Florians Schatten (14)
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Ich werde ganz sanft wach, weil etwas Warmes und Weiches meine Haare berührt. Langsam öffne ich die Augen und spüre, wie mir Annette liebevoll über den Kopf streichelt. Ein kleines Licht brennt, es ist nicht so hell, dass es mich blendet, aber gerade genug, damit ich alles um mich herum erkennen kann. Mein ganzer Körper fühlt sich noch müde und schwer an. Ich habe in der Nacht kaum richtig geschlafen. Eigentlich war ich so aufgeregt, weil heute ein ganz besonderer Tag ist – mein erster Schultag von hier aus. Gleichzeitig habe ich aber auch Angst davor. Was, wenn etwas schief läuft?
Annette lächelt mich an, ihre Hand gleitet weiter über mein Haar, und sie sagt leise: „Guten Morgen, Florian. Aufwachen, mein Schatz.“ Ihre Stimme klingt so beruhigend, dass ich fast wieder einschlummern möchte. Aber ich raffe mich auf, richte mich ein wenig auf, während ich noch die Bettdecke fest umklammere.
Sie scheint zu merken, wie träge ich bin, denn sie nimmt mich vorsichtig auf den Arm. Ich bin zu müde, um mich dagegen zu wehren, und irgendwie tut es gut, mich an sie zu kuscheln. Als sie mich hochnimmt, spüre ich die nasse Windel an meinem Hintern. Ein leises Unbehagen huscht durch mich. Trotzdem halte ich mich mit den Armen an ihrem Hals fest. Annette verlässt mein Zimmer, in dem immer noch das kleine Licht brennt, und trägt mich in Richtung Küche.
Auf dem Weg nach unten streichelt sie mir sanft über den Rücken. Ich schmiege mich an sie und lasse mich einfach tragen. Meine Augen brennen noch vom wenigen Schlaf. Irgendwo in meinem Kopf denke ich: So war das früher nie.
In der Küche setzt Annette mich vorsichtig auf einen Stuhl. Mein Blick fällt sofort auf eine kleine Schüssel mit Cornflakes und einen Becher Kakao. „Iss erstmal deine Cornflakes und trink deinen Kakao, damit du genug Energie für den Tag hast“, sagt sie freundlich. Sie stellt noch einen Teller mit Apfel stücken neben die Schüssel. „Ein paar Vitamine sind auch wichtig.“
Ich blinzle. Vitamine? Das klingt ungewohnt. Ich bin noch nie so in einen Schultag gestartet. Für einen Moment fühle ich mich etwas überfordert. Wo ist Pandi? Der liegt bestimmt noch in meinem Bett. Sonst hatte ich immer etwas Wasser getrunken, wenn überhaupt. Aber hier soll ich richtig frühstücken?
Langsam nicke ich. Die Müdigkeit sitzt immer noch in meinem Körper. Also nehme ich erstmal einen Schluck von dem Kakao, den sie mir hingestellt hat. Der schmeckt kräftig und warm, und ein bisschen scheint er meine Müdigkeit zu vertreiben. Dann greife ich nach einem Stück Apfel. Er ist knackig und süß. Gar nicht übel, denke ich. Schließlich schiebe ich mir ein paar Löffel Cornflakes in den Mund. Das Knirschen im Mund und die kühle Milch machen mich ein wenig wacher.
Annette beobachtet mich einen Moment, bevor sie mir noch mal über den Kopf streicht. Ich fühlt mich ein bisschen wohler, auch wenn mir immer noch leicht schwindelig ist vor Aufregung. Heute geht es in die Schule – aber von hier aus, mit Annette im Rücken. Ein Teil von mir genießt diese neue Nähe, auch wenn alles noch so ungewohnt ist. Ich atme einmal tief durch und versuche, mich an die neue Situation zu gewöhnen.
Nach der Hälfte meiner Cornflakes lege ich den Löffel beiseite und schaute zu Annette, die gerade eine gelbe Dose aus dem Kühlschrank holte und sie neben eine Trinkflasche stellte. „Schon satt?“ fragte sie mich. Ich nickte langsam, noch etwas müde. „Trink bitte deinen Kakao aus. Den Rest kannst du stehen lassen, okay?“ Ich nickte erneut und nahm den Becher in beide Hände, um ihn leer zu trinken.
Als ich fertig war, stand ich auf und ging die Treppe hinauf. Annette folgte mir ins Badezimmer. „Putz dir schnell die Zähne“, sagte sie sanft, „und wenn du die Windel abgemacht hast, kannst du gerne noch mal versuchen, auf die Toilette zu gehen. Nimm dann bitte einen Waschlappen und mach dich untenrum noch ein bisschen sauber. Ich warte in deinem Zimmer auf dich.“
Ich seufzte leise, weil das alles so neu für mich war – die Fürsorge, das sie ständig an alles dachte. Dennoch tat ich, was sie sagte. Nach dem Zähneputzen zog ich meine Schlafanzughose herunter und öffnete die Windel. Sie war ziemlich voll. Ich rollte sie zusammen und warf sie in den Eimer, der extra für meine Windeln im Badezimmer stand. Die Toilette ließ ich aus. Ich hatte einfach keine Lust und wusste nicht, ob wirklich noch etwas kam.
Mit einem Waschlappen und etwas Seife wischte ich mir den Windelbereich gründlich ab. Das warme Wasser half mir, die letzte Müdigkeit zu vertreiben. Anschließend trocknete ich mich ab und zog die Schlafanzughose wieder an, bevor ich zurück in mein Zimmer lief.
Dort stellte Annette gerade meinen Dino-Schulranzen zur Tür. „Ah, da bist du ja schon“, meinte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Zieh deine Sachen aus und leg dich aufs Bett. Ich möchte dir die Windel anziehen.“ Ich spürte wieder dieses Gefühl von Scham, aber auch eine Art Sicherheit. Also zog ich die Hose wieder herunter und legte mich hin. Annette nahm eine Windel auf der ich das Wort „Pampers“ und ein kleines Krokodil erkannte aus der Schublade.
„Die halten ein bisschen mehr“, erklärte sie. In deinem Schulranzen ist, wie versprochen, eine Pull-up-Windel in einem schwarzen Beutel, für den Fall der Fälle.“
Als sie die Windel unter meinen Po schob und die Klebestreifen festzog, merkte ich, dass sie wirklich ein wenig dünner war als die Windeln, die ich sonst kannte – aber sie saß gut. Ich fühlte mich einigermaßen sicher damit.
Nachdem sie fertig war, half Annette mir beim Anziehen einer Latzhose. „So kann man die Windel nicht gleich sehen, wenn du dich bückst“, erklärte sie. Es klang logisch, trotzdem war es ungewohnt, so viel Hilfe zu bekommen. Doch Annette war die ganze Zeit ruhig und liebevoll, und das machte die Situation leichter.
„So, jetzt müssen wir nur noch deine Schuhe und Jacke anziehen, dann bist du fertig“, sagte sie.
Ich lächelte sie an, irgendwie dankbar. „Danke“, murmelte ich.
„Gerne, mein Schatz“, antwortete sie. Dann gingen wir zusammen ins Erdgeschoss.
Unten im Flur half sie mir erst beim Jacke anziehen, während ich mir meine Schuhe selbst nahm. Es fühlte sich gut an, zumindest die Schuhe alleine anziehen zu können. Als wir nach draußen traten, schlug mir die kalte Luft ins Gesicht. Der Hof war von dicker Schneeschicht bedeckt, und es schneite immer noch. Der große grüne Traktor, an dem Markus gestern gearbeitet hatte, war in Bewegung: Er schob mit einem riesigen Schneeschild den Schnee beiseite.
„Ist das Markus?“ fragte ich leise.
„Ja, er macht uns den Weg bis zur Straße frei“, antwortete Annette sanft.
Kurz darauf öffnete sie die Schiebetür des großen Autos. Darin war nun eine kleine Sitz erhöhung auf dem Rücksitz. Annette hob mich hinein, und ich schnallte mich selbst an. Ich spürte wieder ein komisches Kribbeln im Bauch – ich war es nicht gewohnt, so herumkutschiert zu werden.
„Wir kaufen heute Nachmittag einen richtigen Kindersitz. Das hier ist nur eine Notlösung“, sagte Annette, während sie mir die Mütze vom Kopf nahm. „Zieh bitte auch den Schal aus und öffne deine Jacke. Hier ist es schon recht warm drin.“
Tatsächlich war die Heizung im Auto an, und eine angenehme Wärme umgab mich. Ich öffnete meine Jacke und legte den Schal auf den Sitz neben mir. Annette setzte sich ans Steuer, schnallte sich an und startete den Motor.
Als wir vom Hof fuhren, befreite Markus gerade den Zufahrtsweg. Ich sah kurz zu ihm, aber er war mit dem Traktor beschäftigt und winkte uns nur flüchtig zu. Draußen war es immer noch dunkel, und die dichten Schneeflocken tanzten im Scheinwerferlicht.
Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück und betrachtete die Landschaft. Weiße Felder, Bäume mit schweren Schnee lasten, und hin und wieder ein Licht in der Ferne. Annette fuhr vorsichtig auf der verschneiten Straße, während die Heizung ein leises Summen von sich gab.
Meine Gedanken kreisten um den heutigen Tag. Wie wird es in der Schule? Was, wenn jemand merkt, dass ich Windeln trage? Mir fiel Richard ein, der es immer auf mich abgesehen hatte. Und Zwenja, die ständig Sprüche riss. Was, wenn sie mich auslachen? Gleichzeitig war da das Herzklopfen vor Freude – ich würde Paul sehen, und das war das Beste überhaupt.
Aber eine Frage nagte in meinem Kopf: Würde Annette mich wirklich nachher wieder abholen? Was, wenn sie es vergisst oder es sich anders überlegt und ich dann zurück in mein altes Zuhause muss? Ich schluckte. Gestern hatte sie mir geschworen, mich immer abzuholen. Ich wollte so gerne daran glauben, doch die Angst wollte nicht ganz verschwinden.
Die Welt draußen wirkte schlafend und kalt, doch in Annette’s Auto war es warm und gemütlich. Ich schmiegte mich an die Rückenlehne und spürte das leichte Rumpeln, wenn wir durch eine Schneeverwehung fuhren.
Nach etwa einer halben Stunde tauchten immer mehr Lichter auf, die Straßen wurden breiter, und ich erkannte einen größeren Ort – wahrscheinlich Hof. Annette bog in ein Stadtgebiet ein, wo die Schneeräumfahrzeuge ihre Spuren hinterlassen hatten. Endlich wurde es etwas heller, und die ersten Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit, dick eingepackt gegen die Kälte.
„Gleich sind wir da, Florian“, sagte Annette. Ihre Stimme war freundlich und hatte etwas Beruhigendes.
Ich versuchte, tief durchzuatmen, und hielt Pandi, den ich noch kurz vorm Losfahren geschnappt hatte, fest im Arm. Als wir um eine Ecke bogen, sah ich das Schulgebäude, das mir so vertraut war. Es ist noch früh, aber bald würde sich alles wieder so anfühlen wie vor ein paar Tagen – oder auch nicht, dachte ich. Denn jetzt, da ich eine neue Familie hatte, war doch alles anders.
Annette hielt auf dem Parkplatz vor dem Schultor. „Wir sind da, mein Schatz“, sagte sie. Ich nickte stumm und versuchte, meine Unsicherheit nicht zu zeigen. Die Angst saß tief, aber mit Annette an meiner Seite hoffte ich, diesen Tag zu meistern.
Nachdem ich mich abgeschnallt hatte, drückte Annette auf eine Taste, und meine Tür glitt von allein auf. Ich war kurz davor, aus dem Auto zu springen, als Annette, die ebenfalls ausstieg, mich zurückrief: „Warte, erst Jacke zumachen, Mütze und Schal anziehen!“ Ich gehorchte und machte alles zu, obwohl ich es eilig hatte. Erst als ich fertig war, ließ sie mich aussteigen.
Draußen war es immer noch eisig und überall lag Schnee. Auf dem Schulhof waren schon einige Kinder zu sehen, aber von hier aus erkannte ich niemanden. Annette reichte mir meinen Dino-Schulranzen. „Dein Pandi lassen wir besser im Auto, oder?“ Kurz überlegte ich. Ich wollte Pandi eigentlich dabeihaben, aber dann nickte ich. Also legte ich ihn zurück auf meinen Sitz. „Er wartet hier auf dich“, sagte Annette und schloss die Tür.
Hand in Hand gingen wir in Richtung Schulgebäude. Der Weg war noch frisch geräumt. Auf dem Schulhof bemerkte ich plötzlich Richard, der Schneebälle gegen andere Kinder warf. Er lachte laut, als würde ihm das einen Riesenspaß machen. Ich zog Annette dichter an mich und hoffte, dass Richard mich nicht sieht. Zum Glück war er zu beschäftigt.
Im Schulhaus war es warm. Frau Peters stand gleich hinter der Eingangstür und begrüßte uns mit einem freundlichen Lächeln. In ihrer Hand trug sie meinen alten, zerfledderten Schulranzen von zu Hause. Annette grüßte sie ebenfalls. „Die sieht ja wirklich mitgenommen aus, die Schultasche“, meinte Annette. Frau Peters nickte. „Ja, aber jetzt hat Florian ja diesen tollen Dino-Ranzen.“ Ich wurde ganz stolz und Annette sagte: „Der ist noch von Sebastian, aber wir kaufen heute Nachmittag einen neuen.“
„Dann gehen wir ins Büro des Schulsozialarbeiters“, schlug Frau Peters vor. „Wir werden schon erwartet. Ich habe schon mit Herrn Müller und Frau Siegel gesprochen.“ Wir liefen den Flur entlang, vorbei an meinem Klassenzimmer. Die Tür war noch geschlossen, aber ich sah Felix und Bennett davor warten. Sie ließen mich zwar meistens in Ruhe, aber wirklich befreundet waren wir nicht.
Im Büro von Herrn Müller saß schon meine Klassenlehrerin, Frau Siegel. Sie lächelte mich an: „Hallo Florian, schön, dass du wieder da bist.“ Daneben stand Herr Müller, der Schulsozialarbeiter. Er reichte Annette die Hand und stellte sich vor, während Frau Siegel sich auch noch mal mit Annette bekannt machte. Nehmt Platz sagte er. Dann sprach Herr Müller mich direkt an: „Hallo Florian, wie geht’s dir?“ Ich sagte nichts, sondern rutschte einfach näher an Annette heran, die mich hochhob und auf ihren Schoß nahm. Herr Müller schien das zu verstehen und lächelte nur.
Frau Peters ergriff das Wort. „Ich habe Frau Siegel und Herrn Müller schon über das Wichtigste informiert. Die Direktorin, Frau Fuchs, ist heute leider nicht im Haus.“
Annette nickte. „Das heißt, die Windel thematik ist schon bekannt?“ Mir wurde plötzlich ganz heiß vor Scham. Ich ließ meinen Blick schnell auf den Boden sinken.
Frau Siegel sah mich freundlich an. „Ja, Florian. Wenn du Hilfe brauchst oder irgendwas ist, kommst du einfach zu mir, in Ordnung?“ Dann wandte sie sich an Annette. „Wechselsachen und Ersatz Windeln können Sie gerne hier in Herrn Müllers Büro deponieren.“ Sie öffnete einen Schrank und holte eine graue Kiste hervor, im Schrank befanden sich bereits einige andere Kisten. Auf einer stand groß „Paul M.“, was mich neugierig machte. „Dort packen wir einfach Florians Sachen rein, ja?“
Annette nickte und nahm einen Beutel zur Hand, den sie mitgebracht hatte. „Hier sind einmal Wechselsachen und ein paar Windeln für Florian. Außerdem meine Telefonnummer, falls etwas sein sollte.“ Frau Siegel legte alles in die graue Kiste und notierte die Nummer in einem kleinen Buch. „Super“, sagte sie.
„Wäre es möglich, einen Blick auf seine Noten zu werfen?“ fragte Annette dann.
Frau Siegel lächelte. „Er hat bisher noch keine richtigen Noten bekommen. Die gibt es erst in der zweiten Jahreshälfte. Trotzdem könnte er in allen Fächern ein wenig Unterstützung gebrauchen. Ich denke, er hat durchaus Chancen, seinen Rückstand aufzuholen, wenn er zu Hause etwas mehr Hilfe bekommt.“
Annette drückte mich etwas fester an sich. „Keine Sorge, Florian, ich werde dich wo ich kann unterstützen.“ Ich erwiderte ihren Blick, fühlte mich aber immer noch ein bisschen unsicher.
„Ich plane Anfang Februar einen Elternabend“, fuhr Frau Siegel fort. „Wenn Sie möchten, können wir am Freitag nach dem Unterricht schon mal einen Termin zu dritt ausmachen, da es bei Florian sicher ein paar Dinge zu besprechen gibt.“ Dann schaute sie zu mir. „Keine Sorge, du hast nichts ausgefressen. Ich glaube nur, je schneller du Unterstützung beim Lernen bekommst, desto leichter fällt es dir, im Unterricht mitzukommen.“
Ich versuchte, ein kleines Lächeln zu Stande zu bringen. Nichts ausgefressen. Das war schon mal beruhigend. Aber es stand mir trotzdem bevor, in eine Klasse zurückzukehren, in der ich schon vor meiner Abwesenheit nicht immer klargekommen war. Dennoch, mit Annette und Frau Siegel an meiner Seite, fühlte ich mich ein bisschen sicherer.
Annette sagte freundlich: „Gerne, ich werde Florian sowieso jeden Tag bringen und abholen, weil es von uns aus keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Schule gibt.“
Frau Siegel nahm daraufhin ein kleines Notizbuch zur Hand. „Also dann: Freitag, 12.30 Uhr, wir treffen uns im Klassenzimmer.“
„Okay, so machen wir es“, antwortete Annette lächelnd. „Dann können wir jetzt ins Klassenzimmer?“ fragte Frau Siegel und schaute mich dabei an.
Annette hob die Hand. „Einen kleinen Moment noch. Wir müssen erst noch schnell die Bücher aus seiner alten Schultasche umpacken.“
Frau Peters – die neben uns stand – öffnete meine alte Schultasche und begann, die Sachen heraus zu nehmen. Als Erstes zog sie meinen Anhänger hervor, den ich von Paul bekommen hatte. Ich griff sofort danach und steckte ihn in meine Jackentasche. „Den mache ich an die neue Schultasche“, sagte ich leise zu Annette, die mir zustimmend zu nickte.
Danach nahm Frau Peters meine Bücher und meine Federmappe heraus. Annette warf einen kurzen Blick auf meine Arbeitshefte und Lehrbücher und legte dann alles, was ich heute brauchte – Deutsch, Mathe und Sachkunde – in meinen Dino-Schulranzen. Der Rest wanderte zurück in meine alte Schultasche. „Die nehme ich mit nach Hause“, erklärte Annette, „und jetzt auf in die Klasse.“
Frau Peters verabschiedete sich von uns; sie blieb noch bei Herrn Müller. Frau Siegel ging voraus, während ich mit Annette an der Hand den Flur entlang lief. Am Klassenzimmer angekommen, begrüßten alle Kinder lautstark Frau Siegel, wurden aber schnell leise, als sie mich erblickten. Ich hörte ein paar geflüsterte Worte, die ich aber nicht verstand. Zum Glück kam in diesem Moment Paul auf mich zu und umarmte mich. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus – das war das Allerwichtigste für mich.
Die anderen Kinder gingen schon ins Klassenzimmer. Zum Schluss standen nur noch Paul, Annette und ich vor der Tür. Annette hockte sich hin, auf Augenhöhe mit mir, und legte ihre Arme um mich.
Mein Herz klopfte. Ich wollte mich noch mal vergewissern: „Kommst du mich nachher wirklich abholen?“ fragte ich mit einem Anflug von Unsicherheit in der Stimme.
Annette strich mir sanft über den Rücken. „Versprochen, mein Schatz. Dann sagte sie: „Viel Spaß heute in der Schule. Ich habe dich lieb.“
Ich war total überwältigt. Diese Worte hatte ich so nicht erwartet, und sie lösten ein freudiges Kribbeln in mir aus. „Ich hab dich auch lieb“, erwiderte ich leise.
Zum Abschied gab sie mir einen kleinen Klaps auf den Hintern. „Los jetzt, nicht dass deine Lehrerin schimpfen muss.“
Ich grinste kurz und ging dann mit Paul ins Klassenzimmer, immer noch ganz benommen von Annettes Worten. Sie hat gesagt, dass sie mich lieb hat. Das wiederholte ich immer wieder in meinem Kopf, während ich mich auf meinen Platz setzte, den neuen Dino-Schulranzen stolz neben mir.
Ich packte mein Deutschbuch und meine neue Federmappe auf den Tisch. In meinem Dino-Schulranzen entdeckte ich noch die gelbe Dose und die Trinkflasche, die Annette mir heute Morgen eingepackt hatte. Ein seltsames Gefühl von Geborgenheit stieg in mir auf – so etwas war ich nicht gewohnt.
Paul saß rechts neben mir und beugte sich neugierig zu meiner Federmappe herüber. Sie war recht neu und hatte einen blauen Rennwagen darauf, der sogar ein bisschen glänzte. Paul flüsterte: „Coole Federmappe.“ Ich konnte nicht anders, als bei seinem anerkennenden Blick ein wenig stolz zu sein.
Frau Siegel klatschte leicht in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Klasse zu bekommen. „Guten Morgen, wir beginnen heute mit Deutsch. Bitte schlagt alle das Deutschbuch auf Seite 42 auf.“
Überall raschelten die Kinder mit ihren Büchern, und ich spürte, wie mein Herz etwas schneller schlug. Werde ich das hinbekommen? Ich war nervös, aber Paul lächelte mir aufmunternd zu.
„Florian, schön, dass du wieder da bist“, sagte Frau Siegel laut genug, dass es alle hören konnten. „Magst du gleich mit uns mitlesen?“
Ich nickte, auch wenn meine Hände ein wenig zitterten. Ich will es versuchen, dachte ich. Frau Siegel las die ersten Zeilen laut vor und zeigte dabei auf die Wörter. Dann war ich dran. Gerade als ich ansetzen wollte, spürte ich ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Bevor ich richtig begriff, was passierte, wurde meine Windel plötzlich sehr warm.
Oh nein, fuhr es mir durch den Kopf, es hört gar nicht auf zu laufen. Es fühlte sich an, als würde ich ewig pullern, und ich konnte nichts dagegen tun. Die Panik schoss mir kurz ins Herz – Hoffentlich läuft nichts aus. Ich presste meine Beine leicht zusammen, während ich versuchte, mich auf den Text zu konzentrieren.
Ich begann leise zu lesen, stolperte über ein paar Wörter, aber Frau Siegel half mir geduldig. „Sehr gut gemacht, Florian“, lobte sie mich, als ich fertig war. Ich atmete erleichtert aus, doch innerlich war ich verunsichert. Meine Windel im Schritt fühlte sich deutlich dicker an. Bitte lauf nicht aus, bitte nicht jetzt, flehte ich stumm.
Wir beantworteten Fragen zum Text. Ich merkte schnell, dass ich langsamer war als Paul oder die anderen, aber immerhin klappte es irgendwie. Frau Siegel bat mich, ein paar Sätze zu einem Vogel im Buch zu bilden. „Der Vogel… heißt… Jakob“, las ich stockend vor. Sie lächelte. „Gut, Florian! Schreib das nun ordentlich in dein Heft. Durch die Wiederholung lernst du es umso besser.“
Ich versuchte, mich ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, aber immer wieder glitt mein Blick nervös nach unten. Ich fühlte, wie die Windel in meinem Schritt prall und feucht war, und die Angst, dass doch etwas auslaufen könnte, rumorte in meinem Kopf. Trotzdem gab ich mir Mühe, die Sätze zu Ende zu schreiben.
Frau Siegel machte noch eine Übung, bei der wir aus zwei kurzen Sätzen einen längeren bilden sollten, und fragte: „Florian, kannst du das hier versuchen?“
Einen Moment schluckte ich, dann sagte ich: „Der Vogel flog los, um… seinen Freund zu suchen?“
„Prima, Florian!“, lobte sie. „Das ist genau richtig.“
Als es zur Pausenglocke klingelte, lächelte sie. „Ihr habt euch heute sehr gut konzentriert. Bis nach der pause!“
Ich atmete tief durch und schloss mein Buch. Ich war froh, dass mich meine Windel nicht im Stich gelassen hatte, und hoffte, dass sie bis zum Ende der nächsten Stunden halten würde. Am liebsten würde ich ja schnell wechseln, dachte ich, aber wo?
Paul sah mich an und fragte leise: „Alles okay bei dir?“ Ich schaute ihn kurz an und flüsterte: „Können wir mal kurz raus?“ Er nickte, und wir standen auf. Beim Aufstehen fühlte sich meine Windel gar nicht mehr so schlimm an wie vorher.
Ich lief ich mit gesenktem Blick zum Klassen Ausgang. Paul war noch am Tisch, also musste ich allein durch die letzte Reihe, in der Zwenja und ihre Freundinnen noch trödelten. Ich versuchte, rasch vorbeizukommen, ohne sie anzusehen. Trotzdem hörte ich, wie Zwenja irgendwas zu mir zischte – was genau, verstand ich nicht, aber es klang definitiv nicht nett.
Ich spürte, wie meine Ohren heiß wurden. Was hat sie gesagt? fragte ich mich. Wieder irgendwas Gemeines, bestimmt. Dann hörte ich Antje, die neben Zwenja stand, ziemlich deutlich sagen: „Was du immer auf ihm rumhacken musst, er hat doch genug durchgemacht. Außerdem ist das doch voll niedlich!“
Voll niedlich? Ich runzelte die Stirn. Was meinte sie damit? Meine Windel? Meine neue Latzhose? Oder dass ich so klein bin? Ich konnte es nicht herausfinden, weil Zwenja etwas zwischen den Zähnen hervor presste, was ich noch weniger verstand. Ich spürte nur, wie mir das Herz in die Hose rutschte. Ich will hier nur noch weg, dachte ich.
Zum Glück tauchte Paul auf einmal hinter ihnen auf und zog mich leicht am Ärmel. Ohne ein Wort an die Mädchen zu verschwenden, huschte ich an ihnen vorbei und rannte mit Paul den Gang entlang. Mein Puls war bestimmt doppelt so schnell wie sonst. Ich fragte mich, ob Antje das wirklich nett meinte oder ob sie mich ebenfalls nur heimlich verspottete.
Als wir um die Ecke bogen und außer Sicht waren, atmete ich erleichtert auf. Paul merkte wohl, dass ich ziemlich still war, aber ich sagte nichts. Was hätte ich auch sagen sollen? Zwenjas Worte klangen mir immer noch in den Ohren, obwohl ich sie gar nicht richtig verstanden hatte. Und Antjes Satz, dass sie etwas „voll niedlich“ findet, machte es nicht unbedingt besser.
Ich war einfach froh, dass ich jetzt wieder mit Paul unterwegs war, denn bei ihm musste ich mir darum keine Sorgen machen. Alles in mir wünschte sich, der Tag wäre schon vorbei. Aber ich biss die Zähne zusammen und versuchte, mich zusammenzureißen. Ich bin nicht allein, redete ich mir zu, Annette holt mich ja heute wieder ab.
Ich schaute mich erst um, um sicherzugehen, dass uns niemand belauschte.
Dann sagte ich, immer noch ganz leise, zu Paul: „Ich … ich trage jetzt auch Windeln.“
Paul schaute nicht mal überrascht. „Ja, das weiß ich schon“, meinte er. „Meine Mama hat’s mir erzählt und gesagt, dass ich dir helfen soll, wenn du Hilfe brauchst.“
Ich spürte, wie mir ein riesiger Stein vom Herzen fiel. „Und … ich hab Angst, dass sie ausläuft“, gestand ich.
Paul runzelte die Stirn. „Auslaufen? Wie oft hast du denn schon rein gemacht?“
Ich zögerte kurz. „Einmal, glaube ich.“
„Bloß einmal Pipi? Meine hält den ganzen Schultag. Da musst du dir wirklich keine Sorgen machen“, sagte er mit einem breiten Lächeln.
Er schob mich in Richtung der Schultoiletten: „Komm, wir gehen kurz in eine Kabine, dann kannst du mal nachschauen, wie voll sie wirklich ist.“
Ich nickte und folgte ihm. Drinnen ging ich in eine Kabine und schloss die Tür. Dann öffnete ich schnell die Träger meiner Latzhose und tastete vorsichtig an der Windel. Sie war nur vorne ein bisschen aufgequollen und fühlte sich inzwischen sogar wieder halbwegs trocken an. Paul hatte Recht, dachte ich erleichtert. Da passt noch viel rein.
Trotzdem nahm ich mir vor, lieber nichts von meinem Getränk anzurühren – sicher ist sicher. Draußen erzählte ich Paul, dass alles in Ordnung sei, und wir liefen zusammen zurück ins Klassenzimmer. Die zweite Stunde sollte gleich anfangen.
Als wir uns an unseren Platz setzten, kam plötzlich Richard an unseren Tisch. Mein Herz pochte schneller. Sein Gesicht wirkte grimmig. „Ich dachte, du bleibst weg. War besser ohne dich hier“, sagte er mit einer abfälligen Stimme. „Du hättest ruhig woanders bleiben können.“ Er schnaubte verächtlich.
Mir wurde heiß und kalt zugleich. In meinem Bauch zog sich alles zusammen. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, kam Frau Siegel zurück ins Klassenzimmer. Richard machte sich schnell vom Acker und ging zu seinem Platz.
Paul beugte sich zu mir und flüsterte: „Ignorier den Spinner einfach.“
Ich schluckte und nickte. Die Worte taten trotzdem weh, aber Pauls Anwesenheit gab mir ein wenig Mut. Immerhin war ich nicht allein.
Der Deutschunterricht ging weiter, und Frau Siegel verteilte ein paar Übungen zum Lesen und Schreiben. Diesmal war besonders Richard an der Reihe. Ich bemerkte, dass sie ihn häufiger aufrief als sonst – vielleicht hatte sie gemerkt, wie er sich kurz zuvor benommen hatte.
Zuerst sollte er ein paar Zeilen vorlesen, doch er stolperte schon bei dem dritten Wort. Seine Stimme klang unsicher, und ein paar Kinder kicherten leise. Frau Siegel unterbrach die Kicherer mit einem ernsten Blick, wandte sich jedoch verständnisvoll zu Richard und meinte: „Versuch es ruhig noch einmal.“ Er begann erneut, stockte aber wieder. Schließlich schüttelte sie sanft den Kopf und sagte: „Okay, ich lese den Rest vor, damit wir alle den Anschluss behalten.“ Ich konnte sehen, wie Richard verlegen zur Seite schaute und in seinem sitz ein wenig kleiner wurde.
Bei einer anschließenden Aufgabe am Arbeitsblatt kam Richard ebenfalls nicht weiter. Er schien ratlos, und Frau Siegel zeigte ihm die Lösung auf der Tafel, während er versuchte, es in sein Heft zu übertragen. Ich spürte, wie meine Anspannung ein kleines bisschen nachließ. Vielleicht ist Richard ja auch nur unsicher, dachte ich kurz, auch wenn mir noch seine Worte in den Ohren klangen.
Gegen Ende der Stunde verteilte Frau Siegel ein Arbeitsblatt mit Leseübungen und bat uns, einen kurzen Aufsatz zu schreiben. Sie sagte laut in die Klasse: „Das ist eure Hausaufgabe. Bitte schreibt es in euer Hausaufgabenheft.“ Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her, als ich mein kleines Heft herausholte. Hausaufgaben, erinnerte mich daran das Annette sagte, wir schauen jeden Tag was du für Hausaufgaben hast. Frau Siegel achtete darauf, dass auch ich alles sorgfältig notierte. „Hast du es drin, Florian?“ fragte sie freundlich. Ich nickte und zeigte ihr kurz meine Notiz. „Gut so“, lächelte sie.
Dann klingelte es zur Pause. Ein angenehmer Summen-Lärm breitete sich aus, als die Kinder ihre Plätze verließen und sich ihre Pausenbrote und Flaschen schnappten. Ich war überrascht zu merken, wie hungrig ich inzwischen war. Der Unterricht machte hungrig, schoss es mir durch den Kopf.
Ich öffnete stolz meine Brotdose. Darin lag das Wurstbrot, das Annette mir heute Morgen gemacht hatte, plus ein paar Apfelschnitze. Paul klappte seine Brotdose ebenfalls auf. Er hatte ein Käsebrot und ein paar Karottensticks. Ich bemerkte, wie er einen großen Schluck aus seiner Trinkflasche nahm – die halb leer wurde – und dabei überhaupt nicht ängstlich wirkte. Er hat keine Angst, dass seine Windel auslaufen könnte, dachte ich leicht neidisch. Ich dagegen beschloss immer noch, nichts zu trinken, obwohl meine Trinkflasche verlockend war. Sicher ist sicher, redete ich mir ein.
Das Brot schmeckte richtig gut, und auch die Apfelstücke waren lecker. Ich aß alles auf und fühlte mich danach viel besser. Vielleicht ist es gar nicht so übel, etwas zum Frühstück mitzunehmen, dachte ich.
Paul grinste zu mir herüber, wischte sich ein paar Krümel vom Mund und meinte leise: „Ich bin froh, dass du wieder da bist.“ Ich lächelte schüchtern und nickte. Ich auch, hätte ich am liebsten gesagt, aber meine Stimme blieb still.
Als die Pause sich dem Ende neigte, packten wir alles für Mathe hervor. Ich achtete peinlich genau darauf, nichts zu trinken. Auch wenn Paul mir noch so oft versichert hatte, dass seine Windel hielt, wollte ich kein Risiko eingehen. Mathe ist eh schon schwer genug, dachte ich. Da brauche ich nicht noch den Stress, dass ich auslaufe oder so. Mit diesem Gedanken setzte ich mich wieder auf meinen Platz und bereitete mein Matheheft und das Buch vor.
Nach der Pause kam Herr Richter ins Klassenzimmer. Er ist unser Mathelehrer und begrüßte uns mit einem lauten „Guten Morgen, Klasse!“ Alle setzten sich still hin, und er begann mit einer kurzen Wiederholung. Ich versuchte aufmerksam zuzuhören.
Herr Richter schrieb ein paar Aufgaben an die Tafel: einfache Plus- und Minus-Rechnungen, aber mit etwas größeren Zahlen als sonst. „So“, sagte er, „jetzt darf jemand an die Tafel kommen und eine Aufgabe lösen. Florian, magst du?“ Da zuckte ich etwas zusammen, aber Paul gab mir einen ermunternden Klaps auf den Arm. Zögernd stand ich auf und ging nach vorne.
Auf der Tafel stand:
57 – 19 = ?
Mir stockte kurz der Atem. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Herr Richter wartete geduldig. „Nimm dir Zeit, Florian. Wie könntest du die Zahlen aufteilen?“ fragte er mich leise. Ich nahm die Kreide in die Hand, doch in meinem Kopf war es erst mal leer. 57 – 19, wiederholte ich in Gedanken. Dann gab er mir einen Tipp: „Du könntest die 19 zum Beispiel in 10 und 9 zerlegen.“
Ah, dachte ich, und schrieb 57 – 10 = 47 an die Tafel. Anschließend nochmal 47 – 9 = ? Ich rechnete innerlich und schrieb 38 hin. „Genau“, bestätigte Herr Richter. „Das ist eine gute Strategie.“
Ich atmete erleichtert auf und wollte gerade die Kreide ablegen, als ich merkte, wie es plötzlich wieder warm in meiner Windel wurde. Diesmal spürte ich die Wärme bis nach hinten. Oh nein, schon wieder, dachte ich panisch. Doch es hörte nach einem Moment auf, und ich hoffte inständig, dass nichts auslief.
Mit klopfendem Herzen ging ich zurück an meinen Platz. Während ich mich hinsetzte, wurde mir klar, dass die Windel alles aufgenommen hatte. Ganz schön praktisch, schoss es mir durch den Kopf, auch wenn es sich komisch anfühlte. Beim Hinsetzen merkte ich die wärme, aber es war nicht unangenehm. Hauptsache, niemand merkt was.
Herr Richter schrieb noch mehr Aufgaben an die Tafel, und wir sollten sie ins Heft übertragen. Am Ende der Stunde gab er uns Hausaufgaben auf. Paul flüsterte mir zu, dass wir erst Freitag wieder Mathe hätten also bis dahin Zeit zum Üben. Ich war ein bisschen erleichtert – so viel Neues hatte ich heute schon im Kopf.
Als Mathe vorbei war, kam nochmal Frau Siegel für Sachkunde ins Klassenzimmer. Der Stoff war relativ leicht, wir hörten hauptsächlich zu und mussten ein paar Stichpunkte mitschreiben. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber in meinem Kopf war ein Durcheinander aus Unsicherheit, Erleichterung und Vorfreude auf Annette.
Endlich klingelte es zur Pause, und ich packte meine Sachen ein. Paul fragte: „Gehst du mit in die Kantine?“ Ich nickte, und wir liefen gemeinsam hinüber. Heute gab es Leberkäs und Kartoffelsalat. Die Portion war nicht besonders groß, also konnte ich sie ohne Probleme aufessen.
Während wir aßen, fragte Paul mich, wie die letzten Tage so gewesen sind und wie es in meinem neuen Zuhause ist. Ich erzählte ihm, dass ich zuerst in einer Familie mit zwei größeren Kindern war. Ich sprach ein bisschen von Nathanael und Leni – allerdings ohne das Windelthema zu erwähnen – und erklärte, dass ich jetzt bei Annette und Markus auf einem Bauernhof wohne, auch wenn ich es selbst kaum glauben kann. Außerdem sagte ich ihm, wie toll ich Annette finde und dass ich mir manchmal wünsche, sie wäre meine richtige Mama. Dann gestand ich ihm, dass ich ein bisschen Angst vor Markus habe.
Paul hörte aufmerksam zu. Er meinte, der Bauernhof klinge total cool, und er könne sich vorstellen, dass Markus gar nicht so schlimm sei, wie ich glaube. Ich fragte ihn verwundert, woher er das wisse, schließlich kannte er Markus doch gar nicht. Paul grinste nur und meinte, sein Papa würde auch oft streng schauen und öfter schimpfen als seine Mama. Trotzdem mache sein Papa ganz viel Quatsch mit ihm und wäre immer für ihn da. „Und wenn er mal schimpft“, fügte Paul hinzu, „ist es danach schnell wieder vergessen.“
Ich hoffte, dass Paul recht hat. Aber das müsste ich wohl selbst herausfinden. Immerhin wollte ich Markus auch besser kennenlernen. Vielleicht war er tatsächlich ganz nett – nur ein bisschen anders, als ich es gewohnt war.
Auf dem Weg zurück über den Schulhof entdeckte ich plötzlich Annettes Auto draußen am Zaun stehen. Mir wurde ganz warm ums Herz. Sie ist wirklich gekommen, dachte ich, sie holt mich ab!
Neben mir freute sich auch Paul: „Deine Pflegemama sieht nett aus.“ Ich wurde ein bisschen rot, war aber stolz und glücklich. „Ja…“, murmelte ich.
Am Schultor verabschiedete ich mich schnell von Paul, der mir noch hinterher rief: „Bis morgen!“ Dann lief ich freudig auf Annette zu, die gerade aus dem Auto stieg. Ihre Augen funkelten warm, und ich wusste in diesem Moment: Es ist alles gut.
Als Annette mich in die Arme nahm und fragte: „Wie war dein Schultag?“, sprudelten die Worte nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihr aufgeregt von all meinen Erlebnissen – den Aufgaben, die ich lösen musste, dem Mathelehrer, der mir bei einer kniffligen Rechnung half, und vor allem meiner Angst, dass die Windel auslaufen könnte.
Während der Fahrt wollte sie noch mehr wissen: „Und, wie hast du dich sonst gefühlt? Hast du genug getrunken?“
Ich wurde etwas verlegen und musste schließlich zugeben, dass ich lieber nichts getrunken hatte, weil ich fürchtete, die Windel könnte dann wirklich nicht alles halten.
„Okay, wir probieren das mal aus“, sagte Annette, als sie mich wieder anschaute. „Du trinkst jetzt ausreichend, bevor wir einkaufen gehen, und wir schauen mal, wie viel deine Windel aushält, okay? Ich habe Wechselsachen für dich dabei, falls doch etwas passieren sollte.“
Ich fand den Vorschlag irgendwie spannend. Ein richtiges Experiment, so fühlte es sich an. „Na gut“, stimmte ich zu, auch wenn ich mir gleichzeitig ein bisschen Sorgen machte. Aber Annette war ja bei mir, und sie würde auf mich aufpassen.
Wir fuhren auf einen großen Parkplatz und hielten an. Sobald der Motor aus war, schnallte ich mich ab und wartete, bis Annette meine Tür öffnete. Sie reichte mir aus meinem Dino-Schulranzen meine Trinkflasche. „Hier, trink ruhig so viel du kannst.“
Ich setzte sie an und nahm einen langen Zug. Die kalte Saftschorle lief in meinen Mund, und ich merkte schnell, wie ich beinah die ganze Flasche leerte. „Die ist ja fast leer!“, stellte Annette erstaunt fest. „Jetzt willst du es aber wissen.“
Einen Moment überlegte ich, ob das wirklich eine gute Idee war. Doch dann dachte ich an Annettes Worte: Sie passt auf mich auf. Und ich fühlte mich wieder sicher. „Jetzt oder nie“, murmelte ich leise.
Wir gingen in das große Geschäft, und gleich am Eingang standen Kinderbetten und Kinderwagen. „Hier finden wir auf jeden Fall deinen neuen Schulranzen und einen passenden Kindersitz“, meinte Annette und führte mich durch die Gänge. Wir liefen an Fahrrädern, Rollern und sogar an Laufgittern vorbei, bis wir schließlich bei den Kindersitzen ankamen.
Eine ältere Verkäuferin kam auf uns zu. „Suchen Sie einen passenden Sitz für den jungen Mann?“ fragte sie lächelnd.
Annette nickte. „Ja, und außerdem einen Schulranzen für ihn.“
Die Frau betrachtete mich kurz und sagte: „Da musst du bis zum Sommer aber noch ein bisschen wachsen, damit deine Zuckertüte nicht größer ist als du.“ Sie lachte freundlich.
Ich zuckte nur mit den Schultern – solche Kommentare kannte ich schon. Annette klärte sie auf: „Der junge Mann besucht bereits die zweite Klasse. Er braucht nur einen neuen Schulranzen.“
„Oh, entschuldige“, sagte die Verkäuferin zu mir. „Da habe ich mich wohl verschätzt.“
Erst kümmerten wir uns um den Kindersitz. Sie zeigte uns verschiedene Modelle, und ich probierte alle aus. Am Ende entschieden wir uns für einen blauen Kindersitz, von dem sie sagte, er sei beim ADAC Testsieger gewesen.
Dann ging es weiter zu den Schulranzen. Auf dem Weg dorthin überkam mich plötzlich ein seltsames Gefühl: Ich spürte, wie es in meine Windel lief. Diesmal aber nicht nur leicht, sondern ich merkte richtig, wie ein kleiner „See“ in der Windel entstand. Bitte lauf nicht aus, dachte ich panisch.
Annette bemerkte wohl, wie ich kurz stehen blieb. Sie tat so, als würde sie mir nur meine Jacke zurechtziehen, und beugte sich vor. „Alles gut?“ flüsterte sie.
Ich nickte und spürte kurz nach. Zum Glück hatte die Windel wieder alles aufgesogen. Ich atmete auf und ging weiter, langsam etwas sicherer.
Die Verkäuferin führte uns freundlich lächelnd zu einem großen Regal, das fast überquoll vor bunten Schulranzen in allen erdenklichen Farben und Mustern. Ich traute mich kaum, etwas zu sagen, während ich die Motive betrachtete – Tiere, Superhelden, bunte Streifen und noch viel mehr. Annette hatte mich ermutigt, mir etwas auszusuchen, aber der Gedanke, dass sie extra für mich einen Schulranzen kaufen wollte, ließ mich unsicher werden. Verdiente ich das überhaupt? Ich hatte Angst, dass ich zu wählerisch sein könnte oder nichts Passendes finden würde.
Noch bevor wir etwas ausprobieren konnten, erklärte Annette mit ruhiger Stimme: „Florian braucht einen ganz leichten Schulranzen. Er hat eine Rückenproblematik, und zu schwere Modelle sind einfach nicht gut für ihn.“ Die Verkäuferin nickte verständnisvoll und sah mich aufmerksam an. „Dann suchen wir am besten etwas, das nicht nur leicht ist, sondern auch gut zu seinem Rücken passt,“ sagte sie freundlich und begann, einige Ranzen aus dem Regal zu nehmen.
Ich probierte den ersten Ranzen an, doch die Verkäuferin runzelte leicht die Stirn. „Der scheint ein bisschen groß zu sein,“ sagte sie und nahm ihn mir vorsichtig ab. Auch der nächste Ranzen, den sie auswählte, saß nicht gut. „Das Gewicht verteilt sich nicht richtig,“ erklärte sie und schüttelte den Kopf. Ich spürte, wie meine Unsicherheit wuchs. Was, wenn es keinen passenden Ranzen für mich gab? Was, wenn ich eine Last war, weil ich so schwierig war?
Annette legte mir kurz eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. „Mach dir keine Sorgen, Florian. Wir finden den Richtigen für dich.“ Ihre Stimme klang so beruhigend, dass ich es wagte, leicht zu nicken. Die Verkäuferin griff schließlich zu einem Modell, das etwas kleiner war und ein Muster aus Flugzeugen und Autos hatte. Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich die glänzenden Farben sah.
„Probieren wir diesen hier aus,“ schlug sie vor und reichte ihn mir. Vorsichtig zog ich ihn über die Schultern, und Annette half mir, die Träger zu verstellen. Als ich mich im Spiegel ansah, konnte ich kaum glauben, wie gut er saß. Er fühlte sich leicht an und schmiegte sich fast wie von selbst an meinen Rücken an.
„Der sieht super aus!“ sagte Annette begeistert. Die Verkäuferin lächelte zustimmend. „Und er passt wirklich perfekt. Der ist weder zu groß noch zu schwer.“ Ich sah zu Annette hinüber und dann zurück in den Spiegel. Der Ranzen mit den Flugzeugen und Autos war wirklich cool. Ein kleiner Teil von mir wollte ihn sofort behalten, aber ich wagte es kaum, das zu sagen.
„Gefällt er dir?“ fragte Annette sanft, und ich nickte zögerlich. „Ja, der ist echt schön,“ murmelte ich leise, meine Wangen leicht gerötet. Annette lächelte warm. „Dann nehmen wir ihn.“ Ihre Worte fühlten sich wie eine Umarmung an, und zum ersten Mal überhaupt hatte ich das Gefühl, dass es okay war, etwas nur für mich zu bekommen. Der Schulranzen war nicht nur ein Ranzen – er war ein kleines Stück von etwas Neuem, das wirklich mir gehörte.
Auf dem Weg nach draußen blieb ich erneut stehen. Schon wieder lief es in die Windel, und diesmal fühlte ich mich richtig heiß im Gesicht. So viel kann die Windel doch nicht halten, dachte ich beunruhigt. Aber Annette kam sofort zu mir, hockte sich hin und umarmte mich unauffällig. „Keine Angst, wir machen dich im Auto gleich frisch, okay?“ flüsterte sie. Ich nickte nur, dankbar für ihre Ruhe.
Ich trug den Schulranzen zum Auto, wo Annette ihn im Kofferraum verstaute. Den Kindersitz hatten die Mitarbeiter im Geschäft bereits ausgepackt, und Annette baute ihn nun ein. Dabei spürte ich immer deutlicher, wie schwer meine Windel inzwischen war – doch zum Glück war nichts ausgelaufen. „Diese Windel hält wirklich einiges aus“, dachte ich erleichtert. Anschließend folgte ich Annette ins Auto, gespannt darauf, wie es weitergehen würde.
Nachdem Annette den Kindersitz ordentlich befestigt hatte, drehte sie sich zu mir um und sagte: „Komm mal nach hinten auf die Rückbank, Florian.“ Ich blinzelte überrascht. Bisher hatte ich gar nicht darauf geachtet, dass hinter der zweiten Sitzreihe noch eine dritte ist – eine richtige Dreierbank. Normalerweise saß ich ja immer hinter dem Beifahrersitz.
Neugierig lief ich zwischen den Sitzen nach hinten und stellte mich in der dritten Reihe hin. „Zieh bitte deine Schuhe und die Jacke aus“, sagte Annette sanft. „Dann legst du dich hier kurz hin.“ Ich schob meine Schuhe zur Seite und zog meine Jacke aus. Kaum hatte ich mich hingelegt, wurde mir bewusst, wie schwer und nass meine Windel inzwischen war. Ganz schön viel drin, dachte ich peinlich berührt. Das warme, feuchte Gefühl in meinem Schritt war unangenehm und seltsam zugleich.
Annette nahm aus einem Rucksack Feuchttücher und eine frische Windel hervor. Sie löste die Hosenträger meiner Latzhose und schob sie mir bis zu den Knien herunter. Dann öffnete sie die Klebestreifen der nassen Windel. Ich spürte, wie die kühle Luft an meine Haut kam und wusste, dass es jetzt echt höchste Zeit war. „Also mehr hätte die Windel wirklich nicht ausgehalten“, kommentierte sie mit einem halb ernsten, halb amüsierten Ton.
Vorsichtig wischte sie mich mit den Feuchttüchern sauber. Dabei versuchte sie, es so schnell und unauffällig wie möglich zu machen, aber im Auto war es trotzdem ein wenig eng. Ich war froh, dass niemand von draußen hineinsehen konnte. „So, gleich hast du es geschafft“, sagte sie leise, während sie mir die neue Windel unter den Po schob und sie sicher verschloss.
Wie gut es sich anfühlt, wieder eine trockene Windel zu tragen, ging es mir durch den Kopf. Meine Hose hochzuziehen, ging dann ganz fix, und Annette lächelte zufrieden. „Na, das ist doch gleich viel angenehmer, oder?“
Ich setzte mich wieder auf, und Annette half mir, in den neuen Kindersitz zu klettern. Sie zeigte mir, wie ich den Gurt richtig anlegen musste, damit er gut sitzt und sicher ist. „So, sitzt du bequem?“ fragte sie mich, und ich nickte.
Sie griff nach Pandi und reichte ihn mir. „Jetzt fahren wir noch in ein anderes Geschäft, und danach geht es nach Hause, ja?“ Ich kuschelte mich an meinen Pandi und sah sie neugierig an. „Was kaufen wir denn jetzt?“
Annette lächelte mich an, in ihren Augen eine Mischung aus Vorfreude und Geheimnis. „Das ist eine Überraschung.“
Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Eine Überraschung. Ich lehnte mich in meinem neuen Sitz zurück, Pandi fest an mich gedrückt, und fragte mich, was Annette wohl noch für mich geplant hatte.
Kaum hatte Annette den Motor gestartet und das Auto fuhr los, da spürte ich wieder dieses warme Gefühl in meiner Windel. Gut, dass ich eine frische trage, dachte ich erleichtert. Eigentlich muss ich mir dann keine Sorgen machen. Ob sich das bei Paul genauso anfühlt? Ich musste unwillkürlich an ihn denken, wie locker er mit seinen Windeln umging.
Draußen schien die Wintersonne auf die glitzernden Schneefelder, und wir verließen langsam die Straßen von Hof. Es war richtig schön anzusehen – als wäre die Welt mit Zuckerguss überzogen. Annette steuerte das Auto behutsam über die weißen, aber doch geräumten Straßen, an denen ich immer wieder klitzekleine Ortschaften vorbeiflitzen sah. Auf manchen Wiesen tummelten sich Krähen im Schnee, die in der Sonne fast violett schimmerten. In der Ferne tauchten vereinzelt Bäume auf, bogen sich unter der schweren Schneelast und funkelten im Licht. Ein kleines Schild am Straßenrand kündigte an, dass wir bald in Richtung Marktredwitz fahren würden.
Während wir so dahin rollten, kam mir alles ein bisschen wie ein Ausflug vor. Annette fragte mich plötzlich: „War in der Schule sonst noch etwas?“
Ich überlegte kurz. Mir viel aber nichts ein: „Nö, da war sonst nichts.“
„Wie war die Reaktion deiner Mitschüler – abgesehen von Paul?“ bohrte sie vorsichtig nach.
Mir fiel sofort Richard und Zwenja ein, wie er gesagt hatte, ich hätte lieber wegbleiben sollen. Mein Magen zog sich bei der Erinnerung kurz zusammen, aber ich wollte Annette das lieber nicht erzählen. Ich wusste nicht genau, warum. Vielleicht hatte ich Angst, sie würde dann schlecht von mir denken, oder sie würde sich zu viele Sorgen machen und Stress verursachen.
„Ich hab nicht wirklich mit ihnen gesprochen“, sagte ich schulterzuckend. „Das hab ich früher auch nie so richtig. Ich war immer froh, wenn sie mich in Ruhe lassen.“
Annette nickte, ohne weiter nachzuhaken. Ich atmete auf. Die Gedanken an Richard waren nicht schön, aber ich wollte ihr wenigstens jetzt nichts davon sagen. Stattdessen dachte ich kurz an Paul, der so ganz anders war als die anderen. Er störte sich nie daran, dass ich nicht mitreden konnte, wenn es um teure Spielsachen oder Computerspiele ging. Er hatte mich einfach immer so akzeptiert, wie ich war.
„Na gut“, sagte Annette schließlich, nach einem Moment des Schweigens. Ich merkte an ihrem Ton, dass sie zwar neugierig war, aber mich nicht drängen wollte. Und das fand ich gut.
Als Annette das Auto parkte, sah ich ein großes, flaches Gebäude vor uns. Ein bisschen nervös löste ich den Gurt, und wir gingen zusammen rein. Kaum waren wir durch die Tür, war ich vollkommen überwältigt. Es war ein riesiges Spielzeug Geschäft – so etwas hatte ich noch nie gesehen. Überall Regale mit bunten Kartons, Figuren, Autos, Zügen, Puppen… Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte.
Annette hockte sich neben mich und sah mir in die Augen. „Du darfst dir ein Spielzeug aussuchen“, sagte sie. „Normalerweise gibt es so etwas nur zu Weihnachten oder zum Geburtstag, aber heute machen wir eine Ausnahme.“
Ich riss die Augen auf. „Aber… ich hab doch schon Spielzeug“, murmelte ich. „Die Autos, die Traktoren.“
Sanft strich Annette mir durch die Haare. „Ja, das stimmt. Aber all diese Dinge stammen noch von Sebastian. Sie gehören jetzt dir, aber du hast sie dir nicht selbst ausgesucht. Ich möchte, dass du etwas hast, das du dir selbst aussuchst – vielleicht sogar etwas, das du dir schon immer gewünscht hast!“
Mir fiel nichts ein, was ich darauf sagen sollte. Trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass mich die Idee freute, mir ein eigenes Spielzeug aussuchen zu dürfen. Also liefen wir durch die Gänge. Die Auswahl war riesig, viel zu viel. Große Autos, LKWs, Playmobil, Lego, ferngesteuerte Fahrzeuge… überall, wohin ich blickte, entdeckte ich etwas, das mir gefiel.
Dabei fielen mein Blick auf die Preisschilder, und sofort hallte die Stimme meiner Eltern in meinem Kopf wider: „Das ist viel zu teuer, das können wir uns nicht leisten!“ oder „Weißt du überhaupt, was das gekostet hat?!“ Solche Sätze hörte ich immer, wenn ich nach etwas fragte – sei es ein Schulausflug oder ein kleines Spielzeugautos, das ich mir so sehr gewünscht hatte. Diese Worte hatten sich tief in meinem Inneren eingebrannt, als wären sie ein Teil von mir geworden.
Nach einer ganzen Weile, in der ich von Regal zu Regal gewandert war, fragte Annette schließlich: „Hast du schon etwas gefunden, das dir besonders gefällt?“
„So vieles…“, gab ich zu. Ich blieb an einem Playmobil-Regal stehen, zögerte dann und ging zum Lego-Bereich. Da gab es eine Lego-Eisenbahn, die mich magisch anzog.
„Kann es sein, dass es dir die Züge angetan haben?“ fragte Annette mit einem Lächeln.
Ich nickte. Beides – Playmobil und Lego – waren toll, aber die Eisenbahn sah unglaublich aus. Trotzdem traute ich mich nicht, es ihr zu sagen. Ich will nicht, dass sie denkt, ich wäre ein Nimmersatt, schoss mir durch den Kopf.
Dann blieb ich vor einem kleineren Lego-Set stehen – einem Jeep mit Anhänger und Boot. „Gefällt dir das besser als die Eisenbahn?“ fragte Annette. Ich zuckte mit den Schultern. Natürlich fand ich die Eisenbahn schöner, aber ich traute mich nicht, es auszusprechen.
Annette kniete sich erneut zu mir herunter. „Florian, der Preis ist heute nicht wichtig“, sagte sie ganz ruhig. „Es soll dir wirklich gefallen. Wenn dir die Eisenbahn besser gefällt, darfst du das ruhig sagen.“
Ich sah sie an und spürte, wie mein Herz schneller klopfte. Soll ich es sagen?, fragte ich mich. Aber sie wirkte so ehrlich und freundlich, dass ich mich ein bisschen mutiger fühlte.
„Darf ich die Eisenbahn haben?“ fragte ich mit klopfendem Herzen, unsicher, ob ich das wirklich durfte. Annette nahm mich in die Arme und lächelte. „Ja, genau das sage ich dir doch die ganze Zeit. Und ich glaube, dass das ein gutes Spielzeug ist, an dem du lange Freude haben wirst.“
Mein Blick fiel auf den großen Karton mit dem Güterzug, der zu groß war, um ihn komplett zu umfassen. Ich war so glücklich, dass Annette ihn schließlich zur Kasse trug. Nie zuvor hatte ich etwas von Lego besessen. Im Kindergarten gab es zwar eine große Kiste mit Legosteinen, aber nicht genügend Räder, um richtige Autos zu bauen – ganz zu schweigen von einem ganzen Zug. Doch jetzt konnte ich mir einen eigenen Zug bauen!
Annette bezahlte, und die Kassiererin bemerkte lächelnd: „Da strahlt aber jemand.“ Ich merkte, wie meine Wangen heiß wurden, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu grinsen.
Auf der Heimfahrt dachte ich ununterbrochen darüber nach, wie lange ich wohl brauchen würde, um diesen Zug aufzubauen. Bestimmt den ganzen Abend, überlegte ich mir, und die Vorstellung machte mich ganz kribbelig vor Freude.
Annette:
Der Kindersitz passte perfekt, und ich war erleichtert, dass Florian jetzt ein wenig sicherer im Auto sitzt. Es war beruhigend zu wissen, dass er bei der Fahrt gut geschützt ist.
Der Schulranzen hatte mir ehrlich Sorgen bereitet. Ich hatte wirklich befürchtet, dass wir keinen finden würden, der zu seiner kleinen Größe passt, ohne ihn zu überfordern. Doch dann stand er da, stolz mit seinem neuen Schulranzen, und ich wusste, wir hatten die richtige Wahl getroffen. Das Motiv mit den Autos und Flugzeugen schien ihm wirklich zu gefallen – ich konnte sehen, wie er immer wieder darüber strich, als würde er überprüfen, ob er wirklich ihm gehört.
Und dann war da noch die Lego-Eisenbahn – das absolute Highlight des Tages. Es machte mir so viel Freude, ihm diese Überraschung zu bereiten. Sein zögerliches „Darf ich die wirklich haben?“ hatte mich fast zu Tränen gerührt. Es war, als wäre er noch nie gefragt worden, was er sich wünscht, und jetzt durfte er es sich einfach aussuchen. Diese strahlenden Augen, als ich ihm die Entscheidung bestätigte, waren einfach unbezahlbar. Ich konnte kaum erwarten, ihn damit spielen zu sehen, wie er die Schienen legt und den Zug zum ersten Mal rollen lässt.
Es war ein anstrengender Tag, aber diese Momente machten alles wett. Es fühlte sich einfach richtig an, ihm ein Stückchen Kindheit zurückzugeben. Während ich den Motor startete und ihn im Rückspiegel betrachtete, wie er Pandi fest umklammerte und ein wenig erschöpft wirkte, war ich mir sicher: Florian ist auf dem besten Weg, sich bei uns zuhause zu fühlen. Und ich werde alles tun, damit er das auch weiterhin so empfinden kann.
Die Rückfahrt war angenehm ruhig, und ich hatte Zeit, über den Tag nachzudenken. Heute war wirklich anders verlaufen als die Tage, die ich bisher mit Florian erlebt hatte. Es war voller neuer Eindrücke, aber auch kleiner Erfolge, die mir Hoffnung gaben. Nachdem ich ihn in der Schule verabschiedet hatte, war ich zuerst in die Apotheke gefahren, um seine Rezepte einzulösen.
Der Weichmacher für seinen Stuhlgang war kein großes Problem – zumindest auf dem Rezept. Aber die Frage, wann und wie ich es ihm verabreichen sollte, beschäftigte mich trotzdem. Ich wollte es ihm so angenehm wie möglich machen, ohne dass er sich unwohl fühlte oder sich schämte. Vielleicht mit etwas Saft am Abend? Ich nahm mir vor, ihn später vorsichtig darauf anzusprechen.
Mit den Windeln gestaltete sich die Situation jedoch etwas komplizierter. Als ich der Apothekerin erklärte, dass wir momentan Größe 5 verwenden und diese gut passt, blickte sie mich zunächst überrascht an. Sie erläuterte, dass Windeln für größere Kinder üblicherweise erst ab Größe XS vorrätig seien. Daher riet sie mir, die Windeln weiterhin im Geschäft zu kaufen und die Rechnung anschließend mit dem Rezept bei der Krankenkasse einzureichen.
Auf dem Weg zurück nach Hause dachte ich daran, wie es wohl heute für Florian war. Der erste Schultag mit neuen Routinen, und dann noch das Experiment mit der Windel – ich war beeindruckt, wie gut er alles gemeistert hatte, trotz seiner Unsicherheiten.
Zuhause angekommen war Florian auf dem Rückweg eingeschlafen. In seinen Armen hielt er Pandi fest umklammert, während sein Daumen im Mund ruhte. Dieser Anblick ließ mich wieder nicht den Siebenjährigen sehen, der er laut Geburtsdatum war, sondern ein kleines Kind. Es war fast rührend, wie friedlich er wirkte, und ich fragte mich, wie oft er in den letzten Jahren so ruhig und geborgen schlafen konnte.
Als ich ihn sanft abschnallte, blinzelte er langsam und verschlafen. Ich hatte gehofft, ihn schlafend nach oben tragen zu können, aber auf der anderen Seite war es schon halb vier. Wenn er jetzt weiterschlief, würde der Abend vielleicht schwierig werden. Also hob ich ihn vorsichtig aus dem Kindersitz. Florian legte seinen Kopf müde auf meine Schulter, während ich ihn trug. Es war ein schöner Moment der Nähe, aber gleichzeitig spürte ich auch, wie seine Windel gut benutzt war. Dabei hatte ich sie ihm doch erst vor dem Einkaufen frisch gemacht. So langsam verstand ich, warum er es sich früher angewöhnt hatte, kaum zu trinken.
Ich musste ihm helfen, die Windel nicht mehr als Belastung, sondern als Hilfsmittel zu sehen – etwas, das ihm den Alltag erleichterte. Ich wollte, dass er sich sicher fühlte, ohne ständig über mögliche „Unfälle“ nachzudenken.
In der Küche trafen wir auf Markus, Elfi und Erik. „Hallo, ihr drei,“ begrüßte ich sie mit einem Lächeln. Markus kam sofort zu mir, gab mir einen Kuss und streichelte Florian sanft über den Rücken. Florian war noch nicht ganz wach, aber als er registrierte, wer alles in der Küche war, spannte sich sein Körper leicht an.
Auch Elfi und Erik begrüßten uns freundlich. Ich wollte Florian jedoch nicht überfordern, also sagte ich: „Wir kommen gleich zu euch. Ich gehe nur kurz mit ihm hoch.“
Oben in seinem Zimmer setzte ich ihn auf sein Bett. Seine Aufmerksamkeit kehrte langsam zurück, und er sah mich mit großen, fragenden Augen an. „Wer war das?“ fragte er leise.
„Das waren Elfi und Erik. Die beiden arbeiten hier auf dem Hof,“ erklärte ich sanft. Florian nickte stumm, als müsste er die Information erst verarbeiten.
„Komm, wir wechseln nochmal schnell deine Windel,“ schlug ich vor. „Möchtest du es wieder selbst versuchen?“ Er sah mich aufmerksam an, schüttelte aber leicht den Kopf.
„Soll ich dich schnell frisch machen?“ fragte ich sanft, als ich bemerkte, wie sein Blick unsicher wurde und er zu Boden schaute. Ich kniete mich vor ihn, strich ihm behutsam über den Kopf und sagte leise: „Das muss dir nicht unangenehm sein, Florian. Ich mache das gerne. Aber irgendwann musst du lernen, wie du das selbst hinbekommst. Bis dahin helfe ich dir gerne, so oft du mich brauchst.“
Florian hob den Kopf und schaute mich kurz an, bevor er leise nickte. „Okay,“ murmelte er.
„Lass uns deine Sachen ausziehen,“ sagte ich mit einem Lächeln. Meine Schuhe hatte ich schon am Eingang ausgezogen. Jetzt half ich ihm, seine Schuhe und die Jacke auszuziehen. Er wirkte wieder etwas entspannter, als ich ihn sanft anleitete, und das ließ mich hoffen, dass er sich mit der Zeit daran gewöhnen würde, sich auf meine Hilfe verlassen zu können.
Die Windel fühlte sich voller an, als sie tatsächlich war. Sie hätte sicher noch einiges ausgehalten, aber jetzt, wo ich sie einmal ausgezogen hatte, war es egal. Ich wusste, dass Florian sich mit einer frischen Windel wohler fühlen würde. Als ich sie sicher verschlossen hatte, reichte ich ihm eine bequeme Jogginghose. „Die ist für zu Hause gemütlicher, vor allem wenn du nachher spielst,“ erklärte ich, während er hinein schlüpfte.
„Komm, wir gehen jetzt nochmal in die Küche. Da trinken wir etwas Warmes, und dann schauen wir uns deine Schulsachen an. Hast du eigentlich Hausaufgaben aufbekommen?“ fragte ich beiläufig, während ich aufstand.
Florian schien kurz zu überlegen, bevor er antwortete: „Ja, in Deutsch und in Mathe. Aber für Mathe haben wir bis Freitag Zeit.“
„Das klingt doch machbar,“ sagte ich ermutigend. „Wenn wir uns kurz gestärkt haben, schauen wir uns das mal gemeinsam an.“
Die Begeisterung war ihm nicht gerade ins Gesicht geschrieben. Stattdessen kam ein leises: „Aber ich will doch das Lego aufbauen…“ Seine Augen schauten mich fast schon flehend an.
„Wir kümmern uns erst um die Hausaufgaben. Das ist wichtig,“ sagte ich mit ruhiger Stimme. „Danach ist das Lego dran, okay?“
Florian zögerte einen Moment, bevor er schließlich mit einem leisen „Okay“ nickte. Ich konnte spüren, dass er nicht wirklich begeistert war, aber es war mir wichtig, ihm von Anfang an eine Struktur zu geben. Ich wollte ihm zeigen, dass man zuerst seine Pflichten erledigt, bevor man sich den schönen Dingen widmet – aber ohne ihn dabei zu überfordern.
„Na, dann los,“ sagte ich und hielt ihm die Hand hin, bevor wir gemeinsam nach unten gingen.
Florian betrat die Küche nur zögerlich, als würde er sich erst an die neuen Gesichter und die Atmosphäre gewöhnen müssen. Er blieb kurz hinter der Tür stehen, schaute unsicher zu Markus und den anderen, die noch am Tisch saßen. Ich bemerkte seine Zurückhaltung sofort, lächelte ihm beruhigend zu und ging zu ihm hinüber. „Komm her, mein Schatz,“ sagte ich sanft, nahm ihn auf den Arm und trug ihn zu unserem Platz am Tisch.
Ich setzte mich, und Florian ließ sich bereitwillig auf meinen Schoß sinken. Er kuschelte sich leicht an mich, während ich spürte, wie er noch immer ein wenig angespannt war. Markus hatte uns beiden bereits etwas hingestellt: vor mir stand ein dampfender Kaffee, und vor Florian eine kleine Tasse mit Kakao.
„Hier, schau mal,“ sagte ich, nahm die Tasse in die Hand und hielt sie ihm hin. „Dein Kakao, schön warm. Das gibt dir ein bisschen Energie.“ Florian nahm die Tasse vorsichtig entgegen, seine kleinen Hände zitterten leicht. Er nahm einen kleinen Schluck und entspannte sich langsam.
Markus lächelte ihm zu. „Schmeckt der Kakao, Florian?“ fragte er in einem freundlichen Ton, der nichts von der Strenge hatte, die Florian offenbar befürchtet hatte. Florian nickte zaghaft und murmelte ein leises „Ja.“
Ich strich ihm sanft über den Rücken und sagte: „Alles gut, mein Schatz. Trink in Ruhe, dann schauen wir nach deinen Schulsachen. Und danach kannst du dein Lego aufbauen, wie wir es besprochen haben.“
Langsam entspannte sich Florian ein wenig mehr. Es war ein kleiner, aber wichtiger Schritt, ihm zu zeigen, dass er sich hier sicher fühlen konnte – auch in der Nähe von Markus und den anderen.
„Hast du Hunger, Florian?“ fragte ich sanft, während ich ihn weiter auf meinem Schoß hielt. Auf dem Tisch standen noch ein paar Lebkuchen und Plätzchen, die von Weihnachten übrig geblieben waren. Mein Blick blieb kurz auf den Plätzchen hängen, und ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Ich konnte es kaum erwarten, mit Florian Plätzchen zu backen, wenn die Weihnachtszeit wiederkommt. Es war noch ein knappes Jahr hin, aber die Vorstellung, ihn mit einer Schürze voller Mehl vor mir stehen zu sehen, brachte mich zum Lächeln.
Ich fragte mich, ob Florian jemals ein richtiges Weihnachtsfest erlebt hatte. Ob er wusste, wie es sich anfühlt, zusammenzukommen, ein Baum zu schmücken und all die kleinen Rituale zu genießen, die so viel Wärme bringen. Und wie würde es werden? Weihnachten ist schließlich das Fest der Familie, und auch wenn er für mich schon jetzt ein fester Teil unserer Familie ist, wusste ich nicht, ob es sich für ihn genauso anfühlte.
Florian schüttelte den Kopf. „Nein, ich hab keinen Hunger,“ murmelte er leise.
Ich konnte mir vorstellen, dass er anders reagieren würde, wenn wir allein wären. Vielleicht würde er sich sicherer fühlen, sich zu nehmen, was er wirklich wollte. Aber mit Markus und den anderen im Raum schien er noch immer zurückhaltend, fast unsichtbar werden zu wollen.
Ich streichelte ihm sanft über den Rücken und sagte: „Okay, mein Schatz. Aber wenn du doch Lust bekommst, kannst du dir jederzeit etwas nehmen, ja? Die Plätzchen sind auch richtig lecker, wenn du später noch probieren möchtest.“
Seine Hand umklammerte die Tasse Kakao ein wenig fester, und ich spürte, dass er sich immer noch an die Situation gewöhnen musste. Ein Schritt nach dem anderen, dachte ich mir. Hauptsache, er weiß, dass er hier willkommen ist – und dass er jederzeit nach etwas fragen kann, ohne Angst haben zu müssen.
Florian:
„Das dort ist Elfi,“ erklärte Annette und zeigte auf die Frau mit den strahlenden Augen und den Händen, die ein bisschen wie die von Omas aussahen. „Sie kümmert sich das ganze Jahr um die Tiere auf dem Hof. Und das ist Erik,“ fügte sie hinzu und deutete auf den jungen Mann, der aussah wie ein großer, freundlicher Junge, mit einem Lächeln, das beruhigte. „Er hilft überall, wo er gebraucht wird.“
Ich drückte mich enger an Annette und wagte nur einen kurzen Blick zu den beiden. Elfi lächelte mich an und sagte: „Na, du möchtest uns bestimmt auch bald tatkräftig unterstützen, oder?“
Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Was meinte sie damit? Tatkräftig unterstützen? Wie sollte ich Annette oder die anderen unterstützen? Was, wenn ich etwas nicht konnte? Was, wenn es zu schwer war und ich sie enttäuschte? Der Gedanke machte mir Angst, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Elfi lachte plötzlich und bemerkte wohl mein verstörtes Gesicht. „Oh, Florian,“ sagte sie sanft. „Ich wollte dir keine Angst machen. Ich habe nicht gewusst, dass du das gleich so ernst nimmst.“
Aber es war zu spät. Die Unsicherheit und die Angst, nicht gut genug zu sein, krochen wie eine Welle über mich, und ich spürte die ersten Tränen, die meine Wangen hinunterliefen. Ohne es zu merken, versteckte ich mein Gesicht in Annettes Arm.
Annette zog ihren Arm fester um mich und sagte beruhigend: „Es ist alles gut, Florian. Elfi wollte dich nur willkommen heißen. Sie konnte nicht wissen, dass du sehr sensibel bist und ihre eigentlich lustig gemeinte Frage noch nicht einordnen kannst.“
Ich schämte mich ein bisschen, weil ich so reagiert hatte, aber gleichzeitig war ich froh, dass Annette mich beschützte und verstand. Elfi sagte: „Weißt du, Florian, wir sind hier eine große Familie. Du musst gar nichts machen, was du nicht möchtest. Wenn du Lust hast, darfst du mir aber gerne mal bei den Kühe helfen, wenn du magst. Aber nur, wenn du bereit bist, okay?“
Ich hob langsam den Kopf und sah Elfi an. Sie lächelte immer noch, und ich spürte, dass sie es nicht böse gemeint hatte. Mit einem kleinen Nicken drückte ich mich wieder an Annette und flüsterte: „Vielleicht später.“
Erik sagte nichts, aber ich spürte seinen Blick immer wieder auf mir. Es schien nicht böse zu sein, aber es machte mich trotzdem nervös. Annette sagte schließlich: „So, Florian, geh schon mal hoch und hol dein Hausaufgabenheft hervor. Ich bin gleich bei dir.“ Ein leichtes Unwohlsein breitete sich in mir aus. Hausaufgaben waren nichts, worauf ich mich freute – ich verstand sie ja meistens nicht richtig. Trotzdem war ich froh, aus der Küche zu kommen und den Blicken der anderen zu entfliehen. Ich glitt von Annettes Schoß und begab mich in mein Zimmer.
Oben angekommen stellte ich jedoch fest, dass mein Schulranzen noch im Auto war. Ein leises Seufzen entkam mir, aber ich wusste, dass ich ihn holen musste. Ich ging wieder nach unten und zur Haustür. Draußen war es schon leicht dämmrig, und die kalte Luft schlug mir ins Gesicht.
Ich versuchte, die Kofferraumklappe zu öffnen, aber sie bewegte sich nicht. Das Auto war abgeschlossen. Als ich mich schon ärgerlich umdrehte, hörte ich plötzlich ein Fauchen, und aus dem Nichts rannte eine Katze an mir vorbei. Ich zuckte zusammen, mein Herz schlug schneller, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Ohne groß nachzudenken rannte ich das kurze Stück zurück ins Haus, die Kälte jetzt noch deutlicher spürend.
An der Tür stieß ich direkt in Annettes Arme. Sie fing mich geistesgegenwärtig auf und hielt mich fest. „Florian, was machst du draußen – ohne Jacke, Mütze und mit Hausschuhen?“ Ihre Stimme war anders als sonst. Sie klang streng, und mein Herz zog sich zusammen. Ich wusste sofort, dass ich etwas falsch gemacht hatte.
Mein Herz klopfte laut, meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich blickte schuldbewusst zu Boden. „Ich… ich wollte nur meinen Schulranzen holen,“ stammelte ich leise, aber meine Stimme brach. Die Worte fühlten sich in meinem Hals an, als ob sie feststeckten, und plötzlich konnte ich sie nicht mehr zurückhalten.
„Es tut mir leid,“ flüsterte ich, während die Tränen über meine Wangen liefen. Ich fühlte mich so klein, so unfähig, irgendetwas richtig zu machen. „Das Auto war abgeschlossen, und dann… dann war da diese Katze, und sie hat mich erschreckt,“ schluchzte ich. Meine Schultern zitterten, und ich konnte Annette nicht ansehen. In meinem Kopf drehte sich alles: Hatte ich sie enttäuscht? War sie jetzt böse auf mich?
Annette seufzte tief, aber ihre Stimme klang plötzlich wieder weicher. „Oh, Florian,“ sagte sie leise und kniete sich hin, um mich auf Augenhöhe zu haben. „Ich bin nicht böse, wirklich nicht. Aber du darfst nicht einfach ohne Jacke rausgehen, schon gar nicht bei diesem Wetter.“ Sie zog mich in eine feste Umarmung, und ich konnte spüren, wie ihre Wärme die Kälte in mir vertrieb.
„Du hast mir nur Sorgen gemacht,“ sagte sie und strich mir beruhigend über den Rücken. „Komm, wir gehen rein, und ich hole deinen Schulranzen, okay?“ Ich nickte und schniefte, während ich mich an sie klammerte. Es tat gut, dass sie nicht schimpfte, sondern mich stattdessen so fest hielt.
Im Haus sagte Annette ruhig, aber bestimmt: „Tritt deine Schuhe ordentlich auf dem Läufer ab und geh schon mal hoch, ich bringe alles mit.“ Ihre Stimme klang sanft, aber ich wusste, dass sie meinte, was sie sagte. Ich nickte und tat genau das, was sie von mir verlangte.
Oben angekommen, spürte ich, wie die warme Luft des Hauses meine kalten Hände und Füße langsam wieder aufwärmte. Mein Zimmer war ruhig und gemütlich, doch mein Blick fiel sofort auf meinen Schreibtisch. Dort lagen meine restlichen Schulsachen aus meiner alten Schultasche: meine fast leere Federmappe, das Ethik-Arbeitsheft, das dazugehörige Buch und mein Musikbuch. Ich starrte eine Weile darauf und spürte eine Mischung aus Unbehagen und Erleichterung. Die Schulsachen erinnerten mich an die vielen Momente, in denen ich mich unzulänglich gefühlt hatte, aber gleichzeitig war da auch die leise Hoffnung, dass es jetzt anders werden könnte – mit Annette an meiner Seite.
Kurz darauf hörte ich Schritte auf der Treppe, und Annette kam mit meinem neuen und dem Dino – Schulranzen in das Zimmer. Sie lächelte, als sie die Sachen auf meinem Schreibtisch abstellte. „So, da ist alles. Jetzt können wir uns deine Hausaufgaben anschauen,“ sagte sie und sah mich ermutigend an.
Ihr Lächeln ließ die Anspannung in mir etwas nachlassen. Ich wusste, dass sie mich nicht drängen oder schimpfen würde, sondern da war, um mir zu helfen.
Wir gingen gemeinsam zum Schreibtisch, und ich nahm mein Hausaufgabenheft heraus. Vorsichtig öffnete ich es und zeigte es Annette. Sie beugte sich über meine Schulter und betrachtete die Seiten. „Du hast aber eine schöne Handschrift, Florian,“ lobte sie mich mit einem warmen Lächeln.
Ich spürte, wie ich rot wurde. Es war das erste Mal, dass jemand so etwas zu mir sagte. Meine Lehrer hatten zwar nie etwas an meiner Schrift auszusetzen, aber sie hatten auch nie so etwas Nettes gesagt.
„Dann hol doch mal das Arbeitsblatt heraus,“ forderte sie mich sanft auf. Ich kramte in meinem Schulranzen und zog das Blatt hervor. Darauf war ein Bild von einem Hund zu sehen, der einen Ball im Maul trug. Darunter stand die Aufgabe: „Schreibe einen kleinen Aufsatz zu diesem Bild. Beantworte dabei alle W-Fragen.“
Ich sah das Blatt an und fühlte mich etwas unsicher. „W-Fragen?“ fragte ich vorsichtig und blickte zu Annette.
„Ja,“ erklärte sie geduldig, „Fragen, die mit Wer, Was, Wann, Wo, Warum und Wie anfangen. Damit erzählst du eine kleine Geschichte über das Bild.“
Ich nickte langsam und betrachtete das Bild genauer. Der Hund sah irgendwie fröhlich aus, und ich begann mir zu überlegen, was ich schreiben könnte. Annette setzte sich neben mich. „Lass uns zusammen überlegen. Wer ist auf dem Bild?“ fragte sie, und ich antwortete: „Ein Hund.“
„Genau! Und was macht der Hund?“
„Er trägt einen Ball im Maul,“ sagte ich leise.
Annette lächelte und nickte. „Sehr gut. Jetzt überlegen wir, wo das Ganze passieren könnte.“
Gemeinsam gingen wir Schritt für Schritt die Fragen durch, und langsam entstand in meinem Kopf eine kleine Geschichte. Es war einfacher, als ich gedacht hatte, und ich fühlte mich sicherer, weil Annette mir half.
Annette saß neben mir und sah mich aufmunternd an. „So, Florian, lies jetzt einmal den ganzen Text vor,“ sagte sie freundlich.
Ich schluckte und nahm das Blatt vorsichtig in die Hand. Es war ungewohnt, meinen eigenen Text laut vorzulesen, und ich war mir nicht sicher, ob alles richtig war. Trotzdem begann ich langsam zu lesen:
„Ein Hund spielt im Garten. Er heißt Bello und hat einen gelben Ball im Maul. Bello rennt fröhlich über die Wiese. Sein Herrchen wirft den Ball, und Bello holt ihn zurück. Es ist ein sonniger Tag, und Bello ist sehr glücklich, weil er mit seinem Lieblings Ball spielen darf.“
Ich schaute kurz zu Annette, um ihre Reaktion zu sehen. Sie nickte aufmunternd. Das gab mir etwas Mut, und ich las weiter:
„Wer ist auf dem Bild? Der Hund Bello.
Was macht er? Er spielt mit einem Ball.
Wann passiert es? An einem sonnigen Tag.
Wo ist er? Im Garten.
Warum ist er glücklich? Weil er mit seinem Ball spielen darf.“
Als ich fertig war, legte ich das Blatt wieder auf den Tisch und blickte unsicher zu Annette. „Ist das gut?“ fragte ich leise.
Annette strahlte mich an. „Florian, das ist richtig gut! Du hast alle W-Fragen beantwortet, und deine Geschichte ist toll geschrieben. Ich bin wirklich stolz auf dich!“
Ich spürte, wie sich ein warmes Gefühl in meiner Brust ausbreitete. Lob fühlte sich so gut an, besonders von Annette. „Danke,“ murmelte ich und konnte nicht verhindern, dass ein kleines Lächeln über mein Gesicht huschte.
„Darf ich jetzt das Lego aufbauen?“ fragte ich hoffnungsvoll, meine Augen suchten Annettes Blick. Sie sah mich mit einem aufmunternden Lächeln an, aber dann sagte sie: „Lass uns erst noch deine Mathe-Hausaufgaben ansehen.“
Meine Schultern sanken ein wenig. „Aber die brauche ich doch erst am Freitag!“ entgegnete ich, ein bisschen enttäuscht.
„Ja, das stimmt,“ antwortete sie sanft, „aber wenn du morgen noch andere Hausaufgaben bekommst, bist du froh, wenn du die Matheaufgaben schon gemacht hast.“
Ich nickte zögernd. Auch wenn ich lieber mit meinem Lego angefangen hätte, verstand ich, dass es Sinn machte. Ich holte mein Mathe-Übungsheft hervor und schlug die Seite mit den Aufgaben auf. Es waren wieder Minus aufgaben, aber diesmal mit größeren Zahlen. Ich seufzte innerlich, denn diese Aufgaben hatten mir immer Probleme bereitet.
„Zeig mir mal, wie du sie rechnen würdest,“ sagte Annette und sah mich ermutigend an. Ich erklärte ihr, dass ich es so versuchen würde, wie Herr Richter es uns heute gezeigt hatte. Ich nahm meinen Stift und schrieb vorsichtig die erste Aufgabe auf.
„Das ist ein guter Ansatz,“ lobte Annette mich. „Aber schau, ich zeige dir noch eine andere Variante. Manchmal hilft es, wenn man die Zahlen in kleinere Teile zerlegt.“ Sie erklärte es mir langsam und geduldig, während sie die Aufgabe Schritt für Schritt auf einem separaten Blatt Papier durchging.
Ich sah ihr aufmerksam zu und nickte immer wieder. Es war ungewohnt, dass sich jemand so viel Zeit für mich nahm, um mir etwas zu erklären. Nach ein paar Versuchen verstand ich tatsächlich, wie es ging, und ich konnte die nächsten Aufgaben allein lösen. Es fühlte sich gut an, etwas zu schaffen, was ich vorher nicht konnte.
Als ich die letzte Aufgabe gelöst hatte, sah ich Annette mit einem stolzen Lächeln an. „Fertig!“ sagte ich.
„Super gemacht, Florian!“ sagte sie strahlend. „Jetzt hast du dir das Lego wirklich verdient.“
Als Annette sagte, sie würde mir die Lego-Eisenbahn holen, konnte ich kaum noch still sitzen. Meine Aufregung war so groß, dass ich alles um mich herum vergaß – sogar das unangenehme Gefühl, dass meine Windel schon wieder warm wurde. Aber das war mir in diesem Moment egal. Ich war so gespannt, endlich mit dem Bauen anzufangen.
Kurz darauf kam Annette mit der großen Kiste ins Zimmer. Ich setzte mich sofort auf den Fußboden, und als ich mich hin setzte, spürte ich die Wärme der Windel deutlicher. Doch das war jetzt nicht wichtig. Vorsichtig öffnete ich den Karton. Ich wollte ihn nicht beschädigen, damit ich ihn später noch aufbewahren konnte. Der Karton enthielt viele kleine Beutel mit Zahlen darauf, und dazu mehrere Bauanleitungen, die ebenfalls nummeriert waren. Ich legte alle Beutel nacheinander vor mir aus, sortierte sie und nahm dann den Beutel mit der „1“ zur Hand.
Ich öffnete den ersten Beutel langsam und schüttete die Teile vorsichtig auf den Boden. Dann schnappte ich mir die Anleitung und begann zu lesen. Es war lange her, dass ich das letzte Mal Lego gebaut hatte, und das hier war das erste Mal, dass ich mit einer Anleitung arbeitete. Doch ich merkte schnell, dass es eigentlich ganz einfach war. Schritt für Schritt setzte ich die ersten Teile zusammen. Es machte so viel Spaß, dass ich alles um mich herum vergaß.
Annette brachte mir eine Trinkflasche. „Trink ein bisschen, Florian,“ sagte sie. Ich nahm die Flasche und trank einen Schluck. Es schmeckte wie Kakao, aber irgendwie süßer als der Kakao von heute Morgen. Sie stellte die Flasche neben mich auf den Boden. „Ich bin unten in der Küche, wenn du mich suchst, okay?“ fügte sie hinzu. Aber ich hörte das nur halb. Ich war so vertieft in das Bauen, dass ich kaum registrierte, was sie sagte.
Ich wollte unbedingt sehen, wie die Eisenbahn Stück für Stück Gestalt annahm. Es war ein tolles Gefühl, etwas so Großes selbst zu erschaffen. Stück für Stück klickten die Teile zusammen, und ich konnte kaum erwarten, den nächsten Beutel zu öffnen und weiter zu bauen.
Ich war gerade bei Beutel zwei, als Annette zurück ins Zimmer kam. „Na, wie weit bist du gekommen?“ fragte sie mit einem Lächeln. Stolz zeigte ich ihr den kleinen Geldtransporter und den Gabelstapler, an dem ich gerade baue. „Schau mal, bei dem Transporter kann man sogar das hintere Teil aufklappen!“ sagte ich voller Begeisterung.
Annette betrachtete meine Werke und nickte anerkennend. „Der sieht ja richtig cool aus,“ sagte sie, und ich spürte, wie ich vor Stolz wuchs. Es war ein tolles Gefühl, dass sie das bemerkte, was ich geschafft hatte.
Dann griff sie nach der Trinkflasche, die sie mir vorhin gebracht hatte. „Hast du die Flasche leer getrunken?“ fragte sie und sah hinein. „Da ist ja fast nichts raus,“ stellte sie fest und klang dabei ein wenig besorgt. „Florian, du musst die bitte leer trinken. Da ist Medizin drin, damit du dein großes Geschäft in Zukunft ohne Schmerzen machen kannst.“
Ich zögerte kurz, nahm dann die Flasche und trank ein paar Schlucke. Der Geschmack war unglaublich süß, fast zu süß. Es war nicht gerade lecker, aber ich wusste, dass Annette nur wollte, dass es mir besser ging.
„Und wenn du musst,“ fügte sie sanft hinzu, „geh bitte gleich auf die Toilette und versuche es nicht wegzudrücken, okay?“
Ich nickte, auch wenn ich mir immer noch nicht sicher war, ob ich das wirklich hinbekommen würde. Während ich langsam wieder trank, spürte ich, wie sie mir beruhigend über den Rücken strich. Annette hatte eine Art, mich zu ermutigen, ohne Druck auszuüben, und das half mir irgendwie, den unangenehmen Gedanken an die Medizin beiseite zu schieben.
„Super!“ lobte Annette mich schon wieder, als ich die Flasche schließlich leer getrunken hatte. Es fühlte sich gut an, so oft gelobt zu werden, auch wenn ich das nicht gewohnt war. Während ich weiter an meinem Lego baute, ging Annette zu meinem Schreibtisch und begann, meine Schulsachen in meinen neuen Schulranzen um zu sortieren.
Es war irgendwie seltsam, dass sie meine Schulsachen packte, während ich mit meinem Lego spielen durfte. Zuhause hätte ich sowas niemals tun können – es hat niemand etwas für mich erledigt. Aber Annette schien das ganz selbstverständlich zu übernehmen, und das war ein schönes Gefühl.
Als sie fertig war, drehte sie sich zu mir um und sagte: „So, jetzt essen wir erst mal Abendbrot.“
Ich blickte auf und protestierte ein wenig: „Aber ich bin doch erst bei Beutel Zwei!“
Annette lächelte verständnisvoll. „Die Zeit vergeht immer so schnell, wenn etwas Spaß macht, stimmt’s?“ Ich folgte ihrem Blick zum Fenster – draußen war es inzwischen richtig dunkel geworden.
„Morgen kannst du nach der Schule weitermachen,“ fügte sie hinzu. „Wir haben morgen Nachmittag keine Termine, also fahren wir nach der Schule direkt nach Hause. Ist das okay für dich?“
Ich nickte, auch wenn ich lieber weiter gebaut hätte. Annette hatte recht, die Zeit war wirklich schnell vergangen. „Räum alles ein bisschen zusammen und komm dann runter, okay?“
„Ja, mach ich,“ antwortete ich und begann, meine fertiges Auto vorsichtig ins Regal zu stellen, direkt neben die Traktoren. Die restlichen Beutel und den angefangenen Gabelstabler legte ich ordentlich in den Karton zurück und schob ihn ebenfalls ins Regal. Ich freute mich jetzt schon darauf, morgen weiter zu bauen.
Nachdem ich aufgeräumt hatte, ging ich in die Küche. Annette und Markus saßen bereits am Tisch. Ich zögerte kurz an der Tür, unsicher, ob ich mich einfach dazu setzen durfte. Markus sah mich an und sagte freundlich: „Setz dich ruhig hin, Florian.“
Ich atmete tief durch, bevor ich mich neben Annette setzte. Es war immer noch ungewohnt, Markus gegenüber zu sitzen, aber seine freundliche Stimme ließ mich ein wenig entspannen.
Zum Brot gab es eingelegte Gurken, die Annette aus einem Glas auf den Tisch stellte. Markus sah mich an und fragte freundlich: „Was möchtest du morgen auf dein Brot haben?“
Ich fühlte mich plötzlich unsicher und traute mich nicht wirklich, etwas zu sagen. Was, wenn ich etwas Falsches sage? Er lächelte mich an und fragte: „Möchtest du Käse drauf?“
Ich nickte vorsichtig, auch wenn ich Käse eigentlich nicht so gerne mochte. Aber es war einfacher zu nicken, als etwas anderes vorzuschlagen. Für den Moment war ich einfach nur erleichtert, dass ich nichts weiter sagen musste.
Dann fragte Markus: „Und wie war dein Tag in der Schule?“
Ich überlegte kurz, bevor ich vorsichtig anfing, vom Deutsch- und Matheunterricht zu erzählen. Es war ungewohnt, so direkt nach meinem Tag gefragt zu werden, aber Markus schien wirklich interessiert zu sein. Er nickte zustimmend und sagte: „Deutsch mochte ich früher auch nicht so. Aber Mathe fand ich immer super – das hat mir richtig Spaß gemacht.“
Seine Worte gaben mir Mut, also sagte ich zögernd: „Eigentlich fand ich Mathe auch immer ganz gut… aber in den letzten paar Stunden war es irgendwie schwierig. Ich habe einiges nicht verstanden.“
Annette lächelte mich aufmunternd an und sagte: „Aber heute hast du doch schon gut gezeigt, dass du es kannst. Mit ein bisschen Übung wird es bestimmt wieder leichter.“
Ich nickte und fühlte mich etwas zuversichtlicher. Vielleicht hatte Annette recht, und mit ihrer Hilfe konnte Mathe wirklich wieder Spaß machen. Während ich einen Bissen von meinem Brot nahm, spürte ich, wie die Anspannung des Tages langsam von mir abfiel. Es war ein komisches, aber schönes Gefühl, dass sich gleich zwei Erwachsene so für mich interessierten.
Nach dem Essen sah Annette mich mit einem sanften Lächeln an. „So, kleiner Baumeister, jetzt gehst du schon mal hoch und putzt dir die Zähne. Ich komme gleich zu dir.“
Ich sah sie an und fragte hoffnungsvoll: „Liest du mir dann wieder die Geschichte vor?“
Annette nickte und lächelte. „Eins nach dem anderen, Florian. Erst machen wir dich bettfertig, und dann gibt es die Geschichte.“
Zufrieden mit ihrer Antwort lief ich schnell nach oben. Ich stellte mich auf den kleinen Hocker vor dem Waschbecken, nahm die Zahnbürste und die Zahncreme und begann mit dem Zähneputzen. Diesmal klappte es besser als gestern, und ich schaffte es, mit der elektrischen Bürste systematisch Zahn für Zahn zu putzen, so wie Annette es mir erklärt hatte.
Während ich die Zahnbürste in den Mund führte, fühlte ich mich ein kleines bisschen stolz. Es war ein kleines Erfolgserlebnis, aber es zählte für mich. Als ich fertig war, spülte ich meinen Mund aus und stellte die Zahnbürste zurück an ihren Platz.
Ich zog mich aus und löste die Klebestreifen von meiner Windel. Sie war wieder richtig schwer, und ich hatte beim Bauen gar nicht bemerkt, dass sie so voll geworden war. In diesem Moment kam Annette ins Badezimmer.
„Super, Florian,“ lobte sie mich. „Die Hose gibst du mir gleich mit, die kannst du morgen nochmal anziehen. Geh dann schnell duschen und komm danach einfach in dein Zimmer. Ich warte dort auf dich.“
Ich nickte und stieg unter die Dusche. Das warme Wasser fühlte sich gut an. Nachdem ich fertig war, trocknete ich mich ab und lief so wie ich bin zurück in mein Zimmer.
Annette sah mich kurz an und schüttelte dann mit einem kleinen Lächeln den Kopf. „Hast du dir die Haare gewaschen?“ fragte sie etwas ungläubig.
Ich nickte und verstand ihre Frage nicht. „Ja.“
„Du kannst dich auch duschen, ohne die Haare zu waschen, Florian. Das musst du nicht jeden Tag machen. Aber gut, jetzt sind sie wenigstens sauber.“
Sie verschwand kurz aus dem Zimmer und kam mit einem Handtuch und dem Föhn zurück. Sie wickelte mir das Handtuch um den Kopf und half mir, mich aufs Bett zu legen.
„Leg dich schnell hin, ich mache dir die Windel dran.“
Wie immer ging das schnell und routiniert. Annette war dabei sanft und achtete darauf, dass die Windel gut saß. Danach half sie mir in den Schlafanzug und lächelte mich aufmunternd an.
„So, jetzt machen wir dir noch schnell die Haare trocken,“ sagte sie und schaltete den Föhn ein.
Die warme Luft fühlte sich angenehm an, und Annette begann, mir dabei sanft mit ihren Händen durchs Haar zu fahren. Ihre ruhige Art und die Wärme des Föhns ließen mich immer mehr entspannen, während ich langsam müde wurde. Aber ich wollte unbedingt noch die Geschichte hören.
Als sie den Föhn ausschaltete, sagte sie: „Ich bringe den Föhn und das Handtuch schnell zurück ins Badezimmer, und dann lese ich dir noch die Geschichte vor.“
Die Vorfreude breitete sich sofort in mir aus, und ich war mir sicher, dass Annette das an meinem Gesicht ablesen konnte. Als sie wiederkam, setzte sie sich zu mir aufs Bett, zog die Decke bis zu meinen Schultern hoch und lächelte mich an.
„Du hast das heute ganz toll gemacht, Florian,“ sagte sie liebevoll.
Ich blickte sie an und fragte zögerlich: „Du hast heute früh gesagt, dass du mich lieb hast. Ich… ich hab dich auch lieb, und ich wünschte, du wärst meine richtige Mama.“
Ihre Augen veränderten sich, sie schienen plötzlich feucht zu werden, und ich spürte, dass meine Worte etwas in ihr auslösten. Sie zog mich in eine warme Umarmung und sagte: „Ich hab dich auch ganz doll lieb, Florian. Und für mich bist du mein Sohn. Ich werde dich genauso behandeln, als wäre ich deine richtige Mama. Aber…“ Sie hielt einen Moment inne. „Auch wenn deine richtige Mama bestimmt viele Fehler gemacht hat, bleibt sie deine Mama.“
Als sie die Umarmung löste, sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte.
„Muss ich irgendwann zurück zu meiner Mama?“ fragte ich mit einem Knoten im Hals, der mir fast die Stimme nahm.
Annette atmete tief durch. „Ich denke und hoffe nicht, dass du zurück musst. Aber es könnte irgendwann passieren, dass du sie wieder siehst. Vom Gesetz her haben sie ein Recht auf Kontakt zu dir.“
„Ich will das nicht!“ platzte ich plötzlich und lauter heraus, als ich wollte. Ich bemerkte, wie mein Atem schneller ging, und Annette zog mich sofort wieder in ihre Arme.
„Hey, Florian, es ist alles gut. Wir lassen dich da nicht alleine. Ich werde dich immer begleiten. Du musst nicht alleine mit ihnen sein.“ Ihre Worte und das sanfte Streicheln auf meinem Rücken beruhigten mich ein wenig, auch wenn die Angst immer noch tief in mir saß.
Nach einer Weile, in der sie mich einfach nur streichelte, sagte sie leise: „Lass uns jetzt deine Geschichte weiter lesen. Es ist schon spät.“
Sie stand nochmals auf, ging zum Regal und holte das Dino-Buch von gestern. Doch bevor sie wieder aufs Bett kam, öffnete sie die Schublade meines Nachttischs und reichte mir meinen Nuckel.
„Hier, das macht es noch ein bisschen gemütlicher,“ sagte sie mit einem Lächeln.
Ich nahm ihn entgegen, steckte ihn in den Mund und kuschelte mich zufrieden in die Decke, während Annette mit ruhiger Stimme begann, vorzulesen.
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Sehr Schöne Weiterführung der Geschichte die Gesamte Geschichte ist echt Klasse ich fühle es voll mit da ich selber ähnliche Erlebnisse durchleben musste ich kann mir leider sehr sehr gut vorstellen was in Florians Kopf Vorgehht
Freue mich auf die Fortsetzung
Wieder einmal ein wirklich sehr schöne Geschichte. Immer weiter so.
Ich danke dir für die Geschichte.
Werde gespannt warten.
Danke HDL
Ich finde, die Geschichte geht emitional sehr tief unter die Haut. Dabei sehr gut geschrieben, man fühlt förmlich am eigenen Leib die Persönlichkeiten der einzelnen Mitwirkenden, aber ganz besonders Florian und Annette. Wobei auch die übrigen Mitwirkenden sehr gut zur Geltung kommen.
Ich wiederhole mich zwar üblicherweise ungern, erstens: Tränen in den Augen, zweitens: diesen Teil förmlich verschlungen und drittens: bitte ganz schnell den nächsten Teil!! DANKE
Seit wann ist das denn eine KI Geschichte?
Ich frage mich auch, warum sie plötzlich in die „KI“-Kategorie eingeordnet wird.
Für mich ist das eine ganz normale Jungen-Geschichte, die mit künstlicher Inteligenz nichts zu tun hat und die ich auf einer Konkurenz-Plattform verfolge.
Ich finde sie sehr spannend und emotional und freue mich, dass der Protagonist nun endlich Leute findet, die ihn so lieb haben, wie er ist!
Ich nutze eine KI zur Korrektur der Rechtschreibung, daher wird es entsprechend kategorisiert.
Tolle Ausführungen. Die gesamte Gefühlswelt wurde hier aufgelistet und beschrieben.
Wow, Florian hat inzwischen gelernt wie es ist geliebt zu werden, und fängt an mit seinen Leiblichen Eltern abzuschließen, und sich in der neuen Familie zu integrieren. Ich nehme an das den Leiblichen Eltern es Recht ist sich nicht mehr um den Sohn kümmern zu müssen, denn wenn es so wäre, würden sie alle Hebel in Bewegung setzen um das Kind wieder zu bekommen. Ich hoffe doch daß das Jugendamt dieses verhindern wird, denn die Mißhandlung ist zweifelsfrei nachweißbar. Ich fände es gut das Florian mehr Vertrauen zu Markus aufbauen würde.
Ich finde es ein bisschen SCHADE
dass du deine Kapitel hier w4 Tage später veröffentlichst als anderswo
Hier läst sich die Geschichte aber viel besser lesen und vorstellen
ES wäre foch schön wenn du deine Kapitel auf beiden Webseiten gleichzeitig veröffentlichst
Das liegt nicht nur am Author da hier die Geschichten Noch mal vom Team geprüft werden kommt es oft zu Starken Verzögerungen bei der Veröffentlichung