Felix und Paul (3)
Windelgeschichten.org präsentiert: Felix & Paul (3)
Kapitel 3: Merkwürdiges Erlebnis im Park
„Geht’s dir schon wieder besser?“
Felix schien die Frage seines Bruders überhört zu haben und trottete weiterhin mit gesenktem Kopf neben Paul unter dem regenbogenfarbenen Schirm her. Es war wieder einmal sehr windig und die beiden fröstelten leicht. Der Regen prasselte lautstark auf die kaum befahrene Straße, die zu Felix‘ und Pauls Heimatort führte. Paul, der nun nicht nur den Regenschirm und seinen Schulranzen, sondern auch noch Felix‘ Sachen trug, war frustriert vom Schweigen des kleinen Junghasen. Gleichzeitig konnte er seinen Bruder, der sich nach außen abzuschirmen schien, natürlich auch verstehen. Er startete dennoch einen neuen Versuch, ein Gespräch über die jüngsten Ereignisse anzufangen:
„Felix… Ich hab dir doch schon gesagt, dass es nicht schlimm ist, wenn dir sowas passiert. Das weißt du doch, oder?“
Leise murmelte Felix: „Doch!“ und kickte ein paar Steine, die ihm im Weg lagen umher.
„Warum sollte es denn schlimm sein? Ist es wegen Julius? Hat er dich ausgelacht?“
„Julius war nich‘ da…“, sagte Felix leise.
„Aber wenn er das garnich‘ mitbekommen hat, dann… ist doch alles gut, oder?“
Felix schwieg.
„Jetzt sag mir halt was los ist. Hat sonst jemand aus der Gruppe gelacht?“
Felix schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, ob er Paul von Emilie erzählen wollte. Es war ihm noch nicht ganz klar, was mit ihm los war, aber er hatte beim Spielen mit ihr etwas besonderes gespürt. Ein schönes Gefühl, dass er sonst nur hatte, wenn er mit seinem Bruder knuddelte. Leise seufzte er.
„Felix, wenn du mit mir über etwas reden willst, bin ich für dich da, oke?“, zitierte Paul unbewusst Felix‘ Erzieher. Als wieder keine Antwort kam, ging er ebenso schweigend wie sein Bruder weiter durch den Regen.
Felix und Paul hingen beide ihren trüben Gedanken nach, so dass Paul erst viel zu spät merkte, dass die beiden vom Weg abgekommen waren und er die Straße auf der sie entlangliefen, gar nicht kannte. Sein Kopf lief hochrot an und panisch zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche, um die Orientierungs-App zu öffnen. Der Bildschirm zeigte jetzt eine Übersichtskarte der Region. Paul gab die Adresse seines Hauses ein: Fellweg 13.
Eine Route wurde berechnet und es wurde deutlich, dass der Weg am besten durch den St. Marius-Park zu bestreiten war. Felix, der noch gar nichts vom ungewohnten Kurswechsel bemerkt hatte, folgte seinem Bruder ohne etwas zu sagen.
Paul schwieg auch weiterhin. Er dachte an das, was seine Großeltern ihm immer für Geschichten erzählten. Parks galten nämlich unter den Hasen als sehr beängstigende Orte, in denen sich bedrohliche Tiere uneingeschränkt entfalten konnten und sich zu großen Gefahren für Hasen entwickelten. Paul hatte einmal ein Buch über die Tiere der Welt besessen, und es war wirklich erschreckend zu lesen gewesen.
Ameisen wie auch zahlreiche andere Insekten, Eichhörnchen, stachelige Igel, herumstreunende Hunde und Katzen, Eulen nebst anderem flatternden Getier – alles, was in Pauls Albträumen vorkam, schien es auch im Park zu geben.
Die Bäume schirmten den Regen größtenteils ab. Daher klappte Paul den Schirm zusammen und nahm Felix zur Sicherheit an die Hand. Immer wieder kamen Paul die Gedanken an die Gruselgeschichten seiner Großeltern hoch. Die Geschichten von Peter, der im Wald von sieben Geißlein gefressen wurde; von Rotkäppchen, die ein Wolf sogar steinigte, als sie durch den Park zu ihrer Oma gehen wollte; von einer Königstochter, die in einem Brunnen Bekanntschaft mit einem tollwütigen Frosch machte und die Geschichten des Eichhörnchens, in dessen Maul angeblich sogar mehrere Hasenpfoten passen sollten – sie ließen ihn erschaudern und sein Gehtempo unverzüglich erhöhen.
„Warum rennst du denn sooo…“, quengelte Felix auf einmal. Als Paul nach Felix sehen wollte, merkte er, dass Felix noch ein ganzes Stück zurücklag. Offenbar war Paul so panisch geworden, dass er ganz vergessen hatte, seinen Bruder an der Hand zu halten. Mist!
Paul blieb also stehen, um auf seinen Bruder zu warten.
Doch da hörte er ein Rauschen. Leise, doch gewaltig. Und es wurde lauter, schien also näher zu kommen. Verdammt, es hörte sich an wie eine ganze Armee. Paul bemerkte in der Ferne ein schwarzes Krabbeln auf dem Boden. Das mussten sie sein…
Hilflos starrte Paul, wie im Boden verankert unfähig sich fortzubewegen, auf die näherkommende schwarze geschlossene Einheit. Unbestreitbar eine riesige Ameisenhorde. Sie kamen um ihn zu holen!
Paul wollte schreien, aber seine Stimme schien zu versagen. Felix!! Er stand genau da, wohin die unbändige Ameisenbande hinwanderte. Paul traute sich gar nicht hinzusehen. Sein kleiner Bruder… und das in so jungen Jahren
„Pass auf!“, brachte er krächzend heraus, als er die Sprache wiedergefunden hatte.
Sein Bruder stand mit offenem Mund da und blickte fasziniert auf die schwarze Fläche, die auf ihn zuwanderte – es mussten wohl an die zehntausend Ameisen sein, die sich hier zusammengefunden hatten. Im Gleichschritt liefen sie auf Felix zu und umhüllten seine Beine. Jedoch blieben sie brav auf dem Boden, der jetzt komplett mit Ameisen bedeckt war.
„Aaaaammaaiiissssnn!“, rief Felix, der die Situation ganz anders als Paul bewertete, begeistert. „Sau maaall!“, winkte er Paul begeistert zu.
Paul sah aus der Ferne, wie Paul von den Ameisen eingekreist wurde. Immer noch unfähig sich zu bewegen, malte er sich die schlimmsten Szenarien aus, wie sein Bruder jetzt sterben würde. Er versuchte sich mit der Pfote ins Bein zu zwicken, um aus seinem Albtraum aufzuwachen. Leider änderte sich nichts an dem Bild vor seinen Augen.
Minutenlang passierte jedoch gar nichts. Felix grinste, weil ihn die Ameisen am Fuß kitzelten und schien absolut außer Gefahr zu sein. Paul hörte ein lautes Flüstern. Die Ameisenhorde schien etwas zusammen zu sprechen. Es klang wie ein meditatives Gebet. Doch Paul verstand keine konkreten Worte. Dann krabbelten die Ameisen auf einmal in einem extrem schnellen Tempo zurück in die unterschiedlichsten Winkel.
Sie schienen Platz zu machen für…
drei Igel!
Diese krochen hervor und stellten sich vor Felix auf. Dabei kamen sie Felix aber nicht zu nah, etwa um ihn nicht mit ihren Stacheln zu verletzen? Auch die Igel schienen leise etwas zu murmeln. Sie verneigten sich leicht vor Felix und kauerten eine Weile lang auf dem Boden, um Felix zu begutachten. Felix bewunderte währenddessen die Igel, denn er hatte zuvor noch nie welche gesehen. Als er merkte, dass sich die Igel vor ihm verneigten, gab er sich größte Mühe einen Knicks zu machen. Es sah zwar etwas ungeübt aus, aber die Geste wurde von den Igeln sehr wohlwollend aufgenommen. Schließlich machten sich aber auch die Igel aus dem Staub. Denn eine weitere Tierbande trat zum Vorschein:
Eichhörnchen, es mussten sechs oder sieben gewesen sein, flitzten über die Wiese zu Felix und beschnupperten selbigen. Wieder grinste Felix über beide Ohren. Als die Eichhörnchenbande erkannt zu haben schien, wen sie vor sich hatten, verneigten sie sich wie schon die Igel und legten alle eben gefundenen Hasel- und Walnüsse wie eine Opfergabe vor Felix ab.
Felix machte einen weiteren Knicks und stellte fest, dass sich die Eichhörnchen bereitwillig von ihm streicheln ließen. Sie jubelten ihm zu und waren ganz aus dem Häuschen.
Im Gegensatz zu den anderen Tieren, sprachen die Eichhörnchen keinen Text, sondern summten im Chor eine kleine Melodie. Sie klang so ruhig und hoffnungsvoll und schien alle Tiere und natürlich Felix richtig zu beflügeln. Felix stimmte mit ein und summte sie mit den Eichhörnchen. Man schien die Melodie auch noch aus anderen Ecken des Parks zu hören. Etliche Minuten verstrichen, in denen alle wie in einem Trancezustand nur da kauerten und die mysteriöse Melodie summten. Die Erde schien für einen Moment aufhören sich zu drehen, der Regen war vorbeigezogen und die Sonne zeigte sich wieder. Der Wind blieb ruhig, um die Atmosphäre nicht zu stören.
Alles wirkte plötzlich so viel bunter, schöner und friedvoller. Die Zeit verstrich, ohne dass es jemand merkte. Langsam wurde alles wieder normal. Die Welt drehte sich wieder normal. Die Eichhörnchen starrten Felix noch einmal an, bevor sie ihm zum Abschied zuwinkten.
Beschwingt und voller guter Laune ging Felix zu Paul zurück, wobei er immer wieder das Gefühl hatte, dass andere Tiere ihn bemerkten und grüßten. Er nahm Paul, der wie paralysiert herumstand und die Welt gerade nicht zu verstehen schien, an die Hand und zog ihn hinter sich her, während er zielsicher den Rest des Parks durchquerte, bis sie den Fellweg erreicht hatten.
Der warme Kakao auf dem Tablett, dass Paul, der seine Verwirrung abgeschüttelt hatte, ins Wohnzimmer trug, duftete köstlich. Dazu brachte Paul noch einen Teller mit Zimtsternen, die bei Familie Wiesenbach traditionell das ganze Jahr über verzehrt wurden, ganz gleich welche Jahreszeit gerade war. Er stellte es auf dem großen Essenstisch ab, an dem Felix schon saß, immer noch leise in sich hineinsummte und vor sich hinträumte. Paul tippte Felix an, um dessen Aufmerksamkeit wieder auf die Realität zu lenken.
„Kuuhl! Kakao!“, freute sich Felix, als er sich langsam wieder beruhigt hatte. Noch mehr freute er sich darüber, wie er ihn trinken durfte – nämlich aus dem Fläschchen!
Denn ihre Eltern hatten mal wieder einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass die beiden noch bis 16 Uhr arbeiten würden. Also konnte es Paul problemlos riskieren seinem kleinen Bruder ein Fläschchen zu geben. Gerade nach einem so turbulenten Tag, hatte er sich das sicher auch irgendwo verdient.
Paul dachte kurz darüber nach, ob es Sinn machen würde, Felix‘ nasse Sachen zu verstecken. Dann würde es heute nicht noch mehr Ärger geben. Aber er verwarf den Gedanken wieder, denn es war ja nicht sein Ziel, Felix‘ Unfälle zu vertuschen, sondern dafür zu sorgen, dass Felix eben keinen Ärger mehr dafür bekam. Und das konnte er nur durch ein sachliches Gespräch mit seinen Eltern erreichen. Hoffentlich hatte er sich da nicht zu viel vorgenommen. Wobei man zumindest mit Mama normalerweise schon reden konnte. Sein Vater hingegen war deutlich strenger und wich nur selten von seinen Erziehungsmethoden ab. Zu denen gehörten Hausarrest; Taschengeldkürzung; Handyentzug: mehr Putzarbeiten, als im Haus eigentlich nötig waren; oder manchmal auch körperliche Gewalt, so traurig es auch war…
Paul hatte das schon oft am eigenen Leib erfahren, aber dass sein Bruder auch etwas abbekam war neu und hatte Paul zutiefst schockiert. Und dann noch so fest, dass Felix‘ Backe geblutet hatte…
Er verstand nicht, woher die harten Methoden seines Vaters kamen. Sein Vater war nämlich auch ein sehr schweigsamer Mensch und erzählte nie von seiner eigenen Kindheit.
Dafür wusste Paul genau, wie seine eigene frühe Kindheit war. Er hatte nämlich genau dasselbe Problem gehabt wie Felix jetzt. Immer wieder hatte er tagsüber eingenässt, und in jeder Nacht war sein Bett nass geworden. Das Ganze hatte erst kurz vor seiner Einschulung aufgehört. Auch damals hatte sein Vater versucht, Paul das Problem mit Gewalt auszutreiben. Ein Vorhaben was natürlich nicht von Erfolg gekrönt war. Es hörte irgendwann eher zufällig für immer auf. Bettnässer war er aber danach noch eine Zeit lang gewesen. Jeden Morgen unausgeschlafen aufstehen, das Bett neu beziehen müssen und sich die Vorwürfe seines Vaters anhören müssen – dieser traumatische Lebensabschnitt hatte tiefe Narben in Pauls Seele hinterlassen, auch wenn er sie selbst noch nicht spürte. Und nun fühlte er, dass es seine Pflicht war, Felix diese Qualen zu ersparen oder sie zumindest so gut es ging zu lindern.
Felix saß ruhig auf seinem Stuhl und schien schon wieder an etwas anderes zu denken.
„War ja ganz schön krass vorhin im Park, meinst du nich‘?“, versuchte Paul eine Konversation zu beginnen.
Felix schaute von seinem Kakao hoch und seinem Bruder etwas verständnislos ins Gesicht.
„Was meinst du?“
Paul stutzte. Was war hier los? Erinnerte sich Felix gar nicht mehr daran? Hatte er am Ende alles nur geträumt?
Autor: kigaki (eingesandt via E-Mail)
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