Florians Schatten (13)
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Florians Reaktion auf sein Zimmer war einfach unglaublich. Dieses Strahlen in seinen Augen zu sehen, dieses ehrliche Staunen und die Freude – es fühlte sich an, als hätte jemand einen warmen Lichtstrahl direkt in mein Herz geschickt. Es war ein Moment, der mir zeigte, dass all die Mühe, die wir uns gegeben hatten, richtig war. Ein Moment, der unbezahlbar war.
Nachdem wir uns auf die Couch gesetzt hatten, spürte ich, wie Florian sich an mich kuschelte. Er hielt Pandi fest in seinen Armen, und ich strich ihm sanft über den Rücken. Diana saß gegenüber und schaute mich nachdenklich an. Ich wusste genau, was in ihr vorging. Auch sie hatte Florian in ihr Herz geschlossen. Es war verständlich. Wie konnte man diesen kleinen Jungen, der so viel durchgemacht hatte, nicht ins Herz schließen?
Elke, die bisher still gewesen war, ergriff das Wort. Ihre Stimme war ruhig, aber ernst. „Wir kommen, wie ich vorhin schon angedeutet habe, vom Arzt, beziehungsweise aus dem Krankenhaus.“ Sie schaute zu Florian, der neben mir saß, und fuhr fort: „Bei der Suche nach der Ursache für sein Pipi-Problem hat der Urologe etwas Ungewöhnliches an seiner Wirbelsäule festgestellt und ihn zur weiteren Abklärung ins Krankenhaus geschickt. Dort haben sie ein MRT gemacht.“
Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog. Eine Kälte kroch durch meinen Körper, und plötzlich hatte ich Angst vor dem, was sie mir gleich erzählen würde. Ich umklammerte Florians kleine Schulter ein bisschen fester, als könnte ich ihn damit beschützen.
Elke sprach weiter, ihre Stimme wurde sanfter, aber auch schwerer. „Er hat eine ältere Verletzung am Rücken. Eine Quetschung an der Wirbelsäule.“
„Wie kam die Verletzung zustande?“ fragte ich mit einem Kloß im Hals, während ich Florian sanft über den Rücken strich.
Elke sah mich mit ernster Miene an, ihre Augen schwer vor Sorge und Mitgefühl. Sie atmete tief durch, bevor sie antwortete. „Wir wissen es nicht sicher, Annette. Florian erinnert sich an keinen Unfall.“ Sie machte eine Pause und schaute zu Florian, der mit gesenktem Kopf auf Pandi starrte. „Aber seine Reaktion, als wir das Thema häusliche Gewalt angesprochen haben, war eindeutig. Es war… ausreichend, um zu verstehen, was vermutlich passiert ist.“
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Meine Finger zitterten leicht, als ich Florian noch ein bisschen fester an mich zog. Mein Herz schmerzte bei dem Gedanken, was dieser kleine Junge ertragen musste.
Florian klammerte sich an Pandi, sein kleiner Körper war angespannt. Ich spürte seine Unsicherheit, seine Angst, und es brach mir das Herz. „Es tut mir so leid“, flüsterte ich.
Elke nickte sanft. „Wir werden alles tun, um das aufzuarbeiten, aber der Weg wird nicht leicht. Er braucht Zeit, Geduld und vor allem Menschen, die ihm zeigen, dass er sicher ist und geliebt wird.“
Ich sah Elke an, dann Diana. In meinem Inneren formte sich ein Entschluss, stärker als je zuvor. „Er hat uns“, sagte ich fest. „Und wir lassen ihn nicht im Stich.“
Florian hob den Kopf leicht und schaute mich mit seinen großen, fragenden Augen an. Ich lächelte ihn an, auch wenn es mir schwerfiel. „Du bist hier sicher, mein Schatz. Niemand wird dir mehr wehtun.“
Er drückte Pandi fester und nickte stumm. In diesem Moment schwor ich mir, alles zu tun, um ihm das Vertrauen in die Welt zurück zugeben.
„Ist das die Ursache für seine Probleme?“ fragte ich mit stockender Stimme, während ich Florian behutsam an mich drückte.
Elke nickte langsam. „Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Der Arzt hat gesagt, dass er da sogar noch Glück hatte. Er hätte auch im Rollstuhl sitzen oder noch Schlimmeres erleiden können.“
Diese Worte ließen mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Wie konnte jemand einem Kind – seinem eigenen Kind – so etwas antun? Es war einfach unbegreiflich.
„Sie haben ihm das angetan“, flüsterte ich mit einem Kloß im Hals, „und dann haben sie ihn auch noch dafür bestraft, dass er wegen dieser Verletzung nie Kontrolle über seine Blase bekommen konnte. Ich hoffe, sie werden zur Rechenschaft gezogen.“
Elke seufzte und sah mich mit einem entschlossenen Blick an. „Wir arbeiten daran, aber es wird seine Zeit brauchen.“
Diana meldete sich zu Wort. „Er hat auch Probleme mit zu festem Stuhlgang“, erklärte sie ruhig und zog zwei Rezepte aus ihrer Tasche. „Ich habe hier ein Rezept für ein Medikament, das ihm helfen soll, den Stuhlgang weicher zu machen. Außerdem gibt es ein Rezept für Windeln. Das stammt noch von der Kinderärztin.“
Sie reichte mir die Papiere und fuhr fort: „Beim nächsten Besuch bei der Kinderärztin solltet ihr mit den aktuellen Erkenntnissen eine Dauerverordnung erstellen lassen. Dann müsst ihr das Rezept nur noch einmal im Jahr erneuern.“
Ich nahm die Rezepte entgegen und fühlte, wie die Verantwortung auf meinen Schultern lastete. Aber gleichzeitig spürte ich eine tiefe Entschlossenheit. Ich würde alles tun, um Florian zu helfen. Er sollte endlich ein normales, liebevolles Zuhause haben – eines, in dem er keine Angst mehr haben musste.
Ich sah zu Florian hinunter. Er wirkte so klein und verletzlich, doch in seinen Augen funkelte ein Schimmer von Hoffnung. Und das war alles, was ich brauchte, um weiterzumachen. „Wir stehen das gemeinsam durch“, sagte ich leise zu ihm und strich sanft über sein Haar. „Du bist nicht allein, Florian.“
Elke seufzte leise und sagte: „Trotz allem sollten wir versuchen, Florian ein Stück Normalität zurück zugeben. Es ist sein Wunsch, ab morgen wieder die Schule zu besuchen.“
Ich schaute zu Florian und lächelte ihn an. „Das finde ich toll, dass du gerne in die Schule gehen willst! Dann müssen wir nachher gleich deine Schultasche fertig machen.“
Florian nickte zögerlich, aber ich bemerkte, wie seine Augen plötzlich nervös wurden. „Hast du einen Stundenplan? Und habt ihr seine Aufzeichnungen und Schulbücher?“ fragte ich in die runde.
Er schaute erschrocken zu Diana und flüsterte: „Mein Anhänger.“
Ich runzelte die Stirn, weil ich nicht wusste, was er meinte, aber Diana nickte verständnisvoll. „Der kleine Fußballanhänger aus deiner Hosentasche?“
Florian nickte eifrig. „Ja, den hat mir Paul geschenkt.“
Diana lächelte beruhigend. „Keine Sorge, der ist noch bei uns im Keller, zusammen mit deinem Schulranzen.“ Anschließend wandte sie sich an mich. „Allerdings ist der Schulranzen ziemlich abgenutzt. Es wäre gut, ihn bei Gelegenheit zu ersetzen.“
Ich sah zu Florian und sagte: „Wir besorgen dir einen neuen Schulranzen, einen, der perfekt zu dir passt. Bis dahin habe ich noch einen von Sebastian. Er ist zwar nicht mehr ganz neu, aber in einem wirklich gutem Zustand. Sebastian war schon immer jemand, der sehr sorgfältig mit seinen Sachen umgegangen ist.“
Florian sah zu mir auf und flüsterte: „Ich gehe auch gut mit meinen Sachen um. Der Schulranzen war schon so.“ Ich strich ihm sanft durchs Haar. „Das glaube ich dir“, antwortete ich ehrlich. Und das tat ich wirklich – so wie ich ihn bisher kennengelernt hatte, passte das genau zu ihm.
Elke nickte zustimmend. „Ich werde morgen früh mit in die Schule gehen, um mit seiner Lehrerin und der Direktorin zu sprechen. Ich fahre vorher bei Diana vorbei und hole alles ab. Dann bringe ich es mit zur Schule.“
„Der Unterricht beginnt um 8 Uhr“, sagte Elke nachdenklich. „Dann sind wir gegen 7:30 Uhr da.“ antwortet ich.
Diana nickte und zog einen Zettel aus ihrer Tasche. „Einen Stundenplan habe ich nicht, aber ich habe die Telefonnummer von der Mutter eines Mitschülers.“
Ich nahm den Zettel und las den Namen: Heike Müller. Bevor ich etwas sagen konnte, rief Florian begeistert: „Das ist die Mama von Paul! Paul ist mein Freund!“
Sein Gesicht strahlte für einen kurzen Moment, und mein Herz wurde warm. Es tat gut zu sehen, dass er Freundschaften hatte, die ihm Halt gaben. „Das klingt doch super“, sagte ich lächelnd. „Dann rufen wir sie nachher an und fragen nach dem Stundenplan. Vielleicht freut sich Paul ja auch, dich morgen wieder zusehen.“
Florian nickte. In diesem Moment spürte ich, dass dieser Schritt zurück in den Schulalltag vielleicht genau das Richtige für ihn war. Ein kleines Stück Normalität, das er so dringend brauchte.
„Dann müssen wir auch das Thema Windeln ansprechen“, sagte ich nachdenklich. „Seine Lehrerin muss Bescheid wissen, und er braucht eine Möglichkeit, sich in Ruhe umzuziehen, falls es nötig ist. Vielleicht auch einen Ort, wo ein paar Windeln zur Sicherheit deponiert sind.“
Florian hob den Kopf und sagte plötzlich: „Ja, Paul trägt auch Windeln.“
Ich sah erstaunt zu ihm. „Paul trägt auch Windeln in der Schule?“
Ich schaute zu Elke, die kurz nickte. „Ist das eine Schule, wo Inklusion gefördert wird?“ fragte ich vorsichtig.
„Nicht mehr als an den meisten anderen Schulen“, antwortete Elke ruhig. „Aber es scheint, als wäre Florian nicht der Einzige, der besondere Unterstützung braucht.“
Ich atmete tief durch und lächelte Florian an. „Na gut, dann werde ich Pauls Mama vorsichtig danach fragen. Vielleicht gibt es da schon eine gute Lösung für dich.“
Elke sah auf die Uhr, dann blickte sie zu Florian. „Florian, ist es okay für dich, wenn wir dich jetzt mit Annette allein lassen? Möchtest du heute hier schlafen?“
Florian sah auf, seine Augen funkelten ein wenig. „Ja, ich will bei Annette bleiben.“
Elke lächelte warm. „Ich habe nichts anderes erwartet, aber ich muss dich das fragen.“
Dann wandten wir uns zur Tür. Diana ging in die Hocke, umarmte Florian fest und sagte leise: „Du schaffst das, Florian. Besuche uns mal, ja?“
Ich sah, wie sie mit sich kämpfte, ihre Augen wurden glasig. Es war offensichtlich, wie schwer ihr der Abschied fiel.
Ich trat vor und umarmte sie ebenfalls. „Danke für alles, Diana. Wir werden euch auf jeden Fall besuchen, versprochen.“
Diana nickte, ihre Stimme war brüchig. „Passt gut auf euch auf.“
Ich lächelte und legte eine Hand auf Florians Schulter. „Das werden wir.“
Elke und Diana gingen zur Tür hinaus, und Florian drückte Pandi fest an sich. Ich spürte, wie viel dieser Moment ihm bedeutete. Ein neuer Anfang – für uns.
Florian:
Ich durfte wirklich hier bleiben. Das war wie ein Traum, den ich nicht fassen konnte. Und morgen durfte ich sogar wieder in die Schule zu Paul. Der Gedanke, dort mit Windeln hinzugehen, war zwar komisch, aber Paul machte es ja auch. Also war ich nicht allein damit. Trotzdem hoffte ich, dass Richard oder Zwenja das nicht mitbekamen. Die würden garantiert keine Gelegenheit auslassen, mich damit aufzuziehen.
Annette schloss die Tür hinter uns und sah mich mit einem warmen Lächeln an. „Möchtest du etwas trinken?“
Eigentlich hatte ich keinen Durst, aber ich wollte nicht, dass Annette enttäuscht war, also nickte ich. „Dann lass uns in die Küche gehen“, sagte sie sanft.
In der Küche nahm sie ein Glas aus einem Schrank. Dabei bemerkte sie: „Ich sehe gerade, dass du da gar nicht ran kommst. Ich spreche später mit Markus, da lassen wir uns noch etwas einfallen.“
Sie ging zum Kühlschrank. „Möchtest du Kirschsaft mit Wasser?“
Ich nickte wieder. „Mit oder ohne Sprudel?“
„Ohne“, antwortete ich leise.
Sie füllte das Glas und reichte es mir. Ich nahm einen großen Schluck. Es schmeckte süß und erfrischend. Danach gab ich ihr das Glas zurück.
„Du kannst es ruhig austrinken“, sagte sie sanft.
Ich schüttelte den Kopf. „Okay, du musst ja nicht.“
Dann lächelte sie mich an. „Wollen wir jetzt mal zu Markus in die Halle gehen und die Traktoren anschauen?“
Der Gedanke gefiel mir nicht so richtig, auch wenn ich die Traktoren gerne sehen wollte. Ich zögerte und murmelte dann: „Lieber nicht.“
Annette hockte sich vor mich hin und sah mir in die Augen. „Ist es wegen Markus?“ fragte sie leise.
Ich überlegte kurz, ob ich das sagen durfte, und nickte dann vorsichtig.
„Hast du ein bisschen Angst vor ihm?“
Wieder nickte ich.
„Hilft es dir, wenn ich dich auf den Arm nehme? Ich verspreche dir, dass du vor Markus keine Angst haben musst. Er hat als Kind Ähnliches erlebt wie du. Er war es auch, der die Idee hatte, dass wir ein Pflegekind aufnehmen.“
Ich schaute sie mit großen Augen an. „War Markus auch ein Pflegekind?“ fragte ich vorsichtig.
Annette nickte. „Ja, aber er war nicht in einer Pflegefamilie, sondern in einem Kinderheim.“
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie schlimm das sein musste. „Schimpft Markus auch nicht mit mir?“ fragte ich leise.
„Nein, bestimmt nicht. Er wird sich freuen, dass du endlich da bist.“
Ihre Worte beruhigten mich ein bisschen. „Okay“, sagte ich zögerlich.
„Gut, dann ziehen wir uns an“, meinte Annette lächelnd.
Wir gingen zur Garderobe im Flur. Ich zog meine Jacke und Schuhe an, und Annette reichte mir meine Mütze und meinen Schal. Sie nahm mich hoch und hielt mich fest.
Draußen war es kalt, aber in Annettes Armen fühlte ich mich sicher und geborgen. Ihre Nähe vertrieb meine Angst ein wenig, und ich kuschelte mich fest an sie, während wir zur Halle liefen.
Als wir die große Halle betraten, staunte ich mit großen Augen. Ich konnte kaum glauben, wie riesig dieser Raum war. Überall standen Maschinen und Geräte, die ich noch nie gesehen hatte. Zwei große grüne Traktoren fielen mir sofort auf. An einem davon stand Markus. Sein breiter Rücken und seine Größe schüchterten mich immer noch ein. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, und ich drückte mich noch fester an Annette.
In der Halle gab es noch viele andere Geräte und Anhänger. Ich hätte mir alles gerne genauer angesehen, aber die Angst, dass Markus vielleicht doch mit mir schimpfen könnte, ließ mich zögern. Was, wenn ich hier gar nicht sein durfte?
Annette ging weiter zu Markus, ohne zu merken, dass ich eigentlich nicht wollte. „Schau mal, Markus, wen ich hier mitgebracht habe“, sagte sie sanft.
Markus drehte sich um. Mein Herz klopfte wild, und ich wollte mich am liebsten verstecken. Doch dann lächelte Markus. Er sah überhaupt nicht böse aus. „Hallo, Florian“, sagte er freundlich. „Schön, dass du mich hier besuchen kommst.“
Ich schaute vorsichtig zu dem riesigen Traktor neben ihm. Er war gigantisch. Markus bemerkte meinen Blick und sagte stolz: „Das ist ein John Deere 6250 R.“
Er klang richtig begeistert. „Der ist ganz schön groß“, murmelte ich.
Markus nickte. „Ja, das ist er. Aber er fährt sich kinderleicht.“
Das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Wie konnte etwas so Riesiges leicht zu fahren sein?
Mein Blick wanderte weiter durch die Halle. Ein Stück weiter hinten sah ich ein komisches Gerät mit zwei großen, runden Teilen, an denen Schaufeln befestigt waren. Neugierig zeigte ich darauf und fragte Annette: „Was ist das?“
Bevor Annette etwas sagen konnte, antwortete Markus: „Das ist ein Doppelschwader. Damit wenden wir das Heu, damit es gut trocknen kann.“
Ich nickte, auch wenn ich nicht genau wusste, warum man Heu wenden musste. Dann zeigte ich auf ein anderes Gerät mit vielen scharfen Kanten. „Und was ist das da?“
„Das ist ein Pflug“, erklärte Markus. „Damit lockern wir den Boden auf oder pflügen ihn um, damit neue Pflanzen besser wachsen können.“
Ich schaute mir den Pflug genauer an und war beeindruckt, wie groß und schwer alles hier war. Langsam wurde ich etwas ruhiger. Markus erklärte alles so geduldig, und sein Lächeln machte mir ein kleines bisschen Mut. Annette hielt mich immer noch sicher auf ihrem Arm, und das beruhigte mich. Vielleicht war Markus doch nicht so schlimm, wie ich zuerst gedacht hatte.
„Willst du runter und dich etwas umschauen?“ fragte Annette leise. Ich schüttelte den Kopf und drückte mich noch fester an sie. So viel Vertrauen hatte ich noch nicht.
Annette sah zu Markus. „Stehen die Traktoren von Sebastian noch in der Halle?“
Markus schaute ein wenig verwirrt. „Traktoren von Sebastian?“
„Die, die er zum 4. und 6. Geburtstag bekommen hat“, erklärte Annette.
Markus‘ Gesicht hellte sich auf. „Ach die! Ja, die stehen hinten bei den Fahrrädern.“
„Dann laufen wir mal zu den Fahrrädern“, sagte Annette sanft.
Sie trug mich durch die Halle, vorbei an großen und seltsam aussehenden Geräten. Ich konnte nicht sagen, wofür die alle da waren. Einige sahen aus wie riesige Krallen oder Schaufeln. Es roch nach Metall und Öl, und das Licht fiel durch hohe Fenster herein, sodass Staub in der Luft glitzerte.
Dann sah ich ein paar Fahrräder vor uns. „Schau mal, dort in der Ecke“, sagte Annette und deutete mit dem Kopf dorthin.
Tatsächlich! Dort standen zwei kleine Tret-Traktoren mit Anhängern. Ein roter, der etwas kleiner war, und ein größerer grüner. Beide sahen aus wie echte Traktoren, nur in Kindergröße. Mein Herz schlug vor Aufregung schneller. Die Traktoren sahen toll aus!
„Die gehörten Sebastian, als er noch klein war“, erklärte Annette. „Jetzt darfst du mit ihnen spielen, wenn du magst.“
Ich starrte die Tret-Traktoren an und konnte es kaum glauben. Aber ich wagte noch nicht, runter zu wollen. Die Neugier kämpfte mit meiner Unsicherheit.
Doch meine Gedanken drehten sich immer noch um Markus. Er war bei dem großen Traktor geblieben und hatte sich nicht zu uns bewegt. Der Abstand zwischen uns ließ meine innere Unruhe ein bisschen nachlassen. Markus hatte mir keinen Grund gegeben, Angst vor ihm zu haben, aber allein seine Größe und seine ernste Art schüchterten mich ein. Es fühlte sich an, als könnte er jederzeit plötzlich streng werden, auch wenn er es bisher nicht war.
Bei Annette war alles anders. Wenn sie da war, fühlte ich mich sicher. Sie hielt mich fest, und ihre Nähe war wie ein schützender Schild. Es war, als würde sie all die Angst einfach wegnehmen, ohne dass ich etwas dafür tun musste. Bei ihr war ich freier, traute mich ein kleines bisschen mehr. Sie gab mir Mut, auch wenn ich noch nicht genau wusste, wie ich damit umgehen sollte.
Ich schaute zu den Tret-Traktoren. Sie sahen so toll aus, aber ich traute mich nicht, von Annettes Arm herunter zu steigen. Was, wenn Markus mich ansah oder etwas sagte? Was, wenn ich etwas falsch machte und er doch böse wurde? Diese Gedanken schwirrten mir wie kleine, fiese Insekten durch den Kopf.
Annette spürte wohl, dass ich zögerte. Sie streichelte mir sanft über den Rücken. „Alles in Ordnung, Florian?“ fragte sie leise.
Ich nickte, obwohl es nicht ganz stimmte. Ich wollte stark sein, nicht wieder weinen oder mich verstecken. Aber mein Magen fühlte sich an wie ein enger Knoten. Ich drückte Pandi ganz fest an mich. Pandi war weich und warm, und er half mir, die Welt um mich herum ein kleines bisschen weniger bedrohlich zu machen.
Markus sagte nichts. Er schaute nur von Weitem zu uns, und sein Blick war ruhig, nicht streng. Vielleicht meinte er es wirklich gut, vielleicht war er nett. Aber das zu glauben, war schwer für mich. Ich wollte es, aber die Angst hielt mich fest wie eine unsichtbare Hand.
„Du musst nicht gleich spielen, wenn du nicht willst“, sagte Annette sanft. „Wir können auch einfach wieder zurückgehen.“
Ein Teil von mir wollte ja sagen und zurück ins Haus, weg von Markus. Aber ein anderer Teil wollte hierbleiben und vielleicht doch irgendwann mutiger werden. Ich presste meinen Kopf an Annettes Schulter und flüsterte: „Ich bleibe noch ein bisschen hier.“
Annette nickte und hielt mich einfach weiter fest. Ihre Wärme war wie ein kleiner Lichtstrahl in meiner Dunkelheit.
Annette lief noch etwas näher an die Tret-Traktoren heran und betrachtete sie genau. „Ich glaube, die müssen wir erstmal sauber machen, bevor du damit fahren kannst. Die haben lange hier gestanden und sind ziemlich eingestaubt.“
Ich schaute mir die Traktoren genauer an. Der kleine war rot und sah aus, als könnte er schnell über den Boden rollen. Der größere war grün und hatte vorne eine gelbe Schaufel dran, mit der man bestimmt Dinge aufheben konnte. Es gab sogar mehrere Hebel, die man bewegen konnte. Doch dann sah ich, dass der hintere Reifen des grünen Traktors ganz platt war.
„Der Reifen ist kaputt“, sagte ich leise zu Annette.
Sie nickte und lächelte. „Das ist nicht so schlimm. Markus wird dir bestimmt beim Reparieren helfen.“
Ich wusste nicht, ob ich das wollte. Der Gedanke, mit Markus etwas zu machen, machte mir immer noch Angst. Aber gleichzeitig war es auch spannend, einen Traktor zu reparieren. Ein kleiner Teil von mir wollte es versuchen, aber ein größerer Teil wollte lieber, dass Annette mir hilft.
„Aber das schaffen wir heute nicht mehr“, fuhr Annette fort. „Vielleicht in den nächsten Tagen. Im Moment kannst du sowieso nur in der Halle damit fahren.“
Ich nickte, ein bisschen erleichtert. Vielleicht würde ich mich bis dahin ja trauen.
„Wie wäre es, wenn wir uns jetzt den Kuhstall anschauen?“ fragte Annette.
Meine Augen leuchteten auf. „Oh ja! Ich mag Tiere“, sagte ich begeistert.
Annette lächelte. „Ja, das weiß ich, Florian. Wir mögen Tiere auch.“
Wir gingen durch eine andere Tür nach draußen. Es schneite noch immer, und die kalte Luft wehte mir ins Gesicht. Vor uns stand eine riesige Halle mit einem Dach, auf dem viele schwarze Platten lagen. Neben der Halle waren Kühe auf einem eingezäunten Stück Land. Sie kauten langsam auf Heu herum und sahen uns mit großen, ruhigen Augen an.
Vor der Halle setzte Annette mich ab. Sie schob eine große Schiebetür auf, für die sie beide Hände brauchte. Ein lautes, schabendes Geräusch erklang, und ich schaute gespannt hinein. Es war drinnen heller, als ich erwartet hatte, und ein starker Geruch schlug mir entgegen. Es roch wie im Zoo, nur viel intensiver. Ich konnte ganz viele Kühe sehen, die gemütlich in ihren Boxen standen.
Annette schloss die Tür hinter uns, und ich lief schon mal ein Stück vor. Einige Kühe standen vorne am Gitter und fraßen Heu. Ihre großen Köpfe bewegten sich langsam hin und her, und sie sahen friedlich aus.
Annette kam zu mir und sagte sanft: „Es gibt ein paar Dinge, die du bei den Kühen beachten musst, Florian. Wenn du mal mit auf die Weide kommst oder in den Stall gehst, halte immer ausreichend Abstand. Geh am besten von vorne auf die Kühe zu, damit sie dich sehen können. Niemals von der Seite oder von hinten.“
Ich schaute zu ihr auf und nickte. Ihre Stimme war ruhig, aber ernst.
„Kühe können sich erschrecken und mit den Hufen austreten“, erklärte Annette weiter. „Und sie sind sehr stark. Das kann ganz schön weh tun.“
Ich schluckte und schaute wieder zu den Kühen. Sie sahen gar nicht so aus, als könnten sie gefährlich sein. Aber ich wollte lieber vorsichtig sein. Annette nahm meine Hand und drückte sie leicht. Mit ihr an meiner Seite fühlte ich mich sicherer. Ich atmete tief durch und schaute den Kühen weiter zu, die langsam ihr Heu mampften.
Langsam begann ein unangenehmes Drücken in meinem Bauch. Es wurde schlimmer, und ich wusste, dass ich bald nicht mehr warten konnte. Ich sah zu Annette auf und flüsterte leise: „Ich muss mal … groß.“ Mein Gesicht wurde heiß vor Scham, und ich hätte mich am liebsten versteckt.
Annette hockte sich sofort zu mir herunter und sah mich mit einem warmen Blick an. „Komm, dann lass uns reingehen“, sagte sie sanft. Sie nahm meine Hand in ihre, und wir gingen zur Schiebetür zurück. Ihre Hand fühlte sich fest und sicher an, aber das peinliche Gefühl wollte einfach nicht weggehen.
Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, liefen wir zum Haus. Drinnen war es wieder schön warm, doch ich konnte kaum daran denken. Ich wollte nur so schnell wie möglich zur Toilette. Gerade als ich loslaufen wollte, hielt Annette mich sanft zurück: „Stopp, Florian. Wir müssen noch schnell die Schuhe ausziehen.“
Ich blieb abrupt stehen und schaute auf den Boden. „Entschuldigung“, murmelte ich, meine Stimme kaum hörbar. Schnell zog ich meine Schuhe aus und stellte sie ordentlich ins Regal.
Annette lächelte mich an. „Das ist doch nicht schlimm, du musst dich erst an unser Zuhause gewöhnen.“ Sie nahm mir die Mütze vom Kopf und löste meinen Schal. Ich zog meine Jacke aus und hängte sie an den Haken.
„Schaffst du das alleine mit der Toilette?“ fragte sie freundlich.
Ich nickte und lief hastig die Treppe hoch ins Badezimmer. Oben angekommen, zog ich meine Hose runter und die Windel aus. Sie war noch trocken. Ich setzte mich auf die Toilette und versuchte, mein großes Geschäft zu machen. Doch es tat weh. So sehr, dass ich abbrechen musste. Ein stechender Schmerz schoss durch meinen Bauch, und ich biss die Zähne zusammen.
Ich versuchte es noch einmal, drückte so fest ich konnte, aber es fühlte sich an, als würde mein Bauch von innen zerreißen. Es ging einfach nicht. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich fühlte mich hilflos.
Nach einer Weile klopfte es an der Tür. „Florian, ist alles okay bei dir? Brauchst du Hilfe?“ fragte Annette sanft.
Ich antwortete nicht. Meine Wangen waren heiß, und ich wollte nicht, dass sie sah, wie ich kämpfte. Ich hörte ihre Stimme wieder: „Florian, ich komme jetzt rein. Wenn du das nicht möchtest, musst du es mir sagen.“
Ich schwieg, und kurz darauf hörte ich die Tür aufgehen. Annette trat leise ein und schaute um die kleine Wand herum, hinter der ich saß. Ihre Augen waren voll Mitgefühl. „Florian, du bist jetzt schon zwanzig Minuten hier drin. Ist alles gut?“ Ihre Stimme klang sanft, aber auch ein bisschen besorgt. „Klappt es nicht?“
Ich nickte stumm, Tränen liefen mir über die Wangen. Der Schmerz war zu viel.
„Diana hat mir erzählt, dass du manchmal Probleme mit Verstopfung hast“, sagte Annette ruhig. „Ich weiß, dass es weh tut, aber du musst es raus pressen. Sonst wird es nicht besser.“
Ich schniefte und nickte wieder. Annette nahm meine Hand und drückte sie leicht. „Wir fahren morgen in die Apotheke. Die Ärztin hat dir etwas verschrieben, das helfen wird. Aber jetzt musst du es schaffen, ja? Ich bin hier bei dir.“
Ich schloss die Augen, drückte die Zähne zusammen und versuchte es noch einmal. Der Schmerz war unerträglich, und ich konnte nicht verhindern, dass ich leise wimmerte. Tränen liefen mir über das Gesicht. Nach zwei weiteren Versuchen kam endlich etwas heraus. Es tat immer noch weh, aber ich spürte, wie der Druck im Bauch weniger wurde.
Annette strich mir sanft über den Rücken. „Gut gemacht, Florian. Ich weiß, dass das schwer war. Jetzt wird es dir gleich besser gehen.“
Ich schniefte und wischte mir die Tränen aus den Augen. Es war immer noch peinlich, aber Annette machte mir kein schlechtes Gefühl. Bei ihr fühlte ich mich sicher.
Dann nahm Annette die Windel, die ich einfach auf den Boden hatte fallen lassen. „Die ist ja noch trocken“, sagte sie lächelnd. „Komm, dann einfach in dein Zimmer. Ich mache dir die Windel gleich wieder dran. Nicht vergessen: Hände waschen und ziehen, ja?“
Ich nickte und stand auf. Schnell wischte ich mir den Hintern ab, zog die Hose hoch und drückte die Spülung. Danach wusch ich mir die Hände gründlich, so wie Annette es gesagt hatte. Das Wasser war angenehm warm, und der Seifenduft war anders als der, den ich kannte. Es roch irgendwie nach Zitrone.
Als ich in mein Zimmer zurückging, fühlte ich mich wieder seltsam. „Mein Zimmer“, dachte ich. Das war immer noch komisch. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass das wirklich mein Zuhause sein sollte. Bei Diana wusste ich, dass ich nicht für immer bleiben würde. Und mein altes Zuhause… daran wollte ich gar nicht denken. Hier war alles anders. Schön anders. Ich hoffte so sehr, dass ich wirklich hierbleiben durfte.
Annette lächelte mich an, als ich in mein Zimmer kam. „Leg dich kurz aufs Bett“, sagte sie sanft. Ich zog die Hose wieder herunter und legte mich vorsichtig hin. Das Bett fühlte sich weich und warm an. Annette machte mir die Windel schnell und sicher wieder dran. Es war mir ein bisschen peinlich, aber bei ihr fühlte es sich nicht schlimm an. Sie war immer so geduldig und lieb zu mir.
Nachdem ich die Hose wieder hochgezogen hatte, schaute ich mich um. Plötzlich fiel mir ein, dass ich Pandi unten gelassen hatte. Ich hatte ihn abgelegt, als ich meine Jacke auszog. „Ich muss Pandi holen“, sagte ich und lief schnell die Treppe runter.
Da lag er, genau da, wo ich ihn abgelegt hatte – auf einem kleinen Schrank neben der Garderobe. Ich nahm ihn fest in den Arm und drückte ihn ganz nah an mich. Es fühlte sich sofort besser an. Pandi war nicht nur ein Stofftier; er war mein bester Freund, mein Beschützer.
Annette kam hinter mir her und sah mich mit einem warmen Lächeln an. „Der ist dir ans Herz gewachsen, oder?“ fragte sie sanft.
Ich nickte und drückte Pandi noch fester. Es war ja ein Geschenk von Annette, und das machte ihn noch wichtiger. Aber das sagte ich ihr nicht. Es war ein Gefühl, das ich für mich behalten wollte.
Annette sah mich an und fragte: „Wollen wir jetzt mal bei Paul anrufen?“ Ihre Stimme klang sanft und aufmunternd. Ich schaute auf und nickte eifrig. „Au ja!“
„Na komm, dann lass uns ins Wohnzimmer gehen“, sagte sie lächelnd und nahm ein Telefon von einem kleinen Schrank neben der Wohnzimmertür. Daneben lag ein kleiner Zettel mit einer Nummer – der Zettel, den Pauls Mama, Diana gegeben hatte. Wir setzten uns auf die Couch. Annette ließ sich neben mir nieder, ich hielt Pandi fest an mich gedrückt.
„Willst du anrufen, oder soll ich zuerst?“ fragte sie sanft. Ich überlegte kurz, mein Herz klopfte vor Aufregung. Aber ich wollte unbedingt Pauls Stimme hören und ihm sagen, dass ich morgen wieder in die Schule komme. „Ich möchte“, sagte ich leise.
Annette nickte und reichte mir die Karte und das Telefon. Das war das erste Mal, dass ich ein Telefon selbst in der Hand hielt. Es fühlte sich irgendwie schwerer an, als ich gedacht hatte. Ich sah Annette unsicher an. „Was muss ich machen?“ fragte ich leise.
„Hast du noch nie telefoniert?“ fragte sie erstaunt, aber mit einem Lächeln. Ich schüttelte den Kopf. „Das ist ganz einfach“, erklärte sie geduldig. „Du tippst einfach die Nummer von der Karte in das Telefon und drückst dann auf die grüne Taste mit dem Hörer drauf.“
Ich atmete tief durch und tippte vorsichtig jede Zahl ein. Meine Finger zitterten ein bisschen. Dann drückte ich auf die grüne Taste. Annette lächelte und sagte mit einem Schmunzeln: „Jetzt musst du das Telefon ans Ohr halten.“
Ich hob das Telefon ans Ohr und hörte ein Lautes Tuten. Mein Herz pochte immer schneller. Plötzlich meldete sich eine Frauenstimme: „Müller.“ Ich hatte erwartet, gleich Paul zu hören, und die Stimme überraschte mich.
„Hallo?“ sagte die Frau. Ich schluckte und fragte leise: „Wohnt Paul bei Ihnen?“
„Wer ist denn dran?“ fragte sie freundlich.
„Florian“, sagte ich noch leiser.
Ihre Stimme wurde wärmer. „Der Florian, der heute bei mir in der Arztpraxis war?“
„Ja“, antwortete ich schüchtern.
„Das ist aber schön, dass du anrufst! Warte kurz, Paul ist in seinem Zimmer. Ich gebe ihn dir gleich.“
Ich hörte Geräusche im Hintergrund, Schritte und das Quietschen einer Tür. Mein Herz schlug wie verrückt, und ich wippte nervös mit den Füßen hin und her. Ich hörte Pauls Mama leise sagen: „Paul, das Telefon ist für dich. Florian ist dran.“
Dann hörte ich Pauls Stimme: „Florian! Hier ist Paul!“
Seine Stimme klang genauso wie in der Schule, nur ein bisschen anders durch das Telefon. Ich grinste sofort und wusste kurz nicht, was ich sagen sollte. Dann platzte es aus mir heraus: „Ich komme morgen wieder in die Schule!“
Am anderen Ende hörte ich Pauls Jubel: „Au ja! Endlich!“ Seine Freude war so laut und deutlich, dass es mich glücklich machte. Dann fragte er neugierig: „Wohnst du jetzt woanders?“
Bevor ich antworten konnte, hörte ich seine Mama im Hintergrund sagen: „Paul, so etwas fragt man nicht sofort. Vielleicht möchte Florian noch gar nicht darüber reden.“ Doch ich war so aufgeregt, dass ich trotzdem antwortete: „Ja, ich wohne jetzt auf einem Bauernhof, mit ganz vielen Kühen und echten Traktoren!“
Paul rief begeistert: „Oh, cool! Kann ich dich da mal besuchen kommen?“
Seine Frage machte mich unsicher. Ich wusste nicht, ob das ging. Also antwortete ich leise: „Das weiß ich nicht. Da muss ich erst Annette fragen.“
Paul sagte: „Okay. Richard hat gesagt, dass du jetzt bestimmt nicht mehr in die Schule kommst. Das fand ich voll doof und habe immer gesagt, dass du bestimmt wiederkommst.“
Bei dem Gedanken an Richard lief es mir kurz eiskalt den Rücken runter. Er hatte es immer auf mich abgesehen und fand es lustig, sich über mich lustig zu machen. Doch die Freude darüber, Paul morgen wieder zu sehen, war stärker. Ich sagte leise: „Danke, Paul.“
Annette lächelte und sagte zu mir: „Frag ihn mal nach deinem Stundenplan für morgen.“
Ich nickte und fragte Paul: „Kannst du mir unseren Stundenplan für morgen sagen?“
Paul antwortete sofort: „Warte kurz, ich frage Mama.“ Dann hörte ich ihn im Hintergrund rufen: „Mama, Florian braucht unseren Stundenplan.“ Seine Mama antwortete: „Paul, schau mal über deinem Schreibtisch, da hängt er.“
„Oh, stimmt“, sagte Paul. Dann hörte ich ihn wieder zu mir sprechen: „Meine Mama möchte mal mit dir reden.“
„Ich freue mich auf morgen!“, fügte er schnell hinzu, bevor er das Telefon übergab.
Jetzt hörte ich Pauls Mama: „Hallo Florian, kannst du mir bitte deine…“ Kurz war es still, als ob sie überlegte, wie sie es sagen sollte. Dann sprach sie weiter: „…deine Pflegemama geben?“
Ich zögerte kurz, das Wort „Pflegemama“ klang für mich irgendwie fremd und komisch. Trotzdem reichte ich das Telefon an Annette. Während sie zu reden begann, dachte ich darüber nach. Ich mochte Annette, sie war so lieb zu mir. Aber „Pflegemama“ klang, als wäre das nur für eine kurze Zeit. Ich hoffte, dass ich bei ihr bleiben durfte – für immer.
Annette:
Florians Aufregung beim Wählen der Telefonnummer war beinahe greifbar. Seine kleinen Finger tippelten vorsichtig die Zahlen ein, und er schaute immer wieder zu mir, um sicherzugehen, dass er alles richtig machte. Es erstaunte mich, dass er mit sieben Jahren noch nie eine Telefonnummer gewählt hatte. Ein leiser Stich der Sorge durchzog mich: Hatte er außerhalb der Schule überhaupt Kontakt zu anderen Kindern gehabt? Wie einsam musste seine Welt wohl gewesen sein?
Ich konnte das Gespräch mithören da das Telefon sehr laut eingestellt war. Als er das Telefon ans Ohr hielt und die Stimme von Pauls Mama erklang, sah ich, wie seine Schultern sich ein wenig an spannten. Es war so süß, wie er leise fragte, ob Paul dort wohnte. Die Freude, die auf seinem Gesicht auf blitzte, als er Pauls Stimme hörte, war einfach unbezahlbar.
Ich musste ein paar Mal schmunzeln, während ich ihm beim Telefonieren zuhörte. Sein eifriges „Ich komme morgen wieder in die Schule!“ und wie er vom Bauernhof mit den Kühen und Traktoren erzählte, ließ mein Herz warm werden. In diesem Moment wirkte er zum ersten Mal wie ein ganz normales Kind, das mit seinem besten Freund plaudert. Der Glanz in seinen Augen und sein Wippen mit den Füßen zeigten, wie viel ihm dieser Anruf bedeutete.
Doch als der Name Richard fiel, bemerkte ich, wie seine Miene sich kurz verdunkelte. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und ich spürte, dass es da etwas gab, das ihn belastete.
Dann reichte mir Florian das Telefon und sagte leise: „Pauls Mama möchte mit dir sprechen.“ Ich nahm das Telefon entgegen und lächelte ihm aufmunternd zu. „Hallo Frau Müller,“ begrüßte ich sie freundlich.
„Hallo Frau Bachstedt, schön, dass Sie sich so schnell melden“, kam die freundliche Stimme von Frau Müller.
„Hier ist Annette Wagner“, korrigierte ich sanft. „Frau Bachstedt war nur eine Übergangslösung für Florian. Seit heute Nachmittag ist er bei mir.“
Am anderen Ende hörte ich ein kurzes „Oh, Entschuldigung. Das ging dann aber wirklich schnell.“
„Ja, es ging schneller als gedacht, aber ich freue mich sehr, dass Florian jetzt hier ist und dass er sich so gut mit Paul versteht“, antwortete ich und strich Florian dabei sanft über den Kopf. Er saß noch immer ganz nah an mich gekuschelt und lehnte sich vertrauensvoll an mich.
„Ja, Paul erzählt oft von ihm“, sagte Frau Müller. „Als er letzte Woche erzählt hat, dass Florian vom Jugendamt abgeholt wurde, war er sehr traurig. Es freut mich, dass Florian jetzt jemanden hat, der sich um ihn kümmert.“
„Und ich bin froh, dass ich ihn jetzt hier haben darf“, erwiderte ich sanft und spürte, wie Florians kleiner Körper sich noch ein Stück näher an mich drückte.
Frau Müller fuhr fort: „Ich wollte eigentlich anbieten, Ihnen den Stundenplan per Messenger oder per E-Mail zu schicken. Das wäre vielleicht einfacher, und so haben Sie ihn jederzeit parat.“
„Das wäre super“, sagte ich erleichtert. „Dann haben wir ihn direkt zur Hand.“ Ich nannte ihr meine E-Mail-Adresse und hörte, wie sie die Information notierte.
Während des Gesprächs streichelte ich Florian weiter sanft über den Rücken. Es fühlte sich so richtig an, ihn jetzt bei mir zu haben.
„Ich hätte da noch ein Anliegen, wenn ich Sie gerade am Telefon habe“, begann ich zögerlich.
Frau Müller antwortete prompt: „Gerne doch, wie kann ich weiterhelfen?“
Ich atmete tief durch. „Ich weiß nicht genau, wie ich es am besten ansprechen soll, und ich hoffe, es ist nicht zu indiskret. Florian hat ein Blasen problem. Er ist inkontinent, was Sie ja vermutlich durch Ihre Arbeit schon wissen.“
„Ja“, sagte Frau Müller verständnisvoll. „Das habe ich heute in der Praxis bemerkt, auch wenn ich überrascht war, weil Paul nie etwas darüber erzählt hat.“
Ja, Florian hat sein Problem mit dem Pipi so gelöst, dass er kaum etwas getrunken hat. Dadurch gab es in der Schule nie Unfälle.
„Das ist natürlich keine Lösung, vor allem nicht für ihn. Ich habe ihn heute zum ersten Mal in der Praxis gesehen. Paul hatte mir schon ein bisschen von ihm erzählt, aber dass er wirklich so…“ Sie hielt inne und schien nach den richtigen Worten zu suchen. „…so gelitten hat, hätte ich nicht gedacht. Doch das, was ich heute gesehen habe, habe ich in meiner Praxis so noch nie erlebt.“
Ich hielt kurz inne, bevor ich sagte: „Ja, auch für mich ist es unvorstellbar, wie man einem Kind so etwas antun kann.“
„Florian hat erzählt, dass Paul in der Schule auch noch Windeln trägt“, fuhr ich vorsichtig fort. „Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich so direkt danach frage. Ich wollte einfach wissen, ob die Schule in diesem Bereich Unterstützung bietet und wie Sie damit umgehen.“
Frau Müller klang ganz ruhig und entspannt, als sie antwortete: „Nein, machen Sie sich da keine Sorgen. Paul hat eine sehr kleine Blase, und es sind oft Unfälle passiert. Wir haben es eine Zeit lang ohne Windeln versucht, aber es klappt einfach nicht. Ich sehe die Windeln als ein Hilfsmittel, wie eine Brille, und bin der Meinung, dass es in der Öffentlichkeit genauso behandelt werden sollte.“
Ihre Worte ließen mich erleichtert aufatmen. Frau Müller fuhr fort: „Wir gehen sehr offen damit um. Pauls Lehrerin weiß Bescheid, und im Lehrerzimmer haben wir Ersatzsachen für ihn deponiert. Er trägt Pull-up-Windeln, die er selbst wechseln kann, wenn es nötig ist. In der Regel kommt er aber gut durch den Schultag, ohne dass er wechseln muss. Ich denke, es sollte kein Problem sein, für Florian eine ähnliche Lösung zu finden.“
Ihre entspannte Haltung beruhigte mich. „Das klingt wirklich gut“, sagte ich dankbar. „Ich hoffe, dass es Florian hilft, sich in der Schule wohler zu fühlen.“
„Da bin ich sicher“, antwortete Frau Müller. „Und wenn es irgendetwas gibt, bei dem wir helfen können, lassen Sie es mich wissen.“
Ich lächelte und streichelte Florian sanft über den Rücken. „Vielen Dank, das bedeutet mir sehr viel.“
„Vielleicht können wir ja mal ein Spieldate für die beiden ausmachen“, schlug ich vor.
„Ja, das sollte kein Problem sein“, antwortete Frau Müller freundlich. „Paul hat Florian schon ein paar Mal eingeladen, aber er hat sich wohl nie getraut oder seine Situation hat es nicht zugelassen.“
Ich nickte, auch wenn sie das nicht sehen konnte. „Geben Sie mir einfach Bescheid, wann es passen würde. Ich bin in der Regel ab 13 Uhr zu Hause“, fügte sie hinzu.
„Das klingt gut“, erwiderte ich erleichtert. „Ich denke, Florian würde sich sehr freuen.“
Ich sah zu Florian, der neugierig zuhörte und Pandi fest an sich drückte. Seine Augen leuchteten ein bisschen, und ich wusste, dass er sich darauf freute, endlich etwas Normalität zu erleben.
„Dann melde ich mich bald bei Ihnen“, sagte ich abschließend.
„Gerne. Ich freue mich schon darauf“, sagte Frau Müller warm. „Und grüßen Sie Florian ganz lieb von mir.“
„Das mache ich“, versprach ich und legte auf. Ich sah Florian an und lächelte. „Na, das klingt doch nach einem Plan, oder?“
Er nickte begeistert. „Ja! Ich will unbedingt mit Paul spielen!“
Sein Strahlen war einfach unbezahlbar.
„Okay, jetzt kümmern wir uns erstmal um das Abendessen“, sagte ich mit einem Lächeln. „Und dann schauen wir, ob uns Pauls Mama deinen Stundenplan geschickt hat. Damit wir schon mal sehen können, was du für morgen brauchst.“
Florian nickte eifrig. Er schien sich wirklich darauf zu freuen, wieder in die Schule zu gehen. Ich wollte ihm so sehr das Gefühl geben, dass alles gut wird. „Hast du Schulbücher in deiner Schultasche, die bei Diana steht?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja“, antwortete er. „Das sind aber Leihgaben, die gehören der Schule. Die hat mir Frau Siegel gegeben.“
„Ist Frau Siegel deine Klassenlehrerin?“, fragte ich weiter.
Florian nickte wieder. „Ja, sie ist immer lieb zu mir.“
Ein warmes Gefühl durchströmte mich. Es tat gut zu hören, dass es jemanden gab, der in der Schule für ihn da war. „Das ist schön zu hören“, sagte ich sanft. „Welches Fach magst du denn am liebsten in der Schule?“
Er zögerte kurz und murmelte dann: „Eigentlich gar keins.“
Das überraschte mich ein wenig. „Aber du gehst doch gerne in die Schule, oder?“, hakte ich nach.
„Ja“, sagte er schnell, „aber wegen Paul. In der Pause spiele ich immer mit ihm.“ Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. „Mathe ist eigentlich ganz okay, aber es ist gerade schwierig.“
„Verstehe“, antwortete ich nachdenklich. Florian war ein cleverer Junge, aber es klang so, als bräuchte er etwas Unterstützung. „Okay, ich spreche morgen mit deiner Lehrerin. Vielleicht gibt es ja ein paar Aufgaben, die wir zusammen üben können.“
Er nickte erleichtert, und ich spürte, wie wichtig es für ihn war, nicht alleine mit seinen Schwierigkeiten zu sein. In diesem Moment nahm ich mir fest vor, ihm zu helfen, wo immer ich konnte. Ich wollte, dass er wusste, dass er ab jetzt nicht mehr alleine war – in der Schule und überall sonst.
Vor allem in den ersten Schuljahren ist es wichtig, Kindern zu zeigen, wie man richtig lernt und sie dabei zu unterstützen. Wenn sie das verstanden haben, fällt ihnen das Lernen in den höheren Klassenstufen viel leichter, weil es dann zur Routine geworden ist. So haben es mir meine Eltern beigebracht, und bei Sebastian hat es hervorragend funktioniert. Ich hoffe, dass ich auch Florian auf diesem Weg helfen kann. Er braucht einfach jemanden, der geduldig an seiner Seite steht und ihm zeigt, dass Lernen nicht nur Mühe, sondern auch Freude machen kann.
„Komm, wir decken jetzt den Tisch,“ sagte ich mit einem Lächeln. „Wir essen abends meistens Brot und etwas Gemüse oder Obst. Ich hoffe, das ist okay für dich.“
Florian sah zu mir auf und zuckte mit den Schultern. „Mir ist das egal. Ich habe früher zu Hause nur manchmal etwas gegessen und sonst nur zum Mittag in der Schule.“
Seine Worte trafen mich wie ein Stich ins Herz, auch wenn ich das im Grunde schon wusste. Florian war wirklich ein Fliegengewicht, und jedes Mal, wenn ich ihm die Windel wechselte, spürte ich, wie wenig an ihm dran war – kaum mehr als Haut und Knochen. Es machte mich unendlich traurig, das von ihm zu hören. Wie viel hatte er wohl schon ertragen müssen?
Doch gleichzeitig bemerkte ich, dass sein Gesicht mittlerweile ein bisschen gesünder aussah. Die letzten Tage bei Diana hatten ihm gutgetan. Ein Hauch von Farbe war in seine Wangen zurückgekehrt, und seine Augen wirkten etwas lebhafter. Ich nahm mir fest vor, alles dafür zu tun, dass er sich bei uns wohl fühlt, genug isst und endlich wieder Kind sein darf.
„Na komm“, sagte ich sanft und strich ihm kurz über den Kopf. „Heute gibt es bestimmt etwas, das dir schmeckt.“ Florian nickte und nahm meine Hand. Wir gingen zusammen in die Küche, und ich spürte, dass dieser einfache Moment für uns beide mehr bedeutete, als es vielleicht den Anschein hatte.
Ich nahm Teller aus dem Schrank und gab sie Florian. Währenddessen schaltete ich den Wasserkocher an. „Möchtest du einen Pfefferminztee oder lieber einen Früchtetee?“ fragte ich ihn. Er reagierte nicht sofort, seine Gedanken schienen weit weg zu sein.
„Florian, möchtest du lieber einen Früchtetee oder einen Pfefferminztee?“ Als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich, wie er kurz versteinert da stand und sich an den Schritt fasste. Es war mir sofort klar – er hatte bestimmt gerade in die Windel gemacht. Um ihm nicht das Gefühl zu geben, dass es mir aufgefallen war, drehte ich mich einfach wieder um. „Ich mache einen Früchtetee“, sagte ich beiläufig und hing die Teebeutel in die Kanne.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Florian die Teller auf den Tisch stellte. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein, was bei all den Eindrücken des Tages verständlich war. Ich holte Butter, Brot und verschiedene Aufschnitte aus dem Kühlschrank und stellte alles auf den Tisch. Dann reichte ich ihm noch drei Tassen für den Tee.
„Isst du Möhren?“ fragte ich.
Er sah mich an. „In der Schule esse ich Möhren“, antwortete er leise.
„Möchtest du mir helfen, die Möhren zu schälen?“
Seine Augen leuchteten kurz auf. „Au ja!“
„Hast du schon mal eine Möhre geschält?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich möchte es gerne mal versuchen.“
Ich zog einen kleinen Hocker vor die Arbeitsfläche und stellte ihn davor. „Hier, stell dich am besten drauf. Damit kommst du gut ran.“ Ich reichte ihm den Sparschäler. „Damit geht es ganz einfach. Ich zeige es dir bei der ersten Möhre, und du versuchst es dann bei den anderen.“
Ich schälte die erste Möhre langsam vor seinen Augen, und er folgte aufmerksam jeder Bewegung. Dann gab ich ihm die nächste Möhre. Er nahm den Sparschäler vorsichtig in die Hand und begann. Zu meiner Freude klappte es auf Anhieb. Er schälte konzentriert eine Möhre nach der anderen.
Während er damit beschäftigt war, schnitt ich einen Apfel und rieb ihn zusammen mit den Möhren in eine Schüssel. „Ein kleiner Spritzer Zitrone und ein bisschen Öl“, erklärte ich ihm. „So kann dein Körper die Vitamine aus den Möhren besser aufnehmen.“
Florian sah mir aufmerksam zu, als wäre das alles ganz neu für ihn. Ich reichte ihm einen kleinen Löffel. „Hier, probiere es mal.“
Er nahm den Löffel und kaute. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Das schmeckt gut, Annette!“
Seine Worte ließen mein Herz höher schlagen. „Das freut mich“, sagte ich lächelnd. In diesem Moment fühlte ich mich so glücklich.
Markus kam gerade in die Küche. „Das passt ja, dann können wir ja essen“, sagte er mit einem Lächeln. Sofort spürte ich, wie Florian dichter an mich heran rückte. Der Respekt, den er vor Markus hatte, war nicht zu übersehen. Ich hoffte so sehr, dass wir es schaffen würden, sein Vertrauen zu Markus aufzubauen. Um ihm ein wenig Sicherheit zu geben, setzte ich mich zwischen die beiden. Es schien ihn ein bisschen zu beruhigen.
„Guten Appetit“, sagte ich sanft und begann, mir ein Brot zu nehmen. Florian saß jedoch nur da und starrte auf seinen Teller. Seine kleinen Hände spielten nervös mit der Tischkante. Ich sah ihn besorgt an. „Ist alles gut bei dir, Florian? Soll ich dir ein Brot schmieren?“
Er hob den Kopf, als hätte ich ihn aus seinen Gedanken gerissen, und schüttelte den Kopf. „Kann ich etwas von den Möhren haben?“ fragte er leise.
„Natürlich“, antwortete ich lächelnd. Ich füllte ihm eine kleine Schüssel mit dem Karottensalat und schob sie zu ihm hinüber. Er begann zu essen, und zu meiner Erleichterung schien es ihm wirklich zu schmecken. Florian aß die Schüssel leer und bat sogar um Nachschlag. Ich gab ihm eine zweite Portion, und er aß sie genauso schnell. Dazu trank er seine Tasse Tee vollständig aus.
„Super, Florian“, lobte ich ihn und lächelte ihn ermutigend an. Es war mir wichtig, ihn zu bestärken, denn er musste unbedingt an Gewicht zulegen. Jeder Bissen war ein kleiner Erfolg.
Ich sah zu Markus hinüber. „Kannst du dir bitte mal den grünen Spieltraktor anschauen? Das linke Hinterrad ist platt. Vielleicht könnt ihr den zusammen reparieren?“
Markus nickte und sah Florian freundlich an. „Klar, da könnte ich deine Hilfe gut gebrauchen.“
Florian hob den Kopf und schaute Markus an. Ich konnte sehen, wie seine Gedanken arbeiteten, aber er sagte nichts. Seine Augen wirkten unsicher, vielleicht ein wenig ängstlich. Ich legte meine Hand sanft auf seine Schulter. „Du musst nicht sofort helfen, wenn du nicht willst. Lass dir Zeit.“
Er nickte ganz leicht und drückte Pandi fest an sich. Es war ein winziger Schritt, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Vertrauen brauchte Zeit, und ich war bereit, sie ihm zu geben.
Nachdem Markus fertig war, wandte ich mich an Florian und lächelte ihn an. „Möchtest du vielleicht oben noch ein wenig mit den Autos spielen? Ich räume schnell den Tisch ab, schaue nach deinem Stundenplan für morgen und komme dann zu dir, ja?“ Florian sah mich an, nickte und lief mit Pandi fest im Arm nach oben.
Ich sah ihm kurz nach, bis er die Treppe hinauf war. Dann begann ich, den Tisch ab zu räumen. Markus sah mich fragend an. „Stundenplan für morgen?“
„Ja“, antwortete ich und seufzte leise. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir das zu erzählen. Florian geht morgen wieder in die Schule. Ich bringe ihn früh nach Hof. Ich möchte so losfahren, dass wir gegen halb acht dort sind. Danach löse ich noch zwei Rezepte in der Apotheke ein, die Diana mir mitgegeben hat.“
Markus schaute erstaunt. „Er ist noch keine 24 Stunden bei uns, und er muss gleich wieder in die Schule? Können die ihm nicht ein bisschen Zeit zum Eingewöhnen lassen?“
Ich lächelte sanft und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe, was du meinst, aber es war sein Wunsch. Er freut sich wirklich darauf.“
Markus hob die Augenbrauen. „Er freut sich auf die Schule? Also, ich habe die Schule nie gemocht.“
Ich schmunzelte. „Er freut sich wohl mehr darauf, seinen Freund Paul wieder zu sehen, als auf die Schule selbst.“
Markus nickte langsam und grinste. „Okay, das kann ich wiederum verstehen.“
Ich stellte die letzten Teller in die Spülmaschine und schaute zu Markus. „Er braucht gerade so viele Momente, die ihm Halt geben. Paul ist einer davon.“
Markus lächelte und legte mir kurz die Hand auf die Schulter. „Dann hoffen wir mal, dass es morgen gut für ihn läuft.“
„Ja“, sagte ich leise und sah zur Treppe. „Das hoffe ich auch.“
„Wie weit bist du mit den Traktoren?“, fragte ich Markus, während ich noch den Tisch ab wischte.
„Soweit passt alles“, antwortete er und lehnte sich an den Türrahmen. „Ich muss nur noch bei Hellmann eine Tankladung Diesel bestellen, aber dann sind wir bestens vorbereitet.“
Ich warf einen Blick auf den Kalender an der Wand. „Ja, dann liegen wir ja gut in der Zeit. In 14 Tagen geht es wieder los.“
Markus nickte zufrieden. „Genau, dann startet die neue Saison. Dieses Jahr wird’s bestimmt ein gutes Jahr.“
Ich lächelte und spürte eine wohlige Vorfreude. „Und diesmal mit einem kleinen Helfer an unserer Seite.“
Markus grinste. „Ja, Florian wird bestimmt seine Freude daran haben. Vielleicht kriegen wir ihn ja auch irgendwann dazu, mit den kleinen Traktoren draußen zu fahren.“
Ich dachte an Florian, wie er vorhin den großen grünen Traktor mit staunenden Augen angesehen hatte, und lächelte. „Das wird schon. Schritt für Schritt. Er braucht einfach ein bisschen Zeit und Vertrauen.“
Markus nickte ernst. „Und die geben wir ihm.“
Ich atmete tief durch. „Ja, die geben wir ihm.“
„Ich werde mich jetzt noch ein wenig um unseren kleinen Mann kümmern“, sagte ich und lächelte Markus zu.
Er zog mich kurz in seine Arme und gab mir einen sanften Kuss. „Okay, ich räume in der Halle noch ein wenig auf und kümmere mich um die Einfahrt. Hoffentlich schneit es nicht die ganze Nacht weiter.“
„Ja, das wäre super“, antwortete ich dankbar. Der Gedanke, morgen früh durch eine verschneite Einfahrt zu müssen, gefiel mir nicht besonders.
Mit einem letzten Blick zu Markus ging ich ins Arbeitszimmer. Der Raum war warm und gemütlich, und ich fühlte mich hier immer besonders wohl, wenn ich Dinge erledigen musste. Ich setzte mich an den Schreibtisch, klappte den Laptop auf und suchte nach der E-Mail von Pauls Mama. Zum Glück war sie schon da. Ich öffnete den Anhang und sah mir den Stundenplan an.
Ein kurzer Blick darauf ließ mich schmunzeln. Deutsch, Mathe, Sachkunde – die ersten Fächer für morgen waren klar. Ich klickte auf „Drucken“, und das vertraute Surren des Druckers erfüllte den Raum. Während ich wartete, dachte ich an Florian, der wahrscheinlich schon mit seinen Autos spielte. Der Gedanke, dass er sich auf die Schule freute, gab mir ein gutes Gefühl.
Ich nahm die ausgedruckte Seite und machte mich auf den Weg nach oben zu Florian. Es war ein schönes Gefühl, nicht nur für ihn da zu sein, sondern auch diese kleinen Momente mit ihm zu teilen.
Florian:
Ich saß auf meiner Bettkante und starrte auf den Spielteppich mit den Straßen und Häusern. Die Autos in der Kiste hatte ich nicht einmal angerührt. In meinem Bauch drehte sich alles, und ein komisches Gefühl kroch in mir hoch. Beim Essen hatte ich versucht, mir nichts anmerken zu lassen, aber meine Gedanken kreisten die ganze Zeit um morgen.
Wie wird das mit der Windel in der Schule sein? Was, wenn jemand es bemerkt? Richard und Zwenja würden bestimmt keine Gelegenheit auslassen, sich über mich lustig zu machen. Ich spürte, wie meine Hände feucht wurden.
Was, wenn Annette mich morgen nicht abholt? Was, wenn sie es sich anders überlegt? Muss ich dann zurück in mein altes Zuhause? Der Gedanke ließ es mir eiskalt den Rücken herunterlaufen. Ich wollte das alles nicht verlieren – mein Zimmer, Annette, selbst Markus und die Tiere. Hier war alles so anders, so schön. Aber genau das machte mir noch mehr Angst. Es war zu gut, um wahr zu sein.
Ich zog meine Beine an die Brust und drückte mein Gesicht in Pandis weiches Fell. Eine Träne rollte mir über die Wange, obwohl ich versuchte, sie zurückzuhalten. Ich wollte nicht weinen, ich wollte einfach nur hierbleiben. Aber die Angst, dass all das hier nicht für immer sein könnte, war stärker.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Annette trat leise ein und sah mich mit einem warmen Lächeln an. „Alles okay bei dir, Florian?“ Ihre Stimme war weich, und ich nickte, obwohl es nicht stimmte. Sie setzte sich neben mich auf die Bettkante, legte einen Arm um meine Schultern und zog mich sanft an sich.
Annette schaute mich an, und ihre Stimme war sanft, als sie fragte: „Was beschäftigt dich, Florian?“ Ich schluckte, meine Kehle fühlte sich plötzlich ganz eng an. Ein dicker Klumpen drückte in meinem Bauch. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich schluchzte leise: „Holst du mich morgen wieder ab?“
Annette lächelte mich an, ihr Blick war warm und fest. „Auf jeden Fall. Sonst kommst du ja nicht nach Hause.“
„Holst du mich immer ab?“ fragte ich mit zitternder Stimme. Mein Herz pochte schnell, und die Angst krallte sich in meinen Gedanken fest. Was, wenn ich etwas falsch mache? Was, wenn ich zu viel bin, so wie früher?
„Natürlich!“ sagte sie ohne zu zögern.
Meine Stimme war kaum noch zu hören, als ich vorsichtig fragte: „Auch wenn ich mal was falsch gemacht habe?“
In dem Moment zog Annette mich sanft auf ihren Schoß und drückte mich fest an sich. Ich konnte ihren Herzschlag hören, gleichmäßig und beruhigend. Ihre Arme fühlten sich an wie ein sicherer Kokon, der mich schützte. „Florian“, sagte sie mit ruhiger, fester Stimme, „ich werde dich immer abholen, versprochen. Auch wenn du mal etwas falsch machst oder Blödsinn anstellst. Du gehörst jetzt hierher.“
Ihre Worte fühlten sich an wie ein Pflaster für meine verletzten Gedanken. „Für immer?“, flüsterte ich, während mir eine Träne über die Wange lief.
Annette strich mir sanft über den Rücken und sagte: „Für immer. Ich gebe dich nicht wieder her.“
Ich wollte so gerne glauben, dass das wirklich stimmt. Dass sie mich nicht einfach wegschicken würde. Aber in mir drin war immer noch diese leise Stimme, die flüsterte, dass alles wieder kaputt gehen könnte.
Annette sah mich liebevoll an und sagte: „Eigentlich wollte ich jetzt mit dir deinen Schulranzen für morgen packen. Wäre das okay für dich oder brauchst du noch einen Moment?“
Ich hob meinen Blick und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, Schulranzen. Was müssen wir da vorbereiten?“ Die Frage fühlte sich komisch an. Ich war es nicht gewohnt, meinen Schulranzen vorzubereiten. Normalerweise stellte ich ihn einfach in mein Zimmer, wenn ich nach Hause kam, und nahm ihn am nächsten Morgen wieder so mit.
Annette fragte sanft: „Wie hast du das denn bisher gemacht?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hab ihn einfach jeden Tag mit in die Schule genommen. Da musste man doch nichts vorbereiten.“
Annette nickte verständnisvoll. „So sollte es aber nicht sein. Ab jetzt schauen wir uns jeden Tag an, was du für Hausaufgaben hast, was auf deinem Stundenplan steht und ob du etwas Besonderes für den nächsten Tag brauchst.“
Dann wurde sie ein bisschen ernster und sagte vorsichtig: „Außerdem müssen wir noch über die Windeln in der Schule reden.“
Bei diesen Worten zog sich mein Bauch zusammen. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich aus. Ich spürte, wie meine Hände wieder feucht wurden und ich am liebsten woanders wäre.
Annette bemerkte das sofort. „Ich werde mit deiner Lehrerin sprechen“, sagte sie sanft. „Du kannst dich jederzeit an sie wenden, wenn etwas ist. Sie bekommt auch meine Telefonnummer, damit sie mich anrufen kann, wenn es dir nicht gut geht. Dann komme ich sofort zu dir, okay?“
Ich nickte zögerlich. Das gab mir ein kleines bisschen Sicherheit.
„Wir packen eine blickdichte Tüte mit einer frischen Pull-up-Windel in deinen Schulranzen“, erklärte sie weiter. „Und ich möchte auch Wechselkleidung in der Schule deponieren. Bei Paul macht seine Mama das genauso.“
Ich schaute sie fragend an. „Was ist eine Pull-up-Windel?“
„Das sind die hochziehbaren Windeln, die du bei Diana getragen hast“, erklärte sie. „Das ist nur ein anderer Begriff.“
Ich zog eine kleine Grimasse. „Die mag ich nicht. Die rutschen immer.“
Annette schaute mich überrascht an. „Magst du lieber die Windeln zum Kleben?“
Ich nickte sofort. „Ja, die sind besser. Die rutschen nicht.“
„Das verstehe ich“, sagte sie mit einem sanften Lächeln. „Wenn die Windel rutscht, fühlt man sich ja auch nicht sicher. Dann machen wir morgens eine zum Kleben dran, und die Pull-up-Windel packen wir für den Notfall in deinen Schulranzen. Die kannst du nämlich leichter selbst anziehen.“
Dann schlug sie vor: „Vielleicht üben wir ja mal zusammen, wie du dir die Klebewindeln selbst anziehen kannst. Was meinst du?“
Ich nickte wieder. Irgendwie war es beruhigend zu wissen, dass sie alles so gut plante und mich nicht allein ließ.
„Was möchtest du morgen auf dein Pausenbrot – lieber Wurst oder Käse?“ fragte Annette und schaute mich freundlich an. Ich sah sie überrascht an. „Ich esse in der Schule doch nur Mittag.“
Annette nickte verständnisvoll. „Ich weiß, dass es bisher so war. Das Mittagessen bekommst du natürlich weiterhin, aber du solltest morgens auch etwas Kleines frühstücken. So kannst du dich besser auf den Unterricht konzentrieren.“ Sie lächelte aufmunternd. „Wollen wir es für morgen mit einem Wurstbrot versuchen?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Okay“, murmelte ich.
„Gut, Florian, dann hole ich schnell deinen vorläufigen Schulranzen“, sagte Annette und verließ das Zimmer.
Vorläufig? dachte ich. Was meinte sie damit? Mein Blick fiel auf den Teppich mit den Straßenmustern, und ich spürte, wie mir Fragen durch den Kopf schossen. Muss ich jetzt jeden Tag Hausaufgaben machen? Der Gedanke gefiel mir gar nicht. In der Schule konnte ich Paul fragen, wenn ich etwas nicht verstanden hatte. Oder Frau Siegel, besonders in Deutsch oder Sachkunde. Aber Hausaufgaben zu Hause? Das hatte ich ein paar Mal versucht, aber meine Lösungen waren meistens falsch. Schließlich hatte ich es aufgegeben und nur noch die Aufgaben gelesen, ohne wirklich zu verstehen, was ich tun sollte.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Ich wollte alles richtig machen, aber was, wenn ich das nicht schaffte? Annette wollte doch, dass ich mich anstrenge. Was, wenn ich sie enttäuschte? Ich drückte Pandi an mich und hoffte, dass alles gut gehen würde.
Annette kam mit einem Schulranzen zurück ins Zimmer. „Der hier ist von Sebastian. Ich weiß, dass er nicht mehr ganz zeitgemäß ist, aber wir kaufen dir bald zusammen einen neuen.“
Ich schaute auf den Schulranzen und sah die Dinosaurier darauf. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer vor Freude. „Da sind ja Dinos drauf!“ Ich zeigte sofort auf einen großen grünen Dinosaurier mit scharfen Zähnen und sagte: „Das ist ein Tyrannosaurus Rex!“ Dann wanderte mein Finger weiter zu einem anderen Dino. „Das ist ein Triceratops.“ Ich machte das mit allen Dinosauriern, die ich auf dem Schulranzen sehen konnte. Meine Stimme zitterte vor Aufregung, und mein Stolz wuchs mit jedem richtig benannten Dino.
Annette schaute mich erstaunt an. „Woher kennst du denn die ganzen Dinosaurier?“
„Aus dem Kindergarten“, erklärte ich. „Da gab es zwei Dino-Bücher. Die habe ich mir immer von den Erzieherinnen vorlesen lassen.“
Annette lächelte. „Das ist ja schön! Magst du Dinosaurier?“
Ich nickte eifrig. „Ja, die sind groß und stark. Die kann keiner ärgern!“
Annette lachte leise und strich mir über den Kopf. „Na, dann passt dieser Schulranzen ja perfekt zu dir.“
Annette machte den Schulranzen auf und sagte: „Komm, wir gehen mal zu deinem Schreibtisch.“ Ich folgte ihr und sah zu, wie sie eine Schublade öffnete und eine Federmappe herausholte. Sie legte sie vorsichtig auf den Tisch und öffnete den Reißverschluss. Die Federmappe war voll mit Stiften, ein Lineal und einem kleinen Anspitzer.
„Schau mal, Florian“, sagte sie lächelnd. „Hier ist erstmal alles drin, was du brauchst. Buntstifte, Bleistifte, ein Lineal und sogar ein Füller.”
Die Federmappe sieht genauso aus wie die von Paul. Dachte ich mir.
Annette legte sanft ihre Hand auf meine Schulter. „Wichtig ist, dass du mir immer rechtzeitig Bescheid sagst, wenn du etwas Besonderes für die Schule brauchst oder wenn dir etwas fehlt, ja?“
Ich nickte leise. Es war schön zu wissen, dass sie sich darum kümmerte und dass ich nicht alles alleine schaffen musste. Ich schaute die Federmappe noch einmal an und schloss sie vorsichtig wieder. Es fühlte sich gut an, vorbereitet zu sein.
„Also, morgen hast du in der ersten und zweiten Stunde Deutsch, danach Mathe und zum Schluss Sachkunde“, erklärte Annette mir geduldig. „Wir packen dann morgen alles, was du für diese Fächer brauchst, aus deinem alten Rucksack um. Den Rest nehme ich anschließend mit nach Hause.“
Ich nickte langsam, während ich Pandi an mich drückte. „Und wenn der Schultag morgen vorbei ist, fahren wir zusammen einkaufen“, fuhr Annette fort. „In Ordnung?“
Einkaufen. Dabei merkte ich, dass ich noch nie wirklich in einem Geschäft war. Ich war zwar schon an manchen Läden vorbeigelaufen, auf dem Weg zur Schule, aber hineinzugehen hatte ich mich nie getraut – und Geld hatte ich ja auch nicht. Wie das wohl wird?
Annette lächelte leicht, als könnte sie meine Gedanken lesen. „Es gibt da nämlich ein paar Dinge, die wir für dich besorgen müssen. Aber für heute reicht’s. Jetzt wird es erstmal Zeit, dass du dich Bett fertig machst.“
Ich sah mich kurz in meinem Zimmer um. Alles fühlte sich so neu und ungewohnt an. Trotzdem war da ein kleines Kribbeln in meinem Bauch – ob vom morgigen Schultag oder vom Gedanken an den ersten gemeinsamen Einkauf, konnte ich nicht sagen. Aber ich war mir sicher, dass Annette mich nicht alleine ließ.
Annette nahm mich an die Hand, und wir gingen zusammen ins Badezimmer. Sie stellte einen kleinen Hocker vor das Waschbecken – der sah fast so aus wie der in der Küche, klein und grau mit weißen Punkten drauf, damit man nicht wegrutscht. „Stell dich mal darauf“, sagte sie freundlich. Ich kletterte darauf und merkte schnell, dass ich trotzdem nicht an den Schrank herankam, der über dem Waschbecken war.
„Oh“, meinte Annette und lachte leise, „du kommst ja trotz Hocker nicht ran. Dann stelle ich dir deine Zahnbürste hier auf die Ablage, genauso wie die Zahncreme.“
Ich schaute mir die Zahnbürste an. Sie sah ganz anders aus als die, die ich bei Diana oder früher zu Hause benutzt hatte. Der Bürstenkopf war rund, und der Griff viel dicker. Annette nahm die Zahncreme zur Hand, öffnete die Tube und machte einen kleinen Klecks auf die Bürste.
„Wir können da auch noch Aufkleber draufmachen, wenn du möchtest“, schlug sie vor. „Und ich habe sie schon geladen. Wenn sie alle ist, sagst du mir einfach Bescheid.“
„Alle?“ fragte ich verwirrt.
„Ja, wenn der Akku leer ist“, erklärte Annette sanft.
Ich nickte, auch wenn ich nicht genau wusste, wie das mit dem Akku funktionierte. Aber ich hatte keine Lust, länger nachzufragen. Dann steckte ich die Bürste in den Mund und begann zu putzen. Ziemlich schnell spürte ich, dass es sich anders anfühlte, und ich musste mich etwas anstrengen.
Nach einem Moment sagte Annette: „Du musst sie aber auch einschalten.“
Ich nahm die Zahnbürste wieder aus dem Mund und sah sie fragend an. Sie lächelte, nahm mir die Bürste aus der Hand und sagte: „Mach mal deinen Mund auf.“ Dann hielt sie die Zahnbürste hinein und drückte einen Knopf. Plötzlich machte die Zahnbürste ein surrendes Geräusch, und der Bürstenkopf drehte sich auf meinen Zähnen. Das kitzelte ein bisschen, fühlte sich aber interessant an.
Vorsichtig übernahm ich die Zahnbürste wieder. Annette lächelte ermutigend: „Mach es Zahn für Zahn, immer schön von oben nach unten. Die Zahnbürste geht nach zwei Minuten von allein aus. Wenn du dann noch nicht alle Zähne geschafft hast, drückst du sie einfach nochmal an.“
Ich versuchte, alles so zu machen, wie sie sagte. Eigentlich mochte ich Zähneputzen nicht, aber so war es irgendwie spannend und neu. Zwischendurch sagte Annette, das ich dass morgens und abends machen soll, damit ich keine „schwarzen Löcher“ in den Zähnen bekomme. Ich vermutete, dass sie Karies meinte, aber in meinem Kopf klang „schwarze Löcher“ ziemlich unheimlich – also war es wohl besser, wenn ich mir Mühe gab.
Annette strich mir noch einmal kurz über den Kopf. „Ich hole dir schnell deine Schlafsachen. Bin gleich wieder da.“ Dann ließ sie mich allein im Bad.
Ich war gerade beim letzten Zahn, als die Zahnbürste plötzlich ausging. Erschrocken nahm ich sie aus dem Mund und spuckte den Rest der Zahncreme ins Waschbecken. Dann spülte ich meinen Mund mit etwas Wasser.
In diesem Moment kam Annette zurück ins Badezimmer. Sie lächelte mich an und legte einen Schlafanzug auf den kleinen Schrank neben der Tür. „Du kannst die Zahnbürste kurz abspülen und mit einem Handtuch ein bisschen abtrocknen, bevor du sie zurückstellst“, meinte sie.
Ich tat, was sie sagte: Hielt die Bürste unter den Wasserstrahl und rieb sie vorsichtig trocken. Dann stellte ich sie an ihren Platz.
Annette deutete auf eine Flasche in der Dusche. „Hier unten steht deine Seife, die mit dem Fußball drauf. Geh schnell duschen, dann komm ich gleich wieder zum Haare Föhnen. Dein Handtuch ist das unterste da drüben.“
Ich nickte und begann, meine Kleidung auszuziehen. Behutsam legte ich jedes Teil in den Wäschekorb, den Annette mir vorhin beim Rundgang gezeigt hatte. Als ich dabei die Windel herunterzog, merkte ich, dass sie schon wieder nass war, wenn auch nicht sehr. Kurz überkam mich ein unangenehmes Gefühl, aber ich versuchte, es schnell zu vergessen. Ich rollte die Windel ordentlich zusammen und warf sie in den extra dafür vorgesehenen Eimer neben der Tür.
Als ich unter den warmen Wasserstrahl trat, merkte ich, wie die Anspannung des Tages ein wenig von mir abfiel. Die Seife roch angenehm und ließ mich für einen kurzen Moment alles vergessen.
Nach dem Duschen griff ich nach dem Handtuch. Es war herrlich weich und, zu meiner Überraschung, sogar ein bisschen warm. Genau in diesem Augenblick kam Annette wieder herein. Ich zuckte kurz zusammen, aber sie lächelte nur und sagte nichts, während ich mich abtrocknete. Irgendwie fühlte es sich gut an, dass sie da war – bereit, mir zu helfen, wenn ich es brauchte, ohne mich zu drängen, wenn ich es nicht wollte.
Sie reichte mir die Schlafanzughose, die sich herrlich weich anfühlte. Danach hielt sie mir das Oberteil so hin, dass ich nur noch hineinschlüpfen musste. Einerseits genoss ich ihre Hilfe – es war angenehm und beruhigend, dass sie sich um mich kümmerte. Andererseits fühlte ich mich ein bisschen wie ein kleines Kind, das nicht allein klarkam. Ich war doch schon groß, konnte ich das nicht alleine?
Während ich noch darüber grübelte, ob es gut oder schlecht war, dass Annette mir beim Umziehen half, wurde mir bewusst, wie dankbar ich ihr eigentlich war. Ich mochte sie wirklich sehr. Sie nannte mich lächelnd „kleiner Pirat“, und bei diesem Wort musste ich unwillkürlich schmunzeln. Dann fügte sie hinzu: „Jetzt machen wir dir im Bett noch die Windel dran und lesen eine Gute-Nacht-Geschichte.“
Bevor sie mich jedoch zum Bett führte, nahm sie einen Föhn aus dem kleinen Badezimmer Regal. „Ich glaube, wir müssen dir noch schnell die Haare föhnen“, sagte sie sanft und deutete auf mein klammes Haar. „Setz dich mal hier auf den Hocker, dann geht das ganz fix.“
Ich ließ mich auf den kleinen Hocker sinken, und sie schaltete den Föhn ein. Warme Luft umhüllte meinen Kopf, und ich spürte, wie sich meine Haare zwischen ihren Fingern hin- und her bewegten. „Du hast wirklich schöne Haare, Florian“, meinte Annette lächelnd, während sie sanft in meinem Haar wuschelte. „Aber ich glaube, wir müssen demnächst mal einen Friseur-Termin für dich vereinbaren. Die sind schon ein bisschen lang, oder findest du nicht?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht ein bisschen.“
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie aufmunternd. „Du darfst dir ruhig aussuchen, wie du sie haben möchtest. Wir finden bestimmt eine Frisur, die dir gefällt.“ Damit schaltete sie den Föhn ab und fuhr mir noch einmal mit den Fingern durch die Haare. „So, das sieht doch schon besser aus.“
Sie nahm mich sanft an die Hand und führte mich hinüber zu meinem neuen Bett. Alles fühlte sich so seltsam und doch so schön an. Ein richtiges Bett, ein Schlafanzug, den sie mir extra ausgesucht hatte, und gleich noch eine Gute-Nacht-Geschichte. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, Hilfe zu bekommen – zumindest nicht von Annette.
Im Bett nahm Annette eine Windel aus der Schublade neben mir. „Zieh bitte mal deine Hose herunter“, sagte sie sanft, während sie die Windel auseinander faltete. „Hier an der Seite sind die Bündchen – die müssen immer gelöst sein, damit sie nicht ausläuft. Dann legst du sie so unter dich, bis du das Gefühl hast, dass sie sich gut verschließen lässt. Und beim Zumachen achtest du darauf, dass sie nicht zu locker, aber auch nicht zu fest sitzt.“
Sie reichte mir die Windel und sah mich aufmunternd an. Ich schluckte und nahm sie vorsichtig entgegen. Ich fühlte mich unsicher, weil ich es noch nie allein versucht hatte. Trotzdem legte ich die Windel unter mich.
„Hm, du musst sie nochmal drehen, die Klebestreifen müssen nach hinten“, korrigierte Annette. Ich musste die Windel mehrfach neu ausrichten, bevor ich das Gefühl hatte, sie könnte richtig sitzen. Mein Herz klopfte schneller, als ich mit zitternden Händen den ersten Klebestreifen löste. Die Angst, etwas falsch zu machen, saß mir im Nacken.
Doch Annette lächelte aufmunternd. „Keine Sorge, du kannst sie so oft lösen und wieder verschließen, wie du möchtest.“
Langsam klebte ich den ersten Streifen fest, dann den zweiten. Ich schaute unsicher zu Annette hinüber, um zu prüfen, ob ich alles richtig gemacht hatte.
„Für den Anfang nicht schlecht“, lobte sie mich sanft. Dann löste sie beide Klebestreifen noch einmal nacheinander und klebte sie etwas fester zusammen. „Das üben wir noch ein paar Mal, aber das kannst du bestimmt bald ganz alleine“, sagte sie lächelnd.
Ihre ruhige Art und ihr Vertrauen in mich beruhigten mich ein wenig. Vielleicht war es doch nicht so schwer, wenn Annette mir dabei half.
Annette:
„So, stell dich nochmal hin“, bat ich ihn sanft. „Ich muss nur noch schauen, dass die Windel richtig sitzt, damit sie heute Nacht nicht ausläuft.“ Vorsichtig richtete ich die Windel zurecht und zog meinem kleinen Schützling die Schlafanzughose drüber. Während ich das tat, spürte ich dieses warme, beschützende Gefühl, das ich schon kannte, aber nun viel intensiver erlebte.
Als wir uns entschieden hatten, ein Pflegekind aufzunehmen, war ich davon ausgegangen, dass es ein Kind im Schulalter sein würde. Dass ich plötzlich wieder mit Windeln zu tun haben würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber Florian ist etwas ganz Besonderes, und seltsamerweise macht es mir sogar Freude, mich noch einmal so intensiv um jemanden zu kümmern.
Bei Sebastian war es damals auch schön – ich erinnere mich gern an unsere ersten Jahre. Doch wir waren jung und unerfahren. Oft hatte ich das Gefühl, das alles nur irgendwie zu „funktionieren hatte“, ohne die Momente richtig auszukosten. Jetzt, mit Florian, erlebe ich das anders. Wenn ich in seine großen, staunenden Augen schaue, wird mir ganz warm ums Herz. Es fühlt sich einfach so richtig an, dass er jetzt bei uns ist.
Natürlich weiß ich, dass Florian selbst lernen muss, mit seinem Handicap umzugehen. Aber gleichzeitig wünsche ich mir, ihm jeden Stein aus dem Weg zu räumen, damit er einfach unbeschwert Kind sein kann. Ihm jetzt die Windel anzulegen und zu sehen, wie er sich dabei immer ein Stückchen sicherer fühlt, gibt mir das Gefühl, wirklich etwas Gutes zu tun – für ihn und ein bisschen auch für mich selbst.
„So, jetzt lesen wir noch eine Geschichte.“ Ich strich Florian sanft über den Kopf und nahm ein Buch aus dem Regal. Es war eines von Sebastians alten Kinderbüchern, das ich vor Kurzem in Florians Zimmer gestellt hatte. Bisher hatte ich ein gutes Gefühl dabei, dass Florian nun die alten Dinge seines „großen Bruders“ benutzt – er geht so sorgsam mit seinen Sachen um, dass ich mir keinerlei Sorgen machen muss.
Ich setzte mich ans Bett, und Florian kuschelte sich vorsichtig zu mir, Pandi fest im Arm. Das Buch handelte von Dinosauriern; auf dem Cover war ein niedlicher, langer Hals zu sehen. „Littlefoot“, stand in bunten Buchstaben drauf. Ich schlug die erste Seite auf und begann vorzulesen:
„Vor langer Zeit, als die Erde noch jung war und die großen Saurier die Welt beherrschten, wurde ein kleiner Langhals-Saurier geboren. Seine Mutter nannte ihn Littlefoot…“
Als ich weiter las, bemerkte ich, wie Florians Augen immer wieder zu vielen. Seine Hand, die eben noch Pandi festhielt, lockerte sich. Ich sah außerdem, dass er plötzlich seinen Daumen im Mund hatte – wohl ganz automatisch. Kurz überlegte ich, ob ich ihn gegen seinen Nuckel austauschen sollte, damit er bequemer einschlief. Aber dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte ihn nicht wecken. Dafür nahm ich mir fest vor, ihm den Nuckel morgen schon zum Einschlafen anzubieten, damit er sich daran gewöhnen konnte.
Ich klappte das Buch leise zu, als er endgültig wegsackte. Behutsam deckte ich ihn zu. Dabei fiel mir auf, wie friedlich sein Gesicht im warmen Licht aussah. „Gute Nacht, kleiner Pirat“, flüsterte ich, während ich eine Hand vorsichtig an seine Wange legte.
Zum Abschied strich ich ihm noch einmal zärtlich über die Wange. Er rührte sich nicht mehr; er war tief eingeschlummert. Vorsichtig stand ich auf und verließ das Zimmer. Die Tür ließ ich einen Spalt weit offen, damit er, falls er doch aufwachte, keine Angst bekam.
Fortsetzung folgt….
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Die Geschichte ixt so schön ich freue mich so für Florian das hat er so verdient mit Anette hat er die beste Mami die er sich wünschen kann und mit Markus klappt das auch noch Danke
Die Ängste, die Zweifel und auch die Freude aller Beteiligten sind hier phänomenal beschrieben. Hier kann ich viele Vergleiche mit der eigenen Kindheit machen, aber auch die Wünsche und Hoffnungen.
Danke
Es wird immer schöner
Danke
Und ein schönes neues Jahr
Richtig gut geschrieben, ich hoffe das der kleine sehr schnell Vertrauen in Markus bekommt und sich traut, daß er mit dem Traktor mitfahren möchte. Vorher soll er Paul Stolz den Hof zeigen