Florians Schatten (15)
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Ich sitze in der Klasse, aber etwas ist anders. Es ist so still, und alle Augen sind auf mich gerichtet. Ich blicke an mir herunter und spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt – ich trage nichts außer einer Windel. Richard steht auf und lacht laut, sein Finger zeigt auf mich. „Schaut euch das an, ein Baby in Windeln!“ Die ganze Klasse stimmt ein, das Lachen wird ohrenbetäubend. Ich will etwas sagen, doch meine Stimme bleibt mir im Hals stecken. Ich fühle mich so klein, so hilflos.
Panisch renne ich aus dem Klassenzimmer, die Wände scheinen näher zu kommen, alles wird enger. Plötzlich öffne ich eine Tür und stehe in meinem alten Zimmer. Es riecht nach meinem Zuhause, aber es fühlt sich nicht sicher an. Ehe ich reagieren kann, stehe ich direkt vor meinem Vater. Sein Gesicht ist wütend, seine Augen bohren sich in mich hinein. „Was soll das? Windeln? Du bist doch kein Baby mehr!“
Ich spüre es plötzlich – Wärme, die sich in der Windel ausbreitet. Ich habe eingepullert, direkt vor ihm. Mein Vater sieht es, seine Wut eskaliert. „Hast du dich jetzt auch noch eingepisst?“ brüllt er. Ich gehe einen Schritt zurück, stolpere und fange an zu weinen. „Es tut mir leid! Bitte nicht, Papa! Bitte tu mir nicht weh!“ flehe ich.
Er hebt die Hand, sein Blick ist dunkel, voller Zorn. Ich will mich ducken, mich schützen, aber ich kann nicht. Plötzlich erscheint meine Mutter im Raum. Ihre Stimme ist kalt. „Was fällt dir ein, wieder Windeln zu tragen? Und jetzt pinkelst du auch noch tagsüber ein?“ Ihre Worte sind wie Messer, und ich weine noch lauter. „Bitte, bitte, keine Bestrafung! Ich mache es nicht wieder!“ flehe ich beide an.
Doch da höre ich plötzlich eine andere Stimme, warm und ruhig, die alles andere übertönt. „Florian, es ist gut. Alles ist gut. Es ist nur ein Traum.“ Die Stimme kommt aus dem Nichts, aber sie durchdringt die Dunkelheit. Ich kenne diese Stimme.
Mit einem Ruck wache ich auf. Alles ist verschwommen, ich spüre Arme, die mich halten, und sehe Annette, die mich sanft auf ihrem Schoß wiegt. „Es war nur ein Albtraum, mein Schatz,“ sagt sie mit ruhiger Stimme, während sie mir über den Rücken streicht. Die Tränen fließen unaufhörlich, und ich kann nichts dagegen tun. „Es tut mir leid!“ schluchze ich.
„Du musst dich für nichts entschuldigen, Florian,“ sagt Annette. Ihre Stimme ist fest, aber liebevoll. „Ich bin hier, und niemand wird dir etwas tun. Es war nur ein Traum.“ Sie wiegt mich weiter, ihre Umarmung ist warm und sicher. Langsam beginne ich, mich zu beruhigen, aber die Erinnerungen aus dem Traum sind noch so nah, so real.
Annette nimmt mich schließlich hoch, hält mich fest in ihren Armen und wiegt mich weiter. „Alles ist gut, mein Schatz. Ich lasse dich nicht alleine,“ sagt sie immer wieder, bis ich in ihrem Arm wieder einschlafe.
Als ich das nächste Mal die Augen öffne, bin ich nicht in meinem Bett. Ich liege bei Annette. Annette schläft, ihre Hand ruht sanft auf meinem Rücken. Ich rutsche ein kleines Stück näher, kuschle mich an sie und spüre, wie die Angst die immer noch da ist, langsam nachlässt. Ihre Nähe gibt mir das Gefühl, sicher zu sein. Für diesen Moment ist alles gut.
Als nächstes höre ich leise Musik, und die Matratze bewegt sich leicht neben mir. Als ich die Augen öffne, sehe ich Annette und Markus, die beide noch im Bett sitzen. Annette schaut mich an, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, während Markus leise aufsteht. Ich sage nichts, mein Kopf ist noch schwer vom Schlaf. Annette streichelt mir beruhigend über die Stirn. „Du kannst ruhig noch ein bisschen schlafen, Florian. Ich wecke dich, wenn du aufstehen musst,“ sagt sie leise.
Ich schließe die Augen wieder und lasse mich von ihrer warmen Stimme und dem sanften Streicheln in den Schlaf wiegen. Die Geborgenheit fühlt sich so vertraut und sicher an, dass ich keinen weiteren Gedanken verschwenden möchte. Doch was wie ein kurzer Augenblick scheint, wird jäh durch erneutes Streicheln unterbrochen. „Aufstehen, Florian,“ höre ich Annette sagen, ihre Stimme sanft, aber zugleich bestimmt. Widerwillig drehe ich mich weg und ziehe die Decke enger um mich, als könnte ich so dem Moment entkommen und einfach weiterschlafen. Doch Annette lässt nicht locker.
„Florian, es ist Zeit,“ sagt sie erneut, etwas deutlicher. „Komm, ich trage dich in die Küche.“
Ich drehe mich langsam wieder zu ihr, mein Widerstand schwindet. Ohne zu protestieren lasse ich mich von ihr hochnehmen. Ihre Arme sind warm, und ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Während sie mich durch den Flur trägt, streichelt sie mir über den Rücken. „Ich verstehe, dass du nach so einer Nacht noch müde bist,“ sagt sie mit sanfter Stimme. Ihre Worte beruhigen mich, auch wenn ich immer noch das Gefühl habe, zu wenig geschlafen zu haben.
In der Küche setzt sie mich vorsichtig auf einen Stuhl, der genauso wie gestern vorbereitet ist. Ein Schüssel mit Cornflakes, eine Tasse Kakao und heute ein paar Stücke Orange anstelle von Apfel. Es ist alles so vertraut und gleichzeitig neu für mich, dass ich kurz innehalte, bevor ich einen Blick auf den Tisch werfe.
Beim Hinsetzen spüre ich es – die Windel. Sie fühlt sich warm und schwer an, ein vertrautes, aber trotzdem irgendwie unangenehmes Gefühl. Ich merke jetzt erst richtig, wie nass sie ist.
Ich greife nach dem Kakao, trinke einen Schluck und lasse die Wärme des Getränks ein wenig von meiner Müdigkeit vertreiben. Während ich die Orange auf dem Teller anschaue, spüre ich, wie Annette mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Ihre Geduld und Ruhe machen mir klar, dass ich heute alles schaffen werde – auch wenn es mir gerade noch schwerfällt, richtig wach zu werden.
Nachdem ich meinen letzten Schluck Kakao getrunken hatte, fragte Annette mich sanft: „Bist du fertig, mein Schatz?“ Ich sah zu ihr auf und nickte. Sie lächelte und stand auf. „Gut, wir sind heute ein bisschen später dran. Ich helfe dir schnell beim Fertigmachen.“ Es überraschte mich, wie ruhig und gelassen sie war, obwohl wir offensichtlich unter Zeitdruck standen. Ich hatte beim Frühstück nichts davon bemerkt.
Sie hob mich hoch, und ich ließ meinen Kopf kurz auf ihre Schulter sinken. Es war immer noch ungewohnt, so getragen zu werden, aber es fühlte sich sicher an. In meinem Zimmer setzte sie mich vorsichtig auf mein Bett und streichelte mir über die Schulter. „Heb mal die Arme hoch,“ sagte sie sanft. Ich folgte ihrer Anweisung, und sie zog mir mein Schlafanzug-Oberteil aus, um mir ein frisches Unterhemd und einen warmen Pullover anzuziehen. Der Stoff fühlte sich weich an und roch nach dem Waschmittel, das sie benutzt hatte.
„Leg dich bitte kurz hin“, sagte sie sanft, während sie vorsichtig meine Hose herunterzog und die Klebestreifen der Windel löste. Mit geübten Handgriffen reinigte sie mich sorgfältig mit Feuchttüchern. „Möchtest du nochmal auf die Toilette?“ fragte sie ruhig. Ich überlegte kurz, versuchte zu erspüren, ob meine Blase sich bemerkbar machte, und schüttelte schließlich den Kopf. „Dachte ich mir“, sagte Annette lächelnd, während sie mir eine frische Windel anlegte. Es war nicht unangenehm, aber dennoch ungewohnt. So umsorgt zu werden, kannte ich nicht. Selbst als ich jünger war, hatte ich mich meistens alleine um alles kümmern müssen. Jetzt lag ich einfach da und ließ es geschehen.
„So, fast fertig,“ sagte Annette und half mir in die restlichen Kleidungsstücke. Ich schlüpfte in meine Socken, danach zog sie mir wieder die Latzhose an. Die fand ich toll, weil sie meine Windel verbarg, aber es fühlte sich immer noch komisch an, vollständig angezogen zu werden. Sie kniete sich vor mich und sah mir in die Augen. „Du bist ein toller Junge, weißt du das?“ sagte sie mit einem Lächeln, das es mir ganz warm im Bauch wurde.
Im Flur waren meine Schuhe und Jacke bereits griffbereit – Annette hatte an alles gedacht. Sorgfältig half sie mir zuerst in die Jacke und setzte mir dann die Mütze auf, bevor sie sich selbst anzog. Sobald sie fertig war, gingen wir gemeinsam nach draußen. Markus saß bereits im Auto, der Motor lief, und als Annette die Tür öffnete, schlug mir angenehm warme Luft entgegen.
„Rein mit dir,“ sagte sie, während sie mich auf meinen neuen Kindersitz setzte. Sie schnallte mich sorgfältig an, strich mir kurz über die Wange und setzte sich dann auf den Beifahrersitz. „Alles gut?“ fragte sie und drehte sich zu mir um, bevor Markus losfuhr.
Draußen war es noch dunkel, es lag immer noch Schnee, aber der Himmel war klar, und es hatte aufgehört zu schneien. Die Einfahrt war von Markus‘ Räum Aktion gestern noch gut freigeräumt, aber an den Seiten türmte sich der Schnee. Der Motor klang heute lauter, und ich konnte spüren, wie Markus zügiger fuhr als Annette. Die Beschleunigung drückte mich leicht in den Sitz, was ein ungewohntes Gefühl war.
Ich schaute aus dem Fenster, die schneebedeckte Landschaft flog an uns vorbei. Der Kontrast zwischen der Kälte draußen und der Wärme im Auto war angenehm, aber ich konnte mich nicht ganz entspannen. Ich dachte an die Schule, an Paul und daran, was Richard heute sagen würde.
Markus parkte das Auto auf dem Parkplatz direkt vor der Schule. Mein Herz schlug schneller, als Annette meine Tür öffnete und ich mich abschnallte. Es war immer noch kalt, und ich vergrub mein Gesicht kurz in meinem Schal, während nnette mich an der Hand hielt. Ihr Griff war warm und sicher, aber dennoch konnte ich das Kribbeln in meinem Bauch nicht abstellen.
Markus folgte uns mit meinem neuen Schulranzen in der Hand. Ich sah, wie die Flugzeuge darauf im Licht der Laternen glänzten. Es fühlte sich komisch an, nicht alleine in die Schule zu gehen, aber gleichzeitig war ich froh, dass Annette da war. Sie sprach nicht viel, während wir über den Schulhof gingen, doch ihre Nähe beruhigte mich ein wenig. Markus wirkte ruhig und aufmerksam, was mich ebenfalls etwas entspannte.
Vor der großen Eingangstür ließ Annette mich Annette los. „So, mein Schatz,“ sagte sie sanft, „wir kommen noch kurz mit rein.“ Ich nickte und schaute kurz über den leeren Schulhof. Kein Richard, keine Svenja, niemand, der mich gleich auslachen würde. Es war still, nur das Knirschen unserer Schritte im Schnee begleitete uns.
Zu dritt gingen wir ins Gebäude. Die Wärme im Flur ließ mich die Kälte draußen sofort vergessen. Ich sah ein paar Kinder, die eilig durch die Gänge liefen und in ihre Klassenräume verschwanden. Der Weg nach oben war vertraut, und doch fühlte es sich heute anders an – vielleicht, weil Markus dabei war, oder weil Annette mich nicht alleine ließ.
Vor meinem Klassenraum war niemand mehr. Ich hörte das leise erzählen meiner Mitschüler durch die geschlossene Tür. Annette klopfte an, öffnete dann die Tür und schob mich sanft hinein. Frau Siegel stand vorne am Lehrer pult und blätterte gerade im Klassenbuch. Sie hob den Kopf und lächelte mich freundlich an. „Guten Morgen, Florian,“ sagte sie in einem warmen Ton.
Ich spürte Markus hinter mir, der mir den Schulranzen reichte. „Danke,“ murmelte ich leise und nahm ihn entgegen. Annette kniete sich noch einmal kurz zu mir hinunter, strich mir über die Wange und sagte mit einem Lächeln: „Viel Spaß heute. Bis nachher, mein Schatz. Ich hab dich lieb.“ Ihre Worte lösten ein warmes Gefühl in mir aus, und ich erwiderte leise: „Ich dich auch.“ Dann drückte ich den Schulranzen an mich und huschte schnell zu meinem Platz, ohne mich noch einmal umzusehen.
Paul grinste breit, als ich mich neben ihn setzte. „Morgen,“ flüsterte er mir zu. Ich erwiderte das Lächeln und sagte: „Morgen.“ Frau Siegel sah mich mit einem freundlichen Blick an und sagte: „dann sind wir ja vollzählig.“ Ich nickte schüchtern und holte meine Sachen hervor, während meine Hände leicht zitterten – vielleicht vor Kälte, vielleicht vor Aufregung.
Alles fühlte sich ein bisschen besser an, weil Annette und Markus mich begleitet hatten. Auch wenn der Tag gerade erst anfing, fühlte ich mich nicht ganz so allein.
Paul drehte sich zu mir, kaum dass ich mich richtig auf meinem Platz niedergelassen hatte. „War das dein neuer Papa?“ fragte er Neugierig. Ich nickte, ein bisschen zögerlich. „Boah, ist der aber groß,“ sagte Paul mit großen Augen. Ich nickte wieder, ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass Markus tatsächlich ziemlich groß war – zumindest größer als die meisten anderen Erwachsenen, die ich kannte.
Frau Siegel unterbrach unser Gespräch: „Holt bitte eure Hausaufgaben heraus.“ Zum aller ersten Mal, seit ich in die Schule ging, konnte ich das mit einem ruhigen Gewissen tun. Ich öffnete stolz meinen neuen Schulranzen und holte mein Deutsch-Arbeitsheft und das Blatt mit meinem kleinen Aufsatz heraus. Es fühlte sich gut an, vorbereitet zu sein. Ich legte alles ordentlich auf meinen Tisch und warf einen kurzen Blick zu Paul, der mich ermutigend angrinste.
Frau Siegel ging langsam durch die Reihen und überprüfte die Hausaufgaben. Bei manchen Schülern lobte sie die saubere Arbeit, bei anderen runzelte sie die Stirn und fragte nach einer Erklärung, warum sie ihre Aufgaben nicht gemacht hatten. Als sie bei Richard stehen blieb, bemerkte ich, wie er nur die Schultern zuckte und sagte: „Hab ich vergessen.“ Frau Siegel seufzte, sagte aber nichts weiter.
Dann kam sie zu unserem Tisch. „Sehr gut, Paul,“ lobte sie meinen Freund und nickte anerkennend. Danach wandte sie sich mir zu. „Florian, zeig mir mal deine Hausaufgaben.“ Mein Herz klopfte schneller, während sie über meinen Aufsatz schaute. Ich wusste, dass Annette mir sehr geholfen hatte, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, viel davon selbst gemacht zu haben.
Frau Siegel schaute mich an und lächelte. „Das sieht sehr gut aus, Florian. Hast du das ganz alleine gemacht?“ Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. „Annette hat mir geholfen,“ murmelte ich ehrlich, während ich auf die Tischkante schaute. „Hat sie dir gesagt, was du schreiben sollst?“ fragte Frau Siegel ruhig.
Ich hob vorsichtig den Kopf und erklärte: „Sie hat mir geholfen, aber nicht vorgesagt.“ Frau Siegel nickte zufrieden. „Sehr schön, Florian. Das freut mich. Mach weiter so.“ Ihre Worte fühlten sich wie eine warme Umarmung an, und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Paul stupste mich leicht mit seinem Ellenbogen an. „Gut gemacht,“ flüsterte er leise.
In diesem Moment fühlte ich mich nicht nur stolz, sondern auch ein kleines bisschen mehr wie die anderen Kinder.
Der restliche Deutschunterricht verlief ganz ruhig, ohne besondere Überraschungen. Ich freute mich schon auf die erste Pause, denn Paul wollte unbedingt mehr über meinen gestrigen Tag wissen. Kaum hatte es geklingelt, saßen wir auch schon zusammen und ich erzählte ihm stolz von unserem Einkauf und meinem neuen Schulranzen, den er natürlich sofort bestaunte. „Boah, der ist echt cool!“ sagte er, während er mit den Fingern über das Flugzeug-Motiv fuhr.
„Ja, und außerdem habe ich jetzt auch einen neuen Kindersitz im Auto“, fügte ich hinzu, wobei mir immer noch ein kleines Kribbeln im Bauch blieb, wenn ich an den Kauf gestern dachte. „Aber das Wichtigste“, fuhr ich fort, „ist die Lego-Eisenbahn, die ich mir aussuchen durfte. Ich hab gestern nach den Hausaufgaben schon angefangen, sie aufzubauen!“
Paul riss die Augen auf. „Wow! So eine habe ich letztes Weihnachten bekommen!“ Seine Begeisterung war unübersehbar. Endlich hatten wir beide ein gemeinsames Thema, über das wir reden konnten, ohne dass ich mich ausgeschlossen fühlte. Dieses Gefühl war richtig schön.
Plötzlich spürte ich, wie es warm in meiner Windel wurde. Mein Redefluss stoppte, und ich nahm mir einen Moment, um das unangenehme Gefühl zu verarbeiten. Paul stutzte, weil ich nicht mehr auf seine Frage antwortete, wie weit ich beim Aufbauen der Bahn gekommen war. Er legte den Kopf schief und schaute mich fragend an. Dann fragte er leise: „Hast du gerade…?“ und deutete mit den Augen auf meine Hüfte.
Ich nickte nur kurz und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Er lächelte mich jedoch verständnisvoll an und flüsterte: „Das kenne ich.“ Ich musste auch ein wenig lächeln – irgendwie war es beruhigend, dass er das gleiche Problem hatte.
Leider war das Pausen klingeln viel zu schnell da. Diesmal stand Kunstunterricht an, es kam Frau Hopf ins Zimmer. Ich mochte Kunst sowieso nicht besonders, und Frau Hopf wusste das ganz genau. Noch dazu hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht wirklich leiden konnte. Eigentlich wusste ich gar nicht, warum – sie hatte mich noch nie wirklich nett behandelt.
Sie betrat das Klassenzimmer mit schnellen Schritten, einen Stapel kleiner Spiegel unter dem Arm. Ohne zu zögern, begann sie, die Spiegel an die Schüler zu verteilen, während sie mit einer Stimme, die scharf wie ein Messer war, rief: „Guten Morgen, Kinder! Heute arbeiten wir an einem Selbstporträt. Nehmt eure Buntstifte und ein großes Blatt Papier!“ Die Schärfe in ihrem Ton ließ meine Schultern unwillkürlich anspannen.
Ich kramte in meiner neuen Federmappe und suchte nach dem passenden Stiften. Dabei fiel mir auf, wie viele bunte Stifte darin waren, und es dauerte eine Weile, bis ich endlich den richtigen hervorholte. Einen kurzen Moment lang warf ich einen unsicheren Blick zu Paul, doch er war gerade selbst in sein eigenes Stiftechaos vertieft. Ich wollte ihn nicht stören und wandte mich deshalb wieder meiner Federmappe zu, während mir die bunten Farben kurz die Nervosität nahmen.
„Florian!“ ertönte Frau Hopfs Stimme durch den Raum, und mein Herz sprang in die Höhe. „Wir warten auf dich! Du hast doch wohl etwas zum Zeichnen, oder?“ Ihre Augen funkelten, als fände sie es beinahe lustig, mich so unter Druck zu setzen.
„Ja, Frau Hopf…“, murmelte ich, zog ein Blatt Papier hervor und legte es auf meinen Tisch.
„Nun gut. Dann fangt mal an, euer Gesicht zu zeichnen. Wer Hilfe braucht, kann sich melden, aber ich erwarte, dass ihr wenigstens einen Versuch macht!“ Sie warf mir einen besonders durchdringenden Blick zu. Ich schluckte.
Ich begann, mit einem Bleistift einen Kreis zu zeichnen, aber mein Kreis war total krumm. Ich probierte es nochmal, aber auch das gelang mir nicht besser. Das Schlimmste war, dass ich nicht einmal so genau wusste, wie ich mein Gesicht mit Augen, Nase und Mund richtig anordnen sollte. Annette hätte mir das bestimmt erklären können, dachte ich sehnsüchtig, während ich verzweifelt ein zweites und drittes Mal radierte.
„Sooo, Zwenja, das sieht wirklich großartig aus!“ rief Frau Hopf plötzlich quer durch den Raum. Zwenja war ihre Lieblingsschülerin und wurde häufig von ihr gelobt. Auch wenn Zwenja mich nicht mochte, musste ich zugeben, dass sie wirklich außergewöhnlich gut zeichnen konnte – etwas, wovon ich nur träumen konnte.
„Also, Talent zum Zeichnen hast du ja nun wirklich nicht, aber das war auch nicht zu erwarten“, meinte Frau Hopf in meine Richtung. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ich spürte Pauls Blick auf mir, doch ich brachte es nicht fertig, ihn anzusehen. Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag, als wollte sie mir unmissverständlich klarmachen, dass ich ein Versager war. Innerlich wollte ich nur noch wegrennen. Ein brennendes Gefühl stieg mir in die Augen, aber ich kämpfte verzweifelt dagegen an, in Tränen auszubrechen.
Zwenja warf mir einen triumphierenden Blick zu. Natürlich freute sie sich, mich in Verlegenheit zu sehen. Ich schwieg, senkte den Blick und setzte stumm den Stift an. Die Hand zitterte mir ein wenig. Warum kann ich es nicht einfach so hinkriegen wie die anderen? Es fühlte sich an, als wäre ich der Einzige, der es nicht verstand. Noch dazu wusste ich, dass meine Windel schon wieder ziemlich schwer war. Ich hatte Angst, dass jemand das rauskriegen könnte.
Während ich da saß, strich mein Bleistift fahrig über das Papier. Ein Auge größer als das andere, die Nase schief, der Mund zu weit unten. Ich spürte den Kloß in meinem Hals immer stärker werden. Wenigstens habe ich Paul, dachte ich. Vielleicht versteht er mich.
Gegen Ende der Stunde sammelte Frau Hopf einige Arbeiten ein und lobte verschiedene Kinder für ihre schönen Zeichnungen. Meines ließ sie achtlos liegen, musterte es nur kurz und sagte dann laut genug, dass ich es hörte: „Na ja, da ist noch viel Luft nach oben.“ Ihre Stimme klang gelangweilt.
Luft nach oben. Ich biss die Zähne zusammen. In mir war eine Mischung aus Scham und Wut. Wenn Annette hier wäre, könnte sie mir helfen, dachte ich. Aber sie war nicht da, und ich war ganz auf mich allein gestellt – so fühlte es sich jedenfalls an.
Dann klingelte es zur nächsten Pause, und ich atmete erleichtert auf. Wenigstens bin ich dem Kunstunterricht erstmal entkommen, schoss es mir durch den Kopf. Schnell packte ich meine Sachen zusammen und versuchte, nach vorn zu schauen, ohne Frau Hopfs Blick zu treffen. Morgen wird bestimmt besser, hoffte ich insgeheim, während ich zusammen mit Paul das Klassenzimmer verließ.
Paul holte seine Brotbüchse hervor und öffnete sie, also tat ich es ihm gleich. In meinem Kopf schwirrte noch immer die Frage herum, warum Frau Hopf mich so auf dem Kieker hatte. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, fragte Paul plötzlich: „Warum hat sie eigentlich immer dich im Visier?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht weil ich nicht so gut malen kann,“ antwortete ich und klappte meine eigene Brotbüchse auf. Darin lag das Käsebrot, das Markus mir gestern Abend vorgeschlagen hatte, und nebenan ein paar Paprika streifen. Ich nahm einen Bissen vom Brot und verzog sofort das Gesicht. Wie erwartet schmeckt mir das nicht, dachte ich. Also legte ich es zurück und aß stattdessen die Paprika streifen, die waren viel besser.
Paul sah mich kurz an: „Aber ich kann auch nicht besser malen als du, und trotzdem lässt sie mich in Ruhe.“
Er klang ein bisschen empört, als würde er das ungerecht finden. Ich dachte daran, wie seine Zeichnungen in meinen Augen immer besser aussahen als meine. Vielleicht sieht er das anders, überlegte ich, während ich den letzten Paprika streifen kaute. Zeichnen ist eben nicht mein Ding.
Paul nahm noch einen großen Schluck aus seiner Trinkflasche. Ich überlegte, ob ich es ihm gleich tun sollte. Eigentlich hatte ich ein wenig Durst, aber die Angst, dass meine Windel zu voll werden könnte, war noch irgendwo in meinem Hinterkopf. Dann erinnerte ich mich, wie viel die Windel gestern ausgehalten hatte. Außerdem trinke ich ja nur einen Schluck, nicht die ganze Flasche, beruhigte ich mich. Also griff ich nach meiner Flasche und Trank einen großen Schluck.
Plötzlich fragte Paul: „Hast du schon mal gefragt, ob ich dich in deinem neuen Zuhause besuchen darf?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich frage, versprochen.“ Ich versuchte zu lächeln, weil ich mich sehr darüber freuen würde, wenn Paul mich besuchen könnte.
Kaum hatte ich meinen Satz beendet, tauchte Richard wieder an unserem Tisch auf. Er schenkte mir einen abschätzigen Blick, musterte mich. „Na, hast du wieder deine Baby-Klamotten an, Zwerg?“ zischte er. Ich spürte sofort, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Warum muss er immer so gemein sein?
Paul ließ das nicht auf mir sitzen. Er stützte die Hände auf den Tisch und konterte laut: „Lieber eine coole Latzhose als ein fieser Blödmann, der nicht mal seine Hausaufgaben macht!“
Bei diesen Worten lief Richard rot an, und seine Augen funkelten vor Wut. „Halt die Klappe, du Streber!“ fauchte er und funkelte auch Paul wütend an, als hätte der gerade etwas Ungeheuerliches gesagt.
In diesem Moment betrat Frau Siegel den Klassenraum. Sie sah nur, wie Richard sich zu uns umdrehte, aber bevor sie etwas sagen konnte, drehte er sich weg und rauschte zu seinem Platz zurück. Ich atmete auf. Zum Glück sind wir ihn jetzt los, dachte ich, auch wenn mein Herz noch heftig klopfte.
Die Pause war zu Ende, und als alle wieder auf ihren Plätzen saßen, begann der Heimatkunde-Unterricht. Frau Siegel verteilte ein paar Arbeitsblätter und erklärte, dass wir uns heute mit den verschiedenen Landschafts formen in Bayern beschäftigen würden. Wir sollten die Berge, die Ebenen und die Flüsse in einer kleinen Karte einzeichnen. Ich nahm mein Blatt entgegen und betrachtete die Umrisse, die eher wie ein unfertiges Puzzle aussahen.
„Füllt bitte zunächst aus, wo ihr glaubt, dass die Alpen liegen, und wo sich das Flachland befindet,“ sagte Frau Siegel mit ruhiger Stimme. Das klang erst einmal gar nicht so schwer, denn ich wusste, dass die Alpen ganz im Süden sind. Trotzdem hatte ich ein bisschen Angst, etwas falsch zu machen. Am Ende lacht mich wieder jemand aus, spukte es in meinem Kopf herum.
Paul stupste mich an. „Hey, schau, hier unten kommen die Berge hin,“ flüsterte er. Ich nickte dankbar, zeichnete eine kleine Linie und markierte sie als Alpenrand.
Als Nächstes sollten wir die wichtigsten Flüsse einzeichnen. Ich kannte zumindest den Main und die Donau. Frau Siegel ging umher, schaute uns über die Schulter. Ich merkte, wie sie den Kindern behutsam Tipps gab. Immer, wenn ich nicht weiterwusste, sah ich zu Paul, und er zeigte mir stumm eine Stelle auf seiner Karte. Vielleicht ist Heimatkunde gar nicht so schlimm, dachte ich, wenn ich mich einfach traue zu fragen.
Nach einiger Zeit rief Frau Siegel: „So, wer ist fertig?“ Paul meldete sich sofort, und auch ich hob zögernd die Hand. Frau Siegel ging herum, machte ein paar Anmerkungen bei den anderen Kindern, kam dann zu mir und Paul. Sie warf einen kurzen Blick auf meine Karte, lächelte und sagte: „Gar nicht schlecht, Florian. Wenn du noch den Fluss hier einzeichnest, hast du alles Wichtige.“ Sie zeigte auf einen dünnen Strich, den ich fast übersehen hätte.
Ich atmete auf und ergänzte rasch den fehlenden Fluss. Zum Glück klappt das heute besser, dachte ich mit einem kleinen Anflug von Stolz. Frau Siegel ging weiter, und ich tauschte einen zufriedenen Blick mit Paul.
Wenig später klingelte es, und die Stunde war vorbei. Ich war ein bisschen erschöpft, aber froh, dass dieser Teil des Tages ohne weitere Zwischenfälle verlaufen war. Frau Siegel verabschiedete uns in die nächste Pause, und ich machte mich bereit, um endlich ein wenig Luft zu holen und hoffentlich nicht wieder in einen Streit mit Richard zu geraten.
Noch eine Stunde Musik mit Frau Porsche, dann ist endlich Schulschluss. In der Pause erzählte mir Paul von einem Spiel, das mir irgendwie bekannt vorkam. Ich überlegte kurz und sagte, dass ich es schon mal bei Nathanael gespielt hatte. „Du kennst Minecraft?“ fragte Paul mit großen Augen. Ich nickte und meinte: „Ja, genau so hieß das Spiel.“ Daraufhin erzählte er mir begeistert, dass man dort richtig coole Sachen mit Schienen bauen konnte. Davon hatte ich keine Ahnung, ich war verblüfft, wie viel mehr es in Minecraft zu entdecken gab, als ich gedacht hatte.
Während wir so redeten, kam Richard wieder an uns vorbei. „Wir haben noch eine Rechnung offen“, zischte er und verschwand aus dem Klassenzimmer. Ich sah Paul fragend an. „Was meint er damit?“ Paul zuckte nur mit den Schultern. „Der sucht bloß Streit. Mein Papa sagt immer: ‚Bellende Hunde beißen nicht.‘“ Ich war mir da allerdings nicht so sicher. Paul wirkte aber völlig unbesorgt.
„Hast du in deinem neuen Zuhause auch einen Computer?“ fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber dafür hab ich total viele Autos und sogar zwei große Traktoren in meinem Zimmer“, sagte ich stolz. „Die gehörten Sebastian – das ist Annettes Sohn. Aber der wohnt woanders, also hab ich sie für mich ganz allein.“
Paul hob eine Augenbraue. „Ach so, Sebastian. Von dem hast du mir ja noch gar nichts erzählt. Wie ist der so?“
Ich zuckte die Schultern. „Weiß ich nicht, ich hab ihn noch nie gesehen. Er studiert in München.“
„Aha“, meinte Paul, klang aber nicht weiter verwundert.
Dann klingelte es zur nächsten Stunde, und Richard kam rasch ins Klassenzimmer zurück. Dabei warf er uns einen bösen Blick zu, als wollte er uns an seine Warnung erinnern. Doch wir hatten gar keine Zeit, uns darüber weiter den Kopf zu zerbrechen, denn Frau Porsche kam zur Tür herein. Sie begrüßte uns mit einem breiten Lächeln, und sofort wurde es etwas lauter im Klassenzimmer.
Frau Porsche war immer gut gelaunt, und das spürte man schon, wenn sie den Raum betrat. Auch wenn ich Musik nicht besonders mochte, freute ich mich dennoch, dass sie uns unterrichtete. Sie hatte meistens eine Gitarre dabei oder stellte eine alte Stereoanlage auf den Lehrertisch. Heute begann sie mit einem fröhlichen „Guten Morgen, liebe Klasse!“, woraufhin wir alle „Guten Morgen, Frau Porsche!“ riefen.
Dann forderte sie uns auf, aufzustehen und uns zu lockern – wir machten ein paar einfache Bewegungs übungen: Arme schütteln, Schultern kreisen, einmal tief durchatmen. „Musik macht viel mehr Spaß, wenn der Körper wach ist“, sagte sie immer. Ich fand das zwar ein bisschen albern, aber Frau Porsche lächelte so ansteckend, dass man fast automatisch mitmachte.
Heute sollten wir ein einfaches Lied singen, das wir schon ein paar Mal geübt hatten: ein Kinderlied über den Frühling. Frau Porsche schrieb uns nochmal den Text an die Tafel. Ich kannte die Wörter schon, aber ich war kein guter Sänger, und ich mochte es nicht besonders, laut vor anderen zu singen. Trotzdem versuchte ich es, zumindest ein bisschen. Paul sang mit voller Stimme und wippte sogar im Takt. Ein paar Kinder klatschten in die Hände, und Frau Porsche begleitete uns auf ihrer Gitarre.
Nachdem wir das Lied ein paarmal durchgesungen hatten, stellte sie uns eine neue Übung vor. Wir sollten versuchen, verschiedene Rhythmen zu klatschen, während sie mit dem Fuß den Grundschlag gab. „Ganz leicht“, dachte ich zuerst. Doch als sie uns aufforderte, die erste und dritte Zählzeit zu klatschen, und die zweite und vierte Zählzeit nur mit den Fingern zu schnipsen, wurde mir schnell schwindelig im Kopf. Ich geriet ständig durcheinander, schnipste dann auf der falschen Stelle oder klatschte zu spät. Neben mir grinste Paul fröhlich, weil es ihm offenbar leichter fiel.
„Keine Sorge, Florian,“ sagte Frau Porsche, als sie meine Unsicherheit bemerkte. „Wir üben das noch öfter, und du wirst sehen, das klappt bald wie von selbst.“ Sie hatte dabei ein so freundliches Strahlen im Gesicht, dass ich mich ein wenig beruhigte.
Am Ende der Stunde bat sie uns, unsere Hefter herauszuholen, um einen kleinen Musik-Songtext abzuschreiben, den wir beim nächsten Mal üben wollten. Ich stöhnte leise, weil ich schon an Mathe und Deutsch denken musste, die mir viel wichtiger erschienen. Aber Frau Porsche erzählte uns mit ihrer fröhlichen Stimme, wie schön es sei, wenn wir alle gemeinsam im Chor singen könnten. Ich gab mir Mühe, ihre Begeisterung ein wenig nachzuempfinden.
Schließlich klingelte es, und damit war die letzte Stunde vorbei. Schulschluss für heute! Ich war erleichtert. Paul und ich packten unsere Sachen ein und warfen uns erleichterte Blicke zu. Wenigstens ist Richard heute nicht erneut auf uns losgegangen, dachte ich. „Komm, wir gehen zusammen runter,“ schlug Paul vor. Ich nickte, mein Ranzen schlenkerte ein wenig an meinem Rücken, und wir machten uns auf den Weg zur Tür, gespannt auf das Mittagessen, was es heute gab.
Paul und ich machten uns wie immer auf den Weg zur Kantine. Meine Laune war eigentlich gut, bis plötzlich Richard mit seinen beiden Freunden, Collin und Lasse, direkt vor dem Eingang auftauchte und uns den Weg versperrte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte uns an. „So, ihr Zwerge, jetzt zeig ich euch, was passiert, wenn ihr mich beleidigt“, zischte er.
Paul stellte sich ihm gegenüber und sagte selbstbewusst: „Du hast doch selbst angefangen …“
Richard reagierte sofort, ging einen Schritt nach vorn und stieß mich kräftig. Ich verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf meinem Hintern. Collin lachte laut. „Du hast recht, Richard. Das Baby kann ja nicht mal richtig laufen.“
Paul stellte sich schützend vor mich, obwohl er mindestens einen halben Kopf kleiner war als Richard, der außerdem doppelt so breit wirkte. Richard lachte hämisch: „Willst du auch gleich zu deinem Kindergarten-Freund?“ und schubste Paul ebenfalls. Diesmal aber ohne Erfolg, Paul blieb auf den Beinen, machte sogar einen Schritt auf Richard zu und schubste zurück. Richard trat jetzt zu, stieß Paul nochmals weg. Paul schrie kurz vor Schmerz auf und fiel hin.
Ich hatte mich währenddessen wieder aufgerichtet und wurde richtig wütend, als ich sah, wie Paul aufschrie. Er tut meinem einzigen richtigen Freund weh? Die Wut überrannte mich. Ohne weiter nachzudenken, warf ich meinen Schulranzen zur Seite und stürzte auf Richard los. Ich trat ihn mit aller Kraft gegen das Schienbein, und als er sich nach vorn beugte, um sein Bein zu halten, schlug ich ihm mit der Faust ins Gesicht. Er schrie auf und hielt sich die Nase, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Collin und Lasse wichen sofort zurück und riefen nach einer Lehrerin. Aus Richards Nase floss Blut, was mir in diesem Moment egal war. Er hatte Paul wehgetan, und dafür wollte ich ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen.
In genau diesem Augenblick tauchte Frau Hopf auf, offenbar von dem Geschrei angelockt. Sie sah die Szene und rief entsetzt: „Was ist denn hier los?“ Paul rappelte sich auf, während ich keuchend da stand und Richard schluchzend seine Nase hielt.
Richard drehte sich zu Frau Hopf: „Der hat mir einfach ins Gesicht geboxt!“, rief er und zeigte auf mich. Sofort packte Frau Hopf mich grob am Arm. „Das ist ja wieder typisch! Ich sage schon lange, dass Kinder wie du auf dieser Schule nichts zu suchen haben. Wir gehen jetzt zur Direktorin. Richard, Collin, Lasse und Paul, ihr kommt auch mit.“
Paul sagte unter Tränen: „Aber Richard hat angefangen! Florian hat mich nur verteidigt.“ Frau Hopf verzog das Gesicht. „Egal, wer angefangen hat – wir dulden hier keine Gewalt. Und Kinder wie Florian gehören auf eine Sonderschule für schwer Erziehbare.“ Die Kälte in ihrer Stimme schnürte mir die Kehle zu, ich brachte kein Wort mehr heraus. Kinder wie ich …?
Auf dem Weg zum Sekretariat liefen wir Frau Siegel über den Weg. Sie hatte offenbar das Schreien gehört und wollte nach dem Rechten sehen. „Was ist denn mit euch passiert?“ fragte sie, während ihr Blick von Richard, der sich noch immer die Nase hielt, zu Paul und mir schweifte.
Frau Hopf übernahm das Wort, bevor wir etwas sagen konnten: „Der junge Herr Brock hat Herrn Schmidt eben die Nase blutig geschlagen. Typisch für solche Kinder. Ich sage ja immer wieder, wer aus so einem Milieu kommt, ist zwangsläufig unpassend und gewalttätig.“
Mir schnürte es den Atem ab. Paul wollte etwas erwidern, aber Frau Siegel hob die Hand und warf Frau Hopf einen empörten Blick zu. „Frau Hopf, das geht zu weit!“, sagte sie streng. „Sie kennen Florian gar nicht richtig. Und selbst wenn Gewalt nie in Ordnung ist – das hier ist doch kein Grund, ihn abzustempeln!“
Frau Hopf schnaubte. „Wissen Sie, Frau Siegel, Sie verteidigen solche Kinder ständig, aber man sieht ja, was passiert. Das ist nicht der erste Vorfall! Ich sage schon lange, dass Florian hier fehl am Platz ist.“
„Bitte hören Sie auf, solche Diskussionen vor den Kindern zu führen,“ entgegnete Frau Siegel, nun ebenfalls mit fester Stimme. „Das ist unangemessen. Erstmal sollten wir alle Tatsachen klären, bevor wir Florian so etwas unterstellen.“
Frau Hopf schüttelte energisch den Kopf. „Florian war schon immer problematisch. Wie er hier aufkreuzte …“ Sie wollte wohl weitersprechen, doch Frau Siegel griff in ihre Manteltasche und zückte ihr Mobiltelefon. „Entschuldigen Sie, Frau Hopf, aber ich rufe jetzt Florians Pflege-Mutter an. So etwas können wir nicht ohne sie regeln. Vor allem nicht hier im Flur.“
Während Frau Siegel die Nummer wählte, verschränkte Frau Hopf die Arme und warf mir einen vernichtenden Blick zu. Richard und seine Freunde standen ein Stück abseits, flüsterten und tuschelten. Paul presste die Lippen zusammen und sah aus, als würde er am liebsten los schreien. Frau Siegel telefonierte nun und versuchte offenbar, Annette zu erreichen. „Ja, hallo? Frau Wagner? Können Sie bitte sofort zur Schule kommen? Es gab leider einen Vorfall. … Nein, es ist nichts Schlimmes passiert. Also, na ja, es hat eine Auseinandersetzung gegeben, und Florian ist beteiligt … sie sind schon vor der Schule?.. , wir sind auf dem Weg ins Sekretariat, in der zweiten Etage, links die zweite Tür.“
Sie legte auf und drehte sich wieder zu uns um. „Frau Fuchs soll das entscheiden, was wir hier dulden und was nicht. Aber bitte, Frau Hopf, machen Sie nicht weiter Druck, bevor wir alles geklärt haben,“ sagte sie mit betont ruhiger Stimme.
Frau Hopf zog verärgert eine Augenbraue hoch und sah mich an, als sei ich ein lästiges Insekt. „Meinen Sie, dass da noch etwas zu klären ist? Er hat doch bewiesen, dass er gewalttätig ist.“
In mir rauschte es. Gewalttätig? Aber er hat doch Paul angegriffen und … Ich brachte keinen Ton heraus. Ich wusste nicht, was jetzt passieren würde. Doch Frau Siegel legte mir kurz eine Hand auf die Schulter und flüsterte: „Kein Sorge, Florian, wir warten auf Frau Fuchs und auf deine Pflegemutter. Dann sehen wir weiter.“
Ich war ihr so dankbar, dass wenigstens sie sich auf meine Seite stellte. Inzwischen liefen mir die Tränen übers Gesicht, während Richard immer noch beleidigt drein schaute und auch Collin und Lasse nur halb überzeugt schienen von dem, was ihre Lehrerin behauptete. Was wird Frau Fuchs sagen? fragte ich mich verzweifelt. Wird sie mich von der Schule werfen? Und was würde Annette denken? Wird sie mich dann auch rausschmeißen?
Wir betraten das Sekretariat, und Frau Hopf klopfte energisch an die Büro Tür von Frau Fuchs. Kaum hörte man ein kurzes „Ja?“, da öffnete Frau Hopf auch schon die Tür, als wäre sie im Besitz aller Rechte dieser Schule. Mein Herz klopfte so laut, dass ich Angst hatte, es könnte jeder hören.
Frau Fuchs, unsere Direktorin, stand sofort auf, als sie uns erblickte. „Was ist denn vorgefallen?“ fragte sie mit ernster Stimme.
Noch ehe ich oder jemand anderes etwas erklären konnte, legte Frau Hopf los: „Frau Fuchs, es ist genau das, was ich schon immer sage: Dieser Junge hier—“ dabei packte sie meinen Arm etwas zu fest „—ist völlig untragbar. Er hat Richard Schmidt so zugerichtet, dass ihm das Blut nur so aus der Nase gelaufen ist!“
Ich zuckte zusammen, während Richard nur missmutig drein schaute. Frau Siegel warf sofort ein: „Wir sollten erstmal alle anhören, bevor wir zu einem Schluss kommen. Und vielleicht wäre es gut, wenn Richard einen Kühlakku bekommt, bevor seine Nase weiter anschwillt.“
Frau Fuchs warf Frau Hopf einen unsanften Blick zu. „Frau Hopf, lassen Sie uns das in Ruhe regeln. Sie haben recht, Frau Siegel: Erstmal bekommt Richard etwas zum Kühlen.“ Sie griff zum Telefon auf ihrem Schreibtisch, tippte eine Nummer und sagte: „Hallo, Herr Köcher? Können Sie bitte einen Kühlakku ins Sekretariat bringen? Danke.“ Anschließend legte sie auf und hob beschwichtigend die Hände. „Beruhigen wir uns bitte alle. Richard, wie geht es deiner Nase?“
Richard hielt sich immer noch ein Taschentuch an das Gesicht. „Geht so,“ knurrte er. „Florian ist schuld. Er hat mir absichtlich ins Gesicht geboxt.“
Frau Fuchs seufzte und erklärte: „Das klären wir gleich in Ruhe.“
Frau Siegel war kurz aus dem Sekretariat gehuscht und kam mit einem Erste-Hilfe-Kasten zurück. Sie zog ein frisches Tuch heraus und begann damit, Richards Gesicht ab zu tupfen. „Zumindest kommt kein neues Blut nach. Und gebrochen scheint sie auch nicht zu sein.“
In dem Moment kam Herr Köcher, unser Hausmeister, herein geschlendert. Er wirkte immer entspannt, doch jetzt sah er etwas ernster aus, als er den Kühlakku reichte. Mit ihm zusammen betrat Annette das Büro. Ich wollte am liebsten sofort zu ihr rennen, aber Frau Hopf hielt mich immer noch am Arm fest, als wäre ich ein Ausreißer.
Annette kam auf mich zu und sagte in un gehaltenem Ton: „Würden Sie bitte Florian loslassen?“
Frau Hopf erwiderte einen spitzen Blick und ließ mich ohne ein Wort los. Ich lief sofort zu Annette, die sich zu mir runter beugte und mir über die Schulter strich. Alle sprachen gleichzeitig durcheinander, doch die Wärme von Annettes Nähe beruhigte mich etwas.
Frau Fuchs räusperte sich kurz und lächelte höflich in die Runde. Zuerst sah sie Annette an. „Guten Tag, ich bin Frau Fuchs, die Direktorin. Und Sie sind…?“
Annette nickte. „Ich bin Annette Wagner, Florians Pflegemutter.“ Als sie das sagte, legte sie mir eine Hand auf die Schulter. Ich spürte ein beruhigendes Kribbeln.
Frau Fuchs nickte. „Sie sind jetzt so schnell hier her gekommen?“ fragte sie, fast etwas überrascht.
Annette erklärte: „Ich bringe Florian jeden Tag zur Schule und hole ihn wieder ab, weil auf dieser Strecke keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren. Deshalb war ich in der Nähe, als Frau Siegel mich anrief.“ Frau Fuchs nahm die Erklärung mit einem verständnisvollen Blick und Nicken auf.
Nach diesem kurzen Austausch schlug die Stimmung im Raum wieder in Ernsthaftigkeit um, als Frau Fuchs die Arme verschränkte. „So. Jetzt möchte ich gerne wissen, was sich genau zugetragen hat.“ Ihr Blick schweifte über uns alle. „Fangen wir an: Was ist passiert?“
Mir schnürte es den Hals zu, und ich konnte nicht sprechen. Ich schaute auf den Boden, spürte Annettes Hand noch auf meiner Schulter. Endlich räusperte sich Richard und begann zu erzählen – aus seiner Sicht. Er schob alle Schuld auf mich, behauptete, ich hätte grundlos auf ihn eingetreten und ihn ins Gesicht geschlagen. Ich krampfte innerlich zusammen, weil es so unfair war.
Paul hielt es nicht lange aus. „Das stimmt überhaupt nicht!“ platzte es aus ihm heraus. „Richard hat angefangen, Florian nur verteidigt…“
„Stopp“, unterbrach ihn Frau Fuchs, die Stimme klar und bestimmend. Sie sah Richard direkt an. „Du willst mir also sagen, dass Florian, der zwei Köpfe kleiner ist als du, grundlos auf dich losgegangen ist und dir ins Gesicht geschlagen hat?“
Richard zuckte mit den Schultern, schweifte kurz mit dem Blick zu Collin und Lasse, die neben ihm standen. „So war es doch, oder?“ sagte er gedehnt und hoffte offenbar auf Zustimmung. Collin schwieg und sah weg, Lasse starrte nur betreten auf seine Schuhe.
Frau Fuchs hob eine Braue. Sie wirkte nicht wütend, sondern eher skeptisch. Dann wandte sie sich an Paul. „Jetzt noch mal langsam, Paul. Erzähl bitte du, was wirklich passiert ist.“
Richard senkte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, während Paul Luft holte und anfing, Schritt für Schritt zu berichten, wie Richard mich zuerst geschubst hatte, wie ich hingefallen war und wie Paul selbst von Richard angegriffen wurde. Ich schaute dabei auf Frau Fuchs. Ihre Miene wurde immer ernster, aber gleichzeitig wirkte sie auch offen, als wolle sie sich wirklich ein klares Bild verschaffen.
Ich war erleichtert, dass wenigstens Paul jetzt die Wahrheit sagen durfte und dass Frau Fuchs uns zuhörte, ohne direkt zu verurteilen. Annette zog mich leicht dichter an sich heran, während Paul sprach, und in mir glomm ein kleiner Funken Hoffnung auf, dass vielleicht doch noch alles gut werden könnte.
Frau Fuchs richtete den Blick auf Richard und sagte mit ruhiger, aber bestimmter Stimme: „Richard, für mich klingt das, was Paul geschildert hat, glaubwürdiger. Bitte sag die Wahrheit – hat es sich so zugetragen?“
Richard hob wütend den Kopf. „Paul hat mich im Klassenzimmer einen Blödmann genannt! Er ist schuld!“ rief er, immer noch mit dem Taschentuch an seiner Nase.
Paul wollte schon widersprechen und platzte heraus: „Du hast Florian beleidigt, darum…“
Doch Frau Fuchs hob die Hand. „Okay, für mich ist die Situation soweit geklärt.“ Ihr Blick wanderte zu mir, und ich zuckte innerlich zusammen. „Florian, für Gewalt ist an unserer Schule kein Platz.“ Ich spürte, wie mir die Kehle eng wurde. Hatte Frau Hopf also recht? dachte ich, während mein Herz raste.
Frau Fuchs fuhr fort: „Wenn so etwas das nächste Mal passiert, wendest du dich bitte sofort an eine Lehrkraft. Das gilt auch für dich, Paul. Ich möchte das nicht wieder erleben.“ Dann richtete sie sich an Lasse, der immer noch stumm daneben stand. „Lasse, von dir hätte ich eigentlich erwartet, dass du ein greifst. Wir hatten so einen Vorfall schon einmal in deiner alten Klasse, und du bist der Älteste in eurer Stufe.“ Lasse senkte den Blick noch tiefer. „Collin,“ fuhr sie fort, „nimm dir bitte ein Beispiel an deiner Schwester. Sie ist eine vorbildliche Schülerin.“ Beide Jungen nickten nur und zogen sich schuldbewusst zurück. „Ihr beiden könnt gehen,“ sagte Frau Fuchs und deutete auf die Tür.
Sobald Collin und Lasse das Zimmer verlassen hatten, wandte sich Frau Fuchs an Frau Siegel. „Können Sie bitte Richards Eltern informieren? Ich denke, sie sollen entscheiden, ob sie mit ihm sicherheitshalber zum Arzt fahren wollen.“
Bis dahin hatte Frau Hopf geschwiegen, doch jetzt hob sie das Kinn und sagte abfällig: „Herr Brock ist sicher nicht ganz unschuldig an der Situation gewesen.“ In dem Moment traf mich ihr Blick wie ein kalter Stich ins Herz, und sie sprach, als wäre ich gar nicht im Raum.
Frau Siegel trat einen halben Schritt vor und sagte mit Nachdruck: „Frau Hopf, Ihr Verhalten ist unangemessen und voller Vorurteile. Ich bitte Sie, sich zu mäßigen.“
Doch Frau Hopf richtete ihren Blick auf Annette, als wäre Frau Siegel gar nicht anwesend. „Sie sollten den Jungen lieber in ein Heim für schwer Erziehbare geben“, bemerkte sie in einem Ton, der mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter trieb.
Ich spürte Tränen in meinen Augen aufsteigen, und ein unterdrücktes Schluchzen brach sich Bahn. Warum sagt sie so etwas? Habe ich jetzt alles kaputt gemacht?
„Ich kann Ihnen versichern, dass er nur Ärger machen wird,“ legte Frau Hopf noch nach. Ich nahm Annette in meinem Augenwinkel wahr, wie sie merklich blass wurde, während ich immer stärker weinte.
„Wie können Sie so etwas sagen?“ fragte Annette wütend. „Was sind Sie für ein Mensch, so über Kinder zu reden? Ich weiß nicht, was Sie in Ihrem Berufsleben erlebt haben, aber möglicherweise haben Sie den falschen Beruf gewählt!“
Inzwischen war auch Frau Fuchs sichtlich aufgebracht. Sie wurde lauter als zuvor: „Frau Hopf, es reicht jetzt! Bitte verlassen Sie den Raum und warten Sie draußen.“
Widerwillig und mit einem letzten, vernichtenden Blick auf mich wandte sich Frau Hopf ab und ging zur Tür hinaus. In der Sekunde, als sie verschwunden war, brach die angespannte Luft in ein leises Durcheinander aus.
Annette nahm mich behutsam hoch und drückte mich an sich. Ich klammerte mich fest an sie, Tränen liefen mir über die Wangen. In ihrem Arm fühlte ich mich sicher, auch wenn mich die ganze Situation komplett überforderte. Erst jetzt nahm ich wahr, wie nass meine Windel geworden war. Das alles hat mich so durcheinandergebracht, dass ich gar nichts mehr bemerkt habe, schoss es mir durch den Kopf.
Frau Fuchs räusperte sich und trat zu uns. „Ich möchte mich wirklich entschuldigen,“ sagte sie leise, aber bestimmt. „Sowohl bei Ihnen, Frau Wagner, als auch bei dir, Florian. Dies ist nicht die Sichtweise der Schule, und das Verhalten von Frau Hopf wird Konsequenzen haben.“
Ich schaute immer noch zitternd auf den Boden, doch Annette nickte dankbar. „Es freut mich, dass Sie das so sehen, Frau Fuchs,“ erwiderte sie vorsichtig. „Florian hat seine Fehler gemacht, aber so etwas … Er ist doch kein Schwer Erziehbares Kind.“
Frau Fuchs lächelte schwach und sah zu mir: „Mach dir keine Sorgen, Florian, du gehörst hierher. Wir klären das alles. Versprochen.“
Ihr Blick wirkte ehrlich, und ich fühlte, wie meine Anspannung langsam nachließ. Annette streichelte mir noch einmal über den Rücken und flüsterte: „Es wird alles gut, mein Schatz.“
Ich schluchzte noch ein wenig nach, doch nun war da ein kleiner Funken Hoffnung, dass alles nicht ganz so schlimm enden würde. Meine Windel war unangenehm schwer, aber Annette war ja bei mir, und nichts fühlte sich sicherer an als bei ihr auf dem Arm.
Frau Fuchs hatte Stirn noch leicht gerunzelt, auch wenn ihre Stimme nun wieder ruhiger klang. Sie schaute zu Paul hinüber und fragte: „Paul, gehst du nach dem Unterricht in den Hort?“
Paul warf mir einen unsicheren Blick zu, ehe er mit gedämpfter Stimme antwortete: „Nein, ich gehe nicht in den Hort. Ich gehe nach dem Unterricht immer selbst nach Hause.“ Dabei wirkte er alles andere als fröhlich—im Gegenteil, sein Blick war auf den Boden gerichtet, und ich merkte deutlich, dass ihn die ganze Situation mindestens ebenso mitgenommen hatte wie mich.
„Okay, Paul. Ihr könnt jetzt gehen“, sagte Frau Fuchs schließlich. „Ich wünsche dir trotzdem einen schönen Nachmittag und dir, Florian, natürlich ebenfalls.“ Dabei ließ ihr Blick kurz zu Annette und mir wandern. Annette hielt mich noch immer fest im Arm.
Annette verabschiedete sich ebenfalls höflich von Frau Siegel und Frau Fuchs und sagte: „Auf Wiedersehen.“ Daraufhin warf Frau Siegel uns ein kleines Lächeln zu und fügte hinzu: „Macht’s gut, ihr beiden. Bis morgen – und denkt an eure Sportsachen.“
Wir verließen das Sekretariat, und die kühle Luft des Flures schlug mir entgegen. Annette setzte mich ganz behutsam auf dem Boden ab und ließ ihre Hand noch einen Augenblick auf meiner Schulter ruhen, als würde sie mir wortlos sagen wollen, dass sie da ist, falls meine Beine wackelig wären. Ich atmete einmal tief durch und versuchte, den Kloß in meinem Hals loszuwerden.
Paul stand ein paar Schritte entfernt und wirkte richtig niedergeschlagen. Sein Kopf war gesenkt, und er kickte lustlos gegen einen unsichtbaren Stein auf dem Boden. Annette bemerkte seinen Gesichtsausdruck sofort und sagte mit ihrer ruhigen, sanfter Stimme:
„Paul, wir könnten dich auch nach Hause begleiten. Wie weit musst du denn laufen?“
Paul hob den Blick nur leicht, seine Augen immer noch müde und bedrückt. „Es ist nicht weit, vielleicht zwei Straßen von hier,“ murmelte er.
„Na gut,“ antwortete Annette und schenkte ihm ein auf munterndes Lächeln, „dann begleiten wir dich. So können wir sicher sein, dass du gut nach Hause kommst.“
Plötzlich schien Paul aufzutauen, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Er schaute mich an und grinste beinahe schüchtern. „Dann kann ich dir mein Lego zeigen, Florian. Ich habe auch einen echt coolen Zug…“
Annette blickte von ihm zu mir und fragte vorsichtig: „Ist denn deine Mama schon zu Hause?“
Paul zuckte mit den Schultern. „Meistens schon. Aber manchmal kommt sie auch kurz nach mir. Ist aber kein Problem, ich habe einen Schlüssel für die Haustür.
Bei seinen Worten hob ich langsam den Kopf und sah ein Leuchten in seinen Augen, das vorhin, im Sekretariat, völlig verschwunden gewesen war. Ich war erleichtert, dass Paul sich wieder etwas gefangen hatte.
Annette nickte und schaute noch einmal kurz zu mir hinunter, als wollte sie prüfen, ob ich für einen kleinen Spaziergang bereit war. Ihre Hand fand kurz meine, drückte sie sacht, und ich wusste: Wir sind zusammen unterwegs, und das fühlt sich gut an. Dann machte sie eine einladende Geste zu Paul: „Na, dann los. Zeig uns den Weg, junger Mann.“
„Wir gehen noch kurz ans Auto,“ sagte Annette. „Ich möchte noch ein paar Sachen mitnehmen, falls wir länger unterwegs sind.“ Ich nickte, und Paul zuckte ebenfalls mit den Schultern. So liefen wir zusammen über den Schulhof und verließen die Schule.
Paul schien ein wenig schüchtern zu sein, nachdem vorhin alles so turbulent verlaufen war. Schließlich räusperte er sich leise und murmelte: „Danke, Florian … für deine Hilfe gegen Richard, meine ich.“ Er klang ein wenig verlegen, und ich spürte, wie mir warm wurde im Gesicht.
„Wieso? Eigentlich hast du mich doch verteidigt,“ sagte ich unsicher. „Also … danke auch dir. Wäre ich alleine gewesen, hätten sie mich einfach verprügelt. Außerdem hatte ich solche Angst vor Frau Hopf, dass ich überhaupt nicht in der Lage war, zu erzählen, was passiert ist.
Paul hob kurz den Kopf, und ein schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht. Währenddessen öffnete Annette den Kofferraum, nahm eine kleine Tasche heraus und legte meinen Schulranzen hinein.
Die Sonne fiel auf den geräumten Gehweg, und nur hin und wieder rollte ein Auto gemächlich vorbei. In mir keimte jedoch die Angst, wir könnten versehentlich in Richtung meines „richtigen“ Zuhauses laufen. Die Vorstellung, meine Eltern plötzlich über den Weg zu laufen, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Fast schon automatisch umklammerte ich Annettes Hand, ich wollte mich vergewissern, dass sie nicht einfach verschwinden würde.
Hof ist zwar eine Stadt, aber hier, in dieser ruhigen Gegend mit den vielen Einfamilienhäusern, wirkte alles beinahe ländlich und gelassen – ganz anders als in meinem alten Viertel, wo graue Hochhäuser dicht an dicht standen.
Das Viertel, durch das wir schlenderten, war sehr still. Rechts und links standen Einfamilienhäuser, zum Teil mit verschneiten Gärten. Eine ältere Dame fegte gerade den Gehweg, nickte uns kurz zu und verschwand dann wieder hinter einem Tor. Die frische Luft tat gut, auch wenn ich noch immer das drückende Gefühl von vorhin im Magen hatte.
Schließlich bogen wir in eine kleine Einfahrt ab. An einem schlichten grauen Haus mit einem großen Fenster im Erdgeschoss blieb Paul stehen. „Das ist meins,“ sagte er knapp. Genau in diesem Moment fuhr ein silberfarbenes Auto vor und hielt neben dem Grundstück. Eine Frau stieg aus, und ich erkannte sie sofort: Pauls Mama, die ich in der Arztpraxis getroffen hatte. Ich drückte mich ein wenig hinter Annette, weil ich mich an sie erinnerte, aber nicht wusste, ob sie sich auch an mich erinnerte.
Sie hingegen strahlte, als sie Paul erblickte, und zog ihn herzlich in eine Umarmung. „Na, mein Großer, hast du schon auf mich gewartet?“ Dann wandte sie sich an Annette und mich. „Hallo, Florian! Wir kennen uns doch aus der Praxis, nicht wahr?“ sagte sie freundlich zu mir. Etwas verlegen nickte ich.
Annette machte einen Schritt nach vorn und lächelte freundlich. „Guten Tag, ich bin Annette Wagner. Wir haben vorgestern miteinander telefoniert. Wir haben Paul ein Stück nach Hause begleitet.“
Paul drückte sich an seine Mama, während er müde wirkte. Seine Mutter runzelte die Stirn: „Alles in Ordnung? Ihr seht so fertig aus.“
„Ein bisschen Ärger in der Schule,“ gab Annette vorsichtig zurück. „Aber nichts, was man nicht klären könnte. Paul war wirklich tapfer.“
Pauls Mutter warf erst ihm, dann mir einen besorgten Blick zu. „Möchtet ihr hereinkommen? Vielleicht könnt ihr mir in Ruhe erzählen, was passiert ist. Ich mache uns einen Tee, und wir essen dazu ein paar Kekse …“
Bevor Annette antworten konnte, meldete sich Paul halblaut: „Es war wirklich anstrengend heute. Ich wollte Florian außerdem mein Lego zeigen … wenn das okay ist.“
Annette sah mich kurz an, so als wolle sie meine Meinung einholen. Ich nickte fast unmerklich, obwohl ich mich noch etwas unruhig fühlte nach dem ganzen Trubel. Trotzdem war ich neugierig auf Pauls Zuhause – und ich spürte, dass er sich ein bisschen über den Besuch freuen würde. Da lächelte Annette mich an und sagte: „Wir kommen gern für einen kurzen Moment mit hinein. Dann könnt ihr in Ruhe erzählen.“
Kaum waren wir ins Haus getreten, zog Paul sich rasch aus – Schuhe weg, Jacke runter – und rannte schon los in Richtung Flur. Ich wollte ihm hinterherlaufen, doch Annette legte mir eine Hand auf den Arm und sagte: „Florian, warte bitte kurz, wir müssen uns um deine Windel kümmern.“
Sie nahm die Tasche, die sie mitgebracht hatte, und wandte sich an Pauls Mutter: „Wo könnte ich ihn kurz frisch machen?“ Die Frage ließ mir das Blut in den Kopf schießen. Peinlich, dachte ich, obwohl ich wusste, dass Pauls Mutter bereits Bescheid wusste – und dass Paul selbst auch noch Windeln trug.
Pauls Mama zeigte auf eine Tür im Flur. „Am besten im Badezimmer. Dann könnt ihr das in Ruhe machen.“
Sie rief ihrem Sohn noch hinterher: „Paul, wenn die beiden fertig sind, ziehst du dir bitte auch eine frische an!“
Paul protestierte halbherzig: „Die geht noch!“
Seine Mama schüttelte den Kopf. „Gestern hast du das auch gesagt. Zieh dir jetzt bitte eine neue an!“
Paul seufzte und gab klein bei. „Okay, Mama …“
Im Badezimmer öffnete ich die Träger meiner Latzhose und zog sie bis zu den Knien. Die Windel hing schwer zwischen meinen Beinen, und Annette half mir, sie zu lösen. „Leg dich kurz hierhin“, sagte sie und deutete auf einen großen Läufer am Boden. Sie machte mir eine frische Windel um und half mir anschließend in meine Latzhose zurück.
„So“, lächelte sie, als ich wieder angezogen war. „Jetzt kannst du zu Paul und mit ihm spielen.“
Erleichtert nickte ich und huschte aus dem Badezimmer. Es war zwar immer noch ein seltsames Gefühl, meine Windel in einem fremden Haus gewechselt zu bekommen, aber zumindest wusste ich, dass Paul ein ähnliches Problem hatte und seine Mama ebenfalls auf eine neue Windel bestand. Vielleicht war es also gar nicht so schlimm.
Als ich in den Flur zurückkam, wusste ich zuerst gar nicht, wohin ich gehen sollte. Ich drehte mich zu Annette um, die sich gerade im Bad die Hände gewaschen hatte. Sie lächelte mich an und legte mir beruhigend eine Hand auf den Rücken. Gemeinsam liefen wir zu einer offenen Tür, hinter der Pauls Mama gerade Geschirr wegräumte. Sie drehte sich zu uns um und sagte: „Pauls Kinderzimmer ist oben – einfach die Treppe hoch und die letzte Tür rechts.“
Ich schluckte und drückte mich ein bisschen enger an Annette. Irgendwie mochte ich nicht allein in diesem fremden Haus herumlaufen. Annette merkte das sofort. „Soll ich kurz mitkommen?“ fragte sie leise und strich mir dabei sacht über den Kopf. Ich nickte dankbar, erleichtert, dass sie dabei sein würde.
Im Flur zeigte Annette auf eine Treppe. „Da müssen wir bestimmt hoch“, sagte sie mit einem freundlichen Unterton. Ich sah mich um, während wir langsam hinauf stiegen. Die Holzträger an der Wand sahen alt aber toll aus, während der Boden ebenfalls mit Holz ausgelegt war. An den Wänden hingen viele Familienfotos: Ich erkannte Paul darauf mit einem Mädchen und seinen Eltern. Mich faszinierte, wie fröhlich alle auf den Bildern aussahen, als wäre das hier ein Ort voller schöner Erinnerungen.
Oben angekommen, führte ein kurzer Flur zu einer halb offen stehenden Tür, an der ein Schild mit einem Astronauten und Pauls Namen hing. Annette zeigte auf das Schild. „Da ist bestimmt sein Zimmer“, sagte sie sanft, bevor sie mich anstupste, damit ich hinein gehe.
Ich schob die Tür vorsichtig auf und sah Paul, der bereits auf dem Boden hockte und Lego-Teile sortierte. Annette beugte sich zu mir und flüsterte: „Wenn irgendwas ist, ich bin unten bei Pauls Mama.“ Ich nickte stumm, froh, dass sie mich nicht ganz allein ließ, auch wenn sie jetzt wieder ging.
Paul schaute auf, als ich ins Zimmer schlich. Ich setzte mich zu ihm auf den Boden, wo eine große Legokiste stand. Neben der Kiste stand ein Regal, in dem ich sofort eine Lego-Eisenbahn entdeckte – aber sie sah anders aus als die, die ich zu Hause hatte. Daneben standen ein Lego-Hubschrauber und eine Polizeistation.
Paul zeigte stolz auf die Eisenbahn: „Wir müssen noch die Schienen aufbauen. Und danach können wir ein paar Autos bauen, wenn du willst.“
„Au ja“, sagte ich begeistert und griff sofort in die Kiste, um nach passenden Teilen zu suchen. Es gab haufenweise Steine und Schienen, und es war gar nicht so leicht, alles zu finden, was wir brauchten.
Nach einer Weile seufzte Paul: „Das dauert zu lange, wenn wir nur so rumwühlen. Wir sollten die Kiste auskippen.“
Er hatte recht. Also drehten wir die große Box einfach um, und all die bunten Steine purzelten auf den Teppich. Jetzt konnten wir viel leichter die einzelnen Schienen teile herausfischen. Ich fühlte mich fast genauso glücklich wie beim Bau meiner eigenen Lego-Eisenbahn zu Hause – vielleicht sogar noch ein bisschen glücklicher, weil ich das jetzt mit einem Freund zusammen machte.
Während Paul und ich an unseren Lego-Autos tüftelten, fiel mir plötzlich auf, dass er sich zwischendurch zwischen die Beine fasste. Da bemerkte ich auch, dass er seine Windel wahrscheinlich noch nicht gewechselt hatte, denn an seiner Hose zeichneten sich feuchte Stellen ab. Ich sagte jedoch nichts, weil ich ihn nicht in eine peinliche Situation bringen wollte. Er weiß sicher selbst, dass er eigentlich eine neue Windel bräuchte, dachte ich bei mir.
Ich versuchte mich ganz auf das Bauen zu konzentrieren, doch ein drückendes Gefühl im Bauch machte es mir zunehmend schwer, mich zu freuen. Nicht schon wieder … Dieses Ziehen kannte ich nur zu gut: Es bedeutete, dass ich aufs Klo müsste – und zwar bald. Aber wie immer hatte ich Angst, weil es manchmal so weh tat, wenn ich „groß“ musste. Also versuchte ich, es zu ignorieren. Ich hoffte, es würde verschwinden, während ich die Lego-Steine zusammen setzte.
Aber es verschwand nicht. Je länger wir bauten, desto stärker wurde der Druck, und irgendwann konnte ich an nichts anderes mehr denken. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. „Paul, ich muss auf die Toilette“, sagte ich hastig und stand auf. Der Schmerz im Bauch wurde plötzlich schlimmer. Mist, das ist echt dringend, fuhr es mir durch den Kopf, als ich die Treppe hinuntereilte.
Kaum war ich im Flur, stürmte ich in das Badezimmer. Ich wollte gerade die Hosenträger meiner Latzhose lösen, als es zu spät war. Zuerst spürte ich einen heftigen Zieh-Schmerz im Bauch, dann drückte sich etwas Festes in meine Windel – gefolgt von weicherer Masse, die sich überall verteilte. Ich wurde schlagartig stocksteif. Das ist doch nicht wahr, dachte ich panisch, während ich merkte, wie auch vorne wieder Flüssigkeit in die Windel lief.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich habe mir gerade wie ein Baby groß in die Windel gemacht, hämmerte es in meinem Kopf. Was würde Annette nur von mir denken? Was sollte ich jetzt tun? Ich blieb einfach stehen, unfähig, mich zu rühren, während die Schmerz- und Druckwellen in meinem Bauch langsam abklangen. Ich fühlte mich so hilflos und schämte mich unendlich und fing an zu Weinen.
Auf einmal flog die Badezimmertür auf, und ein großes Mädchen stürmte herein. Sie hatte lange Haare, wirkte älter als Paul – vielleicht so um die zehn oder elf. Bevor ich reagieren konnte, verriegelte die Tür hinter sich.
Als sie sich dann zu mir umdrehte, blieb sie abrupt stehen und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Wer bist du denn?“ fragte sie, sichtlich überrascht.
Ich brachte keinen Ton heraus. Ich spürte, wie mir noch mehr Tränen über die Wangen liefen, und ich hätte am liebsten meine Augen zugekniffen, damit ich ganz unsichtbar wäre.
Das Mädchen runzelte kurz die Stirn, bevor sie sich wieder umdrehte. Sie entriegelte die Tür, huschte hinaus und rief: „Mama? Hier ist ein kleiner Junge im Badezimmer, und er weint!“
Keine Sekunde später hörte ich Schritte und Pauls Mama erschien zusammen mit Annette im Türrahmen. Das Mädchen war verschwunden, dafür schaute jetzt Pauls Mama kurz herein, wirkte besorgt, und zog sich dann zurück.
Annette trat an mich heran, und ich spürte ihren ruhigen Blick auf mir. „Was ist passiert, Florian?“ fragte sie sanft. Doch dann verzog sie leicht das Gesicht. „Oh, ich glaube, ich rieche es schon …“
Ich nickte nur stumm, unfähig zu reden. Die Tränen liefen weiter, und ich schluchzte. Wie peinlich, dachte ich nur, das ist alles so furchtbar peinlich.
Annette legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ich hole schnell den Rucksack, das haben wir gleich“, sagte sie, bevor sie aus dem Badezimmer verschwand. Pauls Mama, die im Türrahmen stehen geblieben war, schaute kurz fragend zu Annette.
Ich hörte Annette von draußen sagen: „Er bekommt seit gestern Movicol, ich habe da gerade gar nicht mehr dran gedacht.“
Pauls Mama nickte verständnisvoll. „Das kann passieren, ist nicht schlimm“, meinte sie, während Annette schon wieder mit dem Rucksack auftauchte.
Annette schloss die Badezimmertür hinter sich und ging in die Hocke zu mir. „Es ist überhaupt nicht schlimm, Florian“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Ich mach dich schnell sauber, und dann kannst du weiter spielen. Heute ist einfach nicht dein Tag, hm?“
Ihre sanften Worte ließen mir einen kleinen Stein vom Herzen fallen. Obwohl mir noch immer Tränen über die Wangen liefen, glaubte ich ihr, dass sie mich nicht verurteilen würde. Allmählich fühlte ich mich etwas ruhiger, während Annette den Rucksack abstellte und die Windelsachen herausholte. Zuerst nahm sie ein Taschentuch und reichte es mir, damit ich mir die Nase putzen konnte. Ich schluckte und versuchte, mich auf ihr beruhigendes Lächeln zu konzentrieren, in der Hoffnung, dass dieser schreckliche Tag vielleicht doch noch ein wenig besser werden könnte.
Annette half mir, meine Latzhose herunterzuziehen. Sie nahm ein Handtuch aus ihrem Rucksack und breitete es auf dem Läufer aus. „Leg dich bitte kurz hier hin, Florian“, sagte sie sanft. Ich legte mich vorsichtig darauf, spürte das weiche Handtuch unter meinem Rücken und versuchte, die Augen zu schließen, um mich zu beruhigen.
„Ich mach dich jetzt schnell sauber“, erklärte Annette, während sie die Windel öffnete. Mir war immer noch etwas flau im Bauch, aber Annette blieb so ruhig, dass es mir ein wenig leichter fiel, mich zu entspannen. Mit Feuchttüchern wischte sie mich gründlich ab. Ich schämte mich ein bisschen, aber sie tat so, als wäre das alles gar nicht schlimm.
„Musst du nochmal auf die Toilette, oder ist jetzt alles raus?“ fragte sie leise. Ich zuckte mit den Schultern, während ich flach auf dem Rücken lag. „Ich weiß nicht … aber ich glaube, es ist alles raus“, murmelte ich.
„Okay“, sagte sie, und ich hörte, wie sie eine frische Windel auseinander faltete. „Dann bekommst du jetzt eine neue Windel.“ Sie lächelte mir kurz zu, während sie sie mir unter den Po schob und festklebte. „So, das war’s schon. War doch nur halb so wild, oder?“
Ich atmete durch. Es war mir zwar immer noch peinlich, aber Annette verhielt sich so normal dabei, dass es sich ein bisschen weniger schlimm anfühlte. Sie half mir wieder in meine Hose und zog mich vorsichtig hoch. „Wenn doch noch was kommt, Florian“, sagte sie sanft, „dann geh bitte gleich auf die Toilette. Und wenn es nicht mehr geht, kannst du es auch in die Windel machen. Durch das Medikament kann es jetzt manchmal ganz schnell gehen.“
Ich nickte stumm, klammerte mich kurz an sie und spürte, wie sich meine Aufregung langsam legte. Annette lächelte mich an und strich mir über den Kopf, bevor sie das Handtuch weg räumte. „Dann kannst du jetzt wieder zu Paul, wenn du möchtest“, meinte sie. Ich nickte dankbar und machte mich auf den Weg zurück, die frische Windel fest um mich und ein etwas beruhigteres Gefühl im Bauch.
Wieder oben angekommen, hörte ich schon von Weitem Pauls Stimme. Als ich sein Zimmer betrat, saß dort das große Mädchen, das vorhin plötzlich ins Badezimmer gekommen war. Sie schaute zu mir hinüber und lächelte mich freundlich an. „Jetzt ist das Bad ja wieder frei“, sagte sie und lief rasch an mir vorbei in den Flur hinaus.
Paul sah mich mit einem fragenden Blick an, während er ein paar Lego-Steine in der Hand drehte. „Was ist passiert? Warum hast du geweint?“ fragte er leise.
Ich schluckte. Eigentlich wollte ich ihm nicht erzählen, dass ich „groß“ in die Windel gemacht hatte, aber ich wusste auch, dass ich ihn nicht anlügen wollte – er war schließlich mein Freund. Also sagte ich zögernd: „Ich … hab’s nicht rechtzeitig auf die Toilette geschafft.“
Paul zuckte mit den Schultern und meinte nur: „Dafür hast du doch eine Windel an, oder?“ Er klang so, als wäre es gar nichts Besonderes. Erleichtert nickte ich.
Dann fiel mir das Mädchen wieder ein. „Wer war das eigentlich?“ fragte ich.
„Meine große Schwester Hanna“, antwortete Paul, während er ein paar Lego-Schienen beiseite räumte. „Sie hat sich nur gewundert, wer da im Badezimmer steht und weint.“ Er schaute kurz zur Tür, als könne sie jeden Moment zurückkommen. „Ich hab ihr dann erzählt, dass du mit mir in einer Klasse bist. Sie wollte mir erst gar nicht glauben, weil sie meinte, du seist so klein aus, dass du noch im Kindergarten sein könntest.“
Ich spürte, wie mir ein leichter Schauer über den Rücken lief – es war mir schon peinlich genug gewesen, als sie mich weinend im Bad gesehen hatte, und jetzt wusste sie auch noch, dass ich eigentlich älter war, als ich aussah. Aber Paul nahm es scheinbar gelassen, also zwang ich mich zu einem kleinen Lächeln und setzte mich wieder zu ihm auf den Boden, um weiter an der Lego-Eisenbahn zu bauen.
Paul hob einen der Lego-Steine hoch und sah mich an. „Hast du dir die Mathe-Hausaufgaben für Freitag eigentlich schon angeschaut?“ fragte er plötzlich, während er einen kurzen Blick zu seinem Ranzen warf, als könnte er sich nicht erinnern, wo er seine Arbeitsblätter hingesteckt hatte.
Ich setzte gerade ein weiteres Schienenteil an und richtete mich ein wenig auf. „Ja,“ sagte ich mit einem kleinen Anflug von Stolz in der Stimme. „Ich hab sie schon fertig.“
Paul riss die Augen auf. „Echt jetzt?“ Er legte das Schienenteil, das er in der Hand hielt, zur Seite und schaute mich neugierig an.
Ich nickte und spürte, wie sich ein leises Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. „Annette hat gesagt, ich soll sie gleich machen, weil ich dann weniger Stress hab. Sie hat mir geholfen, aber gerechnet hab ich alles allein.“
Paul streckte mir anerkennend eine Faust entgegen, ohne mich zu berühren – so eine Art stummer Respektgruß, wie er das oft macht. „Cool“, sagte er mit einem sachlichen Tonfall, fast als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Doch in seinen Augen sah ich, dass er tatsächlich beeindruckt war.
Mir wurde warm ums Herz. Endlich mal etwas, worin ich nicht hinterherhinke, dachte ich. Ich hob die nächste Schiene hoch und grinste, während wir weiter an unserer Lego-Eisenbahn werkelten. Irgendwie tat es gut, zu wissen, dass ich zumindest in Mathe gerade mithalten konnte.
Wir spielten noch eine ganze Weile mit den Lego-Steinen, bis Annette und Pauls Mama plötzlich das Zimmer betraten. Pauls Mama setzte sich ohne zu zögern auf sein Bett, und Annette nahm auf dem Stuhl am Schreibtisch Platz. Paul und ich tauschten einen schnellen Blick und hielten inne mit dem Bauen. Irgendetwas Ernstes lag in der Luft.
Pauls Mama lächelte leicht, aber ihre Augen wirkten nachdenklich. „Wir würden gerne von euch hören, was heute in der Schule passiert ist“, sagte sie ruhig. Paul legte das Lego-Teil in seiner Hand ab und verzog das Gesicht. „Aber Mama, wir spielen gerade!“ protestierte er leise.
„Das sehe ich, mein Schatz“, antwortete sie sanft. „Wir können für die nächsten Tage bestimmt nochmal ein Spieldate ausmachen.“
Annette lächelte Paul aufmunternd an. „Ihr könnt uns auch gerne auf unserem Hof besuchen“, schlug sie vor.
Noch bevor ich überlegen konnte, platzte es aus mir heraus: „Au ja, bitte!“ Ich spürte, wie mir das Herz etwas schneller schlug, weil ich mir schon vorstellen konnte, wie Paul die Traktoren in meinem Zimmer sehen würde.
Pauls Mama hob die Hände, als wollte sie das Gespräch lenken. „Wir möchten jetzt einfach gern hören, was genau sich heute in der Schule zugetragen hat, okay?“
Paul seufzte, als müsse er sich mit dem Thema erst abfinden. „Na gut…“, sagte er schließlich. Ein bisschen widerwillig ließ er den Lego-Stein sinken und begann zu erzählen. Er schilderte, wie Richard sich vor der Kantine in den Weg gestellt hatte und uns nicht durchlassen wollte. Dabei ließ er mir Raum, an den richtigen Stellen einzuhaken und zu ergänzen, was ich gesehen und gefühlt hatte. Ich erklärte, dass Richard zuerst Paul geschubst hatte, bevor ich schließlich selbst auf ihn losgegangen bin.
Als wir beide fertig waren, atmete ich schwer aus. Ich hatte das Gefühl, meine ganze Energie verbraucht zu haben.
Annette sah uns eindringlich an und nickte. „Okay, danke, dass ihr uns das noch einmal erzählt habt. Habt ihr eine Idee, was ihr in Zukunft macht, wenn es nochmal zu so einer Situation in der Pause kommt?“
Ich zuckte mit den Schultern. Was soll ich dazu sagen? Ich war es gar nicht gewohnt, dass jemand nach meiner Meinung fragte. Andererseits wollte ich auch keine neue Prügelei.
Paul wirkte da viel entschlossener. „Wir sagen Richard, dass er uns in Ruhe lassen soll, und wenn das nicht klappt, gehen wir zu einem Lehrer“, erklärte er.
Seine Mama lächelte. „Sehr gut, Paul. Das finde ich super.“ Es schien für ihn ganz normal zu sein, bei solchen Dingen mitentscheiden zu dürfen.
Annette nickte. „Ich finde das auch eine gute Idee. Und vor allem ist es schön, dass ihr aufeinander aufpasst.“
Paul hob sich vom Boden, ging zu seiner Mutter und umarmte sie kurz. Sie nahm ihn lächelnd in den Arm – doch plötzlich verzog sie das Gesicht, trat ein bisschen zurück und berührte Pauls Hose. „Du hast deine Pull-up nicht gewechselt, sie ist ausgelaufen“, meinte sie verwundert.
Paul wurde puterrot im Gesicht. „Oh… vergessen“, murmelte er. Es war offensichtlich, dass er genauso wenig über Windeln sprechen mochte wie ich.
Irgendwie fühlte ich mich erleichtert, dass ich nicht der Einzige war, der solche Probleme hatte. Ich ging zu Annette, die Arme leicht nach vorn gestreckt. Sie nahm mich auf ihren Schoß und strich mir über den Rücken. „Wir müssen jetzt sowieso nach Hause, Florian“, erklärte sie leise. „Ich hab noch etwas zu erledigen, und du bist bestimmt auch Hungrig in und müde.“
Ich nickte. Es war wirklich genug für heute, dachte ich bei mir.
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Wieder mal eine Tolle Fortsetzung Klasse