das denn?“
„Wir werden damit nichts anstellen, wir wollen nur nicht, dass Aufnahmen gemacht werden oder Informationen über neue Produkte gesammelt werden.“
Sie streckte fordernd die Hand aus. Langsam zog ich mein Handy aus der Tasche und drückte möglichst unauffällig den Standby-Knopf.
„Könnten Sie es bitte komplett ausschalten?“
Ihren Anweisungen folgend schaltete ich mein Handy aus und reichte es ihr.
„Dan-ke!“
Sie legte es in eine Schublade neben dem Tisch. Ich sah auf den Boden.
„Sie wissen, dass sie hier in einem unserer Räume für zwei Stunden schlafen werden, damit wir beobachten können, ob die Windel beim ersten Mal negative Nebenwirkungen auf Sie hat?“
Eigentlich wusste ich das nicht, doch ich nickte nur bei allem was sie mir erklärte.
„Sie wissen auch, dass wir Ihnen eine Art Gestell in Ihrem Genitalbereich anbringen werden, um ungewollte Erektionen in den ersten 24 Stunden zu vermeiden.“
„Warum das denn?“
„Nunja, besonders bei Menschen des männlichen Geschlechts in deinem Alter kommt es nicht selten wegen des kleinen Vibrationsmotors zu ungewollten Erektionen oder sogar Orgasmen, bevor sich der Körper an die Windel gewöhnt hat. Das Gestell sorgt nur dafür, dass alles nach unten in die Windel geht.“
„In Ordnung.“
„Gut, dann bin ich gleich wieder mit Ihrer Windel und ein paar anderen Dingen zurück. Sie können schon einmal die Dokumente ausfüllen.“
Sie verließ den Raum und schloss die Tür.
Einige Sekunden starrte ich prüfend die Tür an, dann stand ich hastig auf und langte über den Tisch. Ich tastete in der Schublade herum und zog mein Handy heraus. Es startete furchtbar langsam. Ich spannte alle Glieder an, während meine Augen ständig zwischen Handy und Tür hin- und hersahen.
Als der Bildschirm aufleuchtete, tippte ich mit zitternden Fingern das Passwort ein. Mit einer schnellen Handbewegung drehte ich den Laptop um und nahm einige Schnappschüsse. Auch die Dokumente fächerte ich aus und machte einige Bilder. Schwere Schritte auf dem Gang näherten sich plötzlich der Tür. In einer schnellen Bewegung warf ich das Handy beinahe zurück an seinen Ort zurück und schlug die Schublade zu.
„So, da bin ich wieder.“
Sie schloss die Tür und ich richtete mich so gerade ich nur konnte in meinem Stuhl auf. Die junge Frau schloss die Tür und setzte sich wieder mir gegenüber.
„Wenn sie schon alles unterschrieben haben, dann können Sie schon einmal Ihre Hose-“
In dem Moment als ich mich zu Wort melden und sagen, dass ich mich doch umentschieden hatte, kam mir ein Geräusch aus der Schublade zuvor. Wir beide sahen zur Quelle des Lärms.
„Komisch“, sagte sie verwirrt, „das war doch eigentlich ausgeschaltet.“
Meine Lippen schmerzten fast vor Zusammenpressen. Sie hielt das klingelnde Handy in der Hand und sah mich an. Ich sah nur mit weit geöffneten Augen zurück und biss mir auf die Unterlippe.
„Haben Sie etwa Ihr Handy noch einmal benutzt? Sie hätten mich doch einfach-“
Jetzt verstand sie. Mit kaltem Blick rückte sie ihren Stuhl nach hinten und stand auf.
„Es tut mir sehr leid, aber da muss ich die Chefin informieren.“
Vom Teppich gedämpften Schritte, dann das Zufallen der Tür.
Ich merkte erst, als ich wieder ausatmete, dass ich die Luft angehalten hatte. Besiegt senkte ich meinen Kopf. Jetzt konnte ich wohl mein letztes Gebet sprechen. Das war’s. Vorbei. Chance vertan.
Hätte ich eine Zeitmaschine, würde ich nach heute Morgen reisen und all meine Pläne und Vorhaben vergessen. Ich verdammte mich für den Gedanken, überhaupt Hoffnung gehabt zu haben, irgendetwas bewirken zu können. Niemand hätte etwas tun können. Einerseits war dieser Gedanke beruhigend; ich hatte mein Bestes gegeben, andererseits war es auch niederschmetternd daran zu denken, dass ich nie wirklich eine Chance hatte. Ich musste an Zoey denken und an Marie, die ich so enttäuscht hatte. Ich könnte gerade keinen meiner Liebsten in die Augen sehen, aber mir selbst am wenigsten.
Die Tür sprang wieder auf.
„Die Chefin möchte Sie in Ihrem Büro sprechen.“
Geräuschlos ließ sich die schwere Holztür öffnen, vor die ich geführt worden war. Ich trat ein und schloss die Tür rasch wieder, als wäre ich in einen Tigerkäfig getreten, aus dem die Raubtiere nicht entkommen durften. Hinter einem Bildschirm sah ich einen blonden Scheitel.
„Setz dich.“
Mit bedachten Schritten näherte ich mich dem hölzernen Schreibtisch und ließ mich langsam auf einem Stuhl davor nieder. Meine Hände blieben auf den Lehnen, als müsste ich jeden Moment bereit sein zu fliehen.
Der Monitor wurde zur Seite geschoben.
„Hey, schön dich kennenzulernen!“
Freudig streckte sie die Hand aus. Zaghaft gab ich ihr meine.
„Hallo.“
„Ich bin Anna Guns, aber das wusstest du bestimmt schon.“
Sie lachte.
„Du hast doch sicher auch einen Namen, oder?“
„Äh, Conrad. Feltmann.“
„Ah-ja.“
Sie notierte etwas auf einem Zettel. Direkt bemerkte ich, wie nett sie war, jedoch löste das mehr Unbehagen in mir aus als ich Vertrauen zu ihr aufbaute. Unter dieser glänzenden Fassade lag mit Sicherheit ein anderes Gesicht.
„Also, Conrad, ich habe gehört, dass du ein böser Junge warst.“
Sie grinste und kniff mir in die Nase.
„Du bist aber nicht gerade einer von der gesprächigen Sorte.“
Ich schwieg.
„Vielleicht willst du mir ja genau erzählen, was da eben los war. Wer weiß, eventuell habe ich das ganze falsch verstanden, hm?“
„Nein, Sie haben das schon richtig verstanden.“
„Ja, alsoo-“, sprach sie mit mir wie mit einem Kleinkind, „Warum bist du denn hier? Zum Windeln testen ja wohl eher weniger.“
Sie grinste wieder.
„Ist es etwa etwas Persönliches? Bin ich das Problem?“
Ironisch betroffen legte sie eine Hand auf ihr Brustbein.
„Das Problem ist, was Sie mit den Menschen da draußen anstellen“, sprach ich.
„Oh, ich sehe, der Protestgeist der jungen Leute ist in gutem Zustand.“
„Aus gutem Grund. Das, was Sie machen, ist unmoralisch.“
„Ich bin also eine richtige Schwerverbrecherin? Wodurch mache ich mich denn so strafbar?“
„Ist das nicht offensichtlich? Die Menschen, die Ihre Produkte nutzen sind vollkommen verändert. Sie stehlen Leuten ihre Persönlichkeit und das für Ihren Profit!“
„Mein Schätzchen, wer sagt denn etwas von Persönlichkeit stehlen?“, fragte sie ruhig.
„Na, ihre Windeln programmieren überschreiben sozusagen die Gehirne von ihren Nutzern.“
Ich sprach nicht mehr mit der gleichen Entschlossenheit wie vor einigen Augenblicken.
„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst. Die Leute kommen alle hierher und wählen aus, wie ihr Charakter verbessert werden soll.“
Ich erstarrte einen Moment.
„Und warum tragen einige Leute Schnuller? Wollen Sie die Menschheit mental wieder zu Babys machen?“
„Nunja, die Neuvernetzung von Gehirnstrukturen mit dem einst vertrauten Gefühl einer Windel reaktiviert öfter Kindheitserinnerungen, dadurch kommt bei einigen nunmal das Kind in ihnen wieder zum Vorschein, ist aber natürlich alles nur temporär.“
Auf meine Antwort wartend sah sie mich an.
„Sie lügen doch. Das stimmt doch alles nicht!“
„Doch, mein Schätzchen, das ist die Wahrheit.“
Einen Ellenbogen stützte sie auf die Stuhllehne.
„Was hattest du denn gedacht? Dass ich alle Menschen wieder zu Babys mache und die Weltherrschaft an mich reiße?“
Ihr Lächeln galt offenkundig der Abwegigkeit dieses Gedankens. Sie wartete meine Antwort ab, doch ich sagte nichts.
„War’s das? Ist das alles, mein kleiner Rebell?“
Ich war wirklich ein Idiot, hätte ich doch zumindest ein wenig recherchiert oder die Dokumente von vorhin aufmerksam durchgelesen.
Fast erwartete ich, dass sie gleich laut auflachen würde, doch das tat sie nicht.
Ohne einen Laut von mir zu geben, saß ich dort, wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen war. Der feste Boden, auf dem ich gestanden hatte, war mir unter den Füßen weggerissen worden. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.
Stolz, einen Aufrührer so leicht abgeschüttelt zu haben, aber auch mitfühlend, sah mich an. Die Frau, die ich eben noch so gefürchtet hatte.
„Ich will dir nicht zu nahe treten, aber ich glaube, ich war in deinem Alter ganz genauso.“
Beide Hände legte sie auf ihren Schreibtisch.
„Es sollte alles beim gleichen bleiben und sich nie etwas ändern. Immer jung, immer unabhängig, immer frei. Aber so ist es leider nicht. Plötzlich steht man in der Erwachsenenwelt und man ist kein Kind mehr. Am Alten festzuhalten kann aber viel schädlicher sein, als loszulassen.
Ich kann verstehen, dass es befremdlich ist, wenn sich alles um einen herum auf einen Schlag verändert und wenn plötzlich alle Windeln tragen ist das natürlich eine große Veränderung, wenn auch eine zuerst albern erscheinende.“
Anna schmunzelte kurz, bevor sie wieder ernst wurde.
„Aber mit meinen Produkten will ich doch keineswegs dazu beitragen – im Gegenteil. Ich möchte Menschen ein Stück ihres Kindseins zurückgeben. Eine Zeit, in der man sich keine Gedanken machen muss, was andere denken. So eine Welt wäre doch schön, oder?“
Anna lächelte verständnisvoll.
„Mit den Windeln kann man eben die Person sein, die man sich schon immer gewünscht hat sein zu können. Du kannst dir aussuchen, ob du eine selbstbewusste Person bist und ob du ein ruhiger oder extrovertierter Typ bist, mein Gott, du kannst dir sogar aussuchen, wie stark dein sexuelles Verlangen ist.“
Einen Augenblick waren wir still.
„Und nun?“, fragte ich.
Anna holte tief Luft.
„Auch wenn das nicht ganz deine Absicht war, bist du ja immerhin als Tester in dieses Gebäude getreten.“
Sie sah mich an.
„Aber es liegt letztendlich an dir das zu entscheiden.“
Ich sah zu ihr auf.
Die Sonne stand bereits tief und warf ich goldenes Licht auf mich, als ich durch die Vordertür wieder ins Freie trat. Es war Abend, doch fühlte es sich wie ein warmer Fühlingsmorgen an. Ich schloss die Augen und ließ die Atmosphäre einwirken. Mein ganzer Körper fühlte sich fantastisch an. Ich atmete wieder aus und öffnete die Augen. Die Leute liefen genauso wie vorher mit schnellen Schritten durch die Straßen und schienen kaum auf ihre Umwelt zu achten. Mir aber entging kein Detail. Ich nahm jeden Flügelschlag einer Taube und jeden erfrischenden Windzug wahr. All die Farben, die vorher immer blasser geworden waren, strahlten wieder in voller Pracht. Die Stadt war eine Uhr und ich konnte plötzlich an den Zeigern drehen. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich war so vollkommen.
Ein paar Schritte entfernt lud eine Bank zum Hinsetzen ein, also nahm ich Platz. Erst jetzt bemerkte ich wieder die weich polsternde Windel unter meinem Hintern. Es war, als wären Windeln schon lange Teil meiner Kleidung, als hätte ich sie schon seit Jahren getragen.
Ich seufzte. Ich könnte gerade noch einmal die Augen zumachen. Dort hatte ich höchstens zwei Stunden geschlafen und das neben einigen anderen Testern. Doch scheinbar war das genug Zeit für die Windel um zu funktionieren. Man hatte mir noch einen Schnuller mitgegeben, wie einem Kind eine Packung Gummibärchen beim Arzt, doch den hatte ich vorerst in meine Hosentasche gesteckt.
Mit einem Lächeln sah ich auf die hohe Glasfront des Gebäudes, in der sich die Abendsonne reflektierte. Genau in diesem Moment kam eine junge Frau aus dem Eingang heraus. Sie war das Selbstbewusstsein in Person. Stolz lief sie in ihrer Lederhose, die ihre Kurven mehr als betonte. Doch auch ihren Windelpo konnte man deutlich darunter erkennen. Sie jedoch schien das nicht im Geringsten zu stören, sie trug ihre Windel mit einer solchen Selbstsicherheit, als würde sie die Blicke der Leute genießen.
Ich schmunzelte nur, denn dieses Gefühl war mir gerade nicht unvertraut.
Auf eine bestimmte Art war ich aufgeregt. Auf die gleiche Weise, wie wenn man sich etwas Neues kauft und es kaum erwarten kann es auszuprobieren. Immerhin bedeutete die Entscheidung, die ich gefällt hatte, viel Veränderung. Gute Veränderung.
Bei diesen Gedanken schlich sich erneut ein feines Lächeln auf meine Lippen.
„Hey!“
Überrascht sah ich zu meiner Seite. Marie stand vor mir.
„Hey!“, begrüßte ich sie herzlich.
Sie fiel mir um den Hals und drückte mich fest. Einen kurzen Moment stand alles still, bis wir wieder die Arme voneinander Schultern nahmen. Stolz daran gedacht zu haben, streckte sie ihre Hand mit meinem Rucksack zu mir.
„Super, den hätte ich glatt vergessen! Du bist einfach die Beste!“
Etwas verlegen konnte Marie doch nicht anders, als etwas zu grinsen.
„Moment, ich setze ihn dir auf.“
Behutsam streifte sie die Gurte über meine Schultern.
„Hmmm“, merkte Marie an.
„Was denn?“, wollte ich wissen und versuchte Marie über meine Schulter anzugucken.
Sie trat näher an mich heran und musterte mich anschließend von oben bis unten.
„Benutzt du plötzlich ein anderes Duschgel als sonst?“
Ich runzelte die Stirn.
„Das bei deiner Tante war ohne bestimmten Geruch. Was soll denn sein?“
„Du riechst ganz anders als sonst.“
Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Wahrscheinlich nur Büromief.“
„Ist aber ein ganz bestimmter Duft, irgendwoher kenne ich das.“
Maries Augen wurden groß.
„Du hast dich doch nicht von denen anfassen lassen, oder?“
In einer beruhigenden Geste legte ich meine Hand auf ihre Schulter. Doch Marie betrachtete meine Hand, als wäre diese eine giftige Spinne, bereit ihr ins Gesicht zu springen.
„Marie, es gibt da ein paar Dinge, die ich deshalb noch mit dir besprechen muss. Das alles ist ein wenig anders, als du vielleicht denkst.“
„Haben die dich etwa gezwungen diese scheußlichen Windeln anzuziehen?“
Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
„Marie, bitte lass uns das in Ruhe besprechen. Diese ganze Sache ist gar nicht so schlimm, wie sie scheint.“
Ungläubig schüttelte sie nur den Kopf.
„Marie, bitte hör mir zu, die Menschen werden gar nicht unfreiwillig verändert, man sich das selber aussuchen.“
In ihren nassen Augen konnte ich lesen, dass jede Erklärung zu spät kam. Sie hatte ihr Urteil schon gefällt.
„Und woher weißt du das so genau?“, fragte sie mit hoher Stimme und wartete flehend auf die Antwort, dass es nicht die Wahrheit war. Mein langer Blick war mehr als genug, um ihr das Gegenteil zu sagen. Sie blickte zu Boden. Eine zarte Träne kullerte ihre Wange hinab. Tröstend wollte ich sie in die Arme nehmen, sie drückte mich zurück.
„Bitte tu das nicht“, sagte sie, so bestimmt wie sie konnte.
„Aber Marie-“
„Bitte fass’ mich nicht an.“
Befremdet wich ich zurück.
„Marie, es bin doch immer noch ich, Conrad. Dein Conrad.“
„Blödsinn! Ein Fremder bist du, so hat Conrad es gesagt!“
„Marie, du verstehst das ganz falsch“, wollte ich sie beruhigen, „Die Windeln tauschen den Charakter einer Person nicht aus, es ist eher wie eine Erweiterung, verstehst du?“
Wieder schüttelte sie widerstrebend den Kopf.
„Du bist doch ebenso verändert wie alle anderen auch! Warum sollte ich dir jetzt glauben?“
„Ich kann es dir unmöglich beweisen. Du musst mir einfach vertrauen.“
„Ich habe dir vertraut. Ich bin immer deinen Ratschlägen gefolgt. Ich habe all das mitgemacht. Und jetzt betrügst du mich einfach so?“
Sie sah mich mit scharfen Blicken an und musste sich sichtlich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
„Ich glaube, ich habe mehr als genug Gründe, um das jetzt selber in die Hand zu nehmen.“
Mit nassen Augen, aber zugleich entschlossener Miene wandte sie sich von mir ab und ehe sie auch nur 30 Meter gelaufen war, war die schlanke Figur mit den lockigen Haaren bereits mit der Menge verschmolzen. Mit angehaltenem Atem sah ich in die Richtung, in die sie verschwunden war. Ich musste irgendetwas tun, ich konnte doch nicht untätig bleiben! Doch die Ketten der Emotionen zogen von allen Seiten an mir und ich konnte keinen Schritt vor oder zurück machen.
Noch nie hatte ich mich auf einen Schlag so einsam und verloren gefühlt. Und noch nie hätte ich gerne die Zeit zurückgedreht.
Doch ich wusste genau, wohin ich jetzt musste.
Die Holztür öffnete sich und ein verschlafenes Gesicht kam zum Vorschein.
„Conrad!“, rief sie erschrocken.
Verlegen aber zugleich glücklich begrüßte ich sie ebenfalls. Die Angst, dass Zoey immer noch sauer sein könnte, verflog sofort, als sie mich fest mit beiden Armen umschlang. Ich war mir nicht sicher, welche Emotion ich empfinden sollte, aber mein Körper entschied, dass es Erleichterung sein sollte.
Zoey hielt mich an beiden Schultern.
„Ich könnte dich jetzt mit Fragen löchern und dich schimpfen. Aber ich glaube, du kannst deine Fehler selber erkennen und aus ihnen lernen, nichtwahr? Lass uns jetzt lieber nach vorne sehen.“
Darauf winkte sie mich herein und ich folgte ihr die Treppen nach oben. Es war alles vertraut, aber doch kam mir die Zeit seit dem letzten Mal als ich hier war sehr viel länger, vor als sie es war.
Ich zog meine Schuhe aus, hängte meine Jacke an den Haken und trag wieder ins Wohnzimmer. Alles war genau wie vorher, nur etwas unordentlicher. Zoey saß schon auf dem Sofa. Ich legte meinen Rucksack ab und setzte mich neben sie. Eine Weile sagten wir nichts.
„Hast du dir das mit den Windeln nochmal überlegt?“, fragte Zoey.
„Apropos, ich habe da eine Überraschung für dich.“
Zoey sah zu mir. Ich deutete mit meinen Augen nur kurz auf meine Jeans, oder viel mehr auf das, was sich darunter befand.
„Nein, oder?“, staunte sie. Mit ausgestrecktem Arm tastete sie meinen Po ab.
„Das gibts ja nicht!“
Zoey leuchtete vor Freude.
„Jetzt sind wir im Partnerlook!“
Ich lächelte ebenfalls, doch Zoey entging meine zurückhaltende Art nicht. Ihr Lächeln wurde zu Sorge.
„Alles in Ordnung?“
Marie.
„Nein, bin nur ein wenig durch den Wind.“
Sie nickte verständnisvoll und legte einen Arm auf meine Schulter.
„Mein Schatzi, das verstehe ich total gut. Was hältst du davon: Wir machen es uns die nächsten Tage schön gemütlich und entspannen uns ein wenig. Ich mach’ und lecker Essen und wir schauen ein paar Filme, hmm?“
Ich nickte.
„Das wäre toll.“
Schwungvoll erhob sich Zoey vom Sofa.
„Dann fang ich doch gleich an. Was hältst du von Pfannkuchen?“
„Zum Abendessen?“
Sie legte nur spielerisch einen Finger vor den Mund und ging in die Küche. Während sie sich an den Töpfen zu schaffen machte, sah ich verträumt aus dem Fenster und beobachtete die rot leuchtende Sonne, die die Wolken geradezu in Brand setzten. Noch nie hatte ich so ein schönes Naturschauspiel miterleben dürfen, dabei hatte ich schon tausende Sonnenuntergänge gesehen. Aber dieser musste mit Abstand der schönste sein.
Zoey schaltete das Radio ein und ein gelassener E-Bass begann zu spielen. Während ich zum Groove nickte, sah ich den letzten Zipfel der Sonne, der hinter dem Horizont verschwand. Auf dem Couchtisch lagen immer noch einige zerfledderte Magazine. Ich griff nach dem Intaktesten, das nach meiner Logik auch das Neueste sein musste. Ziellos blätterte ich durch die Seiten und sah mir die Bilder an. Doch schon bald landete das Heft wieder auf dem Stapel.
Um mich nach dem Stand der Pfannkuchen zu erkunden, warf ich einen Blick auf die Küchentheke. Wie eine stolze Trophäe der Kochkunst lagen bereits einige ordentlich gestapelt auf einem Teller. Mein Blick wanderte zu Zoey, die ihre Hüften in kleinen schwungvollen Bewegungen zu der Musik bewegte. Sie war wirklich attraktiv. Mein Blick blieb an ihrer Hose hängen, unter der sich ihre Windel dezent aber bemerkbar abzeichnete. Noch bevor ich zustimmen konnte, hatte meine Vorstellungskraft sie bereits ausgezogen. Entsprechend versuchte es sich in meiner Windel zu regen. Doch da fiel mir wieder ein, dass mir nicht nur eine Windel, sondern auch dieses metallene Gestell im Schritt angelegt wurde. Ich konnte ja verstehen, dass diese Kränkung der Männlichkeit nötig war, um Unfälle zu vermeiden. Jedoch zu einem nicht allzu angenehmen Preis.
Zoey drehte sich zu mir um und sah in mein leicht verkrampftes Gesicht.
„Hast du dir einen Zeh gestoßen?“, fragte sie.
„Ne, ne. Alles ok.“
So gut ich konnte, wollte ich mir das Zwicken nicht anmerken lassen. Ich schnappte wieder eines der Magazine, um mich abzulenken.
Einige Minuten später war der Stapel aus Pfannkuchen weiter gewachsen und das Essen war fertig. Mein weicher Windelhintern war inzwischen am Sofa festgewachsen, weshalb ich zögerte aufzustehen.
„Bleib du ruhig sitzen, wir essen vor dem Fernseher.“
„Wirklich?“, fragte ich.
„Ich hab doch gesagt, wir machen uns einen schönen Abend.“
Ich lächelte und sie stellte die dampfenden Pfannkuchen auf den Couchtisch. Nachdem sie noch alle möglichen Aufstriche aus den Küchenschränken zusammengesammelt und diese in waghalsigen Manövern zum Tisch gebracht hatte, bewaffnete sie sich mit der Fernbedienung und kuschelte sich neben mir in einer Wolldecke ein.
„Möchtest du nicht auch eine Decke?“
„Nein danke, mir ist warm genug.“
Ungeachtet meiner Aussage, kam im nächsten Moment trotzdem eine Decke auf mich zugeflogen.
„Zieh doch einfach die Jeans aus, ist doch eh unbequem.“
Ich zögerte. Irgendetwas in mir schämte sich immer noch, sich vor der Stiefschwester zu entblößen. Zoey hingegen wollte das ganze ein wenig ankurbeln. Sie fummelte unter der Decke herum und zog kurze Hand ihre Leggings darunter hervor.
„Du musst dich mal locker machen und entspannen“, beschwerte sie sich. Sie knäulte ihre Hose zu einem Ball und warf mir ihre Leggings in den Schoß.
„Ah, Hilfe, die gruseligen Leggings meiner Stiefschwester!“, ahmte sie mich mit hoher Stimme nach. Jetzt konnte ich doch nicht anders, als ein wenig zu schmunzeln. Eigentlich hatte ich schon den Grund vergessen, warum ich mir überhaupt Sorgen gemacht hatte.
Einige Pfannkuchen später lag ich warm eingekuschelt an Zoeys Schulter, wir beide untenrum im Partnerlook.
Sie hatte den Film ausgesucht und er hätte nicht schmalziger sein können. Noch nie hatte ich einen Sinn für diese Art von Filmen gehabt, aber für sie erbarmte ich mich gerne.
Ich spürte, wie Zoeys Hand sich langsam den Weg von hinten durch meine Beine zu meiner Windel bahnte. Ihr Blick galt weiter dem Fernseher, als wäre es gar nicht erwähnenswert. Mit sanften kreisenden Bewegungen massierte sie zuerst meine Hoden, dann glitt ihre Hand ein Stück nach oben. Ich sagte nichts. Es war eigentlich ziemlich angenehm. Die leise Stimme in mir, die sich einst vehement dagegen gewährt hätte, war verstummt.
„Da tut sich ja gar nichts.“
Natürlich konnte ich meinen Männerstolz nicht so gekränkt lassen, so fühlte ich mich doch genötigt, ihr das ganze zu erklären.
„Nimm es doch einfach ab und wir haben ein wenig Spaß, hmm?“
„Muss leider noch bis morgen früh dran bleiben.“
Zoey wandte sich wieder dem Film zu.
„Schade. Aber für morgen ist es versprochen, abgemacht?“
Ich nickte.
Als der Abspann des Filmes lief, war ich mehr als bereit fürs Schlafengehen. Ich musste mich konzentrieren, dass mir die Augen nicht zufielen. Zoey schien ebenfalls erledigt zu sein. Wir kämpften uns von der Couch und schlurften in Windeln und T-Shirts zum Schlafzimmer. Im Vorbeigehen zeigte Zoey Richtung Tisch.
„Das räumen wir alles morgen auf.“
Ich nickte nur zustimmend, denn ich wollte gerade nichts lieber, als einfach zu schlafen. Schlaff ließ ich mich auf die weiche Matratze plumpsen. Die Bettdecke war so schön weich und das Kopfkissen duftete nach Blumen.
„Ich putz‘ morgen früh Zähne. Gleich nach dem Aufstehen“, murmelte ich mit dem Gesicht im Kissen. Zoey stand an der unteren Bettkante.
„Aber zumindest die Windel könnten wir mal wechseln“, argumentierte Zoey, „Du sollst ja nicht mitten in der Nacht auslaufen.“
„Aber ich hab doch gar n-“
Ich stockte, als ich fühlte, dass die Windel tatsächlich nass war. Ich stöhnte auf.
„Auf dem Bauch kann ich dich nicht wickeln“, beschwerte sie sich.
Widerwillig drehte ich mich auf den Rücken und Zoey machte sich an meiner Windel zu schaffen. Sie war kein Profi, aber sie stellte sich gut an. Mit ein paar Handgriffen war die alte Windel entfernt und nach ein paar weiteren Bewegungen und Befehlen in welche Richtung meinen Po strecken soll, steckte ich in einer frischen Windel.
„Und du?“, fragte ich.
„Ich zieh ’ne Gummihose drüber, da läuft nix aus.“
Zoey legte sich nun ebenfalls ins Bett, wickelte sich in die Decke ein und löschte das Licht.
„Ich geh‘ morgen früh einkaufen, du bist wahrscheinlich allein, wenn du aufwachst.“
Ohne wirklich zugehört zu haben, wendete ich meine letzte Kraft für ein letztes „Mm-hm“ auf, bevor ich die Augen schloss und endlich einschlief.
Als ich aufwachte, wusste ich nicht, ob ich geträumt hatte. Ich fühlte mich sehr entspannt und erholt. Ich lag in Zoeys Bett, doch sie war nirgends zu sehen. Die Decke auf ihrer Seite des Betts war unordentlich, als hätte sie es eilig gehabt. In meiner Schlaftrunkenheit erinnerte ich mich dann doch, sie wollte einkaufen gehen.
Noch wie mit betäubten Sinnen stieg ich aus dem Bett. Es war nicht besonders warm in der Wohnung, doch trotzdem fror ich nicht. Über das knarrende Holz ging ich hinüber zum Fenster und warf einen Blick auf die Straßenkreuzung. Die Leute auf dem Bürgersteig leuchteten in den grellen Farben des Morgens. Ich ließ mich auf einen der Sessel sinken, der durch die weiche Windel gleich viel besser gepolstert wurde.
Entspannt ließ ich meinen Blick durch die Straßen schweifen. Was für ein komischer und gleichzeitig interessanter Anblick. Inzwischen war es eher ungewöhnlich, jemanden ohne babyhafte Silhouette zu erblicken. Bei dem Gedanken an all die gewindelten Menschen stieß ich einen langen zufriedenen Seufzer aus und lächelte. Plötzlich erblickte ich ein bekanntes Gesicht. Das schöne Mädchen mit braunen Locken, die zu zwei Zöpfen zusammengebunden waren.
Es war Marie. Zwischen ihren kirschroten Lippen steckte ein Schnuller und unter ihrer Hose war deutlich eine Windel zu erkennen. Sie sah sich mit kindlichem Erstaunen die hohen Häuser und die sich lang erstreckende Straßen an. Sie blickte umher, bis sie auf einmal durch mein Fenster sah. Zuerst beobachtete sie mich nur, dann legte sie ihren Kopf schief und lächelte mich an. Ich legte meinen Kopf ebenfalls schief und lächelte sanft zurück.
Autor: Daric (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
Mir gefällt die Geschichte mach Bitte weiter vielleicht gibt es noch eine Erweiterung der Geschichte
Es hat so toll angefangen, aber irgendwie scheinst du in der zweiten Hälfte das Interesse verloren zu haben, oder keine Lust mehr gehabt.
Und das Ende geht gar nicht.
Da hätte man noch so vieles Rausholen können….
Was ist mit Marie passiert? Sie war doch vehement gegen die Windel ?
Hat ihre Tante jemals die Wahrheit erfahren?
Und was ist mit Zoey?
Wie kam es dazu, dass nur sie eine Windel trägt und nicht zum Beispiel auch Sophie ?
Sorry, als ich mich damals mit Lobeshymnen um mich warf, da hab ich wirklich geglaubt, das könnte was werden…
Angefangen als „Windelthriller“ mit viel Spannung, läuft es am Ende auf etwas hinaus, was, selbst ich als Nörgler, nicht beschreiben kann, bzw. lässt.
Als ich das Vorwort gelesen habe, dachte, hah! Super, jetzt kommt was lesenswertes, naja, stimmte auch, bis Conrad auf dem Gebäude kam, da dachte ich plötzlich, was zum
Henker issen jetzt los?!
Naja, das Ergebnis hab ich gesehen.
Verstehe mich nicht falsch, die Story ist gut, aber die Messlatte am Anfang so hochzusetzen war glaube ich keine gute Idee.
Schade, aber nun gut, lässt sich vermutlich nicht mehr ändern…
Lieber Leser,
danke für das Feedback. Schade, das hier Gefühle wie Enttäuschung aufkommen müssen, denn ich habe mein Bestes getan, um eine unterhaltende Geschichte zu verfassen, bei der ich nicht die Lust verloren, sondern an der ich mit viel Freude gearbeitet habe.
Um Verwirrung aus dem Weg zu schaffen, wollte ich einige deiner Fragen beantworten, wobei ich vorher anmerken möchte, dass ich nicht gleich alles vorwegnehmen möchte, da die finale Note der Unsicherheit am Ende dieses Teils eine große Rolle für Fortsetzungen spielt. Also:
1. Was ist mit Marie passiert?
Nunja, irgendwie ist sie in einer Windel gelandet, durch wen, wann oder warum genau ist eine Frage für die nächsten Teile. Doch man kann sich jetzt schon denken, zu wem sie aus Verzweiflung gelaufen ist… 😛
2. Hat ihre Tante jemals die Wahrheit erfahren?
Leider ist der Plan ja nicht aufgegangen, weshalb die Tante gewissermaßen zurückgelassen wird. Dass sie früher oder später erfährt, was außerhalb ihrer eigenen vier Wänden vor sich geht, lässt sich einfach erschließen, doch die Entscheidungen, die sie aufgrund dessen fällen wird, kann noch einen großen Einfluss auf den folgenden Verlauf der Geschichte haben, weshalb ich nicht zu viel verraten werde.
3. Warum trägt Zoey eine Windel, aber Sophie nicht?
Sophie trägt zwar am Anfang keine Windel, so wie viele, begegnet Conrad jedoch im restlichen Verlauf der Geschichte nicht (wahrscheinlich, weil Sophie Zoeys und nicht Conrads Freundin ist). Vielleicht trägt sie also schon Windeln, der Leser weiß es nur noch nicht.
Der Verlauf von Conrad als Person steht bei der Geschichte klar im Vordergrund. Anfangs ist er der junge Mann, der gerade seine ersten Schritten ins Erwachsensein wagt, aber möchte, dass alles beim Gleichen bleibt. Veränderung ist sein Todesurteil. Wenn er mit einer Veränderung, welche die gesamte Menschheit betrifft, konfrontiert wird, ist seine Reaktion klar: etwas dagegen tun. Jedoch muss er, als er seiner größten Furcht im Büro der Chefin gegenübersteht, erkennen, dass seine Angst unbegründet ist und das Veränderung oft Fortschritt bedeutet.
Das Conrad schließlich doch eine Windel trägt, wird nicht in einer epischen Szene mit viel Drama aufgelöst, sondern in der Stille, während er ruhig in der Sonne sitzt, da er endlich erkannt hat, dass er sich alles sehr viel schlimmer ausgemalt hatte, als es eigentlich war.
Ich kann verstehen, dass das keine nullachtfünfzehn Windelgeschichte ist und dass viele offene Fragen am Ende eines Teils frustrierend sein können, jedoch tragen sie dazu bei, die Fortsetzung in Schwung zu bringen.
Zuletzt würde ich gerne von dir wissen, was du dir genau für einen Verlauf gewünscht hättest. Das ist nicht im Sinne von „mach’s doch selbst besser“ gemeint, sondern es würde mich tatsächlich interessieren, was deine Erwartungen waren, um deine Kritik besser nachvollziehen zu können.
Bleib gesund und liebe Grüße!
Daric
Dramatik, Action, Spannung, zumindest die Spannung hast du im Verlauf der Geschichte sehr gut hinbekommen, bis auf eben das Ende. Jetzt, da ich weiß, dass die Geschichte nicht zu Ende ist, hab ich wahrscheinlich dann doch etwas voreilig bewertet. Normalerweise ist es so, wenn eine Geschichte mehr jeder Teile hat, wird diese in Klammern angezeigt, bei dir war aber keine Zahl in Klammern, wohl deswegen bin ich davon ausgegangen, dass die Geschichte mit diesem Ende abgeschlossen ist. Und da wurde ich eben sauer, weil ich eigentlich gedacht habe, dass das Ende viel zu offen ist, als dass man das einfach so akzeptieren könnte.
Ich lass mich aber überraschen, freu mich auf den nächsten Teil der Geschichte, wenn ich das denn von dir richtig verstanden habe, Und werde schauen wie sich das ganze entwickelt.
Ich finde deine Geschichte wirklich gut und würde mich über eine Fortsetzung freuen. Für meinen persönlichen Geschmack, könntest du etwas detaillierter auf das einmachen eingehen. So das man sich besser hinein versetzen kann. Aber trotzdem danke.
Ich finde die Geschichte gut und die Idee toll. 🙂
Könntest du bitte eine Fortsetzung schreiben?
Ich finde, diese Kurzgeschichte richtig schön geschrieben! Manchmal für meinen (in dieser Hinsicht sicherlich etwas eigenen) Geschmack ein wenig „flott“, also sehr viel Handlung und etwas weniger Atmosphäre/Beschreibungen. Zum Beispiel sind die Dialoge teilweise sehr … Dialoglastik (lol), also sehr viel wörtliche Rede aneinander gekettet mit wenig „drumrum“ – dadurch kann man ihnen aber auch sehr gut folgen.
Die Dialoglastikkeit holst du aber an anderen Stellen meiner Meinung nach mehr als wieder raus, sehr gut gefallen hat mir zum Beispiel nachdem Conrad eine der „Zauberwindeln“ bekommen hat:
„Mir aber entging kein Detail. Ich nahm jeden Flügelschlag einer Taube und jeden erfrischenden Windzug wahr. All die Farben, die vorher immer blasser geworden waren, strahlten wieder in voller Pracht. “
Das hat meiner Meinung nach fast schon etwas poetisches. Meiner Meinung nach volle 5 Sterne und gerne mehr! 🙂
PS .: Ich hab die Geschichte als Kurzgeschichte „interpretiert“, also auf mich wirkte das am Ende wie ein runder Abschluss – wie Marie jetzt doch auf Windeln gekommen ist wird nicht erklärt, muss es meiner Meinung nach aber auch nicht – es zeigt halt nochmal eindrücklich, dass die „Windel-Mafia“ am Ende eben doch gewonnen hat. Es gibt kein Entrinnen … 😀 Falls es doch weitergeht, bin ich allerdings gespannt!
Lieber Leser,
ich bedanke mich herzlich für das detaillierte Feedback und das nette Lob. Auch die Kritikpunkte wurden notiert und beim Schreiben des nächsten Teils bedacht.
Dass ich atmosphärischer schreiben könnte, stimmt wohl, jedoch ist es immer ein Kampf, beim „Worldbuilding“ und dem Aufrechterhalten der Spannung die Waage zu halten.
Doch ich habe jetzt schon viele Ideen für eine Fortsetzung (,die es geben wird,) und Anregungen für interessante Plottwists.
Dass tatsächlich auf die Dinge geachtet wird, an denen ich über mehrere Tage herumformuliere, gibt meiner Motivation immer neuen Schwung.
Vielen Dank und bleib gesund!
LG Daric
hallo Daric
ich finde es sehr schön die geschichte 8 Sterne
hätte mich aber gefreut wenn es noch 2-3 Fortsetzungen geben würde.
jetzt wo es am spannensten ist.