Florians Schatten (10)
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Florian:
Annette reichte mir Pandi, den ich vorhin ganz vergessen hatte. Ich nahm ihn sofort fest an mich und hielt ihn so, als könnte er mich vor allem beschützen. Den Daumen ließ ich dabei in meinem Mund – es fühlte sich so einfach sicherer an. Meine Angst war immer noch da, wie ein drückendes Gefühl in meinem Bauch.
Diana hockte sich vor mich hin. Sie schaute mich mit sanften Augen an, die irgendwie beruhigend wirkten, aber trotzdem konnte ich ihren Blick nicht lange halten. „Möchtest du noch im Zoo bleiben,“ fragte sie ruhig, „oder wollen wir lieber fahren?“
Ich drückte Pandi noch fester an mich und kaute ein bisschen auf meinem Daumen herum, ohne etwas zu sagen. Mein Kopf fühlte sich leer und schwer zugleich an, und ich wusste nicht, was die richtige Antwort war. Ich wollte niemanden enttäuschen, aber ich wusste auch nicht, ob ich es schaffe, noch länger hier zu bleiben.
Diana wartete geduldig, und Annette stand direkt hinter ihr. Sie sagte nichts, aber ich spürte ihre Hand kurz auf meiner Schulter, was mir ein bisschen half, mich nicht so verloren zu fühlen. Doch die Worte wollten einfach nicht aus mir herauskommen.
Ich sah zu Diana und nahm den Daumen kurz aus dem Mund, bevor ich leise sagte: „Fahren.“ Die Angst, dass der Mann mit den vielen Bildern auf den Armen nochmal wiederkommt, war einfach zu groß. Ich hoffte nur, dass Annette und Diana jetzt nicht enttäuscht waren, weil sie vielleicht noch bleiben wollten.
Diana nickte verständnisvoll, ohne auch nur ein bisschen enttäuscht zu wirken, und Annette beugte sich zu mir herunter. „Darf ich dich tragen, oder möchtest du selber zum Auto laufen?“ fragte sie sanft.
Ich nahm den Daumen wieder aus dem Mund und streckte meine Arme nach ihr aus. Annette lächelte mich an, und als sie mich hochhob, ging ein kleiner Schauer des Wohlgefühls durch meinen Körper. Es fühlte sich so sicher und warm an, in ihren Armen zu sein. Ich lehnte mich an ihre schulter und drückte Pandi noch enger an mich.
Ohne groß nachzudenken, steckte ich den Daumen wieder in den Mund. Es half mir, die restliche Angst zu verdrängen, und Annette sagte nichts dazu, was mir zeigte, dass es okay war. Mit jedem Schritt, den sie mich trug, fühlte ich mich ein bisschen ruhiger.
Als wir am Auto ankamen, öffnete Annette die hintere Tür und hob mich behutsam in den Kindersitz. Sie zog die Gurte über meine Schultern und schnallte mich fest. Dabei prüfte sie noch einmal, ob alles richtig saß, und streichelte mir kurz über den Kopf. „Alles gut?“ fragte sie leise. Ich nickte, noch immer Pandi fest in meinen Armen haltend.
Annette schloss die Tür und stieg vorne auf den Fahrersitz ein, während Diana auf den Beifahrer sitz Platz nahm. Kurz darauf startete das Auto, und wir fuhren los.
Ich dachte über das Erlebnis im Zoo nach. Es war das erste Mal, dass ich so eine Situation erlebt hatte und anschließend so fürsorglich behandelt wurde. Niemand war böse auf mich gewesen. Als Annette mich auf den Arm nahm, fühlte es sich so vertraut und sicher an. Warum hatte Mama mich nie so auf den Arm genommen? Hätte sie es vielleicht getan, wenn ich nicht so oft ins Bett gemacht hätte oder besser in der Schule gewesen wäre? Vielleicht hätte ich mir einfach mehr Mühe geben müssen.
Ich schaute noch ein wenig aus dem Fenster, beobachtete die Bäume, die sich im Wind leicht bewegten, und die wenigen Menschen, die in der Stadt unterwegs waren. Doch meine Augen wurden langsam schwer. Ich hielt Pandi noch fester und spürte, wie die gleichmäßigen Bewegungen des Autos mich immer mehr beruhigten.
Die Stimmen von Diana und Annette wurden leiser, und bevor ich es wirklich bemerkte, fielen mir die Augen zu.
Annette:
Nachdem wir losgefahren waren, verriet mir ein Blick in den Rückspiegel, dass Florian den Kampf gegen den Schlaf bald verlieren würde. Sein Kopf lehnte leicht zur Seite, die Augen halb geschlossen, während er Pandi fest an sich drückte. In diesem Moment wirkte er so viel jünger, als er eigentlich war. Zerbrechlich und schutzbedürftig – es brach mir das Herz, wenn ich daran dachte, wie viel er vermutlich schon erlebt hatte.
„Ich hoffe, es war trotz des unschönen Endes ein schöner Ausflug für Florian,“ sagte ich schließlich und sah kurz zu Diana hinüber.
Sie nickte langsam. „Ich denke schon, dass die positiven Erlebnisse überwiegen. Und, Annette, das, was du heute erlebt hast, kann in unterschiedlicher Form die nächsten Jahre immer wieder passieren.“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weiter sprach. „Wie ich schon erwähnt habe, sind Pflegekinder ohne Trauma extrem selten. Eigentlich haben alle Kinder in der Pflege einen Rucksack voller Erfahrungen, die ihr Verhalten beeinflussen.“
Ich blickte erneut in den Rückspiegel. Florian war inzwischen eingeschlafen, seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht wirkte so friedlich. Es war schwer vorstellbar, dass dieses Kind einen solchen Rucksack mit sich trug.
Diana fuhr fort: „Eine Dame vom Jugendamt, die heute im Ruhestand ist, hat das mal als Verhaltensoriginell beschrieben. Und ich finde, das passt. Im Alltag kommt es immer wieder zu Situationen, die Pflegekinder ganz anders einschätzen als wir – oder als wir es erwarten würden. Bei den eigenen Kindern erlebst du die prägenden Momente meistens mit. Du weißt, wie sie in Zukunft auf ähnliche Situationen reagieren könnten. Bei Pflegekindern wissen wir das oft nicht. Wir wissen nicht, was sie wirklich erlebt haben, was sie geprägt hat, und warum sie auf manche Dinge so reagieren.“
Ich nickte stumm, ihre Worte klangen in mir nach. Ich hatte heute einen kleinen Einblick bekommen, was das bedeutete. Florians Panik, als er plötzlich wegrannte, war ein deutliches Zeichen gewesen, dass er mit der Situation überfordert war. Und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was in ihm vorgegangen war.
„Aber du hast heute richtig reagiert,“ sagte Diana aufmunternd. „Ich muss dir ehrlich sagen, dass Florian schon jetzt eine Bindung zu dir aufgebaut hat, für die die meisten Pflegeeltern – und auch ich – oft sehr lange brauchen. Ich habe das Gefühl, dass er deine Nähe sucht und sie genießt. Die Chemie zwischen euch scheint wirklich zu passen.“
Ihre Worte berührten mich tief. „Schon als ich ihn das erste Mal bei euch sah, wie er da still in der Ecke mit den Autos spielte, hatte ich ihn in mein Herz geschlossen. Man könnte es fast als; Mutterliebe auf den ersten Blick bezeichnen.” Ich spürte diese besondere Verbindung, er war ein außergewöhnlicher Junge, und ich wollte alles tun, um ihm zu helfen.
„Ich werde das auch so an Frau Peters weitergeben,“ fügte Diana hinzu. „Ich denke, je schneller er zu euch nach Hause kommt, desto besser ist es für ihn – und vielleicht auch für mich. Es fällt mir so gut wie nie leicht, von unseren Kurzzeit Pflegekindern Abschied zu nehmen. Aber bei Florian wird es mir, glaube ich, besonders schwer fallen. Er wirkt so ruhig und in sich gekehrt, das macht ihn noch zerbrechlicher. Viele Kinder in seiner Situation sind völlig überdreht, aggressiv oder laut. Das ist kein Vorwurf – sie können nichts dafür. Es ist oft das Ergebnis von schweren Misshandlungen oder Vernachlässigung. Aber bei Florian ist es anders. Seine stille Art macht es umso schwieriger, ihn loszulassen.“
Ich schluckte und wandte den Blick erneut in den Rückspiegel. Florian schlief immer noch, sein Gesicht war entspannt, und Pandi lag sicher in seinen Armen. Meine Gedanken wirbelten.
„Auch diese lauten und aggressiven Kinder verdienen eine Familie, die ihren Bedürfnissen gerecht wird,“ fuhr Diana fort. „Aber ich glaube, Florian hat bei euch genau die Familie gefunden, die er braucht. Es ist selten, dass die Chemie so schnell stimmt. Das macht mir Hoffnung, dass er bei euch einen Ort findet, an dem er heilen kann.“
Ich nickte, obwohl die Worte mich schwer trafen. Ich fühlte mich einerseits geehrt, dass sie das von mir dachte, und andererseits wusste ich, wie viel Verantwortung auf meinen Schultern lag. Florian hatte schon jetzt einen Platz in meinem Herzen, und ich würde alles tun, um ihm die Geborgenheit zu geben, die er brauchte.
„Danke, Diana,“ sagte ich leise. „Das bedeutet mir viel.“
„Gern,“ erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln, während wir den Weg in Richtung Zuhause fortsetzten. Der schlafende Florian im Rückspiegel erinnerte mich daran, dass dieser Weg erst begonnen hatte, aber ich war entschlossen, ihn mit ihm gemeinsam zu gehen.
„Hast du eigentlich schon mal eine Rückführung erlebt?“ fragte ich zögernd. Es war eine der Ängste, die mich am meisten beschäftigten. Die Vorstellung, dass Florian eines Tages von den Menschen, die ihm all das angetan hatten, aus unserer Familie gerissen werden könnte, war kaum auszuhalten.
Diana schaute mich kurz an und zögerte. Dann nickte sie. „Ja, habe ich. Es waren beide Male kurzzeit Pflegekinder. In einem Fall war es tatsächlich eine positive Erfahrung. Soweit ich weiß, lebt das Kind bis heute bei seinen leiblichen Eltern. Sie haben, wie man so schön sagt, wirklich die Kurve gekriegt. Es war keine einfache Zeit, aber sie haben sich durchgebissen und es geschafft, ihrem Kind eine sichere Umgebung zu bieten.“
Ich spürte einen kurzen Moment lang Erleichterung. Es tat gut zu wissen, dass es Fälle gab, in denen die Rückkehr in die Herkunftsfamilie tatsächlich funktionierte, dass ein Kind in einem vertrauten Umfeld aufwachsen konnte. Aber im nächsten Atemzug wurde mir klar, wie sehr mir genau dieser Gedanke Angst machte. Der Gedanke, Florian könnte eines Tages einfach wieder aus unserer Familie gerissen werden, nachdem er endlich Vertrauen gefasst und eine Bindung zu uns aufgebaut hatte, ließ mich erschaudern. Und noch bevor Diana weitersprach, erkannte ich ihr Zögern – und damit auch die Möglichkeit, dass meine Befürchtungen mehr als bloße Hirngespinste waren.
„Beim zweiten Fall war es… anders. Das ist nur wenige Jahre her und eine wirklich schlimme Erfahrung für mich. Es war ein Junge, elf Jahre alt, der über zwei Monate bei uns war. Seine Mutter musste einen Entzug machen, und sie hatte sich von seinem Vater getrennt. In der Zeit, in der er bei uns war, konnte ich langsam eine Beziehung zu ihm aufbauen. Es war nicht zu vergleichen mit der Beziehung, die ich zu Anna-Lena oder Nathanael habe, und auch nicht mit der Art von Vertrauen, die dir Florian heute schon entgegenbringt. Aber wir verstanden uns. Und er fing an, sich zu öffnen.“
Diana hielt kurz inne und schaute aus dem Fenster, bevor sie weiter sprach. Ihre Stimme klang ein wenig brüchig. „Dann wurde er wieder zu seiner Mutter zurückgebracht. Es tat weh, aber ich hoffte, dass es klappen würde. Ein halbes Jahr später war er erneut bei mir. Aber er war nicht mehr derselbe Junge, den ich kannte. In diesen sechs Monaten musste er mehr leiden als in seinem ganzen Leben davor.“
Ich schluckte hart, während Diana fortfuhr. „Er war unglaublich aggressiv, und die Verbindung, die wir zuvor hatten, war wie ausgelöscht. Ich konnte nicht anknüpfen, egal, was ich versuchte. Zu der Zeit hatte ich gerade Anna-Lena und Nathanael bei mir aufgenommen, und nach zwei Wochen musste ich die Entscheidung treffen, ihn aus unserer Familie zu nehmen, weil er die beiden bedroht hatte.“
Diana hielt kurz inne, ihre Hände fest ineinander gelegt. Ihre Stimme war leiser geworden. „Ich habe damals so viel geweint, weil ich ihm nicht helfen konnte. Es tut mir bis heute in der Seele weh, daran zu denken. Ich hoffe, dass er schließlich in eine Familie gekommen ist, die ihm gerecht werden konnte.“
Ein schweres Schweigen breitete sich aus, bis Diana schließlich sagte: „Aber ich möchte dir keine Angst machen. Das waren die einzigen beiden Fälle, die ich in den letzten 26 Jahren erlebt habe. Die meisten Rückführungen – sofern sie überhaupt stattfinden – sind gut vorbereitet und erfolgen nur, wenn wirklich sichergestellt ist, dass das Kind dort sicher ist.“
Ich nickte, auch wenn meine Gedanken noch bei ihrer Geschichte waren. Es war tröstlich zu wissen, dass Rückführungen selten sind, aber die Vorstellung, Florian eines Tages zu verlieren, ließ sich nicht so leicht abschütteln. Gleichzeitig bewunderte ich Diana dafür, dass sie trotz solcher Erfahrungen weiterhin so viel Mitgefühl und Einsatz zeigte. „Danke, dass du das mit mir geteilt hast,“ sagte ich schließlich leise.
Diana sagte: „Du machst das wirklich hervorragend, Annette. Florian hat in dir jemanden gefunden, dem er vertrauen kann. Das ist alles andere als selbstverständlich. Ich bin überzeugt, dass er bei euch die Familie finden wird, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gibt.“
Als wir wieder bei Dianas Haus ankamen, war es halb fünf. Die Sonne stand tief am Himmel, und die langen Schatten der Bäume zogen sich über die Einfahrt. Mein Herz fühlte sich schwer an, hin- und hergerissen zwischen meiner Sehnsucht, bei Florian zu bleiben, und der Verantwortung zu Hause. Markus kümmerte sich gerade um alles: den Hof, die Tiere, und er bereitete sogar schon Florians Zimmer vor. Ich wusste, dass die nächsten Tage nicht einfacher werden würden.
Ich drehte den Zündschlüssel und der Motor verstummte. Einen Moment saß ich still da und sah zu Diana, die neben mir saß. Sie blickte mich verständnisvoll an. „Ich würde wirklich gerne noch bleiben,“ begann ich leise, „aber ich habe noch einiges vorzubereiten, und ich kann Markus nicht alles alleine machen lassen.“
Diana nickte sanft. Sie wusste, wie es ist, wenn man gleichzeitig mehrere Rollen erfüllen muss. Ich seufzte und stieg aus dem Auto. „Ich bringe euch noch schnell den Kindersitz ins Haus, dann fahre ich erstmal. Ich würde morgen gerne wiederkommen, wenn ich darf?“
Ein warmes Lächeln huschte über Dianas Gesicht. „Ich denke, Florian würde sich sehr freuen, wenn du morgen wiederkommst.“ Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Ich möchte morgen früh mit ihm zum Kinderarzt. Das machen wir mit den meisten Pflegekindern am Anfang, gerade wenn sie so viele Probleme wie Florian mit sich herumschleppen.“ Ihre Stimme klang sanft, aber bestimmt. „Frau Peters hat mir schon alle nötigen Informationen dafür zukommen lassen.“
Ich nickte und schluckte kurz. Ein Arztbesuch war sicher das Richtige für Florian, aber der Gedanke daran machte mich nervös. Ich wollte, dass alles gut für ihn wird, dass er sich sicher und geborgen fühlt. „Habt ihr einen Kinderarzt bei euch in der Nähe?“ fragte Diana.
„Nein, im Dorf gibt es keinen mehr,“ antwortete ich seufzend. „Der Kinderarzt zwei Dörfer weiter ist vor drei Jahren in den Ruhestand gegangen, und seitdem hat sich kein neuer gefunden. Wir müssten mit Florian nach Hof fahren, das ist die nächste Möglichkeit.“
Diana nickte verständnisvoll. „Es ist wichtig, dass wir jetzt erstmal alles bei Florian durchchecken lassen. Wenn ihr später mit ihm nach Hof fahren müsst, könnt ihr gleich zur selben Kinderärztin gehen. Sie ist wirklich gut und kennt sich mit den bürokratischen Besonderheiten bei Pflegekindern aus. Und falls ihr irgendwann einen Spezialisten braucht, können wir euch auch dabei unterstützen.“
Behutsam löste Diana die Gurte des Kindersitzes und hob Florian sanft heraus. Er kuschelte sich an sie, sein zarter Körper wirkte in ihren Armen zerbrechlich und schutzbedürftig. Bevor sie ihn auf den Boden stellte, hielt sie ihn für einen Moment fest, als wolle sie ihm zusätzliche Sicherheit geben. Hätte ich nicht gewusst, dass er sieben Jahre alt war, hätte ich ihn leicht für einen vier- oder fünfjährigen Jungen halten können. Seine schmale Statur und die kindlichen Gesichtszüge ließen ihn noch jünger wirken, als er ohnehin schon war.
Florian:
Ich blinzelte verschlafen, als Diana sanft an meinem Gurt herumfummelte und mich schließlich aus dem Kindersitz hob. Draußen war die Luft schon kühler, und am Himmel konnte man erkennen, dass die Sonne bald untergehen würde. Das Licht tauchte alles in ein sanftes Orange, während Diana mich vorsichtig vor dem Auto auf den Boden stellte. Kurz schaute ich zu Annette hinüber, die neben uns stand und sich gleich daran machte, den Kindersitz auszubauen. Irgendwie hätte ich mich jetzt gerne näher zu ihr getraut, doch ich wagte es nicht, von allein zu ihr zu gehen. Stattdessen folgte ich still Diana ins Haus.
Drinnen war es angenehm warm und ein sanftes, dämmeriges Licht fiel durch die Fenster. Noch ehe wir richtig im Flur ankamen, kam uns Nathanael entgegen. Er humpelte leicht, was Diana sofort bemerkte. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie mit besorgter Stimme, während ich etwas abseits stehen blieb. Nathanael grinste ein bisschen schief, als wäre es nichts Besonderes. „Ein Spieler aus der gegnerischen Mannschaft hat mich gefoult,“ erklärte er, „ist aber halb so schlimm, hat Papa gesagt. Außerdem haben wir 4:2 gewonnen, und ich hab sogar das erste Tor geschossen!“ In seiner Stimme schwang Stolz mit, und Diana lobte ihn: „Super, Nathanael!“
Doch zugleich wurde ihr Blick wieder ernst. „War Papa mit dir beim Arzt?“ fragte sie. Nathanael verneinte. Diana seufzte leise, aber nicht verärgert, eher besorgt. „Dann geh bitte ins Wohnzimmer, ich will mir deinen Fuß gleich mal ansehen.“ Anschließend wandte sie sich an mich: „Florian, zieh bitte deine Sachen aus und komm dann auch ins Wohnzimmer, ja?“ Ich nickte nur und machte mich an meine Schuhe, dann an meine Jacke. Während ich die Jacke an der Garderobe aufhängte, fiel mir auf, dass dort zwei Haken genau auf meiner Höhe angebracht waren – als hätte jemand an mich gedacht und es mir leicht machen wollen.
Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Nathanael schon auf der Couch. Er hatte mittlerweile seine Hose ausgezogen, damit Diana seinen Fuß genauer untersuchen konnte. Ich bemerkte, dass er unter seiner Unterhose eine Windel trug, die schon ziemlich dick aussah. Ich blieb ein paar Schritte entfernt stehen und beobachtete die Szene vorsichtig. Obwohl ich mich ein bisschen fehl am Platz fühlte, beruhigte es mich, wie Diana sich um Nathanael kümmerte. Die ganze Atmosphäre im Haus wirkte irgendwie sicher, als dürfte ich hier sein – auch wenn ich mich noch nicht traute, diese Sicherheit ganz anzunehmen.
Diana betrachtete Nathanaels Fuß aufmerksam. „Es sieht wirklich nicht so schlimm aus,“ sagte sie schließlich in beruhigendem Ton. „Wir schauen morgen früh vor der Schule nochmal danach. Ich muss morgen sowieso mit Florian zum Kinderarzt. Wenn dein Fuß bis dahin nicht besser ist, nehme ich dich einfach mit.“ Dann sah sie ihm direkt in die Augen. „Deine Windel ist schon ziemlich voll. Ich habe Verständnis dafür, aber bitte zieh dir jetzt eine frische an. Und ab morgen versuchen wir es wieder ohne, okay? Ich möchte nicht, dass du dich daran gewöhnst.“
Nathanael nickte zögernd, obwohl ich ihm ansah, dass er es sich anders gewünscht hätte. Er erhob sich, seine Hose in der Hand, und ging langsam an mir vorbei, den Blick leicht gesenkt. Als er an mir vorüberging, murmelte er etwas wie: „Du hast es gut.“ Dann verließ er das Wohnzimmer. Ich blieb still stehen, etwas verwirrt.
Ich stand immer noch an derselben Stelle, an der Nathanael eben an mir vorbeigegangen war. Seine Worte hingen noch in meinem Kopf, wie ein fremdes Geräusch in einem stillen Raum: „Du hast es echt gut.“ Was meinte er damit? Warum sollte ich es gut haben? Mein Bauch fühlte sich seltsam an, als hätte ich etwas falsch gemacht. War das ein Vorwurf? Oder sollte das etwas Positives bedeuten? Ich wusste es nicht.
Vorsichtig hob ich den Blick und schaute zu Diana hinüber. Sie schien den kurzen Austausch mit Nathanael gar nicht bemerkt zu haben – oder sie ließ es sich zumindest nicht anmerken. Ihr Gesicht war ruhig, aber konzentriert. Sie blickte mich kurz an, dann sagte sie mit fester, aber freundlicher Stimme: „Setz dich bitte einmal auf die Couch, Florian.
Wir fahren morgen früh zum Kinderarzt.“
Ihre Worte trafen mich unerwartet. Kinderarzt? Wieso denn das? Unsicher trottete ich zur Couch hinüber, setzte mich auf das weiche Polster. Meine Beine baumelten in der Luft, ohne den Boden zu erreichen, und ich klammerte mich an Pandi, als könnte er mich beschützen.
Während ich auf meine Füße starrte, überschlugen sich meine Gedanken. Warum zum Arzt? Hatte Diana etwas bemerkt, was mit mir nicht stimmte? Ob es etwas mit meinen häufigen Unfällen zu tun hatte? Ich schämte mich so sehr dafür, dass ich manchmal nicht rechtzeitig zur Toilette kam. Nathanaels Worte nagten weiter an mir: „Du hast es echt gut.“ Vielleicht war ich für alle hier zu kompliziert. Vielleicht wollte Diana mich deshalb zum Arzt schleppen, um herauszufinden, was mit mir nicht stimmte, und mich dann wieder wegzuschicken.
Diana kniete sich vor mich, sodass sie mit mir auf Augenhöhe war. „Florian,“ begann sie leise, „weißt du, wann du das letzte Mal bei einem Arzt warst? Abgesehen von diesem Amtsarzt vom Jugendamt?“ Ihre Stimme klang vorsichtig, als wolle sie mich nicht erschrecken.
Ich suchte in meinen Erinnerungen. Mama und Papa hatten mich niemals zu einem richtigen Arzt gebracht, oder zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Die Bilder in meinem Kopf waren verschwommen. „Ich… ich weiß nicht,“ murmelte ich unsicher. „Ich kann mich nicht erinnern, ob ich überhaupt mal bei einem Arzt war…“
Diana lächelte verstehend. „Das ist nicht schlimm, Florian. Wirklich nicht. Ich wollte dir nur sagen, dass wir morgen zum Kinderarzt gehen, um ein paar Dinge zu klären. Wir müssen herausfinden, warum du oft in die Hose machst, obwohl du ja schon größer bist, und warum du für dein Alter so klein bist. Die Ärztin kann dir helfen und schauen, ob bei dir alles in Ordnung ist oder ob wir irgendetwas tun können, damit es dir besser geht.“
Mein Herz schlug schneller. Jetzt hatte ich es schwarz auf weiß: Es ging genau um meine Schwäche, um meine Größe, um diese peinlichen Unfälle. Was, wenn die Ärztin sagt, ich wäre nur zu faul, rechtzeitig auf die Toilette zu gehen? Was, wenn sie mich auslacht, weil ich so klein bin? Und wenn Diana danach beschließt, dass ich zu schwierig bin und Annette lieber ein anderes Kind aufnehmen möchten? Dann müsste ich zu Mama und Papa zurück, und das wollte ich auf keinen Fall.
„Ich… ich will nicht zum Arzt,“ stammelte ich ängstlich und wagte kaum, Diana anzusehen. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und ich hoffte, sie würde mich nicht dafür schimpfen.
Doch Diana rückte nur ein wenig näher und sprach leise weiter: „Florian, du brauchst keine Angst zu haben. Die Kinderärztin, zu der wir morgen gehen, ist wirklich lieb. Ich war schon mit anderen Kindern bei ihr, und sie hat immer ein offenes Ohr. Sie wird nicht schimpfen, sie möchte nur herausfinden, wie sie dir helfen kann, damit du dich wohler fühlst. Du bist damit nicht allein, andere Kinder haben auch solche Probleme.“
Vorsichtig hob ich den Blick und traf Dianas Augen. Ihre Worte klangen ehrlich und beruhigend. Sie sah nicht aus, als wollte sie mich loswerden. Ganz im Gegenteil, sie wirkte besorgt um mich. „Wirklich?“ fragte ich zitternd, während ich Pandi noch fester an mich drückte.
Diana nickte fest. „Wirklich. Ich verspreche dir, dass wir das gemeinsam machen. Und wenn du Angst hast, dann bin ich bei dir. Okay?“
Ich atmete tief durch. Die Angst war noch da, aber Dianas Stimme und ihr Blick halfen mir, ein kleines bisschen ruhiger zu werden. Vielleicht würde dieser Arztbesuch gar nicht so schlimm sein. Ich nickte zögerlich.
„Diana?“ beginne ich zögernd, meine Stimme ist ein wenig dünn, als hätte ich Angst, etwas Falsches zu fragen. Ich drücke Pandi noch ein bisschen enger an mich.
„Ja, Florian?“ Ihre Stimme klingt immer noch geduldig, als hätte sie alle Zeit der Welt, mir zuzuhören.
Ich schlucke kurz, bevor ich weiterrede. „Wann… wann kann ich eigentlich wieder in die Schule? Zu Paul?“ Ich sage den letzten Teil etwas leiser, so als wäre er ein Geheimnis. Dabei schaue ich verlegen auf Pandis Ohren, statt Diana in die Augen zu sehen.
Diana zieht überrascht die Augenbrauen hoch, aber nicht auf eine unfreundliche Weise. Eher so, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass ich nach der Schule frage. „Gehst du gerne in die Schule, Florian?“ fragt sie sanft.
Ich muss kurz nachdenken. Mag ich die Schule? Eigentlich ist es dort meist besser, als es Hause war. Ich beiße mir leicht auf die Lippe, während ich darüber nachdenke. In der Schule ist Paul, mein bester Freund… eigentlich mein einziger Freund. Frau Siegel, meine Klassenlehrerin, ist auch meistens nett, auch wenn ich nicht besonders gut in den Hausaufgaben bin. Ich bekomme dort immer etwas zu essen, und wenn ich etwas nicht verstehe, erklärt Frau Siegel es noch einmal. Klar, da sind auch Zwenja und Richard, die mich manchmal ärgern. Die machen sich über meine Größe lustig und über meine Kleidung, und manchmal schubsen sie mich. Aber ehrlich gesagt ist das nicht so schlimm wie das, was ich von Zuhause kenne. In der Schule hat mich noch nie jemand richtig doll geschlagen oder so angeschrien, dass ich dachte, mir platzt der Kopf.
Also nicke ich schließlich langsam. „Ja, in der Schule kann ich in der Pause mit Paul spielen,“ sage ich ein bisschen fester, weil ich weiß, dass das stimmt. Paul ist immer nett zu mir, er bringt mir manchmal etwas zu essen mit.
Diana lächelt, und ich spüre, wie sie ruhiger wird. „Ist Paul dein Freund?“ fragt sie, und ihre Stimme klingt warm, als würde sie sich wirklich für mich freuen.
Ich nicke und versuche, sie kurz anzusehen. „Ja… er ist mein bester Freund,“ sage ich und muss dabei an Pauls Grinsen denken, wenn wir uns über irgendeine Kleinigkeit freuen, wie einen besonders leckeren Schokoriegel in seiner Brotdose. In Gedanken füge ich hinzu, dass er auch mein einziger Freund ist, aber das sage ich nicht laut. Das muss Diana ja nicht unbedingt wissen.
Diana lächelt noch einmal und neigt den Kopf leicht zur Seite. „Das kann ich sehr gut verstehen, Florian. Freunde sind etwas sehr Wichtiges.“ Sie macht eine kurze Pause, als wolle sie die richtigen Worte finden. „Weißt du, morgen gehen wir ja zum Kinderarzt, um herauszufinden, warum du manchmal in die Hose machst und warum du ein bisschen kleiner bist als andere Kinder in deinem Alter. Es kann sein, dass wir dafür noch eine Überweisung zu einem Spezialisten bekommen. Das heißt, wir müssen dann vielleicht noch zu einem anderen Arzt, der sich besonders gut damit auskennt.“ Sie versucht, jedes Wort so einfach klingen zu lassen wie möglich, aber ich spüre trotzdem, dass es etwas Ernstes ist.
Ich schlucke und drücke Pandi wieder fester an mich. „Und… wann kann ich dann wieder in die Schule?“ frage ich vorsichtig. In meinem Kopf kreisen schon wieder diese Sorgen: Was, wenn die Ärzte etwas ganz Schlimmes finden und ich dann überhaupt nicht mehr zur Schule darf?
Diana runzelt sanft die Stirn, aber nur, um nachzudenken, nicht, weil sie verärgert wäre. „Wir versuchen, dass du am Dienstag wieder in die Schule gehen kannst, wenn die Ärztin morgen sagt, dass nichts sofort getan werden muss, was dich davon abhalten würde. Verstehst du? Morgen ist Montag, wir gehen früh zum Kinderarzt, und wenn alles in Ordnung ist oder wir nur auf ein paar Ergebnisse warten müssen, dann kannst du am Dienstag bestimmt wieder zu Paul und den anderen Kindern.“
Ich nicke, auch wenn ein kleiner Kloß in meinem Hals steckt. Dienstag. Das ist schon in zwei Tagen. Das ist gar nicht so lange. Ich versuche, mir das wie eine Brücke vorzustellen: Erst zum Arzt, dann vielleicht noch ein weiterer Arzt, aber wenn alles gut geht, kann ich bald wieder in die Klasse zurück. Zurück zu Paul. In die Pause. Und auch wenn Zwenja und Richard da sind, ist es immer noch besser als an diesem anderen Ort, an den ich mich nur ungern erinnere.
„Okay,“ flüstere ich und schaue Diana kurz ins Gesicht. Sie lächelt mich an, und in diesem Lächeln steckt etwas, das mich beruhigt.
Leni betritt das Wohnzimmer, wirft mir einen kurzen, freundlichen Blick zu, lächelt leicht und wendet sich dann an Diana.
„Mama, was gibt es zum Abendessen?“ fragt sie, und ihre Stimme klingt klar und neugierig.
Diana dreht sich zu ihr um. „Hat Papa noch nichts fertiggemacht?“ Sie klingt überrascht, aber nicht wütend. Ich starre auf meine Knie und traue mich nicht, hochzuschauen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich Diana den ganzen Tag für mich beansprucht habe, und sie deshalb noch keine Zeit für ihre Kinder hatte.
Leni schüttelt den Kopf. „Nein, der ist in der Werkstatt. Er baut einen Holzrahmen für unser Schulprojekt.“
Diana nickt langsam. „Ah, ein Holzrahmen. Das ist natürlich auch wichtig.“ Ihre Stimme klingt verständnisvoll. Dann wendet sie sich kurz mir zu, als wollte sie sicherstellen, dass ich nicht plötzlich weglaufe. „Ich schau gleich mal, was wir heute Abend kochen können.“ Sie klingt freundlich, aber ich bemerke, wie sie versucht, alles im Blick zu behalten – Leni, mich, den Haushalt.
In diesem Moment kommt Annette ins Wohnzimmer. Mein Herz macht einen kleinen Sprung, als ich sie sehe. Sie wirkt so ruhig und lieb. Mit ihr fühle ich mich ein kleines bisschen sicherer. Sie streicht sich kurz eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagt zu Diana: „Ich habe euch den Kindersitz auf den Flur gestellt.“
Dann dreht sie sich zu mir um, kommt ein paar Schritte näher und hockte sich direkt vor mich. Meine Finger pressen sich etwas fester um Pandi. „Florian, ich muss leider zurück auf den Hof“, sagt sie leise, und ich höre den bedauernden Ton in ihrer Stimme. Ich schlucke und starre auf den Boden. Mir ist klar, dass sie dort viel zu tun hat, aber ich würde so gerne noch Zeit mit ihr verbringen.
„Es war ein wirklich schöner Tag mit dir, am liebsten würde ich dich gleich mitnehmen.“ Ich spüre, wie mir heiß wird im Gesicht. Sie meint das wirklich ernst, aber warum? Ich mache ständig in die Hose, bin kleiner als andere Kinder und bereite sicher nur zusätzliche Arbeit. Sie könnte doch viel einfacher ein anderes Kind finden, das nicht so kompliziert ist. Warum also mich?
Trotzdem freue ich mich, dass sie das sagt. Es fühlt sich gut an, wenn jemand mich scheinbar wirklich mag. „Leider geht das nicht so einfach,“ fügt Annette hinzu. „Ich komme dich morgen Nachmittag wieder besuchen, wenn das für dich okay ist?“
Ich nicke, obwohl ich einen dicken Kloß im Hals habe. Morgen kommt sie wieder. Das ist schön. Aber gleichzeitig bin ich traurig, dass sie jetzt gehen muss. Warum kann sie nicht einfach hierbleiben? Warum kann ich nicht mit ihr mitgehen, wenn sie mich doch so gerne hat?
Annette beugte sich etwas zu mir, ihre Augen sind auf meiner Höhe. „Tschüss Florian, bis morgen,“ sagt sie sanft. Ich will ihr antworten, aber als ich den Mund öffne, bricht meine Stimme, und ich bekomme keinen vernünftigen Ton heraus. Stattdessen spüre ich, wie mir Tränen in die Augen steigen. Meine Wangen werden heiß, ich will eigentlich nicht weinen, nicht vor allen. Aber es geht nicht anders. Es ist, als würde sich all die Spannung in mir in Form von Tränen lösen.
„T-tschüss,“ flüstere ich schließlich, und meine Stimme klingt gebrochen, fast wie ein Wimmern. Annette lächelt traurig, und auch in ihren Augen schimmert eine Träne. Sie umarmt mich kurz, ganz vorsichtig, als hätte sie Angst, mich zu zerbrechen. Ich presse Pandi fest an meine Brust und versuche, nicht laut loszuheulen.
Dann richtet Annette sich auf, wischt sich über die Wange und sagt zu Diana: „Wir telefonieren nachher nochmal. Ich muss jetzt erstmal los.“ Diana nickt, wünscht ihr eine gute Fahrt. Annette verlässt das Wohnzimmer, und ich höre ihre Schritte im Flur, dann die Haustür. Für einen Moment ist es still. Ich sehe den Fleck auf dem Teppich an und versuche, mich zu beruhigen.
Leni bricht das Schweigen. „Mama, warum kann Annette nicht einfach hier bei Florian bleiben?“ Ihre Stimme klingt neugierig, vielleicht auch ein wenig mitleidig. Ich spüre, wie meine Traurigkeit noch ein Stück tiefer rutscht. Die Frage stelle ich mir auch.
Diana seufzt leise und antwortet geduldig: „Ich denke, sie hat zu Hause auch noch einiges zu tun. Annette und Markus haben einen Bauernhof, und dort gibt es bestimmt viel Arbeit.“ Sie klingt, als wolle sie uns beide beruhigen.
Ich schlucke und wische mir vorsichtig mit der Hand über die Augen. Meine Gedanken kreisen darum, warum Annette mich überhaupt morgen wiedersehen will. Was ist so besonders an mir? Ich bin doch nur ich, Florian, der zu klein ist, schwach, ängstlich und ständig in die Hose macht.
Ich halte Pandi fest und höre, wie Diana sich langsam erhebt, um nach dem Abendessen zu sehen. Leni bleibt noch kurz im Raum, schaut mich an, als wolle sie etwas sagen, tut es aber nicht. Ich spüre meine Unsicherheit wie eine schwere Decke auf mir liegen, aber irgendwie auch eine kleine Hoffnung: Morgen kommt Annette wieder. Sie kommt wirklich wieder. Und vielleicht heißt das, dass ich ihr wichtig bin.
Diana wendet sich an Leni, kurz bevor sie in Richtung Küche geht. „Nimmst du Florian mit hoch, damit er nicht alleine ist?“ Ihre Stimme klingt irgendwie sanft, aber ich fühle mich trotzdem seltsam unruhig. Leni nickt, dreht sich zu mir um und lächelt mich an. „Kommst du mit zu mir?“ fragt sie, während sie mir ihre Hand entgegenstreckt. Zögernd lege ich meine Hand in ihre, halte mich an ihr fest, als würde ich sonst den Boden unter den Füßen verlieren.
Wir gehen zusammen nach oben in ihr Zimmer, und ich folge ihr langsam, Schritt für Schritt. Es ist nicht mehr so aufgeräumt wie gestern – überall liegen Kleidungsstücke herum, als hätten sie sich selbstständig gemacht. Auf ihrem Schreibtisch steht ein aufgeklappter Laptop, aber der Bildschirm ist dunkel, so als ob er mich nicht ansehen möchte.
„Setz dich ruhig aufs Bett, Flori“, sagt Leni mit ruhiger Stimme, als wäre es ganz selbstverständlich, dass ich mich dort hinsetze. Vorsichtig rutsche ich auf die Bettkante, spüre den Stoff unter mir und weiß nicht, wohin mit meinen Händen.
„Wie war euer Ausflug?“, fragt sie dann. Ihre Frage klingt freundlich, als wolle sie mich wirklich verstehen. Ich hebe kurz den Kopf, senke ihn aber schnell wieder. „Er war … okay“, flüstere ich, so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie es überhaupt hören kann.
„Nur okay? Ich dachte, der Zoo hätte dir besser gefallen“, meint Leni und klingt dabei nicht böse, eher überrascht. „Früher fand ich es immer toll, wenn Diana mit uns solche Ausflüge gemacht hat.“ Ich schlucke, fühle wie mein Magen sich zusammenzieht, bevor ich unsicher antworte: „Der Zoo war wirklich toll …“
Ich breche ab, lasse das, was mich bedrückt, ungesagt. Leni runzelt leicht die Stirn. „Schon besser“, murmelt sie. „Aber war wirklich alles toll oder gab es etwas, das dir nicht gefallen hat?“ Ich spüre, wie sich mein Blick senkt, meine Hände aneinander krampfen. Jetzt ist es draußen, dieses unangenehme Gefühl. „Ich … ich bin weggelaufen, weil ich Angst vor einem Mann hatte“, sage ich so leise, als könnte das Wort selbst wehtun.
Lenis Augen werden größer. „Kanntest du ihn? Hat er dich angefasst?“ Ihre Stimme ist jetzt leise, vorsichtig. Ich schüttle nur den Kopf, versuche dabei, den Kloß in meinem Hals loszuwerden. „Nein, er hat seinen Sohn angeschrien … und ich … ich hatte einfach Angst.“ Meine Worte klingen dünn und zittrig.
„Oh“, sagt Leni schließlich. „Das kann ich verstehen. Sowas ist echt blöd.“ Sie klingt ehrlich, nicht so, als wolle sie mich einfach beruhigen. Ich sitze still da, starre auf den dunklen Laptop Bildschirm. Meine Schultern fühlen sich schwer an, und ich weiß nicht, ob ich jemals verstehen werde, warum mich all das so mit nimmt.
„Wollen wir mal schauen, was Nathanael macht?“, unterbrach Leni plötzlich die Stille. Ich hob den Kopf nicht, ließ ihn einfach gesenkt. Meine Stimme war nur ein Flüstern: „Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt sehen will.“ Leni klang verwundert: „Wieso denn das? Nathanael freut sich bestimmt, wenn du ihn in seinem Zimmer besuchst. Oder habt ihr euch etwa gestritten?“ Ihre Frage klang richtig ungläubig, als könnte sie sich das nicht vorstellen.
Ich zog nur die Schultern hoch, suchte nach Worten, die sich nicht so seltsam anfühlten. „Er hat vorhin gesagt, dass ich es gut habe“, murmelte ich. Dabei klang er aber nicht wirklich nett, eher so, als wäre er unzufrieden oder neidisch. Leni rückte ein Stück näher zu mir, legte einen Arm leicht um mich: „Oh Mann, heute läuft wirklich gar nichts für dich, oder?“ Ihre Stimme war leise, fast tröstend.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, es fühlte sich wirklich nicht wie mein Tag an. „Nathanael mag dich doch“, versuchte Leni mir zu erklären. „Er war bestimmt nicht böse. Vielleicht ist er einfach ein bisschen neidisch, weil du Windeln tragen darfst, ohne dass jemand das komisch findet.“
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. „Warum beneidet er mich da?“, fragte ich bitter. „Ich würde viel lieber keine Windeln brauchen. Und wieso, findet das niemand komisch? Ich bin sieben, kein Baby mehr.“ Meine Stimme wurde am Ende dünn, als würde sie sich verstecken wollen.
Leni strich mir sanft über den Arm. „Nathanael würde manchmal gern nochmal so klein sein wie du. Wir müssen uns schon bald überlegen, was wir später mal machen wollen. In drei Jahren werden wir 18, und eigentlich ist Mama dann nicht mehr für uns verantwortlich, weil wir nicht ihre richtigen Kinder sind. Aber ich weiß, dass sie uns dann trotzdem nicht einfach alleine lässt.“ Sie seufzte leise. „Du hast noch so viel Zeit vor dir. Vielleicht kannst du einfach ein richtiges Kind sein, ohne all den Druck. Und hier im Haus findet niemand seltsam, dass du noch Windeln trägst, weil alle wissen, dass du nichts dafür kannst. Und draußen, da halten dich die Leute vielleicht für ein Kindergartenkind. Da ist es nicht so ungewöhnlich, dass manche noch eine Windel brauchen. Ich verstehe dich aber trotzdem. Mir gefällt es auch nicht, dass ich nachts noch diese Hosen tragen muss. Immerhin passiert es mir nicht so oft wie Nathanael, aber es ist trotzdem blöd.“
Ich hörte ihr zu, sagte aber nichts mehr. Ihr Arm war warm an meiner Schulter, doch in meinem Bauch breitete sich ein unruhiges Gefühl aus. Nichts an diesem Tag fühlte sich wirklich gut an, egal wie sehr Leni es versuchte.
„Komm, wir schauen mal bei ihm vorbei“, sagte Leni irgendwann leise, während ich immer noch mit gesenktem Kopf auf ihrem Bett saß. Ich hatte eigentlich keine Lust, irgendetwas zu tun. Am liebsten wäre ich einfach ins Bett gegangen und hätte gewartet, bis dieser Tag endlich vorbei war. Aber Leni zog mich sanft am Arm, und so trottete ich widerwillig hinter ihr her den Flur entlang zu Nathanaels Zimmer.
Als sie die Tür öffnete, saß Nathanael auf seinem Stuhl, Kopfhörer auf den Ohren, und bemerkte uns zunächst gar nicht. Leni streichelte ihm über den Rücken, woraufhin er plötzlich zusammenzuckte, dann setzte er die Kopfhörer ab und wandte sich zu uns um.
„Ihr hättet klopfen können!“, meinte er, und ich spürte, wie mir sofort heiß wurde. Hatten wir ihn jetzt verärgert? Schon wieder so ein Moment, wo ich das Gefühl hatte, alles falsch zu machen. Ich senkte den Blick und wusste nicht, wohin mit meinen Händen. Leni übernahm das Sprechen für mich. „Entschuldige. Ich wollte Flori nur zeigen, dass du nicht böse auf ihn bist. Er hat heute einfach einen richtig miesen Tag.“
Zu meiner Überraschung zog Nathanael mich einfach auf seinen Schoß und umarmte mich. Die Umarmung fühlte sich warm und irgendwie beruhigend an, obwohl ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. „Ich bin doch nicht böse mit dir“, sagte er sanft. „Wie kommst du denn darauf?“
Ich wollte etwas sagen, aber mir fiel nichts ein. Mein Mund blieb stumm, also antwortete Leni an meiner Stelle: „Du hast vorhin zu ihm gesagt, dass er es gut hat, und das klang irgendwie nicht so nett.“ Nathanael schaute mich kurz an und nickte dann. „Ja, stimmt, das habe ich gesagt. Aber es war nicht böse gemeint“, erklärte er ruhig. „Ich finde einfach, du hast Glück, weil du Windeln tragen darfst, ohne dass es jemanden stört. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll, aber… ich würde auch gerne so frei sein.“
In diesem Moment begriff ich, dass es genauso war, wie Leni gesagt hatte. Nathanael war nicht wütend auf mich – er war eher ein bisschen neidisch. Ich wusste nicht, ob ich das besser finden sollte, aber zumindest fühlte ich mich nicht mehr so schuldig. Ganz verstehen konnte ich es trotzdem nicht, warum er so dachte. Aber seine Umarmung und die leise Stimme ließen mich spüren, dass zwischen uns alles in Ordnung war, auch wenn ich immer noch nicht wusste, was ich von alldem halten sollte.
„Aber warum sagst du das Dina nicht einfach?“ fragte ich aufgeregt.
Nathanael schaute mich kurz an und antwortete dann: „Hab ich doch schon. Sie hat gesagt, dass sie mich versteht. Am Wochenende darf ich sogar zuhause Windeln tragen, aber sie hat mir gesagt, dass ich aufpassen soll, mich nicht wieder dran zu gewöhnen. Und ich soll das nicht draußen tun.“
Ich runzelte die Stirn und spürte ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch. Irgendwie fand ich die Vorstellung seltsam. „Ist dir das nicht peinlich? Also … ist es nicht komisch, wenn du Windeln trägst, obwohl du sie gar nicht brauchst?“
Nathanael überlegte kurz, als müsste er seine eigenen Gefühle sortieren. „Ja, ein bisschen peinlich ist es schon“, sagte er leise. „Aber ich finde es trotzdem toll. Genau deswegen wäre ich manchmal gerne noch so klein wie du. Dann würde das keiner seltsam finden, weißt du?“
Ich starrte ihn an und spürte, wie meine Augen ein bisschen größer wurden. „Aber … aber ich bin doch auch schon 7! Das ist doch gar nicht so klein!“ protestierte ich. Irgendwie war ich stolz darauf, schon so alt zu sein. Wieso sah er mich denn als „klein“?
Nathanael verzog den Mund, als müsste er mir etwas Schwieriges erklären. „Na ja … zum einen sieht man dir nicht unbedingt an, dass du schon 7 bist. Und selbst wenn, ist es bei einem 7-Jährigen immer noch was anderes als bei einem 15-Jährigen.“ Er seufzte, als ob ihm die Worte fehlten.
Ich kratzte mich am Arm und verstand nicht so richtig, was er damit meinte. Aber ich traute mich nicht weiter nachzufragen, vielleicht wäre es sonst noch verwirrender geworden. Außerdem saß Leni da, hatte bisher nur zugehört und schien ganz ruhig zu sein. Ihre Anwesenheit fühlte sich ein bisschen an wie ein sicherer Rahmen, aber trotzdem blieb dieses komische Gefühl, dass ich manche Dinge einfach nicht begreife.
„Können wir nochmal dieses Spiel spielen, wo man Bäume fällen und Häuser bauen muss?“ fragte ich zögerlich. Mir fiel der Name einfach nicht ein. Ich schaute zu Nathanael hinüber, unsicher, ob er verstehen würde, was ich meinte. Doch er lächelte gleich: „Du meinst Minecraft?“
Ich nickte eifrig und spürte, wie mein Herz ein bisschen schneller schlug. Minecraft war spannend, und ich wollte unbedingt wieder Holz hacken, Höhlen erforschen und ein Haus bauen. Doch bevor Nathanael etwas sagen konnte, meldete sich Leni zu Wort: „Du hast Flori Minecraft spielen lassen? Ist er dafür nicht noch zu klein? Da gibt’s doch Zombies und Spinnen … wenn ich nur daran denke!“
Zombies? Spinnen? Ich legte den Kopf schief. Ich konnte mich nur noch an friedliche Tiere erinnern, wie Schafe und Kühe, und an Bäume, die ich umhauen konnte. Von Zombies wusste ich gar nichts mehr. Hatte ich die übersehen oder ausgeblendet?
Nathanael winkte ab: „Erstens ist Minecraft ab sechs Jahren freigegeben,“ erklärte er, als wolle er Leni beruhigen, „und außerdem habe ich die Zombies ausgeschaltet.“ Er warf mir einen aufmunternden Blick zu, als wolle er sagen: Keine Sorge, ich pass auf, dass du dich nicht fürchtest. Ich war ein bisschen erleichtert, denn ehrlich gesagt hätte ich mich vor Zombies bestimmt total gegruselt.
Leni schnaubte leise. „Ist das wirklich schon ab sechs? Das wusste ich gar nicht. Ich mag die Spinnen trotzdem nicht.“ Ihre Stimme klang immer noch skeptisch, als könnte sie sich nicht vorstellen, dass dieses Spiel gut für mich sei.
Ich saß da, ein bisschen verwirrt, aber auch neugierig. Spinnen hatte ich noch gar nicht bewusst gesehen – wenn doch, dann hatte Nathanael mich wahrscheinlich davon ferngehalten. Jetzt hoffte ich nur, dass ich gleich wieder spielen durfte. Ich wollte doch einfach nur erneut diese lustige, bunte Welt erkunden, Holz sammeln und vielleicht ein noch größeres Haus bauen als beim letzten Mal.
Leni fuhr fort: „Aber lange kannst du nicht mehr spielen, Florian, Mama macht gerade das Abendessen fertig. Und sonntags wird nach dem Essen nicht mehr am Computer gespielt. Aber wahrscheinlich spielen wir danach alle zusammen ein Familienspiel im Wohnzimmer. Das machen wir jeden Sonntag so.“
„Ja, vielleicht können wir wieder Risiko spielen!“, schlug Nathanael sofort vor.
Leni schüttelte jedoch den Kopf. „Ich glaube, Risiko ist noch zu schwierig für Florian. Aber wie wäre es mal wieder mit Monopoly?“
Monopoly… Den Namen hatte ich schon mal gehört, aber selbst gespielt hatte ich es noch nie. Im Kindergarten kannte ich nur Brettspiele wie „Mensch ärgere dich nicht“ oder dieses Spiel mit der Leiter, aber das war eher selten. Außerdem wusste ich gar nicht, dass man so etwas auch zu Hause spielen kann – ich dachte immer, Brettspiele gehören nur in den Kindergarten.
Inzwischen hatte Nathanael bereits Minecraft gestartet. Behutsam hob er mich von seinem Schoß auf den Stuhl, sodass ich spielen konnte.
Nach kurzer Zeit kam Diana ins Zimmer. „Da seid ihr ja! Macht den Computer für heute aus und kommt essen“, sagte sie, und ihre Stimme klang so, als würde sie sich freuen, uns alle am Tisch zu haben. Leni antwortete: „Ja, Mama, wir kommen gleich runter.“
Dann wandte sich Diana direkt an mich: „Florian, willst du mir helfen, den Tisch zu decken?“ Ich nickte. Eigentlich hätte ich gerne noch ein bisschen weitergespielt, aber in der Luft lag ein richtig guter Duft, von dem mir plötzlich das Wasser im Mund zusammen lief. Ich wusste nicht genau, was da so lecker roch, aber auf einmal hatte ich großen Hunger. Also folgte ich Diana, gespannt darauf, was es gleich zu essen geben würde.
Diana ging mit mir aber nicht wie erwartet in die Küche, sondern ins Badezimmer. „Kannst du dir bitte die Hände waschen?“, fragte sie freundlich. Ich stellte mich auf die kleine Fußbank, drehte den Wasserhahn auf und seifte meine Hände ein. Plötzlich spürte ich, wie es in meiner Windel warm wurde. Ein leichtes Gefühl der Erleichterung breitete sich in meinem Bauch aus. Ob Nathanael auch deswegen so gerne Windeln trug? Tat es bei ihm davor auch kurz weh, bevor er pullern musste?
Ich war jedenfalls froh, jetzt eine Windel zu haben. Ohne sie wäre meine Hose jetzt bestimmt nass. Nachdem ich das Wasser abgedreht und meine Hände abgetrocknet hatte, drehte ich mich zögerlich zu Diana um. „Ich hab gerade in die Windel gemacht“, sagte ich leise. Diana lächelte nur, ohne mich auszulachen. „Dafür ist sie doch da. Möchtest du gleich eine neue anziehen?“
Ich überlegte kurz. Wenn ich jetzt eine neue bekam, dann sicher so eine Hoch zieh windel, und damit würde ich bestimmt auch ins Bett müssen. Die Klebe-Windeln mochte ich lieber, die waren bequemer. Also schüttelte ich vorsichtig den Kopf: „Nein, jetzt noch nicht.“ Diana nickte nur verständnisvoll, und ich spürte, dass sie mich nicht unter Druck setzen würde.
„So, jetzt decken wir den Tisch“, sagte Diana, und wir gingen zusammen in die Küche. Hier roch es noch stärker als vorhin, und ich musste unwillkürlich meinen Kopf heben, um mehr von diesem Duft einzufangen. Auf dem Herd stand eine große Pfanne, in der irgendetwas Buntes war. Ich runzelte die Stirn. „Was ist das?“, fragte ich neugierig.
Diana schmunzelte. „Das ist eine Gemüse Pfanne mit Gnocchi. Wenn du magst, kannst du dir nachher noch Käse darüber reiben.“ Ich wusste nicht genau, was „Gnocchi“ waren, und das Wort klang komisch, aber es roch so lecker, dass ich einfach nur nicken konnte.
Sie gab mir tiefe Teller in die Hand und legte ein paar Löffel dazu, damit ich sie auf dem Tisch verteilen konnte. In die Mitte des Tisches stellte sie die große Pfanne und daneben eine Reibe mit einem merkwürdigen Stück Käse. Ich stellte die Teller ab und drückte mich auf die Zehenspitzen, um alles gut sehen zu können.
„Was möchtest du trinken?“, fragte Diana. „Wasser!“, rief ich schnell. Diana lächelte. „Gerne. Aber wenn du irgendwann einmal etwas anderes probieren möchtest, darfst du das ruhig sagen.“ Ich nickte und fühlte mich dabei ganz wohl. Alles roch gut, Diana war nett, und ich freute mich richtig aufs Essen.
Ich setzte mich vorsichtig auf meinen Stuhl, und meine Beine baumelten über dem Boden. Der Duft, der von der Pfanne in der Mitte des Tisches aufstieg, war verlockend, aber er ließ mein Herz auch ein bisschen schneller schlagen. Trotzdem wanderte mein Blick neugierig zu meinem Teller, um meine Nervosität zu überdecken.
Nathanael und Leni betraten den Raum, gerade als Diana mir eine Portion von der bunten Mischung auftat. Bevor Leni sich setzen konnte, fragte Diana: „Lena, könntest du Papa Bescheid sagen, dass wir jetzt essen?“ Leni nickte und verschwand im Flur. In dieser kurzen Stille musterte ich die Gnocchi in meinem Teller – sie sahen anders aus, als alles, was ich bisher kannte. Es roch gut, aber ich fragte mich, ob es normal war, dass ich solche Sachen noch nie gesehen hatte.
Nathanael nahm sich ohne Zögern eine große Portion, als wäre das ganz selbstverständlich. Mit routinierten Handgriffen rieb er ein Stück Käse über sein Essen, bis feine Flocken wie Schnee auf sein Gemüse fielen. Er wirkte so sicher bei allem, was er tat, und ich fühlte mich daneben irgendwie klein. Ich wusste nicht, das er schon lange hier war und das er dieses Gericht vermutlich schon viele male gegessen hatte.
Kurz darauf kehrten Leni und Manfred zurück. Beide lächelten entspannt, während sie sich an den Tisch setzten. Ich versuchte, etwas aufrechter zu sitzen, um mich selbstbewusster zu fühlen, doch ich rutschte nur wieder ein wenig nach unten. Mein Herz klopfte, und ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte – aber was?
Diana räusperte sich. „Guten Appetit“, sagte sie mit freundlicher Stimme, und ich nickte nur stumm. Der Löffel in meiner Hand fühlte sich ein bisschen zu groß an, aber ich beugte mich über den Teller und nahm vorsichtig einen Bissen. Der Geschmack war angenehm, sogar lecker, und die Wärme des Essens breitete sich in meinem Bauch aus. Während ich kaute, spürte ich, wie mein Hunger wuchs.
Ich starrte auf meinen Teller, während um mich herum alle fröhlich schienen. Diana hatte „Guten Appetit“ gewünscht, Nathanael schob sein Essen routiniert auf die Gabel, Leni grinste über irgendeinen Witz, den sie sich mit Manfred zuraunte. Ihre Stimmen klangen leicht und entspannt, als wäre es das Normalste auf der Welt, gemeinsam an diesem Tisch zu sitzen. Nur ich fühlte mich komisch, als würde ich nicht wirklich dazugehören.
„Magst du noch etwas Käse, Florian?“ fragte Diana irgendwann, ihre Stimme sanft und freundlich. Ich hob kaum den Blick und schüttelte nur den Kopf. Ich wusste nicht, ob ich noch etwas nehmen sollte. War das hier überhaupt wirklich für mich gedacht? Um mich herum wirkte alles vertraut und selbstverständlich für sie: eine Familie, die gemeinsam isst, redet, lacht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, in so einer Umgebung groß zu werden, mit Geschwistern, die um einen herumwuseln, und Eltern, die immer da sind, die einem helfen, den Tisch zu decken, die nachfragen, was man trinken möchte, und dabei lächeln, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Manfred schob sich einen Löffel von der dampfenden Mahlzeit in den Mund und brummte zufrieden, während Leni sich zu ihm lehnte und flüsternd etwas fragte, das ich nicht verstand. Nathanael schien in Gedanken versunken, vielleicht plante er schon sein nächstes Spiel, während er beiläufig an einem Stück Gemüse knabberte. Ich selbst versuchte, keinen Mucks von mir zu geben, um nicht aufzufallen oder etwas Falsches zu sagen.
Während ich auf meine Gabel starrte, fragte ich mich, was wohl meine richtigen Eltern gerade machten. Dachten sie überhaupt an mich? Würden sie bemerken, dass ich nicht da war, mich vermissen – oder waren sie einfach nur wütend, weil ich nicht nach Hause gekommen bin? Mein Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen, obwohl das Essen so gut roch. War dort, wo ich eigentlich hingehörte, jemand, der fragte, wo ich stecke? Jemand, der sich wirklich sorgte, oder war das hier bloß ein fremder Ort, in dem ich als Gast geduldet wurde?
„Alles in Ordnung, Florian?“ fragte Leni plötzlich, und ich hob den Kopf. Ihr Blick war warm, aber in meinem Bauch fühlte sich dennoch alles eng an. Ich nickte langsam, drückte meine Lippen aufeinander und nahm einen kleinen Bissen, um irgendetwas tun zu können. Die Stimmen der anderen plätscherten weiter, als würden sie mich mittragen, ohne dass ich wusste, wohin.
Nathanael hatte seinen Teller längst leer und schob sich jetzt schon wieder eine zweite, genauso große Portion auf. Ich hingegen war noch nicht einmal bei der Hälfte angekommen. Sein Essenstempo machte mich nervös. Es war, als würde er einfach wissen, wie viel er wollte und ohne Zögern zulangen. Ich selbst fühlte mich unentschlossen bei jedem Bissen, obwohl ich am Anfang doch so hungrig gewesen war.
Diana bemerkte offenbar meinen Blick. Während sie mit der Gabel ein Stück Gemüse aufnahm, lächelte sie mich an: „Keine Sorge, Florian. Iss in deinem Tempo, ja? Wenn du noch etwas möchtest, ist genug da. Ich hab so viel gekocht, dass wir locker noch zwei Leute mit Nathanaels Appetit satt bekommen würden.“ Sie klang dabei nicht genervt, eher amüsiert, als würde sie die Situation ganz entspannt sehen.
Ich schluckte und blickte wieder auf meinen Teller. Mein Hunger ließ schon nach, obwohl ich anfangs das Gefühl gehabt hatte, Unmengen essen zu können. Die Gnocchi in auf meinem Teller wirkten plötzlich sehr sättigend. Kurz spielte ich mit dem Löffel im Gemüse herum, bevor ich schließlich etwas von meinem Wasser nahm. Das Wasser war kühl und half mir, das seltsame Gefühl in meinem Bauch ein wenig zu beruhigen. Um mich herum schienen alle ganz gelassen, ohne Eile, so als sei es normal, dass jeder in seinem eigenen Tempo isst. Ich blieb still, unsicher, ob ich noch etwas sagen oder einfach weiter langsam an meinem Teller arbeiten sollte.
Mein Teller war noch immer nicht leer, aber ich bekam keinen Bissen mehr herunter. Ich war satt, so satt, dass mir ein Kloß im Hals stecken blieb, wenn ich nur an weitere Gnocchi dachte. Während ich versuchte, möglichst unauffällig meinen Löffel abzulegen, fragte Nathanael in die Runde: „Was für ein Spiel spielen wir heute Abend?“
Diana sah mich an, ihre Stimme klang freundlich und ganz selbstverständlich: „Wir lassen Florian entscheiden.“ Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Ich sollte etwas bestimmen? Ausgerechnet ich? Das fühlte sich an, als würde plötzlich ein Scheinwerfer auf mich gerichtet sein. Dabei wollte ich doch gerade gar nicht auffallen.
Noch bevor ich etwas sagen konnte, begann Nathanael eine endlose Liste aufzuzählen: „Das verrückte Labyrinth, Kinder-Monopoly, Kakerlak, Wer war’s…“ Er sprudelte nur so über, nannte ein Spiel nach dem anderen. Die Namen wirbelten in meinem Kopf durcheinander, und ich konnte gar nicht mehr richtig zuhören. Mein Blick schweifte über den Tisch, die leeren Teller, die Reste von Käse, und ich spürte, wie ich innerlich schrumpfte.
Wie sollte ich mich für ein Spiel entscheiden, wenn ich keines davon richtig kannte? Was, wenn ich etwas wähle, das den anderen nicht gefällt, und sie dann genervt oder gar wütend auf mich sind? Ich schluckte und fühlte mich, als säße ich plötzlich auf glühenden Kohlen, obwohl es eben noch so ruhig war. Ich hoffte, irgendwer würde etwas sagen, mir helfen, die Last dieser Entscheidung abzunehmen, aber für den Moment blieb alles an mir hängen.
Diana räusperte sich und sagte mit ruhiger Stimme: „Jetzt räumt ihr erstmal den Tisch ab, Florian hat ihn ja gedeckt.“ Ihre Worte richtete sie in erster Linie an Nathanael und Leni, aber ich hörte genau, wie sie auch mich dabei kurz anschaute. Diese kleine Unterbrechung war mir nur recht. Ich fühlte mich sofort ein klein wenig erleichtert, weil ich so das unangenehme Entscheiden über das Spiel vorerst vermeiden konnte. Stattdessen erhob ich mich langsam von meinem Stuhl, merkte, wie meine Beine kurz leicht zitterten, und folgte Diana ins Treppenhaus.
„Wir zwei machen dich jetzt erstmal bettfertig, und dann gehen wir ins Wohnzimmer, um ein Spiel auszusuchen. Klingt das gut?“ fragte sie mich mit einem Lächeln, während wir die Stufen nach oben stiegen. Ich nickte nur, ohne etwas zu sagen. Mein Herz klopfte immer noch ein bisschen, aber es war beruhigend, dass gerade nichts von mir erwartet wurde, außer mitzukommen.
Oben angekommen lenkte Diana mich ins Badezimmer. Es war angenehm hell und roch frisch. Sie ließ mir Zeit, den Raum in Ruhe zu betreten, als wollte sie mir signalisieren, dass ich mich nicht beeilen muss. „Willst du heute duschen oder lieber in die Badewanne?“ fragte sie dann. Wieder so eine Entscheidung, aber diesmal fühlte sie sich nicht so schwer an, weil ich wusste, dass es niemanden verärgern würde, egal wofür ich mich entscheide. „Duschen“, sagte ich leise, ein wenig zögerlich, aber immerhin sagte ich es.
Diana lächelte mich freundlich an. „Alles klar. Brauchst du bei irgendetwas Hilfe?“ Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte duschen, ohne dass mir jemand helfen musste, das wusste ich. „Die Zähne putzen wir erst nach dem Spiel“, erklärte sie weiter. „Geh du erstmal duschen, bitte mit Haarewaschen, aber das kannst du doch schon prima. Und geh am besten vorher nochmal auf die Toilette, ja? Wenn du fertig bist, ruf mich, ich helfe dir dann beim Haare Föhnen. Möchtest du nachher deine Windel selbst anziehen oder soll ich dir wieder eine zum Kleben dran machen?“
Ich starrte kurz auf den Boden, dann hob ich den Kopf ein wenig. „Lieber eine zum Kleben“, murmelte ich. Diana nickte nur. Sie wirkte weder überrascht noch verärgert. Einfach nur verständnisvoll. Das nahm ein bisschen von dem Knoten in meinem Bauch weg. Ohne weiter zu zögern, löste ich vorsichtig die Träger meiner Hose und schob sie nach unten. Die Windel war wirklich voll. Nachdem ich auch die Hose ausgezogen hatte, sagte Diana: „Du kannst die Hose dort in den Korb werfen. Leg ruhig alle deine Sachen hinein, dann kann ich sie später waschen.“ Dann verließ sie das Badezimmer, ohne mich weiter zu drängen.
Ich griff nach den Klebestreifen der Windel und löste sie vorsichtig. Das ging diesmal schon etwas besser als beim letzten Mal. Wie zuvor fiel die Windel schwer auf den Boden. Danach setzte ich mich auf die Toilette, aber es kamen nur ein paar Tropfen. Eigentlich merkte ich, dass ich auch langsam für das große Geschäft müsste, aber weil es dabei meistens so weh tut, schob ich es lieber auf morgen. So machte ich es immer, solange es irgendwie ging.
In der Dusche drehte ich dann das warme Wasser auf und wusch mich sorgfältig, auch meine Haare. Das warme Wasser auf meiner Haut fühlte sich angenehm an, wie eine weiche, warme Decke, unter der man sich sicher fühlen kann. Zuhause war das Duschen am Morgen immer das Schönste – aber nur, wenn Mama und Papa noch schliefen. Sobald sie wach wurden, musste ich mich beeilen, weil ich sonst ziemlich ärger bekamm, dass ich Wasser verschwende. Hier spürte ich diesen Druck nicht. Hier konnte ich einfach kurz die Augen schließen und das warme Prasseln genießen.
Als ich aus der Dusche stieg, stand Diana schon im Badezimmer und lächelte mich an. Ihr Blick wirkte freundlich, nicht wie der von jemandem, der gleich schimpfen würde. „Ich habe das Gefühl, dass du gerne duschst, oder?“, fragte sie, während sie mich kurz musterte. Ich nickte vorsichtig. „Ja, ich mag das warme Wasser.“ Meine Stimme klang dabei etwas leise, aber sie machte keine Anstalten, es mir übel zu nehmen.
Sie reichte mir ein Handtuch, und ich begann, mich abzutrocknen. Das Handtuch war weich, und ich versuchte, es so leise wie möglich zu machen, um nicht unangenehm aufzufallen. Anschließend zog ich den Schlafanzug an, der auf einem Hocker bereitlag. Er sah sauber aus und fühlte sich frisch an, aber ich wusste nicht, ob das so sein sollte oder nicht. Ich war mir bei nichts wirklich sicher.
„Komm mal her zum Waschbecken“, sagte Diana, und ich trat zögerlich näher. Sie griff nach dem Föhn und begann, mir die Haare zu trocknen. Das war ein ungewohntes Gefühl. Zuhause ließ ich meine Haare immer von selbst trocknen, weil ich wusste, dass ich mich beeilen musste und niemand sich besonders darum kümmerte, ob sie richtig trocken wurden.
Als Diana fertig war, stellte sie den Föhn beiseite. „Was hältst du davon, wenn wir morgen nach dem Arztbesuch zum Friseur gehen? Deine Haare sind schon recht lang.“ Ihre Stimme klang so, als hätte sie sich das schon länger überlegt. Sie sah mich an, wartete auf meine Antwort, als würde es wirklich auf meine Meinung ankommen. „Wie war das bisher bei dir? Hat deine Mama dir immer die Haare geschnitten, oder warst du schon mal beim Friseur?“
Ich räusperte mich. „Mama hat sie manchmal mit der Maschine ganz kurz gemacht“, sagte ich leise. Ich erinnerte mich an das Summen der Haarschneidemaschine. Es hatte nie lange gedauert. Diana nickte langsam. „Das dachte ich mir“, murmelte sie, ohne dabei wütend oder enttäuscht zu wirken. Dann fragte sie erneut: „Wäre das okay für dich, wenn wir zum Friseur fahren?“ Ich spürte, wie meine Finger am Schlafanzugsaum nestelten, bevor ich schließlich nickte. Sie schien zufrieden mit dieser Antwort zu sein, sagte aber nichts weiter dazu.
Diana betrachtete mich einen Moment lang, dann sagte sie ruhig: „Deine Finger- und Fußnägel müssen auch dringend geschnitten werden, Florian. Kannst du das schon selber? Oder wie war das bisher bei dir?“ Sie klang dabei nicht böse, eher nachfragend, als wollte sie wirklich verstehen, wie es bei mir zuhause gewesen war.
Ich zögerte, blickte auf den Boden und spielte mit dem Stoff meines Schlafanzugs. „Ich… ich kann das nicht“, murmelte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob sie es überhaupt verstand. „Mama hat das manchmal gemacht, aber sie hat dann immer geschimpft, dass ich es doch langsam selber können müsste.“ Mein Magen zog sich ein wenig zusammen, als ich daran dachte, wie oft ich zu hören bekommen hatte, dass ich unfähig wäre. Bestimmt würde Diana jetzt auch genervt sein oder mich komisch ansehen, so wie Papa es immer getan hat, wenn ich etwas nicht konnte. Ich wagte kaum, Diana anzusehen.
Doch als ich kurz zu ihr hinschaute, lächelte sie seltsam erleichtert, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. „Dann lass mich das mal machen“, sagte sie, ohne jede Spur von Ärger in der Stimme. „Setz dich bitte auf den Hocker. Ich fange mit deinen Fußnägeln an. Das muss doch schon unangenehm sein, so lang wie die sind.“ Ich schluckte stumm, ging langsam zum Hocker und setzte mich, unsicher, ob es wirklich in Ordnung war, mich einfach von ihr so versorgen zu lassen. Trotzdem streckte ich vorsichtig einen Fuß aus und wartete regungslos ab, was nun passieren würde.
Diana führte mich zurück in mein Zimmer, um mir die Windel anzulegen. Als sie sicher saß, fühlte ich mich gleich ein wenig wohler. Das vertraute Gefühl, dass nichts schiefgehen konnte, beruhigte mich. Mit Pandi unter dem Arm folgte ich Diana ins Wohnzimmer, wo alle schon am Tisch warteten. Ein Stapel bunter Spiel schachteln lag bereit, und ich sollte mir ein Spiel aussuchen.
Ich sah mir einige der Verpackungen an, doch wie schon zuvor wollte ich nicht entscheiden. Diana merkte das sofort. „Nathanael, leg bitte das Labyrinth, Wer war’s? und Mensch ärgere dich nicht hin. Die anderen Spiele räumen wir weg, sonst fällt ihm die Entscheidung zu schwer.“ Jetzt lagen nur noch drei Schachteln vor mir. Eigentlich sagte mir keins so richtig zu, vor allem Mensch ärgere dich nicht kannte ich schon aus dem Kindergarten und mochte es nie besonders. „Mir ist es egal, ich möchte nicht entscheiden“, murmelte ich leise.
Diana nickte verständnisvoll. „Dann mach die Augen zu. Wir vertauschen die Spiele kurz, und du sagst einfach, ob du Mitte, links oder rechts nehmen möchtest. Okay?“ Ich machte die Augen zu, wartete ein wenig und zeigte schließlich auf die Mitte. Als ich wieder hinschaute, hielt Diana eine Schachtel mit einer Eule darauf in der Hand. „Wer war’s?“ stand darauf.
Nathanael und Leni begannen sofort, den Spielplan aufzubauen. Es gab ein Schloss, kleine Kärtchen, Figuren und eine Art magischen Schlüssel, mit dem man etwas aktivieren konnte. Diana gab mir dabei meine Trinkflasche, die ich von heute Morgen wiedererkannte. „Trink ruhig noch etwas“, sagte sie in sanftem Ton. Ich nahm ein paar Schlucke, das Wasser schmeckte frisch.
Beim Spiel musste man gemeinsam herausfinden, welcher Charakter der Dieb war. Wir würfelten, bewegten unsere Figuren durch die Räume, fragten Tiere um Rat und hörten geheimnisvolle Hinweise. Ich kannte so ein Spiel noch nicht, aber es machte mir Spaß, mitzuspielen. Alle redeten aufgeregt durcheinander, wenn es darum ging, den nächsten Tipp richtig zu deuten. Man musste gut zuhören und sich erinnern, was zuvor gesagt wurde. Zwischendurch nahm ich immer mal wieder einen Schluck aus meiner Flasche, während Leni einen Raum nach dem anderen durchsuchte. Nathanael grübelte laut, wen man ausschließen konnte, und Diana schaute mir manchmal kurz in die Augen, als wolle sie sicher sein, dass ich mitkomme.
Gegen Ende wurde es spannend. Die Uhr des Spiels tickte, und wir hatten nur noch wenige Züge, um den richtigen Verdächtigen zu entlarven. Es wurde fast still im Wohnzimmer, alle konzentrierten sich darauf, die Hinweise zusammenzusetzen. Schließlich nannte Nathanael einen Namen – und die Schloss stimme verriet, dass wir richtig lagen. Wir hatten den Dieb gerade noch rechtzeitig enttarnt.
Erleichtert atmete ich auf, auch wenn ich gar nicht wusste, ob man in so einem Spiel wirklich „gewinnen“ konnte. Ich nahm einen letzten Schluck aus meiner Flasche und bemerkte, wie schwer meine Augenlider wurden. Meine Arme fühlten sich plötzlich schwer an, und mein Kopf sackte etwas nach vorne. Es war spät geworden, und die Aufregung des Tages steckte mir in den Knochen. Ich sagte nichts, aber ich merkte, wie meine Gedanken langsamer wurden und ich jeden Moment müder.
Diana lächelte mich sanft an. „So, Florian, ich bringe dich jetzt ins Bett, es wird Zeit.“ Ihre Stimme war ruhig und freundlich, und ich war erleichtert, endlich schlafen gehen zu dürfen. Die Müdigkeit zog schwer an meinen Gliedern, und es fühlte sich an, als wäre mein Körper plötzlich doppelt so schwer geworden.
„Schaffst du es noch nach oben, oder soll ich dich hochtragen?“ fragte Diana. Ich biss mir kurz auf die Lippe, die Frage war mir ein bisschen unangenehm. Ich wollte doch schon groß sein und nicht ständig Hilfe brauchen. Aber die Vorstellung, getragen zu werden, war auch schön. Es erinnerte mich an die Momente, wenn Annette mich getragen hatte. In ihren Armen fühlte ich mich sicher und geborgen. Ohne nachzudenken, murmelte ich leise: „Tragen.“
Diana nickte verständnisvoll und hob mich vorsichtig hoch. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter, und ihre Wärme beruhigte mich ein wenig. Während sie mit mir die Treppe hinaufstieg, schloss ich die Augen für einen Moment und wünschte mir, dass Annette jetzt hier wäre. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich wusste nicht, warum ich plötzlich so stark an sie denken musste, aber ich vermisste sie. Ihre sanfte Stimme, ihre Hände, die mich streichelten.
Ich kuschelte mich dichter an Diana. Auch wenn sie nicht Annette war, fühlte es sich gut an, nicht allein zu sein. Der gleichmäßige Rhythmus ihrer Schritte beruhigte mich, und ich ließ mich einfach tragen, ohne an morgen oder an Entscheidungen zu denken.
Nachdem wir oben angekommen waren, brachte mich Diana ins Badezimmer und setzte mich vorsichtig vor dem Waschbecken ab. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass sie gesagt hatte, wir müssten nach dem Spiel noch Zähne putzen. Ich fühlte mich so müde, dass meine Beine sich anfühlten wie Gummi.
Diana reichte mir die Zahnbürste, und ich nahm sie kraftlos entgegen. Langsam und lustlos schob ich die Bürste über meine Zähne, ohne mich wirklich anzustrengen. Meine Augen waren schon halb zugefallen, und die Bewegungen meiner Hand wurden immer langsamer. Diana hockte sich vor mich und sah mich an. „Mach bitte mal den Mund auf, ich helfe dir – du schläfst ja gleich im Stehen ein.“
Ich öffnete den Mund ein kleines Stück, und sie nahm mir die Zahnbürste ab. Sie putzte mir die Zähne gründlich, viel gründlicher, als ich es gerade noch gekonnt hätte. Eigentlich fühlte es sich komisch an, dass sie das für mich machte, und es war mir ein bisschen unangenehm. Aber ich war zu müde, um mich zu wehren oder darüber nachzudenken. Ich ließ es einfach geschehen.
Danach spülte ich meinen Mund kurz aus. Bevor ich es richtig bemerkte, hob Diana mich schon wieder hoch. Ihr warmer Arm um mich herum fühlte sich sicher an, und ich ließ meinen Kopf auf ihre Schulter sinken. Alles verschwamm, während sie mich ins Bett trug.
Als Diana mich ins Bett legte, spürte ich nur noch, wie meine Decke sanft über mich gebreitet wurde. Meine Augen waren schwer, alles um mich herum wurde leiser und verschwommener. Ich bemerkte, wie sie meinen Daumen vorsichtig aus meinem Mund nahm und stattdessen meinen Nuckel hinein schob. Sofort begann ich daran zu saugen, ganz automatisch. Das weiche Gefühl beruhigte mich auf eine Art, die ich nicht erklären konnte.
Die Wärme des Bettes und das leise, vertraute Geräusch meines eigenen Atems ließen mich noch tiefer sinken. Alles um mich herum verschwamm in einen warmen Nebel aus Geborgenheit. Der Tag war nur noch eine ferne Erinnerung, während ich mich ganz dem Sog des Schlafs hingab. Der Nuckel in meinem Mund fühlte sich sicher an, wie ein kleiner Anker, der mich hielt. Ohne es zu merken, glitt ich endgültig ins Traumland.
Fortsetzung folgt…
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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