Florians Schatten (17)
Dieser Eintrag ist Teil 17 von 17 der Serie Florians-Schatten
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Es hat nicht lange gedauert, und Florian war eingeschlafen. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, und ich konnte sehen, wie sich seine kleinen Hände um Pandi klammerten. Er wirkte so friedlich, dass ich beinahe selbst ein wenig gerührt war. Ich hoffte, Markus würde nichts dagegen haben, dass Florian schon wieder bei uns im Bett schläft. Aber ich war mir sicher, dass er Verständnis dafür hätte. Florian suchte im Moment einfach die Nähe und hatte vermutlich immer noch Angst, allein gelassen zu werden. Nach allem, was er durchgemacht hatte, war das kein Wunder.
Vorsichtig stand ich auf, damit ich ihn nicht weckte, und strich ihm sanft über die Haare. Seine neue Frisur stand ihm wirklich gut – er sah damit so ordentlich und schick aus. Trotzdem vermisste ich seine langen, struppeligen Haare ein wenig. Sie hatten so gut zu seiner schüchternen, kindlichen Seite gepasst. Aber die Veränderung tat ihm gut, das konnte ich sehen.
Ich ließ die Tür einen Spalt offen, damit etwas Licht vom Flur herein schien, und ging leise aus dem Zimmer. In der Küche war es still, und ich bemerkte, dass sie bereits aufgeräumt war. Markus war wahrscheinlich nochmal draußen bei den Tieren. Er machte das oft abends, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war.
Ich nahm das Telefon vom Küchentisch und ging ins Wohnzimmer. Dort setzte ich mich auf das Sofa, das sich unter mir weich und gemütlich anfühlte. Der Raum war angenehm warm, und ich lehnte mich kurz zurück, bevor ich anfing zu wählen. Es gab noch einige Dinge zu klären – für Florian, für uns alle. Aber in diesem Moment war ich einfach nur froh, dass er jetzt sicher und geborgen war.
Annette: „Hallo Diana, ich wollte mich mal melden.“
Diana: „Hallo Annette, schön, dass du dich meldest. Wie geht es euch? Und wie läuft es bei Florian? Kommt er in der Schule zurecht?“
Annette: „Uns geht es gut, aber wir sind ein wenig geschafft von den letzten Tagen. Florian geht es auch gut, auch wenn er schon einiges mitmachen musste. In der Schule hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Mitschüler, und seine Kunstlehrerin hat sich auf ihn eingeschossen. Sie ist der Meinung, er sei aggressiv und gehöre in eine Einrichtung für Schwererziehbare.“
Diana: „Wie kommt sie denn auf so eine Aussage?“
Annette: „Sie hat von der Auseinandersetzung nur den Schluss mitbekommen, und der sah so aus, dass Florian dem anderen Jungen eine blutige Nase gehauen hat. Aber das war vermutlich mehr Notwehr und Verzweiflung als ein geplanter Angriff. Trotzdem ist sie überzeugt, dass er aggressiv ist.“
Diana: „Weiß die Lehrerin, dass er in einer Pflegefamilie ist?“
Annette: „Ja, sie hat mich direkt angesprochen und mir empfohlen, ihn in ein Heim zu geben. Und das alles, während Florian daneben stand. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was er in dem Moment gedacht hat – wo er ohnehin schon so unsicher ist.“
Diana: „Solche Lehrer kommen mir bekannt vor. Ich besuche seit Jahren Pflegeeltern versammlungen, um mich mit anderen Pflegeeltern auszutauschen, und dort wird regelmäßig von solchen Menschen gesprochen, die Kindern aus Heimen oder Pflegefamilien sofort einen Stempel aufdrücken.“
Annette: „Ja, solche Erfahrungen hat Markus als Kind auch machen müssen. Aber warum hast du uns eigentlich nie von diesen Pflegeeltern-Treffen erzählt?“
Diana: „Ich wollte euch erst einmal ein bisschen Zeit lassen, damit ihr mit Florian eigene Erfahrungen sammelt, bevor ich euch dazu einlade. Es gibt dort viele verschiedene Ansichten, und ich finde, es ist besser, sich erst ein eigenes Bild zu machen, bevor man sich von anderen einreden lässt, was das Richtige ist.“
Annette: „Das verstehe ich, und du hast recht. Vermutlich hätten wir im Moment sowieso keine Zeit dafür gehabt. Und wie geht es euch? Wie geht es Nathanael und Anna-Lena?“
Diana: „Uns geht es auch gut. Wir vermissen Florian ein wenig – aber das ist ja meistens so. Bei Florian ist es allerdings noch etwas stärker, weil ich ihn wirklich ins Herz geschlossen habe. Manfred kommt damit gut zurecht, aber er war auch am wenigsten mit Florian beschäftigt. Nathanael und Anna-Lena vermissen ihn auch sehr. Sie haben gesagt, dass sie sich nicht sicher sind, ob sie das noch einmal durchstehen könnten, wenn wir wieder ein Kind aufnehmen und es dann abgeben müssen. Bisher haben sie das immer gut verkraftet, aber Florian hat wirklich alle Herzen im Sturm erobert. Ich habe Frau Peters gesagt, dass wir im Moment erst einmal nicht zur Verfügung stehen. Wir müssen schauen, dass die beiden ihre Schule gut abschließen, und dann sehen wir weiter.“
Annette: „Oh, das wollten wir nicht, und Florian bestimmt auch nicht.“
Diana: „Ihr und Florian habt nichts falsch gemacht – im Gegenteil. Das gehört als Bereitschaftspflegeeltern einfach dazu.“
Annette: „Wenn sich bei uns alles eingelebt hat, könnt ihr Florian bestimmt besuchen kommen.“
Diana: „Ja, das machen wir auf jeden Fall. Ich habe morgen früh einen Termin mit Nathanael, aber vielleicht können wir am Sonntag noch einmal telefonieren. Ich wünsche euch einen schönen Abend und danke dir, dass du dich gemeldet hast.“
Annette: „Das ist doch selbstverständlich. Ihr habt so viel für Florian und uns getan. Ob es am Sonntag bei mir klappt, kann ich noch nicht sagen, aber wir hören auf jeden Fall wieder voneinander. Euch auch einen schönen Abend! Bis bald und tschüss!“
Diana: „Tschüss!“
Ich wählte Sebastians Eintrag aus dem Speicher und hörte nach ein paar Sekunden sein vertrautes „Hallo Mama.“
„Hallo mein Großer“, antwortete ich. „Wie geht es euch? Wann wollt ihr morgen da sein?“
„Ich hab morgen früh nur eine Vorlesung“, erklärte Sebastian. „Pierre hat frei, also starten wir gegen elf. Je nach Verkehr sollten wir so zwischen Zwei und Drei Uhr nachmittags bei euch aufschlagen.“
„Okay“, sagte ich. „Hast du mit Pierre über Florian gesprochen?“
„Ja, nur kurz. Hab’s ihm erzählt“, antwortete er.
„Gut,“ sagte ich mit ernster Stimme. „Es ist wirklich wichtig, dass ihr behutsam mit ihm umgeht. Florian hat in seinem jungen Leben bereits viel durchmachen müssen – mehr, als ein Kind jemals sollte. Er ist sehr sensibel und trägt schwere seelische und körperliche Narben aus seiner Vergangenheit.“
Ich hielt kurz inne, bevor ich weitersprach.
„Seine Eltern haben ihn nicht nur vernachlässigt, sondern auch körperlich misshandelt. Dabei hat er eine Wirbelsäulenverletzung erlitten, die bleibende Folgen hinterlassen hat. Seitdem ist er inkontinent und auf Windeln angewiesen.“
Meine Stimme wurde sanfter. „Bitte habt Verständnis für ihn. Er schämt sich dafür, auch wenn es nicht seine Schuld ist.“
Sebastian klang plötzlich ernst: „Oh, das klingt echt heftig. Kommt er damit klar?“
„Noch nicht so wirklich“, sagte ich ehrlich. „Er tut sich schwer damit, und seine Unsicherheit macht es noch schwieriger für ihn. Es wird ein langer Weg, ihm Selbstvertrauen zu geben. Deswegen möchte ich, dass Pierre vorsichtig ist mit dem, was er sagt. Er hat manchmal einen Humor, den nicht alle als Spaß verstehen.“
„Ja, ich spreche nochmal mit ihm“, sagte Sebastian. „Pierre meint’s nicht böse, aber ich weiß, was du meinst. Manchmal haut er echt schräges Zeug raus.“
„Danke, genau das meine ich“, sagte ich. „Morgen nach der Schule fahren wir mit Florian direkt einkaufen. Gibt es etwas, das ihr braucht? Soll ich euch etwas Bestimmtes mitbringen?“
„So direkt fällt mir nichts ein“, sagte er. „Aber unser Gefrierschrank freut sich immer über Mamas Kochkünste. Ich bringe auf jeden Fall die Kühlbox für die Rückfahrt mit.“
Ich lachte leise. „Das sollte kein Problem sein.“
„Gibt es etwas, was ich Florian schenken könnte, um ihm eine Freude zu machen? So als Willkommensgeschenk?“ fragte Sebastian plötzlich.
„Ich habe ihm deine alten Autos und zwei von deinen Traktoren ins Zimmer gestellt“, sagte ich. „Im Moment baut er mit Lego, wenn er zuhause ist.“
„Moment mal…“, sagte Sebastian, plötzlich misstrauisch. „Hast du ihm mein Lego gegeben?!“
„Nein! Natürlich nicht! Ich weiß doch, dass dir das heilig ist“, sagte ich schnell. „Ich habe ihm etwas Neues gekauft. Er hat sich eine Lego-Eisenbahn ausgesucht.“
„Okay, puh. Kurz hatte ich echt Sorgen“, sagte er mit einem leichten Lachen.
„Selbst wenn er dein Lego benutzen würde, er geht wirklich sorgsam mit seinem Spielzeug um“, beruhigte ich ihn. „Er hat immer Angst, dass etwas kaputt geht.“
„Okay“, sagte Sebastian. „Also wäre Lego etwas, worüber er sich freuen würde?“
„Ja, ich denke schon“, antwortete ich.
„Gut, dann schaue ich mal, ob ich meinem kleinen Bruder eine Freude machen kann“, sagte er.
„Das ist lieb von dir. Habt ihr sonst noch etwas vor am Wochenende?“ fragte ich.
„Nichts Festes“, sagte Sebastian. „Vielleicht fahren wir nach Hof, ein paar Freunde besuchen, aber das entscheiden wir spontan.“
„Okay, dann fahrt morgen vorsichtig“, sagte ich. „Ich hab dich lieb, mein Großer.“
„Ich dich auch, Mama. Bis morgen. Und drück Papa von mir.“
„Das mache ich. Bis morgen.“
Das Gespräch endete, und ich legte das Telefon beiseite. Ein Lächeln blieb auf meinem Gesicht, als ich an Sebastians Bemühen dachte, Florian willkommen zu heißen.
Ich brachte das Telefon zurück in die Küche, als Markus gerade zur Tür herein kam. Sein Gesicht war leicht gerötet von der Kälte, und ich konnte den Duft von Heu und frischer Luft wahrnehmen. „Fertig für heute?“ fragte ich ihn mit einem Lächeln.
„Fast“, antwortete Markus, während er sich die Jacke auszog. „Ich muss noch eine Rechnung schreiben, und dann komme ich hoch.“
Ich nutzte den Moment, trat auf ihn zu und umarmte ihn. Dabei gab ich ihm einen liebevollen Kuss, den er direkt erwiderte. „Die Umarmung war von deinem großen Sohn. Er freut sich auf morgen“, sagte ich mit einem Zwinkern.
Markus lächelte. „Und der Kuss?“
„Der war von mir!“ antwortete ich lachend.
Ich lehnte mich kurz an ihn und sagte: „Übrigens, wir haben heute Nacht wieder einen kleinen Übernachtungsgast. Florian hat gefragt, ob er bei uns schlafen darf. Ich habe ihm erklärt, dass das eine Ausnahme ist und er nur bei uns schlafen kann, wenn es ihm nicht gut geht oder er schlecht geträumt hat.“
Markus nickte verständnisvoll. „Okay, mich stört das nicht. Aber… wenn ich an meine Kindheit denke: Ich hatte oft Albträume, und ich war längst nicht so sensibel wie Florian. Ich will damit sagen, dass er vielleicht öfter bei uns schläft, wenn du ihm das so erklärst.“
Ich lächelte, denn ich wusste, dass Markus recht haben könnte. „Ja, das stimmt wahrscheinlich. Aber wenn es dich nicht stört, dann stört es mich auch nicht. Im Gegenteil – ich finde es irgendwie beruhigend, ihn friedlich schlafen zu sehen und seinen ruhigen Atem zu hören.“
Markus grinste leicht. „Ich würde sagen, er hat dein Herz im Sturm erobert.“
„Ja, das hat er wirklich“, sagte ich ehrlich und schaute Markus an. „Für mich ist er ein Teil unserer Familie.“
Markus nickte zustimmend. „Ja, das ist er. Ich hoffe nur, dass er seine Angst vor mir irgendwann überwinden kann.“
„Das hoffe ich auch“, sagte ich leise. „Vielleicht könntest du mit ihm zusammen den Trettraktor reparieren und so ein bisschen Zeit mit ihm verbringen. Oder du nimmst ihn am Wochenende mit, um Schnee zu räumen. Ich könnte mir vorstellen, dass er es toll findet, mit einem richtigen Traktor mit zu fahren.“
Markus überlegte kurz, dann lächelte er. „Das ist eine gute Idee. Ich werde es ihm anbieten. Vielleicht taut er dann ein bisschen auf.“
Markus ging in Richtung Büro, während ich mich auf den Weg ins Badezimmer machte. Dort erledigte ich schnell meine abendliche Routine, doch meine Gedanken waren schon bei Florian, der friedlich in unserem Bett schlief.
Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, schlich ich mich auf Zehenspitzen hinein. Das Licht vom Flur fiel gedämpft durch die leicht geöffnete Tür, gerade genug, um Florian zu sehen. Er lag tief und fest schlafend da, mit Pandi fest in seinen kleinen Armen geklammert und seinem Schnuller im Mund. Sein Gesicht war entspannt, und er sah so zufrieden aus, dass ich unwillkürlich lächeln musste. Es war ein Bild des Friedens, das mein Herz wärmer werden ließ.
Ich legte mich vorsichtig zu ihm, damit ich ihn nicht störte. Die Decke war kuschelig und warm, und der Duft von frischer Bettwäsche mischte sich mit dem sanften Hauch seines Kindershampoos. Ganz behutsam strich ich ihm über die Haare, die sich nach dem Friseur besuch so weich anfühlten. Seine Stirn war warm, und sein Atem ging gleichmäßig, ein leises Schnaufen, das fast beruhigend wirkte.
Ich beobachtete ihn für einen Moment, wie er sich ein bisschen an Pandi kuschelte, ohne aufzuwachen. In diesem Augenblick wirkte er so verletzlich und doch so stark. All die Herausforderungen, die er schon durchgemacht hatte, und trotzdem fand er jetzt hier seinen Frieden – in unserem Zuhause, in unserem Bett, bei uns.
Es erfüllte mich mit einem tiefen Gefühl von Liebe und Fürsorge. „Du bist wirklich ein Teil unserer Familie, mein kleiner Schatz“, dachte ich bei mir, während ich weiterhin sanft über seine Haare strich. Schließlich legte ich meinen Kopf auf das Kissen, schloss die Augen und ließ mich von der ruhigen Atmosphäre um uns herum in den Schlaf wiegen.
Sebastian:
Nach dem Telefonat mit Mama lehnte ich mich zurück und starrte kurz an die Decke. Ich musste überlegen, wie ich das Thema am besten mit Pierre ansprechen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihm etwas Wichtiges erklären musste, aber bei Florian war es anders. Das war ein sensibles Thema, und ich wollte keinen Fehler machen.
Pierre und ich waren lange nur Freunde, bevor wir uns endlich eingestanden, dass da mehr zwischen uns war. Doch selbst nachdem wir unsere Gefühle füreinander offenbart hatten, verging über ein Jahr, bis ich ihn offiziell meinen Eltern als meinen Freund vorstellte.
Wenn ich daran zurückdenke, läuft mir immer noch ein Schauer über den Rücken. Die Angst vor ihrer Reaktion war überwältigend – ein drückendes, allgegenwärtiges Gefühl, das ich nicht abschütteln konnte. Und doch war diese Angst im Nachhinein völlig unbegründet.
Mama und Papa hatten mir nie das Gefühl gegeben, dass sie homophob sein könnten. Sie waren immer offen und tolerant gewesen. Aber bis zu dem Moment, in dem ich es wirklich aussprach, konnte ich mir nicht sicher sein. Denn zwischen stiller Akzeptanz und echter Unterstützung lag eine Unsicherheit, die mich damals fast zerrissen hätte.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie nervös ich war, als ich es ihnen sagte, und an den Kloß im Hals, den ich hatte, als ich auf ihre Antwort wartete. Doch ihre herzliche Aufnahme von Pierre in unserer Familie hat all diese Ängste sofort verschwinden lassen. Das war vor drei Jahren, und seitdem haben wir gemeinsam so einiges durchgestanden. Sie haben uns immer unterstützt, und ich wusste, wie viel das wert war.
Aber Pierre war eben Pierre. Er hatte oft einen lockeren Spruch auf den Lippen, ohne vorher groß darüber nachzudenken. Das war einerseits charmant, andererseits konnte es aber auch schnell mal daneben gehen. Und mit Kritik konnte er nicht besonders gut umgehen, was die Sache jetzt etwas kniffliger machte.
Ich wollte ihm klar machen, dass er bei Florian vorsichtig sein musste. Florian war sensibel und hatte so viel durchgemacht. Ein unüberlegter Kommentar von Pierre, auch wenn er gar nicht böse gemeint war, könnte ihn leicht verletzen oder verunsichern. Ich musste also den richtigen Ton treffen – nicht zu direkt, aber auch nicht so, dass er es nicht ernst nahm.
„Okay, Seb, das schaffst du“, murmelte ich zu mir selbst. Ich warf einen Blick ins Wohnzimmer und sah, dass Pierre gerade eine Serie schaute. Das war vielleicht ein guter Moment, um mit ihm zu reden – entspannt, ohne Druck. Ich atmete tief durch und ging ins Wohnzimmer, bereit, das Gespräch so ruhig und klar wie möglich zu führen.
„Hey Pierre, hast du kurz Zeit? Ich wollte noch mal über Florian reden.“ Ich setzte mich zu ihm auf die Couch, und er legte die Fernbedienung zur Seite. Sein Blick war aufmerksam, aber auch etwas abwartend.
„Klar, was ist los?“ fragte er, die Stimme ruhig, aber ich spürte einen Hauch von Zurückhaltung.
„Es geht nur darum, wie wir mit ihm umgehen“, begann ich. „Florian ist wirklich sensibel, und er hat in seinem Leben schon echt viel durchgemacht. Er nimmt Dinge manchmal anders auf, als sie gemeint sind, und ich wollte dich bitten, bei ihm vielleicht ein bisschen vorsichtiger zu sein. Du weißt schon, bevor du einen deiner lockeren Sprüche bringst.“
Pierre lehnte sich ein wenig zurück und nickte langsam. „Hm, verstehe. Der Kleine hatte’s echt nicht leicht, oder?“
„Ja“, sagte ich, froh, dass er zuhörte. „Er wurde von seinen Eltern misshandelt und ist jetzt wegen einer Wirbelsäulenverletzung inkontinent. Das macht ihn natürlich noch unsicherer. Und na ja, ich denke, ein unüberlegter Kommentar könnte ihn wirklich treffen.“
„Das klingt echt heftig“, sagte Pierre. „Ist bestimmt nicht leicht für ihn.“ Seine Worte klangen mitfühlend, aber seine Mimik verriet eine Spur von Distanz, die ich nicht ganz deuten konnte.
„Ja, genau“, sagte ich. „Deshalb ist es wichtig, dass wir ihn unterstützen, weißt du? Einfach ein bisschen darauf achten, was wir sagen, damit er sich sicher fühlt.“
Pierre nickte erneut. „Klar, macht Sinn. Aber ich frag mich, ob das nicht ein bisschen… übervorsichtig ist. Ich meine, deine Eltern kümmern sich doch schon ziemlich gut um ihn, oder?“
Ich lächelte und versuchte, die Bemerkung abzuwiegeln.
„Ja, sie machen das bestimmt großartig, so wie ich sie kenne. Aber er ist erst seit ein paar Tagen hier und hatte noch nicht wirklich die Gelegenheit, sich einzuleben. Trotzdem ist er jetzt Teil unserer Familie, und ich möchte einfach, dass er sich wirklich willkommen fühlt.“
„Verstehe ich“, sagte Pierre, aber seine Stimme war ein wenig zögerlich. „Ich meine, klar, der Junge braucht Unterstützung. Ist halt nur viel für deine Eltern, oder? Ich mein, das ist doch eine ziemliche Verantwortung. Und ich hoffe mal, dass das langfristig für alle passt.“
Ich runzelte leicht die Stirn, konnte aber nicht genau greifen, worauf er hinauswollte. „Ja, das ist es. Aber meine Eltern wollen das, und ich finde es toll, dass sie ihm diese Chance geben.“
„Ja, sie haben echt ein großes Herz“, sagte Pierre, diesmal mit einem Lächeln. Es wirkte echt, aber ich hatte das Gefühl, dass da etwas mitschwang, das ich nicht ganz verstand. „Ich pass auf, was ich sage, keine Sorge. Ich will ja auch nicht, dass er sich blöd fühlt oder so.“
„Danke“, sagte ich erleichtert. „Das bedeutet mir viel.“
„Klar“, sagte er locker. „Ist ja jetzt Familie, oder?“
Er griff wieder zur Fernbedienung, und ich blieb noch einen Moment sitzen. Irgendwie fühlte sich das Gespräch nicht ganz so an, wie ich es mir vorgestellt hatte. Pierre hatte zugestimmt, ja, aber etwas in seiner Haltung ließ mich das Gefühl nicht loswerden, dass er innerlich doch nicht ganz dabei war. Es war nichts Offensichtliches, eher so ein unterschwelliges Gefühl. Vielleicht interpretierte ich zu viel hinein. Ich schob den Gedanken beiseite und hoffte, dass sich alles mit der Zeit klären würde.
Florian:
„Es ist Zeit aufzustehen, Florian“, hörte ich Annette sanft an meinem Ohr sagen. Sie saß auf der Bettkante und strich mir zärtlich über die Wange. Ihre Stimme war ruhig und weich. Ich öffnete langsam die Augen und blinzelte zu ihr hoch.
„Ich habe den Wecker heute gar nicht gehört“, murmelte ich verschlafen. Mein Kopf fühlte sich schwer an, und eigentlich wollte ich einfach nur liegen bleiben.
Annette lächelte mich an, dieses warme Lächeln, das mich immer ein bisschen beruhigte. Ich lächelte zurück, aber innerlich wünschte ich mir, dass ich einfach fragen könnte: Kann ich nicht einfach hier bei dir bleiben? Doch ich traute mich nicht. Annette würde bestimmt sagen, dass ich zur Schule muss.
Früher, als ich noch bei meinen Eltern lebte, wäre es mir niemals in den Sinn gekommen, so eine Frage zu stellen. Solche Gedanken hatten in meinem Alltag einfach keinen Platz. Damals zog ich es sogar vor, in die Schule zu gehen – obwohl ich dort Richard und seine Freunde ertragen musste. Ihre Sticheleien und gemeinen Bemerkungen waren unangenehm, aber berechenbar. Ich wusste, woran ich bei ihnen war.
Zuhause hingegen war es anders. Dort lag immer eine unterschwellige Anspannung in der Luft, als könnte jeden Moment etwas eskalieren. Ich wusste nie, was einen Streit auslösen oder wann sich die Wut gegen mich richten würde. Oft verstand ich nicht einmal, warum ich Ärger bekam – es passierte einfach. Und selbst wenn ich nicht direkt betroffen war, blieb immer dieses Gefühl, auf dünnem Eis zu stehen, jederzeit bereit, in die Tiefe zu stürzen.
In der Schule gab es zumindest Pausen. Zu Hause nicht.
Wenn mein Vater mich anschrie, war das schon schlimm genug. Seine laute, wütende Stimme jagte mir immer Angst ein, und ich wusste nie, was als Nächstes passieren würde – ob er mich schlug, trat oder etwas noch Schlimmeres tat.
Meine Mutter schlug mich zwar nicht oft, aber sie schimpfte mich ständig aus. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich überhaupt nicht mochte..
Aber hier, bei Annette, ist es so anders. Noch nie hat jemand hier mit mir geschimpft, nicht einmal, als ich aus Versehen groß in die Windel gemacht habe. Annette hat mich einfach beruhigt und gesagt, dass alles in Ordnung ist. Trotzdem habe ich manchmal Angst, dass das nicht für immer so bleibt. Was, wenn ich irgendwann etwas falsch mache und Annette doch mit mir schimpft oder – noch schlimmer – mich schlägt?
Ich wollte ihr nicht die Chance geben, wütend auf mich zu werden, also stand ich auf, auch wenn ich noch total müde war. Annette wartete geduldig und nahm mich mit in die Küche. Ihr Lächeln war immer noch da, und obwohl ich mich ein bisschen ängstlich fühlte, beruhigte mich das.
Es war wie in den letzten Tagen: vor mir stand eine Schüssel mit Cornflakes und daneben eine aufgeschnittene Birne. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Birne gegessen hatte.
Vorsichtig nahm ich ein Stück der Birne in die Hand und biss hinein. Sie war überraschend süß und saftig. Der Saft lief mir ein bisschen über die Finger, ich strich es schnell an meinem Schlafanzug ab. Es schmeckte richtig gut, besser, als ich erwartet hatte. Also aß ich die Birne Stück für Stück auf und löffelte danach die Cornflakes aus der Schüssel.
Dann trank ich meinen Kakao, der schön warm und schokoladig war. Es fühlte sich irgendwie gemütlich an, so am Küchentisch zu sitzen und in Ruhe zu frühstücken. Annette war in der Zeit mit dem Geschirrspüler beschäftigt. Sie räumte die sauberen Teller und Tassen aus, und ich hörte das leise Klirren des Geschirrs.
Ich musste an Diana denken. Bei ihr musste ich immer mein Geschirr nach dem Essen selbst in den Geschirrspüler stellen. Es war so eine kleine Regel, die sie mir beigebracht hatte. Ich fragte mich, warum ich das hier bei Annette noch nicht gemacht hatte. Vielleicht, weil sie es nicht von mir verlangt hatte? Oder weil sie einfach selbst alles erledigt?
Ich schaute kurz zu Annette, wie sie mit schnellen, sicheren Bewegungen die Gläser in den Schrank stellte. Irgendwie fühlte ich mich ein bisschen komisch, dass ich einfach nur da saß und nichts machte. Sollte ich vielleicht mein Geschirr selbst in die Maschine stellen? Aber sie sagte nichts dazu, also blieb ich sitzen und nahm noch einen letzten Schluck von meinem Kakao.
Soll ich Annette fragen, ob ich ihr helfen kann? Oder sollte ich mein Geschirr einfach selbst in den Geschirrspüler räumen? Ich wusste nicht, was das Richtige war. Was, wenn ich etwas falsch mache? Wenn ich das Geschirr an die falsche Stelle stelle und Annette dann enttäuscht von mir ist? Oder schlimmer noch, wenn mir etwas herunterfällt und kaputt geht? Bestimmt wäre sie dann böse auf mich.
Plötzlich musste ich an Zuhause denken. Einmal wollte ich mir ein Glas aus dem Schrank nehmen. Der Schrank war viel zu hoch für mich, also habe ich mir einen Stuhl geholt, um hinaufzuklettern. Ich weiß noch, wie ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um das Glas zu greifen. Aber ich hatte den Stuhl zu weit weg vom Schrank gestellt, und als ich mich streckte, kippte er.
Ich erinnere mich genau an diesen Moment, der mir noch immer einen Stich in den Magen versetzt, wenn ich daran denke. Ich war auf den harten Küchenboden gestürzt, das zerbrochene Glas lag in Scherben um mich herum, und mein Arm tat schrecklich weh. Der Schreck, der Schmerz und die Angst vor den Scherben hatten mich laut aufschreien lassen, und ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Meine Mutter kam hereingestürmt und fing sofort an, mich an zu schreien. Ihre Worte trafen mich wie Schläge: „Wie blöd bist du eigentlich? Kannst du nicht aufpassen? Du bist wirklich unterbemittelt!“
Ich saß da, zitternd und weinend, während sie immer lauter wurde: „Und dann schreist du so laut, dass du uns weckst, und sitzt heulend auf dem Fußboden wie ein Kleinkind! Du gehst bald in die Schule, also benimm dich gefälligst auch so!“
Ich wollte mich entschuldigen, wollte erklären, dass ich nur ein Glas nehmen wollte, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ihre Wut schien nur noch größer zu werden, als sie die Scherben auf dem Boden sah. „Heul hier nicht rum und räum das auf! Und tritt mir heute nicht mehr unter die Augen!“
Ich nickte nur, obwohl ich kaum etwas sehen konnte vor lauter Tränen. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Nachdem sie gegangen war, blieb ich noch eine Weile wie versteinert auf dem Boden sitzen, bevor ich vorsichtig anfing, die Scherben aufzusammeln. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich Angst hatte, mich zu schneiden.
Danach traute ich mich lange Zeit nicht mehr, etwas aus dem Schrank zu holen. Ich trank mein Wasser morgens lieber direkt aus der Leitung, auch wenn es unangenehm war, sich immer über das Waschbecken zu beugen. Es fühlte sich sicherer an, als wieder ein Glas zu nehmen und vielleicht etwas falsch zu machen.
Erst später, als meine Mutter mich eines Morgens aus schimpfte, dass ich früh höchstens ein halbes Glas Wasser trinken dürfe, fing ich wieder an, aus einem Glas zu trinken. Aber die Angst, dass mir wieder etwas herunterfällt oder ich wieder angeschrien werde, blieb noch lange Zeit bei mir.
Annette riss mich aus meinen Gedanken. „Florian, ist alles gut?“ fragte sie sanft und strich mir über den Kopf. Ihre Hand fühlte sich warm und beruhigend an, und ich schaute zu ihr auf. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass mein Geschirr schon weggeräumt war und Annette jetzt neben mir stand, mich mit einem liebevollen, aber besorgten Blick ansah.
Ich nickte stumm und stand auf, doch irgendetwas in mir fühlte sich schwer an, fast wie ein Knoten im Bauch. Annette hockte sich vor mich, legte ihre Arme um mich und zog mich fest an sich. „Du kannst mir alles erzählen, was dir auf dem Herzen liegt, Florian“, sagte sie leise, fast wie ein Versprechen.
Ich wollte etwas sagen, wollte ihr erklären, warum ich so traurig war, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Stattdessen lehnte ich mich einfach an sie und genoss ihre Nähe. Es fühlte sich so sicher an, in ihren Armen zu sein. Ein Gefühl, das ich früher nie gekannt hatte. Ich schloss die Augen, und plötzlich liefen ein paar Tränen meine Wangen hinunter, ohne dass ich es aufhalten konnte.
Annette bemerkte es sofort. Sie nahm mich hoch, wie sie es schon so oft gemacht hatte, und hielt mich fest. „Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst“, flüsterte sie beruhigend. Ihre Stimme war sanft, und ich spürte, dass sie es ernst meinte. Sie drängte mich nicht, und das war so anders als alles, was ich vorher erlebt hatte.
Sie trug mich die Treppe hinauf ins Badezimmer und setzte mich vorsichtig ab. „Geht es wieder?“ fragte sie leise, während sie mich prüfend ansah. Ich nickte und begann mit dem Zähneputzen. Dabei dachte ich darüber nach, wie viel leichter alles hier bei Annette war, selbst die Dinge, die ich früher immer gehasst hatte.
Als ich fertig war, fiel mir auf, dass meine Windel wieder sehr schwer war. Ich zog sie aus und entsorgte sie im Windeleimer, bevor ich zu Annette in mein Zimmer lief. Sie saß schon auf dem Bett und wartete auf mich, ein warmes Lächeln auf ihrem Gesicht. Es war, als würde sie genau wissen, wie sie mich beruhigen konnte, ohne dass ich ein Wort sagen musste. In diesem Moment fühlte ich mich, als würde alles in Ordnung sein – zumindest für jetzt.
Annette zog mir die Schlafanzughose aus und wischte mich mit einem Feuchttuch sauber. Die Tücher waren kalt, aber ich sagte nichts. Es war irgendwie ein vertrautes Gefühl, wie sie das immer mit so viel Geduld machte. Danach holte sie eine frische Windel und machte sie mir mit geübten Händen um.
„So, mein kleiner Schnuffibär“, sagte sie mit einem Lächeln. „Wie machen wir es mit dem Anziehen heute? Möchtest du dich selber anziehen, oder soll ich dir helfen?“
Ich blickte zu ihr auf und antwortete leise: „Du sollst mir helfen.“
Sie lächelte wieder, ein richtig warmes Lächeln, und begann, mir bei meinen Sachen zu helfen. Erst zog sie mir das Hemd über den Kopf, dann die Hose. Ich war so froh, dass sie gefragt hatte. Gestern Morgen hatte ich so Angst gehabt, dass sie mir nicht mehr helfen würde, weil ich gesagt hatte, ich könnte es allein. Aber sie tat es trotzdem, und das machte mich irgendwie glücklich.
Als ich angezogen war, nahm sie meine Hand, und wir gingen zusammen die Treppe hinunter. Unten zog ich meine Jacke an, und Annette half mir bei den Schuhen, während sie meine Handschuhe und die Mütze bereitlegte.
Draußen war es wieder ziemlich kalt. Der Schnee fiel immer noch, genau wie gestern, und ich konnte meinen Atem in der Luft sehen. Annette nahm meine Hand, und wir liefen zusammen zum Auto. Drinnen war es angenehm warm, und ich kuschelte mich in meinen Sitz, während sie mich anschnallte.
Die Fahrt zur Schule war wie gestern – langsam und irgendwie beruhigend. Der Schnee hatte die Straßen wieder bedeckt, und die Räder der Autos hinterließen Spuren, wenn sie durch die weiße Schicht fuhren. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie alles draußen wie in Zucker getaucht aussah. Es war so friedlich, dass ich mich fast ein bisschen müde fühlte.
Annette konzentrierte sich auf die Straße, während ich sie beobachtete. Dabei fragte ich mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie meine Mama gewesen wäre.
Als wir an der Schule ankamen, parkte Annette auf dem Parkplatz neben dem Schultor. Sie hockte sich vor mich, sodass sie mir direkt in die Augen sehen konnte. Dann schloss sie die Arme um mich, und ich spürte die Wärme ihrer Umarmung.
„Ich hab dich lieb, Florian“, sagte sie sanft. Ihre Worte fühlten sich wie eine Decke an, die mich warm und sicher einhüllte. „Wenn ich dich nachher abhole, fahren wir zusammen einkaufen. Ich wünsche dir einen schönen Schultag.“
Ich nickte und lächelte schwach, auch wenn mein Magen sich ein wenig zusammenzog. Auf der einen Seite freute ich mich auf Paul. Aber auf der anderen Seite war ich traurig. Ich wäre so gerne einfach bei Annette geblieben, in der Wärme und Sicherheit, die sie mir gab.
Als sie mich noch einmal sanft über die Wange strich und sich langsam zum Gehen umdrehte, schlich sich ein unangenehmer Gedanke in meinen Kopf. Was, wenn sie nachher nicht wiederkommt? Was, wenn sie mich doch zu anstrengend findet oder ich ihr zu viel Geld koste?
Ich schluckte schwer und schaute ihr hinterher, wie sie langsam zum Auto ging. Meine Füße fühlten sich schwer an, und ich wollte am liebsten zurücklaufen und sie fragen: Kommst du wirklich wieder? Versprichst du es? Aber ich traute mich nicht, das zu sagen.
Annette drehte sich noch einmal um, winkte mir und lächelte. Ich hob die Hand zum Gruß, doch in meinem Kopf kreisten die Gedanken weiter. Was, wenn sie mich nicht mehr abholt? Ich wollte nicht zurück in mein richtiges Zuhause.
Langsam drehte ich mich um und lief zum Schulgebäude. Meine Schritte fühlten sich schwer an, und der kalte Wind kratzte an meinen Wangen. Heute fühlte sich die Schule irgendwie noch fremder an als sonst.
Es klingelte gerade, als ich am Eingang der Schule stand. Die anderen Schüler strömten gleichzeitig mit mir ins Gebäude, und plötzlich wurde es auf dem Flur eng und laut. Stimmen und Schritte hallten überall, und ich spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in mir breit machte. Ich mochte es nicht, wenn so viele Menschen auf einmal um mich herum waren. Es fühlte sich an, als ob ich keinen Platz zum Atmen hätte.
Ich drückte mich an den Rand des Flurs, lehnte mich an die Wand und wartete, bis die meisten Schüler schon in den Klassenzimmern verschwunden waren. Erst dann ging ich langsam weiter. Die Geräusche wurden leiser, und mein Herz beruhigte sich ein wenig. Ich lief in Richtung unseres Klassenzimmers, Schritt für Schritt.
Als ich das Klassenzimmer betrat, waren schon einige Kinder da, aber längst nicht alle. Ich schaute mich um und merkte sofort, dass Paul nicht an seinem Platz saß. Das war seltsam, denn er war eigentlich immer vor mir in der Klasse.
Ich setzte mich auf meinen Platz und begann, meine Sachen aus der Tasche zu holen. Die ersten beiden Stunden hatten wir Mathe bei Herrn Richter. Normalerweise war das nicht so schlimm, weil Paul oft neben mir saß und mir meistens half.
Die Tür öffnete sich, und Herr Richter trat ins Klassenzimmer. Er sah wie immer aus – mit seiner dicken Brille und dem großen Stapel Unterlagen in der Hand. Aber Paul war immer noch nicht da. Langsam wurde ich nervös. Paul war noch nie zu spät.
Herr Richter setzte sich an seinen Tisch, zog die Anwesenheitsliste hervor und begann, die Namen durchzugehen. Mein Herz klopfte schneller, als er bei Pauls Namen ankam. „Entschuldigt“, sagte er leise zu sich selbst, ohne auf zu blicken.
Ein schweres Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Meine Befürchtung bewahrheitete sich: Paul war krank und würde heute nicht kommen. Das letzte Mal, als er krank war, ist schon eine ganze Weile her. Ich konnte mich nicht mehr so richtig daran erinnern, aber ich wusste noch, dass es damals ziemlich doof war.
„So, dann holt mal eure Hausaufgaben aus der letzten Stunde heraus“, sagte Herr Richter und schaute in die Klasse.
Ein kurzer Schreck durchfuhr mich. Hausaufgaben! Doch dann fiel mir ein, dass ich sie ja am Dienstag mit Annette gemacht hatte. Erleichtert holte ich mein Heft aus der Tasche. Wenigstens darüber musste ich mir keine Sorgen machen. Aber trotzdem fühlte es sich, ohne Paul irgendwie leer und ungewohnt an.
Ich schlug mein Schreibheft mit den Aufgaben auf und legte es ordentlich vor mich hin. Herr Richter ging durch die Klasse, sein Blick prüfend, während er die Hausaufgaben kontrollierte. Als er bei mir ankam, nickte er zufrieden und murmelte ein leises „Sehr gut“ vor sich hin. Das beruhigte mich ein wenig, und ich fühlte mich stolz, dass Annette mir so gut geholfen hatte.
„Collin, Karl und Antje, bitte an die Tafel“, sagte Herr Richter mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. Er schrieb die ersten drei Aufgaben aus der Hausaufgabe noch einmal an die Tafel. „Rechnet diese Aufgaben jeweils nochmal vor.“
Die drei standen nebeneinander vor der Tafel, mit ein wenig Abstand zueinander. Antje stand in der Mitte und begann sofort zu schreiben, während Collin und Karl ihre Kreide noch in der Hand hielten und die Aufgaben zu überfliegen schienen. Antje war schnell fertig. Sie legte die Kreide ab und ging mit einem zufriedenen Lächeln zurück zu ihrem Platz.
Collin und Karl arbeiteten fast gleichzeitig, aber Collin wirkte ein wenig langsamer und unsicherer. Schließlich stand er aufgeregt vor seiner Lösung und sah sich um, als ob er auf Bestätigung wartete. Karl setzte ebenfalls den letzten Strich, nickte selbstbewusst und ging zurück zu seinem Platz.
„Collin“, sagte Herr Richter, als Collin ebenfalls loslaufen wollte. „Schau dir deine Aufgabe nochmal genau an.“
Collin blieb stehen, drehte sich langsam zur Tafel und runzelte die Stirn. „Was soll daran falsch sein?“ murmelte er leise, sichtlich irritiert.
Herr Richter trat einen Schritt näher und deutete mit dem Finger auf die Rechnung an der Tafel. „Schau mal hier, Collin“, sagte er geduldig. „Diese Subtraktionsaufgabe: 456 minus 238. Deine Lösung ist 322. Denk nochmal nach – kann das wirklich stimmen?“
Collin starrte auf die Zahlen und wirkte ratlos. Er kratzte sich am Kopf und schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß nicht, was falsch ist“, sagte er leise, fast flüsternd.
„Pass auf“, sagte Herr Richter geduldig. „Wenn du die Zahlen von hinten nach vorne subtrahierst, dann: 6 minus 8 geht nicht. Was machst du dann?“
Collin zögerte. „Ähm… Ich glaube, ich habe einfach die 6 von der 8 abgezogen.“
Herr Richter nickte. „Genau. Und das ist der Fehler. Du musst dir eine Zehnerübertragung holen, damit es funktioniert. Dann wird aus der 6 eine 16, und du rechnest 16 minus 8.“
Collin nickte langsam, sah aber immer noch ein wenig verwirrt aus. Herr Richter zeigte ihm Schritt für Schritt, wie es richtig ging, und korrigierte die Aufgabe an der Tafel. Am Ende stand dort die richtige Lösung: 218.
So stimmt das Ergebnis jetzt, Collin. Wenn du Schwierigkeiten mit den Hausaufgaben hast, kann es helfen, dich mit einem Mitschüler auszutauschen.
Collin murmelte ein leises „Ja, Herr Richter“, und ging mit roten Wangen zurück zu seinem Platz. Ich war froh, dass ich meine Hausaufgaben ordentlich gemacht hatte. Die ganze Situation hätte mir auch passieren können, und ich war erleichtert, dass ich heute nicht an der Tafel stehen musste.
Der restliche Matheunterricht bestand aus weiteren Übungsaufgaben zum minus rechnen, die immer schwieriger wurden. Die Zahlen wurden größer, und die Aufgaben länger, aber ich gab mein Bestes. Annette hatte mir gezeigt, wie ich das mit der Zehner übertragung machen muss, und dank ihrer Hilfe verstand ich es endlich. Ich war zwar nicht der Schnellste, aber ich kam mit und konnte die Aufgaben lösen.
Herr Richter lief durch die Klasse, beobachtete uns und half hier und da, wenn jemand Schwierigkeiten hatte. Als er bei mir stehen blieb, hielt ich den Atem an. Ich wollte nicht, dass er meine Aufgaben ansah und feststellte, dass ich vielleicht doch etwas falsch gemacht hatte.
„Sehr gut, Florian. Ich sehe, du hast es verstanden“, sagte er mit einem Nicken. Seine Worte ließen eine warme Zufriedenheit in mir aufsteigen. Ich atmete erleichtert aus, als er weiter ging. Für einen Moment war ich richtig stolz auf mich. Ich hatte es ohne Hilfe geschafft.
Das Klingeln zur ersten Pause durchbrach die Stille, und plötzlich wurde es laut in der Klasse. Stühle scharrten über den Boden, Kinder standen auf und unterhielten sich lebhaft.
Herr Richter setzte sich an seinen Tisch und vertiefte sich in sein Heft. Ich war erleichtert – solange er da saß und beschäftigt war, hatte Richard keine Gelegenheit, mich zu ärgern. Zumindest in dieser Pause war ich sicher.
Trotzdem machte ich mir schon Gedanken über die Frühstückspause. Da war Herr Richter nicht mehr im Klassenzimmer, und bis Frau Siegel für den Heimatkunde untericht kommen würde, waren wir allein. Ich überlegte, ob ich einfach auf die Toilette gehen könnte, um Richard aus dem Weg zu gehen. Aber was, wenn er mir folgte? Oder wenn die großen Jungs aus der dritten oder vierten Klasse dort wären? Das wäre auch blöd.
Ich nahm einen Schluck aus meiner Trinkflasche und ließ meinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Die anderen Kinder unterhielten sich miteinander, lachten oder spielten. Nur ich saß alleine an meinem Platz. Es fühlte sich an, als ob ich einfach nicht dazu gehörte.
Das Klingeln zur zweiten Stunde riss mich aus meinen Gedanken, und wir setzten den Unterricht fort. Diesmal ging es um Textaufgaben, bei denen wir am Ende wieder Minus rechnen mussten. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber die Textaufgaben waren schwieriger, weil ich sie erst genau lesen musste.
Herr Richter ging wieder durch die Klasse. Als er bei mir stehen blieb, schaute er auf mein Heft. „Florian, lies dir die Aufgabe nochmal genau durch“, sagte er freundlich.
Ich nickte und versuchte, die Aufgabe in Gedanken zu lesen:
In einer Bibliothek stehen…
Ich stoppte. Mein Blick sprang über die Worte.
…384 Bücher in der Kin— Kinderabteilung und 429 Bücher in der Erwach… Erwa… Erwachsenenabteilung.
Ich schluckte. Diese langen Wörter machten es schwer.
Ein Bibliothekar räumt…
Ich verlor kurz den Faden. Wo war ich? Ich blinzelte und suchte die Stelle erneut.
Ein Bibliothekar räumt… 138 Bücher aus der Kinderabteilung…
Ich las weiter, ohne lange nachzudenken:
…in die Erwachsenenabteilung.
Ich überlegte. Was genau soll ich hier rechnen? Ich hatte doch gerechnet: 384 minus 138. Das ergab 246.
Warum sollte das falsch sein?
Ich schaute auf mein Ergebnis, dann zurück auf die Aufgabe. Ich fand meinen Fehler nicht.
„Florian“, sagte Herr Richter leise, „lies mir die Aufgabe mal laut vor.“
Mir wurde heiß. Laut lesen? Vor anderen? Ich wollte nicht, aber ich tat es.
Langsam begann ich:
„In… in einer Bib… Bibliothek stehen… 384 Bücher in der Kinder— Kinderabteilung und… 429 Bücher in der… Erwachs… erwachsenen… abteilung.“
Ich hielt kurz inne. Alles richtig? Ich wusste es nicht.
„Ein Biblio… Biblio… ein Bibliothekar räumt… 138 Bücher aus der Kinderabteilung in die…“
Ich hielt wieder inne. Stimmte das? Ich las schnell nochmal leise für mich.
Ein Bibliothekar räumt 138 Bücher aus der Kinderabteilung…
Ja, das hatte ich doch gerade gesagt. Ich wollte weiterlesen, aber Herr Richter unterbrach mich sanft.
„Schau nochmal genau hin. Was steht da wirklich?“
Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Ich hatte doch richtig gelesen… oder?
Mein Blick huschte über die Zeile. Ich suchte das Wort, das falsch sein könnte.
Ein Bibliothekar räumt 138 Bücher aus der Kinderabteilung…
Ich runzelte die Stirn. Las ich richtig?
Noch einmal von vorn.
„Ein Bibliothekar räumt 138 Bücher aus der Kinderabteilung…“
Ich hielt wieder inne.
Herr Richter wartete geduldig.
Ich biss mir auf die Lippe und las noch einmal. Langsamer.
Ein Bibliothekar räumt 138 Bücher aus der Erwach… Erwachsenenabteilung in die Kinderabteilung.
Ich blinzelte. Oh.
Meine Wangen wurden heiß. Ich hatte es jedes Mal falsch gelesen.
„Genau, Florian“, sagte Herr Richter mit einem kleinen Lächeln. „Das war dein Fehler. Du hast die Aufgabe nicht falsch gerechnet, sondern falsch gelesen. Lies immer ganz genau, was da steht.“
Ich nickte, aber in meinem Bauch zog sich alles zusammen. Warum passierte mir das immer wieder?
Ich fühlte mich ein bisschen dumm. So etwas passierte mir ständig beim Lesen – ich las Wörter falsch oder übersah wichtige Details. Es war seltsam. Ich hatte das Wort so oft angeschaut und trotzdem jedes Mal falsch verstanden. Langsam nickte ich, als Herr Richter weiterging, und schrieb die Aufgabe erneut auf. Diesmal machte es Sinn, und das Ergebnis war richtig: 291 Bücher blieben in der Erwachsenenabteilung.
Es gab noch einige Aufgaben, bei denen der Text kürzer war, aber trotzdem waren die anderen immer schneller fertig als ich. Ich fühlte mich dumm, weil es schien, als könnten alle das besser als ich, obwohl ich mir wirklich Mühe gab. Die Zahlen zu rechnen war nicht das Problem – das Lesen war es.
Als es erneut zur Pause klingelte, kam Herr Richter noch einmal zu mir. Er überflog meine Aufgaben, blieb bei der letzten stehen und seufzte leicht. „Bei dieser Aufgabe hast du bestimmt auch wieder nicht richtig gelesen“, sagte er, und sein Blick war prüfend. „Hast du im Deutschunterricht auch solche Probleme mit dem Lesen?“
Ich sah zu ihm auf und zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also murmelte ich nur: „Ja, Lesen kann ich nicht so gut.“
Herr Richter nickte und sagte: „Ich spreche mit Frau Siegel. Das Rechnen klappt heute ganz gut, aber das mit dem Lesen scheint ein Problem zu sein.“
Dann verließ er das Klassenzimmer, und ich blieb zurück, ohne zu wissen, was er damit meinte. Bisher hatte es ihn nie interessiert, ob ich Schwierigkeiten hatte. Aber heute war er anders zu mir, fast so, als wollte er helfen.
Ich schob den Gedanken zur Seite und holte meine Brotdose aus dem Schulranzen. Ich hoffte, dass ich in Ruhe mein Brot essen konnte. Auf jeden Fall war kein Käse drauf, das konnte ich sehen. Es sah aus wie Leberwurst, aber irgendwie orange. Ich biss vorsichtig hinein und stellte fest, dass es gut schmeckte. Während ich kaute, nahm ich mir vor, Annette zu fragen, was das für eine Wurst war.
Plötzlich tauchte Richard an meinem Tisch auf. Mit einem gemeinen Grinsen fragte er: „Na, ist dein Paul heute wohl nicht da?“
Ich schaute nicht mal richtig zu ihm hoch und murmelte leise: „Lass mich in Ruhe.“
„Oh, traust du dich nicht, normal mit mir zu reden, jetzt wo Paul nicht da ist?“ höhnte er weiter.
Ich wollte gerade antworten, als plötzlich eine Stimme von der anderen Seite des Tisches ertönte: „Lass ihn in Ruhe!“ Ich erschrak richtig und drehte mich zur Seite. Da stand Antje und stellte sich einfach neben mich.
„Such dir jemand anderen, um dich stark zu fühlen!“ sagte sie bestimmt und schaute Richard direkt in die Augen.
Richard verzog das Gesicht und funkelte sie an. „Bist du jetzt seine Kindergärtnerin?“ fauchte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und mein Blick huschte zwischen den beiden hin und her.
„Geh einfach, Richard“, sagte Antje und verschränkte die Arme. „Sonst sag ich’s meiner Schwester – und die erzählt es dann deiner!“
Das schien Richard zu genügen. Er grummelte etwas Unverständliches und stapfte zurück zu seinem Platz.
„Danke“, sagte ich leise zu Antje.
„Nicht dafür“, antwortete sie und zuckte mit den Schultern. „Weißt du, was mit Paul ist?“
„Nein“, sagte ich und schaute auf meinen Tisch. „Ich glaube, er ist krank.“
„Hm…“, machte sie nachdenklich. „Du kannst in der Pause auch gerne zu mir und Henry kommen. Dann bist du nicht so allein hier vorne.“
Ich nickte und nahm meine Brotdose. Gemeinsam gingen wir zu Henry, der sie mit einem fragenden Blick ansah.
„Bist du verrückt geworden, dich mit Richard anzulegen?“ fragte er Antje sofort. „Du hast doch gesehen, was er am Mittwoch mit Paul und Florian gemacht hat!“
Antje zuckte mit den Schultern und antwortete ruhig: „Zum einen habe ich gehört, dass Richard am Ende der mit der blutigen Nase war, und zum anderen geht seine große Schwester mit meiner Schwester in eine Klasse. Ich glaube nicht, dass er sich traut, sich mit mir anzulegen.“
Henry sah kurz zu mir und fragte dann, als würden wir uns schon ewig kennen: „Was ist mit Paul?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich glaube, er ist krank“, sagte ich leise.
Henry nickte und nahm dann einen Bissen von seinem Brot, während ich mich langsam entspannte. Es war ungewohnt, aber irgendwie auch schön, nicht alleine zu sitzen.
Ich stand mit Antje und Henry bei ihrem Tisch und kaute weiter an meinem Brot, was Richard vorhin unterbrochen hatte. Es schmeckte immer noch gut, aber ich fühlte mich unwohl. Es war, als ob ich in einer Gruppe war, in der ich nicht wirklich zuhause bin.
Antje schaute zu Henry und fragte: „Kommst du morgen rüber? Philipp fragt immer, wann du wieder bei uns bist. Ich glaube, er findet es toll, wenn du mit ihm spielst.“
„Hat er keine Spielkameraden aus dem Kindergarten?“ fragte Henry, während er einen Schluck aus seiner Trinkflasche nahm.
„Ja, aber zum einen kommen die eher selten zu Besuch, und zum anderen spielt er lieber mit Älteren“, antwortete Antje und zuckte dabei mit den Schultern.
„Okay“, sagte Henry schließlich.
Ich kaute langsamer und dachte darüber nach, ob Philipp der kleine Bruder war, von dem Paul mal erzählt hatte. Aber ich traute mich nicht, zu fragen. Was, wenn das komisch rüberkommt?
Während die beiden weiter redeten, spürte ich, wie ich mich immer fremder fühlte. Sie unterhielten sich, als ob sie mich gar nicht bemerken würden, aber irgendwie fühlte ich, dass ich etwas sagen sollte. Irgendetwas. Einfach, um zu zeigen, dass ich da war. Aber jedes Mal, wenn ich den Mund öffnen wollte, blieben die Worte in meinem Hals stecken.
Ich schaute auf mein Brot, dann zu den anderen Kindern in der Klasse, die sich laut unterhielten und lachten. Alle wirkten so, als gehörten sie irgendwohin. Nur ich stand hier, fühlte mich fehl am Platz und wusste nicht, was ich machen sollte.
Antje warf mir einen kurzen Blick zu und lächelte. Es war, als ob sie bemerkte, wie unsicher ich war. Aber sie sagte nichts, und ich war fast froh darüber. Ich wollte nicht, dass sie mich ausfragte oder dass Henry etwas sagte, das mich noch nervöser machte.
Also stand ich einfach da, biss in mein Brot und hoffte, dass die Pause bald vorbei wäre. Vielleicht wäre die nächste Stunde besser, dachte ich. Vielleicht.
Plötzlich spürte ich, wie es wieder warm in meiner Windel wurde. Dieses Gefühl kannte ich inzwischen gut, aber es war trotzdem jedes Mal unangenehm. Es hörte einfach nicht auf, egal wie sehr ich versuchte, es zu kontrollieren.
Ein unangenehmer Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich griff vorsichtig an meine Hose, um zu überprüfen, ob etwas ausgelaufen war. Meine Finger suchten nach einer nassen Stelle, aber glücklicherweise blieb alles trocken. Trotzdem konnte ich das mulmige Gefühl nicht abschütteln.
Während ich meine Hand schnell wieder sinken ließ, bemerkte ich, dass Antje mich ansah. Ihr Blick war irgendwie fragend, aber sie sagte nichts. Ihr Schweigen ließ mein Gesicht heiß werden, und ich schaute schnell weg, so, als ob nichts passiert wäre.
Dann klingelte es endlich zum Pausenende. Das laute Geräusch riss mich aus meiner angespannten Haltung. Die anderen Kinder begannen, sich in Richtung ihrer Plätze zu bewegen, und ich war froh, dass niemand anderes etwas bemerkt hatte.
Ich nahm meine Brotdose, die jetzt leer war, und ging langsam zurück zu meinem Platz.
Ich setzte mich langsam wieder auf meinen Platz und spürte, wie mein Herz immer noch ein wenig schneller schlug. Mein Blick wanderte kurz zu Antje. Hatte sie etwas gemerkt? Was hatte sie gedacht? Vielleicht fragte sie sich, warum ich mich so komisch verhalten hatte. Vielleicht wusste sie es sogar…
Ich schluckte und starrte auf meine Federmappe, die ich gedankenverloren auf meinem Tisch hin und her schob. Mein Kopf fühlte sich plötzlich schwer an, als wäre er voller wirrer Gedanken, die ich nicht sortieren konnte.
Dann öffnete sich die Tür, und Frau Siegel betrat das Klassenzimmer. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte in die Runde.
„Guten Morgen, Kinder! Ich hoffe, ihr hattet eine schöne Pause. Holt bitte eure Heimat- und Sachkundemappen heraus. Wir machen heute mit unserer Bayern-Karte weiter.“
Es raschelte im Klassenzimmer, als alle ihre Mappen aus den Schultaschen zogen. Ich suchte schnell meine heraus und blätterte zur richtigen Seite. In der letzten Stunde hatten wir eine große Karte von Bayern bearbeitet und verschiedene Flüsse, die Alpen und einige große Städte eingezeichnet.
„Wer kann mir sagen, welcher Fluss in München fließt?“ fragte Frau Siegel, während sie zur Tafel ging.
Mehrere Hände schossen in die Höhe, meine blieb unten. Ich wusste es nicht.
„Henry?“
„Die Isar!“ sagte er stolz.
„Richtig! Und welcher große Fluss fließt durch Nürnberg?“
Diesmal meldete sich Antje. „Der Main!“
„Fast“, sagte Frau Siegel freundlich. „Aber durch Nürnberg fließt die Pegnitz. Der Main fließt eher im Norden von Bayern.“
Ich folgte mit meinem Finger der Karte in meiner Mappe. Die ganzen Linien und Namen brachten mich durcheinander.
Dann schaute Frau Siegel direkt zu mir. „Florian, kannst du mir sagen, welche Berge zu den Alpen gehören?“
Ich erstarrte. Mein Kopf war leer. Ich wusste, dass wir letzte Stunde über die Alpen gesprochen hatten, aber ich konnte mich an keinen einzigen Namen erinnern. Ich presste die Lippen aufeinander und überlegte fieberhaft. Paul hätte das bestimmt gewusst. Er hätte mir geholfen, wenn wir zusammengesessen hätten.
„Hmm…“ machte ich leise und schaute auf mein Blatt. Da standen einige Namen, aber ich wusste nicht mehr, welche richtig waren.
Frau Siegel trat näher und sagte sanft: „Schau mal hier, wir hatten doch letzte Stunde über die Zugspitze gesprochen. Weißt du noch, wo sie liegt?“
Ich blinzelte, dann nickte ich langsam. „Ähm… in Bayern?“ murmelte ich vorsichtig.
Frau Siegel lächelte. „Ja, genau! Und sie gehört zu den…?“
Mein Blick fiel auf meine Karte, wo mit Bleistift Wettersteingebirge daneben geschrieben stand. Ich las es leise vor.
„Sehr gut, Florian! Die Zugspitze ist der höchste Berg Deutschlands und liegt im Wettersteingebirge. Beim nächsten Mal fällt es dir bestimmt leichter.“
Ich atmete erleichtert aus, als sie weiterging und noch ein paar andere Kinder fragte. Der Rest der Stunde verging damit, weitere Orte in unsere Karten einzutragen und über wichtige Städte zu sprechen. Ich versuchte, mir so viel wie möglich zu merken, auch wenn mein Kopf sich noch schwer anfühlte.
Zum Ende der Stunde klappte Frau Siegel ihr Buch zu und lächelte. „Nach der Pause treffen wir uns im Werkraum. Packt bitte eure Sachen zusammen und macht euch dann auf den Weg.“
Es wurde laut im Klassenzimmer, alle räumten ihre Sachen in die Schultaschen. Ich machte das Gleiche, aber langsam. Ich war noch nicht bereit, rauszugehen. Richard hatte mich heute noch nicht richtig geärgert, und ich hatte ein ungutes Gefühl, dass er es nachholen wollte.
Mein Herz klopfte schneller, als ich sah, wie er sich seine Tasche schnappte und mit einem gehässigen Blick zur Tür ging. Ich blieb auf meinem Platz sitzen, meine Hände fest um meine Schultasche geklammert. Erst als er wirklich aus dem Klassenzimmer verschwunden war, wagte ich es, aufzustehen.
Gerade als ich zur Tür gehen wollte, sah ich Antje und Henry dort stehen. Sie warteten auf mich. Ich wusste nicht warum, aber in dem Moment fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich war nicht alleine.
Wir machten uns auf den Weg zum Werkraum, und jeder unserer Schritte hallte im Treppenhaus wider, während wir von der ersten Etage hinunter ins Erdgeschoss stiegen. Ich lief ein Stück hinter Antje und Henry, die sich angeregt unterhielten.
„Also kommst du morgen wirklich zu uns rüber?“ fragte Antje.
„Ja, klar“, meinte Henry. „Wenn Philipp ständig fragt, wann ich wiederkomme. Wenn ich’s nicht tue, fängt er bestimmt noch an zu heulen.“
Antje lachte. „Ach was, so schlimm ist es nicht.“
Henry grinste. „Na ja, eigentlich ist er schon ganz cool … für ein Kindergartenkind.“
„So lange ist es auch nicht her, dass du selbst ein Kindergartenkind warst“, bemerkte Antje schmunzelnd. „Ich weiß noch, wie du immer mit den Bausteinen spielen wolltest und eingeschnappt in die Kuschelecke bist, wenn die anderen sich die Steine vorher geschnappt haben.“
Henry zuckte mit den Schultern. „Stimmt, der Kindergarten war schon cool – keine Hausaufgaben. Und es war immer super, wenn man als Mittagskind abgeholt wurde.“
Ich hörte ihnen zu und fragte mich, ob sie wohl in derselben Straße wohnten. Henry konnte scheinbar einfach zu Antje rübergehen, wann er wollte. Trotzdem überraschte es mich, dass er, der sonst immer so lässig wirkte, ausgerechnet mit Antjes kleinem Bruder spielte. Irgendwie konnte ich mir das bei ihm gar nicht vorstellen.
Ich sagte nichts dazu. Eigentlich sagte ich gar nichts. Zum einen hatte ich Angst, etwas Falsches zu sagen, und zum anderen wusste ich nicht mal, was ich hätte beitragen können.
Plötzlich kam eine Erinnerung in mir hoch, eine, die ich eigentlich nicht haben wollte. Ich sah mich selbst, kleiner als jetzt, voller Begeisterung über Dinosaurier. Ich hatte ein Dinobuch aus dem Kindergarten mitgebracht, eines mit bunten Bildern und großen, furchteinflößenden Tieren. Ich war so fasziniert von ihnen gewesen, dass ich mir überlegt hatte, wie sie wohl ausgestorben sein könnten. Ich konnte es kaum erwarten, es zu erzählen.
Aber als ich Zuhause war und aufgeregt anfing, meinem Vater davon zu berichten, wurde ich sofort unterbrochen.
„Halt die Klappe, keiner interessiert sich dafür, was du glaubst!“ hatte er zu mir gesagt.
Als ich es später noch einmal versuchte und meiner Mutter erzählen wollte, was passiert war, wurde er noch lauter. Er brüllte mich an:
„Ich hab doch gesagt, du sollst die Klappe halten! Lern erst mal, dein Bett trocken zu halten!“
Ich war erstarrt, mein Herz hatte gehämmert, und ich hatte nicht gewusst, was ich falsch gemacht hatte. Ich hatte doch nur erzählen wollen, was ich im Buch gesehen hatte. Doch ab diesem Moment wusste ich: Reden konnte gefährlich sein. Es war besser, einfach nichts zu sagen.
Ich schluckte schwer und schüttelte den Gedanken ab.
Der Werkraum war bereits offen, und als wir ihn betraten, waren die meisten aus der Klasse schon da. Ich war froh, dass es auf dem Weg keinen ärger gab.
Ich wollte mich gerade zu meinem Stammplatz begeben, dem Platz, an dem ich normalerweise mit Paul Stand. Es gab im Werkraum zwar keine festen Plätze, aber wir hatten uns immer den selben Platz ausgesucht – direkt neben dem Fenster, ich fand es toll zwischen durch raus zu schauen.
Als Antje rief: „Willst du dich wirklich alleine hinstellen? Paul ist doch heute nicht da. Bleib doch bei uns! Karl, Noha und Jonas sind auch immer zu dritt.“
Ich hielt kurz inne und überlegte. Ohne Paul fühlte sich alles seltsam an. Einerseits wollte ich lieber allein sein, andererseits hatte Antje mir geholfen – und wenn ich mich jetzt nicht zu ihnen stellte, würde sie mir beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr helfen. Also nickte ich zögernd und stellte meine Schultasche an die Werkbank, an der Antje und Henry bereits standen.
Der Werkraum war groß und ein bisschen unordentlich, aber es roch immer gut nach Holz. Entlang der Wände standen hohe Regale mit Kisten, in denen allerlei Werkmaterialien verstaut waren. An den Seiten gab es mehrere stabile Werkbänke mit eingebauten Schraubzwingen und Steckdosen, damit man elektrische Werkzeuge anschließen konnte. An der Wand hingen Fotos von alten Klassen, die hier verschiedene Projekte gebaut hatten – von Vogelhäusern bis zu kleinen Schränkchen. In einer Ecke standen sogar eine Säge und eine Bohrmaschine, aber die durften wir natürlich nicht allein benutzen.
Kurz darauf kamen auch Frau Siegel und die restlichen Schüler in den Raum. „So, wir machen heute weiter mit dem Projekt von letzter Woche“, verkündete sie.
Ich runzelte die Stirn. Was haben wir letzte Woche nochmal gemacht? Mir fiel ein, dass ich ja gefehlt hatte. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging.
Frau Siegel stellte eine große Kiste auf den Lehrertisch. Die Kinder gingen nacheinander nach vorne und holten ihre angefangenen Werkstücke heraus. Es sah aus wie längliche Holzklötze mit kleinen Bohrungen darin.
Dann kam Frau Siegel zu mir. „Du warst letzte Woche ja nicht da, Florian“, sagte sie freundlich. „Wir bauen einen Stifthalter aus Holz. Letzte Woche haben wir bereits die Bohrungen für die Stifte gemacht.“
Während sie mir erklärte, worum es ging, begannen die anderen Kinder bereits, ihre Werkstücke an den Plätzen zu platzieren. Sie nahm einen neuen Holzklotz aus der Kiste und gab ihn mir. „Hier, das ist dein Werkstück. Vorne am Lehrerpult findest du einige Beispiele. Schau sie dir an und entscheide dich für ein Design. Wenn du weißt, wie dein Stifthalter aussehen soll, kannst du die Stellen einzeichnen, an denen du die Bohrungen vornehmen möchtest.“
Ich nickte und ging nach vorne zum Lehrertisch. Dort standen mehrere fertige Stifthalter, jeder etwas anders gestaltet. Manche hatten eine schräge Kante, andere waren rund geschliffen, und einige hatten unterschiedlich große Löcher für verschiedene Stifte. Ich ließ meinen Blick darüber wandern und versuchte, mir vorzustellen, welcher mir am besten gefallen würde.
Währenddessen sprach Frau Siegel zur ganzen Klasse: „Spannt jetzt eure Werkstücke in die Schraubzwingen ein und beginnt mit der Feile, die Kanten zu bearbeiten. Wer damit fertig ist, kann mit Sandpapier die Oberflächen glätten. Wenn ihr Fragen habt oder Hilfe braucht, meldet euch bei mir.“
Ich hörte, wie das Kratzen der Feilen begann, während die anderen Kinder anfingen zu arbeiten. Frau Siegel kam erneut zu mir und fragte: „Und, Florian? Hast du dich für ein Design entschieden?“
Ich schaute noch einmal auf die Stifthalter vor mir, nahm einen tiefen Atemzug und deutete schließlich auf das Modell, das mir am besten gefiel. „Der hier“, sagte ich leise.
„Gute Wahl“, lobte sie mich und lächelte. „Dann zeichne die Stellen für die Bohrungen auf deinem Werkstück ein, und wenn du fertig bist, sag mir Bescheid.“
Ich nickte und nahm meinen Holzklotz mit zurück an die Werkbank. Auch wenn ich mich immer noch ein bisschen unsicher fühlte, war ich froh, dass ich nicht alleine war.
Ich nahm mein Lineal und begann sorgfältig, die Abstände der Bohrungen vom Beispiel auf dem Lehrerpult abzumessen. Ich wollte, dass mein Stifthalter genauso ordentlich aussah wie der von Frau Siegel. Also notierte ich mir die Maße auf einem Blatt Papier, um sie dann auf mein eigenes Holzstück zu übertragen.
Während ich mich darauf konzentrierte, hörte ich plötzlich Frau Siegels Stimme neben mir: „Was machst du da gerade, Florian?“
Ich blickte auf. „Ich messe aus, wo die Bohrungen sitzen müssen“, antwortete ich und zeigte auf meine Notizen.
Sie schaute über meine Skizzen und hob erstaunt die Augenbrauen. „Hast du die Maße von meinem Beispiel genommen?“
Ich nickte. „Ja, ich hab sie abgemessen.“
Frau Siegel lächelte. „Ich glaube, du bist der Erste, der das so genau macht. Du kannst dein Werkstück auch ganz individuell gestalten. Es muss nicht genauso aussehen wie meins – du kannst die Bohrungen auch anders setzen, wenn du willst. Es darf ruhig wild und kreativ sein.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich möchte aber, dass es gut wird. Es soll genauso aussehen wie das Beispiel.“
„Okay“, sagte sie mit einem freundlichen Nicken. „Wenn du die Markierungen gesetzt hast, gehen wir zusammen an die Bohrmaschine, und ich helfe dir beim Bohren.“
Dann ging sie zu einem anderen Tisch, während ich weiterarbeitete. Antje und Henry waren schon dabei, ihre Holzstücke mit Sandpapier zu glätten. Ich hörte das leise Kratzen des Papiers auf dem Holz, während ich meine letzten Markierungen setzte.
Als ich fertig war, wollte ich zu Frau Siegel gehen, aber sie war gerade bei Richard. Ich blieb unsicher stehen und beobachtete, wie sie ihn für seine gute Arbeit lobte. Er schien schon mit allem fertig zu sein.
„Wenn du möchtest, kannst du dein Werkstück jetzt noch mit Holzfarbe anmalen“, sagte sie zu ihm.
Richard zuckte die Schultern. „Nein, ich lass das so.“
Frau Siegel nickte. „Okay, dann räum schon mal deinen Platz auf und setz dich leise an den Tisch, bis die anderen fertig sind.“
In dem Moment hob sie den Blick und bemerkte, dass ich auf sie wartete. „Bist du soweit, Florian?“
Ich nickte.
„Gut“, sagte sie und deutete auf die Bohrmaschine. Ich folgte ihr gespannt dorthin.
Sie spannte mein Holzstück vorsichtig in eine Halterung ein und zeigte mir, wie ich den Bohrer mit einem Hebel langsam nach unten führen konnte.
„Denk daran, nicht zu tief zu bohren“, erinnerte sie mich.
Ich setzte die Hände an den Hebel und ließ den Bohrer vorsichtig nach unten gleiten. Ein leises Brummen erfüllte den Raum, als die Spitze langsam ins Holz eindrang. Es machte richtig Spaß!
Frau Siegel positionierte mein Holzstück mehrmals um, genau an den Stellen, die ich markiert hatte. Jedes Mal durfte ich den Bohrer führen. Ich fühlte mich richtig stolz, als nach und nach alle Löcher an der richtigen Stelle entstanden.
Kurz bevor ich die letzte Bohrung setzen konnte, klingelte es zum Schulschluss. Sofort wurde es unruhig im Werkraum – Stühle wurden gerückt, Stimmen wurden lauter, und überall begannen die Kinder, ihre Sachen zusammenzupacken.
„Packt eure Sachen zusammen, räumt bitte eure Arbeitsplätze auf und bringt eure Werkstücke nach vorne“, rief Frau Siegel über den Lärm hinweg. „Dann wünsche ich euch ein schönes Wochenende!“
Ich wollte gerade aufstehen, als sie sich leise zu mir beugte und sagte: „Du kannst die Bohrung ruhig noch fertig machen, wenn du möchtest.“
Ich nickte dankbar und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit. Die anderen Schüler räumten bereits ihre Werkstücke weg, doch ich ließ mich nicht ablenken. Mit ruhiger Hand führte ich den Bohrer nach unten.
Wenn es nach mir ginge, könnte die Stunde ruhig noch weitergehen. Das Bohren machte mir Spaß, und es fühlte sich gut an, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen.
Schließlich löste ich mein Holzstück vorsichtig aus der Halterung und brachte es nach vorne. Der Werkraum war mittlerweile leer. Nur noch Frau Siegel und ich waren da.
Sie nahm mein Werkstück in die Hand, drehte es leicht hin und her und musterte es mit einem anerkennenden Blick. „Das sieht wirklich gut aus, Florian. Ich glaube, handwerkliches Arbeiten liegt dir.“
Ich wusste nicht, ob das stimmte. Ich fühlte mich doch so unendlich langsam, während die anderen schon längst weiter waren.
„Du musst noch deinen Namen darunter schreiben“, fügte sie hinzu und reichte mir einen Filzstift.
Ich nahm den Stift und schrieb in großen Buchstaben Flo auf die Unterseite des Holzes. Dann legte ich es in die Kiste, zu den Werkstücken meiner Mitschüler.
Als ich meine Sachen zusammenräumte, hockte sich Frau Siegel plötzlich neben mich. Ihre Stimme war sanft, als sie fragte: „Geht es dir jetzt besser, da wo du jetzt wohnst?“
Ich sah sie an und nickte langsam, sagte aber nichts.
Was sollte ich auch sagen? Annette war toll. Sie hatte sogar gesagt, dass sie mich lieb hat. Markus war auch nicht böse zu mir. Es ging mir auf jeden Fall besser als in meinem richtigen Zuhause.
Aber trotzdem hatte ich Angst. Angst, dass sich wieder alles ändern könnte.
Es war ja auch ganz schnell gegangen, dass ich von Zuhause zu Diana gekommen war. Und dann genauso schnell von Diana zu Annette. Also konnte es doch genauso schnell wieder passieren, dass ich irgendwo anders hinkam. Vielleicht musste ich doch wieder zurück nach Hause. Oder in ein Heim, so wie Frau Hopf es gesagt hatte.
Der Gedanke ließ mich frösteln.
Frau Siegel sagte nichts weiter, sondern sah mich einfach nur an. Dann stand sie auf und lächelte sanft.
„Dann wünsche ich dir ein schönes Wochenende, Florian.“
Ich nahm meinen Schulranzen und nickte wieder. „Danke … Ihnen auch.“
Dann verließ ich den Werkraum, meine Gedanken noch immer voller Sorgen, die ich nicht in Worte fassen konnte.
Ich lief langsam zur Kantine. Es war ungewohnt, ohne Paul dorthin zu gehen. Sonst hatten wir immer zusammen gegessen, uns über den Unterricht unterhalten oder tolle Ideen ausgetauscht. Heute fühlte sich alles anders an.
Die Kantine war noch gut gefüllt, und ich ließ meinen Blick schweifen. Lasse saß allein an einem Tisch – ein ungewohnter Anblick, da er sonst immer mit Richard und Collin zusammen war. Richard und Collin selbst waren nirgends zu sehen, was mich etwas erleichterte. Auch Karl und Jonas saßen weiter hinten an einem Tisch, aber ich wusste nicht, ob ich mich einfach zu ihnen setzen sollte.
Also stellte ich mich bei der Essensausgabe an und nahm mein Tablett mit dem Mittagessen. Heute gab es Fischstäbchen mit Kartoffelbrei.
Ich setzte mich an einen leeren Tisch und als ich den ersten Bissen nahm, stellte ich fest, dass es tatsächlich ziemlich gut schmeckte. Während ich kaute, hörte ich das Stimmengewirr um mich herum leiser werden. Immer mehr Schüler standen auf, brachten ihr Geschirr weg und verließen die Kantine. Schließlich war ich der Letzte.
Ich schluckte den letzten Bissen herunter, stellte mein Tablett auf den Tellerwagen und nahm meinen Schulranzen. Draußen war es bestimmt kalt, aber ich freute mich trotzdem darauf, nach Hause zu kommen.
Gerade als ich die Tür nach draußen öffnete, stand Annette dort. Sie schaute kurz überrascht, dann lächelte sie.
„Da bist du ja! Ich wollte gerade nachsehen, ob alles in Ordnung ist.“
Ich freute mich, sie zu sehen, und ohne nachzudenken, umarmte ich sie fest. Sie streichelte mir sanft über den Kopf.
„Na, mein Schatz, alles gut?“ fragte sie leise.
Ich nickte, und sie nahm mir meinen Schulranzen ab. Gemeinsam gingen wir über den fast leeren Schulhof. Die meisten Kinder waren schon weg, nur ein paar Hortkinder und einige aus den höheren Klassen spielten noch draußen.
Am Auto wartete Markus bereits auf uns. Annette half mir beim Anschnallen, dann setzte sie sich selbst ins Auto, und wir fuhren los.
„Wo ist eigentlich Paul?“ fragte sie nach einer Weile. „Der kommt doch sonst immer mit dir zusammen aus der Schule.“
„Der ist krank, glaube ich. Er war heute nicht da“, antwortete ich leise.
„Oh“, sagte Annette mitfühlend. „Hoffentlich geht es ihm bald besser und er ist am Montag wieder da.“
Ich nickte. Das hoffte ich auch.
Annette schaute kurz nach hinten. „Und, wie war die Schule heute?“
Ich überlegte, was ich erzählen sollte. Ich berichtete ihr vom Unterricht, von Mathe, wo ich heute gar nicht so schlecht gewesen war, und vom Werkunterricht, der mir richtig Spaß gemacht hatte. Ich erzählte ihr, dass ich einen Stifthalter aus Holz baute und dass ich ganz genau gearbeitet hatte.
Aber von Richard und wie Antje mir geholfen hatte, sagte ich nichts.
Ich wollte nicht über das reden, was nicht so schön war. Ich musste selber damit zurechtkommen. Und vielleicht war es auch einfach besser, wenn niemand davon wusste. Annette sollte sich keine Sorgen machen. Sie war so lieb zu mir, und ich wollte nicht, dass sie mich anders ansah oder mich vielleicht doch nicht mehr wollte. Also schob ich die Gedanken weg und konzentrierte mich auf das, worüber ich erzählen konnte.
Annette lächelte mich an. „Das klingt ja toll! Ich freue mich, dass dir der Werkunterricht so viel Spaß gemacht hat.“
Ich nickte und schaute aus dem Fenster. Die vorbeiziehende Landschaft wirkte beruhigend. Die schneebedeckten Felder und die kahlen Bäume, ließen mich für einen Moment alles vergessen.
„Denkst du, du wirst den Stifthalter auch anmalen?“ fragte Annette weiter.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht… Richard hat seinen nicht angemalt.“
„Hm“, machte Annette nachdenklich. „Aber es geht doch darum, was du möchtest. Vielleicht kannst du ihn ja so gestalten, dass er perfekt zu deinem Schreibtisch passt.“
Mein Schreibtisch… Ich dachte daran, wie ordentlich er bei Annette aussah. Wie sie mir einen Platz gegeben hatte, an dem meine Sachen wirklich mir gehörten. Ich war es nicht gewohnt, dass ich etwas hatte, das nur für mich war.
„Vielleicht male ich ihn an…“, murmelte ich.
„Gestalte ihn so, wie du möchtest. Ich bin sicher, er wird ganz toll,“ sagte Annette mit einem warmen Lächeln.
Ich nickte leicht. Es war schön, dass sie das sagte. Dass sie immer da war, wenn ich etwas brauchte.
„Und sonst? Hattest du noch einen schönen Moment heute?“ fragte sie vorsichtig weiter.
Ich dachte an Antje und daran, wie sie Richard zurechtgewiesen hatte. Daran, dass ich nicht allein am Tisch gesessen hatte. Es war… anders gewesen als sonst. Aber ich wusste nicht, ob ich das erzählen sollte.
„Es war okay“, sagte ich leise und lehnte meinen Kopf gegen das Fenster.
Annette drehte sich noch einmal zu mir um, musterte mich kurz, sagte aber nichts. Stattdessen ließ sie mir meine Ruhe, während das Auto langsam durch die verschneiten Straßen rollte.
Markus fuhr eine ganz andere Strecke als die, die ich sonst mit Annette gefahren bin. Ich schaute aus dem Fenster und versuchte, die Häuser wiederzuerkennen. Aber irgendwann bog die Straße in einem großen Bogen in einen größeren Ort ab. Den kannte ich nicht. Aber ich war ja auch fast nie woanders, außer wenn ich mit Diana oder Annette unterwegs war.
Gleich hinter dem Ortsschild bogen wir auf einen großen Parkplatz ein. Markus stellte den Wagen ab, und Annette und er schnallten sich ab.
Als Annette meine Tür öffnete, fragte ich verwundert: „Was machen wir hier?“
„Wir wollen doch einkaufen, unser Wocheneinkauf“, erklärte sie mit einem Lächeln. „Aber vorher schauen wir noch mal schnell nach deiner Windel.“
Damit schloss sie die Tür hinter sich und deutete auf die Sitzbank hinter mir. Ich wusste, was sie meinte, also schnallte ich mich ab und kletterte nach hinten.
Annette half mir dabei, die Hose herunterzuziehen, und begann, mir im Stehen die Windel auszuziehen. Sie fühlte sich schwer an, und als sie sie in der Hand hielt, rollte sie sie routiniert zusammen.
„Gut, dass wir das jetzt machen“, sagte sie schmunzelnd.
Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, aber Annette wirkte völlig entspannt. Sie nahm eine frische Windel aus dem Rucksack und breitete ein Handtuch auf der Sitzbank aus.
„Leg dich bitte hier hin“, forderte sie mich sanft auf.
Das war neu – das Handtuch lag beim letzten Mal noch nicht da. Ich legte mich hin, und Annette öffnete die neue Windel. Sie legte sie mir an, zog die Klebestreifen fest und half mir danach wieder in meine Hose.
Es war ein angenehmes Gefühl, wieder eine trockene Windel zu tragen. Sie saß nun viel besser und schloss sich angenehm um meinen Körper. Es war fast so, als würde sie mir wieder ein Gefühl von Sicherheit geben.
Annette half mir auch in meine Jacke, und dann stiegen wir aus dem Auto. Der kalte Wind wehte mir ins Gesicht, und ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Kinn hoch.
Auf dem Weg zu den Einkaufswagen warf ich einen Blick auf Annette. Unauffällig ließ sie meine volle Windel in einen Mülleimer fallen. Ich spürte, wie mein Herz kurz schneller schlug.
Hoffentlich hat das keiner gesehen…
Wir betraten den großen Einkaufsmarkt. Es war warm hier drinnen, und die Luft roch nach frischem Brot und Gemüse. Zuallererst gingen wir in die Obst- und Gemüseabteilung. Überall waren bunte Farben – grüne Salatköpfe, leuchtend rote Äpfel, gelbe Bananen und Orangen. Ich schaute mich um, während Markus immer wieder auf sein Telefon sah und dann gezielt verschiedene Gemüsesorten in den Einkaufswagen legte.
Annette wandte sich an mich: „Was möchtest du für Obst mit in die Schule nehmen?“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte keine Umstände machen.
„Du kannst dir ruhig etwas aussuchen!“, ermutigte sie mich.
Ich sah sie kurz an, senkte dann aber wieder den Blick. „Ich weiß nicht…“, murmelte ich leise.
Annette stellte den Einkaufswagen kurz ab, nahm mich auf den Arm und drückte mich fest an sich. Ich spürte die Wärme ihres Körpers, ihr beruhigendes Atmen, und für einen Moment fühlte ich mich ganz sicher.
„Florian, du musst keine Angst haben“, sagte sie sanft. „Du gehörst jetzt zur Familie. Und du darfst jederzeit sagen, wenn du einen Wunsch hast. Wir können sicher nicht jeden erfüllen, aber du sollst wissen, dass du deine Wünsche äußern darfst.“
Ich nickte langsam, auch wenn ich trotzdem nicht genau wusste, was ich eigentlich wollte. Obst war mir bisher nie besonders wichtig gewesen. Zu Hause gab es nie welches und Jetzt sollte ich mir einfach etwas aussuchen?
Ich ließ meinen Blick über die verschiedenen Sorten schweifen. Annette hielt mich immer noch fest, als wollte sie mir mit ihrer Nähe zeigen, dass wirklich alles in Ordnung war.
„Vielleicht… Birnen?“ fragte ich leise.
Annette lächelte. „Gute Wahl! Die haben dir doch heute morgen geschmeckt, oder?“
Ich nickte, und sie legte ein paar Birnen in den Einkaufswagen.
„Magst du noch was anderes? Trauben vielleicht?“
Ich überlegte kurz und zuckte dann mit den Schultern. „ok…“
Annette nahm eine Packung Trauben und legte sie zu den Birnen. „Dann haben wir eine gute Mischung.“
Ich wusste nicht genau, warum es sich so besonders anfühlte, dass sie mich gefragt hatte. Aber es war schön. Es war, als würde meine Meinung zum ersten Mal wirklich zählen.
Dann setzte Annette mich wieder runter. Es fühlte sich komisch an, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Während ich auf ihrem Arm gewesen war, hatte ich mich sicher gefühlt, so als könnte mir nichts passieren. Jetzt war dieses warme, geborgene Gefühl wieder weg, und ich musste mich selbst in dieser riesigen, lauten Umgebung zurechtfinden.
Ich lief dicht neben Annette am Einkaufswagen her, versuchte mich an ihrer Seite zu orientieren. Markus legte immer wieder etwas in den Wagen, während wir durch die breiten Gänge gingen.
Der Supermarkt war riesig. Viel größer, als ich es mir je vorgestellt hatte. Ich kannte so etwas nur aus dem Fernsehen, aber es jetzt selbst zu erleben, war etwas völlig anderes. Es gab Regale, die bis unter die Decke reichten, überall waren bunte Verpackungen, Bilder von Lebensmitteln, die ich nicht einmal kannte, und es roch nach frischem Brot, Obst und irgendetwas, das ich nicht zuordnen konnte.
Wir liefen an der Wurst- und Fleischtheke vorbei, ohne dass Annette oder Markus stehen blieben. Ich achtete nicht weiter darauf, es fiel mir nur auf, weil die Vitrine voller bunter Wurstsorten und großer Fleischstücke war. Ich kannte so etwas nicht – zu Hause hatten wir fast nie frische Sachen.
Ich beobachtete, wie Markus zielgerichtet nach den Sachen griff, als wüsste er genau, was wir brauchten.
Es ging weiter durch die Gänge – Nudeln, Mehl, Zucker. Annette nahm eine Packung Kekse und stellte sie in den Einkaufswagen, dann bogen wir in die Tiefkühlabteilung ab. Die riesigen Glastruhen waren voller Sachen, die ich nicht kannte. Markus nahm etwas heraus, das aussah wie Gemüse, und Annette griff nach einer Packung, auf der Pommes abgebildet waren.
Dann kamen wir in eine Abteilung, die ich sofort spannend fand: die Süßwarenabteilung.
Hier war alles bunt, überall standen große Regale mit Schokolade, Gummibärchen, Bonbons und Kaugummi. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte. Es war fast zu viel. So viele verschiedene Sachen.
Annette lächelte und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Such dir etwas aus, Florian. Du darfst dir eine Sache aussuchen.“
Ich erstarrte für einen Moment. Mir etwas aussuchen? Ich?
Ich schluckte. Es war so viel auf einmal.
Meine Augen wanderten von den Gummibärchen zu den Schokoladentafeln, dann zu den Bonbons und schließlich zu den Kaugummis. Ich wusste nicht, was ich nehmen sollte. Es sah alles so lecker aus.
Ich trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, mein Blick flog von Regal zu Regal. Was, wenn ich das Falsche wählte? Was, wenn es nicht schmeckte? Ich kannte fast nichts davon.
Dann fiel mein Blick auf eine kleine Schachtel Smarties.
Die waren so schön bunt. Rot, Gelb, Blau, Grün – alle Farben in einer Packung. Ich mochte, wie sie aussahen. Und ich hatte schon mal welche probiert. Paul hatte mal welche mit in der Schule.
Zögernd nahm ich die Schachtel in die Hand und zeigte sie Annette.
Sie lächelte. „Gute Wahl, die mag ich auch gerne.“
Erleichtert hielt ich die Schachtel fest. Ich hatte mich entschieden. Es fühlte sich ein bisschen aufregend an.
Annette legte eine Hand auf meinen Rücken und schob mich sanft weiter zum Einkaufswagen. Markus hatte bereits alles andere eingepackt. Ich legte meine Smarties vorsichtig oben auf den restlichen Einkauf, als wären sie etwas ganz Besonderes.
Dann ging es weiter zur Kasse.
Auf dem Weg nach draußen kam eine Frau auf uns zu. Sie hatte ein breites Lächeln im Gesicht und streckte sofort die Arme nach Annette aus.
„Annette! Dich habe ich ja ewig nicht gesehen!“ rief sie begeistert und umarmte sie herzlich.
Ich blinzelte verwundert und schaute zu Annette hoch. Sie wirkte überrascht, aber gleichzeitig auch erfreut.
„Maria! Das ist wirklich eine Weile her!“ erwiderte sie lachend.
Die Frau löste sich aus der Umarmung, musterte mich kurz und grinste dann. „Und wen hast du da dabei? Ist das dein Enkel? Ist Sebastian schon Papa?“
Annette lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das ist Florian, unser kleiner Sonnenschein. Und ich denke, bei Sebastian wird es noch eine ganze Weile dauern, bis wir mit einem Enkel rechnen können.“
Die Frau schmunzelte. „Ja, ich kann es auch kaum erwarten, aber bei uns wird es sicher auch noch eine Weile dauern. Sag mal, kommst du dieses Jahr eigentlich zum Klassentreffen?“
Annette sah kurz zu mir hinunter, bevor sie antwortete: „Das kann ich noch gar nicht so genau sagen. Unser kleiner Mann braucht im Moment viel Aufmerksamkeit. Aber es sind ja noch ein paar Monate, ich gebe dir rechtzeitig Bescheid.“
Die Frau nickte verständnisvoll. „Ja, klar, Familie geht natürlich vor. Mein Martin wird bald mit seiner Ausbildung fertig und möchte dann ein Jahr nach Spanien gehen.“
„Das klingt doch toll“, sagte Annette mit ehrlicher Freude. „Und dein Mann?“
Maria seufzte leicht und zuckte die Schultern. „Der hat dieses Wochenende Dienst. Muss das ganze Wochenende durcharbeiten.“
Dann sah sie wieder zu mir. „Und wie geht es euch so?“
Annette lächelte. „Uns geht es auch gut. Sebastian hat sein Studium in München begonnen, und wir haben wie immer viel auf dem Hof zu tun.“ Dabei nahm sie mich plötzlich hoch und hielt mich sicher auf ihrem Arm.
„Und unser kleiner Mann hier besucht die Grundschule“, fügte sie hinzu.
Ich legte automatisch meinen Kopf auf Annette’s Schulter. Die Begegnung war mir unangenehm. Ich kannte die Frau nicht und wusste nicht, was ich sagen sollte.
Maria klang überrascht. „Der Kleine geht schon zur Schule? Seit wir in die Stadt gezogen sind, bekomme ich einfach nichts mehr mit. Ich wusste ja nicht mal, dass du noch einen Sohn bekommen hast!“
Annette lachte. „Ja, unser Florian sieht jünger aus, als er ist. Aber er geht schon in die zweite Klasse.“
Maria musterte mich noch einmal und lächelte dann. „Dass wir uns so lange nicht gesehen haben … Na, dann wünsche ich dir viel Erfolg in der Schule, Florian!“
Ich nickte schüchtern, ohne den Kopf von Annette’s Schulter zu heben.
„So, wir müssen dann mal weiter. Markus ist bestimmt schon fertig mit dem Verstauen des Einkaufs“, sagte Annette schließlich sanft und drückte mich leicht. „War schön, dich zu sehen, Maria!“
„Ja, das fand ich auch! Lass uns bald mal wieder quatschen!“ rief Maria, während sie weiterging.
Annette behielt mich weiterhin auf ihrem Arm, während sie mich in Richtung Auto trug. Es fühlte sich schön an, ihre Wärme zu spüren, und ich kuschelte mich noch ein bisschen fester an sie. Mein Bauch grummelte leicht, aber es war kein unangenehmes Gefühl – eher so, als würde ich mich in ihrem Arm besonders geborgen fühlen.
Ich war froh, dass das Gespräch vorbei war. Ich mochte es nicht, wenn Fremde mich ansahen oder Fragen stellten, auf die ich nicht antworten konnte. Es fühlte sich seltsam an, als wäre ich plötzlich jemand, über den gesprochen wurde, aber nicht wirklich mit ihm.
„Alles gut, mein Schatz?“ fragte Annette leise.
Ich nickte kurz, doch ein Gedanke ließ mich nicht los. „Warum hast du ihr nicht gesagt, dass ich nur ein Pflegekind bin?“ fragte ich schließlich leise.
Annette blieb stehen. Plötzlich setzte sie mich vorsichtig auf den Boden und hockte sich direkt vor mich hin. Ich schaute sie erschrocken an. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Bekam ich jetzt Ärger? Mein Herz schlug schneller, und ich spürte, wie sich meine Hände unsicher ineinander verschränkten.
Doch Annette lächelte mich sanft an und strich mir über die Wange. „Florian, du bist nicht nur ein Pflegekind“, sagte sie mit fester, warmer Stimme. „Du bist ein Teil unserer Familie.“
„Ich finde es toll, dass du so aufmerksam zuhörst“, fuhr sie fort. „Du hast Recht, ich habe es nicht erzählt – aber weißt du, warum? Weil das deine Privatsache ist. Es gibt Menschen, die müssen es aus rechtlichen Gründen wissen, aber allen anderen müssen wir es nicht erzählen, wenn du das nicht möchtest. Wir können es sagen, wenn es dir wichtig ist, aber es ist deine Entscheidung.“
Ich schluckte meine Klos im Glas herunter.
„Also… ich darf das selbst entscheiden?“ fragte ich vorsichtig.
Annette nickte. „Ja, natürlich. Du musst dich nicht in eine Schublade stecken lassen. Für uns bist du nicht einfach nur ein Pflegekind – du bist Florian. Und du gehörst zu uns.“
Sie lächelte und fuhr fort: „Natürlich gibt es Leute, die sich wundern, warum wir plötzlich ein so großes zweites Kind haben, wo es bis vor Kurzem nur Sebastian gab. Da macht es Sinn zu sagen, dass du erst seit Kurzem bei uns bist. Aber wie genau es dazu gekommen ist, geht niemanden etwas an. Außerdem wissen viele, die wir treffen, gar nicht, dass du letztes Jahr noch nicht bei uns warst – und denen müssen wir es auch gar nicht erzählen.“
Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte. Mein Herz fühlte sich plötzlich ganz warm an, aber gleichzeitig war da ein Kloß in meinem Hals. Ich wollte nicht weinen, also nickte ich einfach nur.
Annette lächelte und zog mich in eine feste Umarmung. Ich ließ es geschehen und schmiegte mich kurz an sie. Es fühlte sich gut an, dass sie mich nicht anders behandelte.
Dann nahm sie meine Hand. „Komm, Markus wartet bestimmt schon.“
Gemeinsam liefen wir zum Auto. Ich drückte ihre Hand ein kleines bisschen fester als sonst. Vielleicht, weil ich wollte, dass dieses Gefühl noch ein bisschen länger anhielt.
Als wir am Auto ankamen, schien Markus gerade fertig geworden zu sein. Er klappte den Kofferraum zu und streckte sich kurz, bevor er sich zu uns umdrehte.
„Da seid ihr ja! Ich hatte schon Angst, dass ihr noch einen Kaffee trinken geht,“ sagte er mit einem Grinsen.
Annette lachte. „Du wieder! Ich erinnere dich daran, wenn du dich das nächste Mal mit deinen Jungs triffst.“
Markus hob gespielt abwehrend die Hände. „Zumindest treffen wir uns nicht zufällig beim Einkaufen.“
„Ja, das ist richtig,“ gab Annette schmunzelnd zurück.
Ich beobachtete die beiden mit wachsender Unruhe. Auch wenn sie lachten und sich nur spielerisch neckten, breitete sich eine seltsame Angst in mir aus. Ich kannte es anders. Wenn Mama und Papa miteinander redeten, fing es meistens harmlos an – doch es wurde immer schlimmer. Erst waren es nur scharfe Worte, dann wurden sie lauter. Türen wurden geknallt, Stimmen wurden schrill, und wenn ich zur falschen Zeit am falschen Ort war, wurde auch ich angeschrien. Manchmal schlimmer.
Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Was, wenn es jetzt auch so endete? Was, wenn Markus oder Annette doch plötzlich wütend wurden? Ich wusste, dass es sich anders anfühlte, aber mein Bauch konnte das nicht glauben. Instinktiv wollte ich verhindern, dass es schlimmer wurde.
„Annette, kann ich ins Auto? Mir ist kalt“, sagte ich hastig, obwohl die Kälte gerade nicht mein größtes Problem war. Ich wollte einfach nur weg aus dieser Situation.
Annette drehte sich überrascht zu mir um, dann lächelte sie sanft. „Klar, mein Schatz. Komm, ich helf dir.“
Markus nickte. „Dann bringe ich den Einkaufswagen zurück.“
Annette öffnete die Autotür und half mir beim Einsteigen. Ich ließ mich auf den Sitz gleiten und spürte, wie meine Schultern sich leicht entspannten. Hier drin war es windgeschützt, es fühlte sich sicherer an. Sie schnallte mich an und strich mir dabei kurz über den Arm.
„Alles gut?“ fragte sie leise.
Ich nickte, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob es wirklich stimmte.
Annette setzte sich nach vorne auf den Beifahrersitz, ich fragte vorsichtig: „Fahren wir jetzt nach Hause?“
Annette drehte sich zu mir um und schenkte mir ein beruhigendes Lächeln. „Ja, Sebastian müsste auch bald da sein. Wir wollen dann zusammen Kaffee trinken.“
„Sebastian kommt zu Besuch?“ fragte ich leise. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog.
Ich kannte ihn doch gar nicht. Was, wenn er mich nicht mochte? Was, wenn er es blöd fand, dass ich jetzt bei seiner Mama und seinem Papa wohnte? Vielleicht war er sogar böse auf mich, weil ich jetzt mit seinen Autos spielte. Waren das überhaupt noch seine Autos?
Mein Blick wanderte zu Annette, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass sie mir das noch gar nicht gesagt hatte.
„Oh, Florian… Das hast du schon vergessen, oder? Ich habe es dir doch erzählt, dass er uns am Wochenende besucht.“
Ihre Worte trafen mich wie ein unerwarteter Schlag in den Magen. Ich sagte nichts. Mein Körper fühlte sich plötzlich seltsam an – meine Hände begannen unkontrolliert zu zittern, als hätte ich plötzlich keine Kontrolle mehr über sie. Mein Brustkorb zog sich eng zusammen, und mein Herz raste so schnell, dass ich es bis in meinen Hals spüren konnte.
Ich hatte Angst.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was, wenn Sebastian mich nicht mochte? Was, wenn er mich seltsam fand? Vielleicht wollte er nicht das ich da bin. Vielleicht wollte er nur, dass ich wieder gehe.
Noch bevor ich richtig begriff, was geschah, öffnete Annette bereits meine Tür. Sie kniete sich vor mich und streckte ihre Arme aus, als wollte sie mich vor der Welt beschützen. Sanft schnallte sie mich ab und zog mich in eine feste Umarmung.
„Es ist alles gut, Florian,“ sagte sie leise, ihre Stimme so weich und beruhigend wie eine warme Decke. Mit einer Hand strich sie mir langsam über den Rücken, als wollte sie meine Angst einfach wegwischen. „Sebastian ist wirklich lieb, das verspreche ich dir. Du musst keine Angst haben.“
Ich wollte ihr glauben. Ich wollte mich an ihren Worten festhalten, daran, dass sie es ernst meinte. Doch ein Teil von mir weigerte sich. Wie konnte sie sich so sicher sein? Vielleicht war Sebastian ja ganz anders, wenn er mich erst einmal sah. Vielleicht gefiel ihm nicht, dass ich jetzt hier war.
Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Schulter, schloss die Augen und wünschte mir, ich könnte einfach unsichtbar werden.
In diesem Moment hörte ich Schritte, und kurz darauf stand Markus neben uns. Ich spürte seinen fragenden Blick, bevor er sich räusperte. „Wolltet ihr nicht schon ins Auto?“
Annette drehte sich leicht zu ihm um, hielt mich aber weiterhin fest. „Wir saßen schon drin, aber ich habe Florian gerade von Sebastians Besuch erzählt. Ich hatte es ihm Anfang der Woche schon gesagt, aber es hat ihn irgendwie doch überrumpelt.“
Markus runzelte die Stirn und nickte langsam. „Oh…“
Annette seufzte leise und strich mir sanft über den Kopf. „Ich hätte ihn im Laufe der Woche noch einmal darauf vorbereiten sollen. Es ist einfach untergegangen. Es tut mir leid, Florian.“ Sie drückte mich noch einmal kurz. „Aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Sebastian ist ein ganz Lieber.“
Ich hörte ihre Worte, aber tief in mir drängte sich eine einzige Frage in den Vordergrund:
Und was, wenn nicht?
Ich drückte mich noch ein kleines bisschen fester an sie. Ihre Worte klangen ehrlich, aber die Angst wollte einfach nicht verschwinden.
Annette löste die Umarmung ein wenig und sah mich sanft an. „Möchtest du, dass ich dir ein bisschen von Sebastian erzähle? Vielleicht hilft dir das.“
Ich zuckte unsicher mit den Schultern. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich wusste es nicht.
„Komm, wir setzen uns erstmal ins Auto,“ sagte Annette leise. „Dann reden wir in Ruhe darüber, okay?“
Annette setzte sich diesmal nicht nach vorne, sondern auf den Sitz neben mich. Ich sah kurz zu ihr rüber, überrascht, denn normalerweise saß sie immer vorne. Markus startete den Motor, und das Auto setzte sich in Bewegung.
„Weißt du, Florian,“ begann Annette sanft, „Sebastian war als kleiner Junge auch oft ängstlich, wenn wir irgendwo waren, wo er niemanden kannte. Ich denke, er weiß ganz genau, wie du dich fühlst, und er wird ganz lieb mit dir umgehen.“
Ich hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts.
„Er ist, wenn man es so nimmt, jetzt dein großer Bruder,“ fuhr sie fort. „Und so, wie ich ihn kenne, wird er dich eher beschützen wollen als dich zu ärgern.“
Ein großer Bruder.
Ich ließ die Worte in meinem Kopf kreisen. Vielleicht wäre es so, wenn ich ihr richtiges Kind wäre. Aber das war ich nicht. Ich war nur ein Pflegekind. Warum sollte Sebastian mich als seinen kleinen Bruder sehen? Ich war doch nur hier, weil meine Eltern mich nicht wollten – weil ich sie immer nur wütend gemacht hatte.
Annette redete weiter.
„Sebastian war als Kind sehr lebhaft. Er hat es geliebt, draußen zu sein, ist stundenlang mit seinem Fahrrad über die Feldwege gefahren und hat sich immer um die Tiere auf dem Hof gekümmert. Ich kann mich noch erinnern, dass er mit fünf Jahren unbedingt einen eigenes Pferd haben wollte. Natürlich konnten wir ihm damals keines schenken, aber er hat sich dann immer um die Katzen gekümmert.“
Ich stellte mir vor, wie ein kleiner Junge mit wilden Haaren über den Hof rannte und Katzen streichelte. Es klang… schön.
„Früher hat er auch gerne mit Lego gespielt,“ erzählte Annette weiter. „Er konnte stundenlang bauen und sich immer neue Sachen ausdenken. Er hatte eine riesige Stadt mit Straßen und kleinen Autos – und wenn ich ihn abends ins Bett geschickt habe, wollte er am liebsten die ganze Nacht weiterspielen.“
Ich schluckte. Wie ich.
„Und heute studiert er“, sagte Annette mit einem Lächeln in der Stimme. „Am Anfang seiner Schulzeit hätten wir das ehrlich gesagt nicht für möglich gehalten. Er hatte große Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. In der Grundschule hat er sich oft dumm gefühlt, weil es für ihn schwerer war als für die anderen Kinder. Aber er hat nicht aufgegeben, und am Ende hat er ein Einser-Abitur geschafft.“
Ein Einser-Abitur? Das klang wichtig. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es genau bedeutete, aber irgendwie machte es mir Angst. Ich durchbrach mein Schweigen.
„Was ist ein Einser-Abitur?“ fragte ich leise.
Annette drehte sich überrascht zu mir, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass ich die ganze Zeit still gewesen war. Dann lächelte sie sanft. „Klar, das kannst du ja noch gar nicht wissen.“
Sie überlegte kurz, wie sie es mir erklären konnte.
„Also, in der Schule bekommst du bald Noten für deine Arbeiten. Eine Eins ist die beste Note, die man bekommen kann.“
Das wusste ich schon. Auch wenn wir noch keine Noten hatten, wusste ich, dass sie bald kommen würden und dass eine Eins sehr gut war.
„Nach der Grundschule kann man auf verschiedene Schulen gehen,“ erklärte Annette weiter. „Wenn man besonders gut in der Schule ist, kann man aufs Gymnasium gehen. Dort bleibt man dann viele Jahre und lernt ganz viel. Und am Ende gibt es eine große Prüfung, die nennt man Abitur. Wenn man dann überall sehr gute Noten hat, nennt man das ein Einser-Abitur.“
Ich ließ ihre Worte in meinem Kopf kreisen.
Also musste Sebastian immer gute Noten gehabt haben. In allen Fächern. Ich wusste nicht genau, wie viele Fächer es gab, aber in jedem Fach die beste Note zu bekommen, klang unmöglich.
Mein Magen zog sich zusammen.
Das bedeutete, dass Sebastian wirklich unglaublich klug sein musste. Nicht so wie ich. Ich konnte nicht einmal richtig lesen, machte ständig Fehler und brauchte immer Hilfe. In Mathe war ich langsam, und meine Schrift sah nie so ordentlich aus wie die der anderen.
„Jetzt möchte er Arzt werden,“ fügte Annette stolz hinzu.
Ich starrte aus dem Fenster.
Sebastian klang wie jemand der alles kann. Er war klug, stark, bestimmt auch sportlich, nett zu Tieren – und jetzt wollte er sogar Arzt werden. Und ich? Ich konnte nicht einmal richtig lesen. Ich hatte Angst vor Richard. Ich musste Windeln tragen. Ich war das genaue Gegenteil von ihm.
Ein Druck machte sich in meinem Bauch breit. Nicht nur der Druck in meinem Kopf, sondern auch in meinem Körper. Es fühlte sich an, als würde mich das alles von innen zerdrücken. Ohne nachzudenken, ließ ich einfach los.
Die Wärme breitete sich in meiner Windel aus, und für einen Moment fühlte ich mich einfach nur… sicher. Es war ein komisches Gefühl. Einerseits mochte ich es nicht, andererseits gab es mir ein kleines bisschen Geborgenheit. Ob sich Babys auch so fühlten, wenn sie in ihre Windel machten?
Ich schielte kurz zu Annette, aber sie redete gerade weiter und schien nichts bemerkt zu haben.
„Weißt du, was das Wichtigste ist?“ fragte sie schließlich und schaute mich sanft an.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Er hat nie aufgegeben. Auch wenn es schwer war, auch wenn er dachte, dass er es nicht schaffen kann – er hat weitergemacht. Und am Ende hat er es geschafft.“
Ich schwieg.
Ich würde das niemals schaffen. Ich war nicht wie Sebastian. Ich war einfach nur ich – und das würde niemals genug sein.
Wenn ich in der Schule besser gewesen wäre… wenn ich nicht ins Bett gemacht hätte… dann wären Mama und Papa bestimmt nicht so oft wütend auf mich gewesen.
Die Fahrt fühlte sich dieses Mal viel kürzer an. Mein Magen zog sich seltsam zusammen – irgendwie flau, aber gleichzeitig eng, als würde etwas Schweres darin liegen. Als Markus auf den Hof fuhr, sah ich ein grünes Auto, das sonst nicht da stand. Mein Herz klopfte schneller.
Dann hielten wir vor dem Haus, und plötzlich gingen die Eingangstür auf. Zwei große Jugendliche kamen heraus. Der Größere von beiden winkte uns zu, als würde er sich richtig freuen, uns zu sehen. Ich erkannte ihre Gesichter sofort – sie sahen aus wie die auf den Fotos im Haus, nur älter.
Meine Nervosität stieg.
Annette und Markus stiegen aus, während ich einfach sitzen blieb. Ich wollte am liebsten wieder wegfahren. Oder zumindest im Auto bleiben.
Ich beobachtete, wie der Größere von beiden erst Markus und dann Annette umarmte, während der andere ihnen nur die Hand gab. Es fühlte sich komisch an, das alles von hier aus zu sehen, so als ob ich gar nicht wirklich dazugehöre.
Dann kam Annette zu meiner Tür. Mein Herz schlug wie wild. Bitte nicht, dachte ich mir, aber da war die Tür auch schon offen.
Der größere Junge folgte Annette, während der andere mit Markus ins Haus ging.
„Hallo Florian,“ sagte der Jugendliche mit einem Lächeln. „Ich bin Sebastian.“
Ich starrte auf meine Hände und sagte nichts. Annette schnallte mich ab und hob mich einfach auf ihren Arm.
„Du musst wirklich keine Angst vor Sebastian haben“, sagte sie sanft. „Wie ich dir schon am Telefon erzählt habe, ist er sehr schüchtern und ängstlich.“
Ich zuckte leicht zusammen. Sie haben über mich am Telefon gesprochen?
Ich ließ es einfach zu, dass Annette mich hielt, während sie langsam zum Haus ging. Dabei streichelte sie mir sanft den Rücken.
„Das ist okay,“ sagte Sebastian ruhig. „Wenn du nachher ein bisschen aufgetaut bist, können wir uns ja kennenlernen – wenn du möchtest.“
Ich sagte nichts. Ich drückte mein Gesicht noch fester gegen Annette, sodass ich ihn nicht ansehen musste.
Im Haus war es schön warm. Annette setzte mich vorsichtig im Eingangsbereich ab und begann, mir beim Ausziehen zu helfen. Währenddessen streifte Sebastian seine Schuhe ab und hängte seine Jacke an den Haken. Dann verschwand er in Richtung Küche, von wo Stimmen zu hören waren.
Markus kam gerade aus der Küche und ging an uns vorbei in Richtung Auto.
Ich sah ihm hinterher und dachte nach.
Der andere Jugendliche… das war der von dem Bild auf Sebastians Schreibtisch. Hatte Sebastian seinen Freund mitgebracht? War das sein bester Freund, so wie Paul für mich?
Aber spielten so Große überhaupt noch zusammen? Oder machten die nur noch Erwachsenen-Sachen?
„Du kannst schon mal in die Küche gehen,“ sagte Annette, als ich meine Jacke und Schuhe ausgezogen hatte. „Ich komme gleich.“
Ich schüttelte sofort den Kopf und blieb dicht bei ihr.
Annette sagte nichts dazu. Sie zog sich schnell aus, nahm mich dann an die Hand und führte mich Richtung Küche. Mein Herz klopfte wieder schneller.
Ich wusste nicht, was auf mich zukam. Mein Bauch fühlte sich komisch an, als Annette mit mir die Küche betrat.
Sebastian und der andere Junge standen an der Arbeitsfläche und unterhielten sich. Sebastian sah mich an und lächelte freundlich, aber ich konnte den Gesichtsausdruck des anderen nicht richtig deuten. Er grinste, aber es war nicht das gleiche Lächeln wie bei Sebastian. Es sah eher so aus, als würde er versuchen, nett zu wirken, aber nicht so richtig wusste, wie.
„Hallo Florian, ich bin Pierre,“ sagte er.
Ich presste die Lippen aufeinander und sagte nichts. Ich blieb dicht bei Annette, fast so, als könnte sie mich vor den beiden beschützen.
Annette lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. „Wie war die Fahrt?“
Sebastian zuckte mit den Schultern. „Typisch Freitag. Die Autobahn war voll. Kurz hinter Bayreuth standen wir 45 Minuten im Stau. Die Umleitung wäre laut Navi aber auch nicht besser gewesen. Sonst war es okay.“
Ich hörte zu, verstand aber nicht alles. Ich wusste nur, dass sie lange im Auto gesessen hatten.
Annette nickte. „Da wart ihr ja eine ganze Weile unterwegs. Seit wann seid ihr da?“
„Kurz vor euch. Ich würde sagen, höchstens seit 30 Minuten.“
„Habt ihr schon eure Sachen reingeholt?“
„Nein, das machen wir nach dem Kaffee. Ist die Waschmaschine frei?“
„Fast, aber ich muss sie noch leerräumen und die Wäsche aufhängen.“
„Super, wir hätten da ein bisschen Wäsche.“
Während Annette die Kaffeemaschine einschaltete, kam Markus mit einem Einkaufskorb in die Küche. Sebastian begann sofort, den Einkauf zu verräumen, als wäre es das Normalste der Welt.
Dann fragte Pierre an Sebastian gewandt: „Wollen wir nun nachher nochmal nach Hof?“
Sebastian seufzte leicht. „Ich hab doch vorhin schon gesagt, dass wir das heute wahrscheinlich nicht schaffen. Aber du kannst das Auto nehmen, wenn du alleine fahren möchtest.“
„Ja, ich will zumindest kurz bei meiner Mutter vorbeischauen.“
Annette mischte sich ein: „Wir essen gegen sieben zu Abend, Pierre.“
Pierre nickte. „Das klingt gut. Dann würde ich nach dem Kaffee fahren und bin gegen sieben wieder da.“
Ich stand einfach nur da und fühlte mich fehl am Platz. Niemand sagte etwas zu mir, und irgendwie wusste ich nicht, was ich jetzt tun sollte. Ich versuchte, nah bei Annette zu bleiben, aber die Erwachsenen redeten einfach weiter. Vielleicht sollte ich einfach auf mein Zimmer gehen?
Aber dann kam mir eine Frage in den Kopf. Warum fährt Pierre erst zu seiner Mama und kommt dann wieder zum Abendessen?
Wenn er doch schon hier war, warum blieb er dann nicht einfach? Mochte er es nicht, hier zu sein? Oder wollte er nur weg, weil ich hier war?
Ich verstand nicht, was es war, aber irgendetwas an Pierre war komisch.
Annette holte Teller aus dem Schrank und reichte sie mir. „Kannst du die schon mal ins Wohnzimmer tragen?“ fragte sie mit einem Lächeln.
Ich nahm die Teller dankbar von Annette entgegen – so hatte ich zumindest eine Aufgabe – und trug sie ins Wohnzimmer. Es fühlte sich seltsam an, denn normalerweise aßen wir immer in der Küche. Den Tisch im Wohnzimmer zu decken war ungewohnt. Überhaupt war es neu für mich, den Tisch selbst zu decken. Bisher war er immer schon gedeckt, wenn ich mich zum Essen setzte.
Vorsichtig verteilte ich die Teller auf dem Tisch, als plötzlich Pierre ins Wohnzimmer kam. Ich hielt kurz inne. Er sagte nichts, sondern begann, Besteck und kleine Teller zu verteilen. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke, und es fühlte sich unangenehm an. Sein Blick war schwer zu deuten, aber irgendwas daran ließ mich glauben, dass er mich nicht mochte. Ich senkte schnell den Kopf und beeilte mich, zurück in die Küche zu gehen.
Dort hatte Annette bereits Tassen auf den Tisch gestellt.
„Die kannst du auch gleich rüberbringen, mein Schatz,“ sagte sie mit einem Lächeln.
Ich nickte und nahm vorsichtig vier Tassen auf einmal. Sebastian schnitt gerade Kuchen. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und langsam zu gehen, in der Hoffnung, dass Pierre inzwischen fertig war und nicht mehr im Wohnzimmer ist.
Doch als ich das Wohnzimmer betrat, saß Pierre auf der Couch und machte den Fernseher an.
Ich würde mich das niemals trauen, dachte ich sofort. Wenn ich bei Paul zu Besuch wäre, würde ich doch nicht einfach den Fernseher anschalten. Müsste man da nicht erst fragen?
Ich stellte die erste Tasse auf den Tisch, doch plötzlich spürte ich einen Druck im Bauch. Mist. Ich musste groß. Und zwar dringend.
Schnell stellte ich die restlichen Tassen auf den Tisch und eilte nach oben in Richtung Badezimmer. Nach meiner letzten Erfahrung bei Paul wusste ich, dass ich mir keine Zeit lassen durfte. Hastig löste ich die Hosenträger, zog die Hose herunter, öffnete die Windel so schnell ich konnte und ließ mich auf die Toilette sinken – keine Sekunde zu früh.
Es war ein erleichterndes Gefühl. Und diesmal ohne Schmerzen. Ich war stolz auf mich, dass ich es rechtzeitig geschafft hatte.
Nachdem ich fertig war, wischte ich mir den Po ab und zog meine Hose wieder hoch. Die Windel stopfte ich in den Windeleimer. Als ich mir die Hände wusch, fiel mir auf, wie ungewohnt es sich anfühlte, nur mit der Hose herumzulaufen. Ich habe mich echt schnell an die Windeln gewöhnt…
Gerade als ich die Treppe wieder nach unten gehen wollte, kam mir Sebastian entgegen. Ich blieb abrupt stehen.
Mein Herz schlug schneller. Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte. Bisher war er nett zu mir gewesen, aber trotzdem wusste ich nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.
„Da bist du ja,“ sagte er und lächelte. „Mama hat schon gefragt, wo du bist.“
Ich machte automatisch einen Schritt zurück auf der Treppe.
Mama hat schon gefragt? Das klang irgendwie komisch… Aber es war ja seine Mama.
Sebastian bemerkte meine Unsicherheit.
„Warte, Florian, du musst wirklich keine Angst vor mir haben,“ sagte er ruhig. „Ich gehe einfach vor, und du kommst nach, okay?“
Ich nickte vorsichtig.
Er drehte sich um und ging die Treppe runter. Ich folgte ihm mit etwas Abstand in die Küche.
Annette sah mich an. „Alles gut bei dir, Florian?“
Ich nickte. Eigentlich wollte ich ihr sagen, dass ich eine neue Windel brauchte, aber nicht vor Sebastian. Und außerdem war sie gerade beschäftigt. Ich nahm mir vor, es nach dem Kaffee zu machen. Ich war ja gerade erst auf Toilette gewesen.
Im Wohnzimmer saßen Markus und Pierre bereits am Tisch, Sebastian setzte sich neben Pierre. Ich wartete ab, wo Annette sich hinsetzte, und setzte mich dann schnell neben sie. Der Tisch war groß und rund, neben mir waren noch zwei Stühle frei, dann erst kam Sebastian.
Annette goss mir Kakao in die Tasse.
„Schön, dass ihr da seid. Guten Appetit!“ sagte sie freundlich.
Alle begannen zu essen.
Markus blickte zu Pierre. „Wie läuft es mit der Ausbildung, Pierre?“
Pierre schaute kurz auf. „Besser als bei der letzten. Es liegt mir definitiv mehr, mit Farben zu arbeiten, als mich mit Klimaanlagen zu beschäftigen.“
Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, aber er klang nicht besonders begeistert.
Ich nahm vorsichtig einen Schluck Kakao. Das war irgendwie seltsam. Alle redeten miteinander, und ich saß einfach nur da. Ich fühlte mich nicht wirklich dazugehörig.
„Dann ist es doch gut, dass du die letzte Ausbildung abgebrochen hast und jetzt etwas machst, was dir Spaß macht. Besser jetzt als nach vielen Jahren im Job,“ sagte Markus mit einem zufriedenen Nicken.
„Das sage ich ihm auch immer,“ fügte Sebastian hinzu und klopfte Pierre leicht auf die Schulter.
Pierre zuckte mit den Schultern. „Ja, so denke ich auch.“
Annette nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und wandte sich dann an Sebastian. „Und, wie war deine Vorlesung heute Morgen?“
Sebastian seufzte. „Sehr trocken. Wenn ich bedenke, dass ich noch anderthalb Jahre mit den Grundlagen beschäftigt bin, bevor es endlich in den klinischen Abschnitt übergeht…“
Annette lächelte. „Keine Sorge, die Zeit vergeht schneller, als du jetzt denkst. Gerade wenn es auf die Prüfungen zugeht.“
Sebastian schmunzelte leicht. „Ja, so wird es am Ende wohl sein.“
Ich nahm einen vorsichtigen Bissen von meinem Kuchen und hörte einfach nur zu. Die Unterhaltung schien mich nicht zu betreffen, und ich wusste nicht, ob ich überhaupt etwas sagen sollte.
Dann fragte Sebastian plötzlich: „Haben Erik und Elfi frei? Ich hab sie noch gar nicht gesehen.“
Annette nickte. „Ja, sie haben heute frei. Erik ist vormittags kurz da gewesen, aber nur für eine Stunde.“
Sebastian lehnte sich zurück. „Dann seh ich sie ja vielleicht morgen. Wär schön, mal wieder mit Erik zu quatschen.“
Ich stocherte mit meiner Gabel im Kuchen und nahm einen kleinen Schluck von meinem Kakao. Am Tisch war es ziemlich langweilig, aber wenigstens stellte mir niemand Fragen.
Pierre sagte nicht viel, aber er schaute ab und zu zu mir rüber. Ich konnte nicht sagen, was das für ein Blick war, aber jedes Mal zog sich mein Bauch ein bisschen zusammen. Ich mochte es nicht.
Pierre zog sein Telefon aus der Tasche und schaute darauf. Ich wusste nicht, was er da sah, aber Sebastian schien es nicht zu gefallen. Er beugte sich leicht vor und flüsterte: „Du weißt doch, dass das bei uns am Tisch nicht erwünscht ist.“
„Sorry,“ murmelte Pierre und steckte das Telefon schnell wieder weg. Dann stand er auf. „Ich mach mich dann los. Bis nachher.“
Bevor er ging, beugte er sich zu Sebastian und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ein Junge, der einem anderen einen Kuss gab? Ich hatte das noch nie gesehen.
Sebastian schien sich nichts dabei zu denken. „Fahr vorsichtig,“ sagte er.
„Mach ich,“ antwortete Pierre, bevor er das Wohnzimmer verließ.
Annette klatschte leicht in die Hände. „So, wollen wir den Tisch abräumen?“
„Ich muss noch mal in den Stall,“ sagte Markus.
„Okay, dann bist du entschuldigt,“ erwiderte Annette mit einem Lächeln.
Alle standen auf. Markus zog seine Jacke über und ging nach draußen. Ich nahm meinen Teller und stapelte ihn vorsichtig auf die anderen, versuchte, alles richtig zu machen. Annette nahm den Kuchen, Sebastian die Kanne mit Kaffee und die kleine mit Kakao. Ich wollte gerade loslaufen, als ich es spürte.
Es wurde nass, erst warm und dann kalt an meinen Beinen.
Mein Atem stockte. Ein schrecklicher Gedanke schoss mir durch den Kopf: Meine Hose ist nass.
Panik breitete sich in mir aus, mein Herz schlug schneller. Ich hatte keine Windel an. Ich hatte es nicht einmal gemerkt. Wie konnte das passieren? Mein Hals zog sich zusammen, meine Augen brannten. Ich wollte es nicht, wirklich nicht! Ich wollte doch groß sein!
Sebastian kam gerade wieder ins Wohnzimmer, seine Stimme war entspannt. „Willst du die Teller nicht rüber…“ Dann stoppte er. Sein Blick fiel auf meine Hose. Ich stand stocksteif da, unfähig, etwas zu sagen. Die Tränen kamen von selbst, ich konnte sie nicht aufhalten.
„Oh, Florian…“ Seine Stimme war ganz weich. „Das ist nicht schlimm. Komm, gib mir die Teller. Wir gehen zu Mama.“
Ich schluchzte leise, als ich ihm die Teller reichte. Dann folgte ich ihm mit gesenktem Kopf, mein Gesicht heiß vor Scham. Annette sah mich sofort an, als wir bei ihr ankamen, und hockte sich zu mir herunter.
„Was ist denn passiert? Ist deine Windel ausgelaufen?“
Ich schüttelte den Kopf, immer noch unfähig zu sprechen.
„Komm, wir machen dich schnell frisch.“ Sie nahm sanft meine Hand und führte mich nach oben.
Als wir in meinem Zimmer ankamen, zog sie mir vorsichtig die Hose herunter. Ich wagte es nicht, sie anzusehen.
„Du hast ja gar keine Windel mehr an, Florian?“
Meine Kehle war wie zugeschnürt. „Ich war vorhin auf der Toilette,“ sagte ich leise, meine Stimme zitterte. „Entschuldigung…“
Annette runzelte leicht die Stirn. „Musstest du groß?“
Ich nickte schwach.
„Du hättest doch was sagen können.“
„Entschuldigung,“ flüsterte ich erneut. Meine Lippen bebten. „Du warst beschäftigt…“
Annette seufzte und strich mir beruhigend über den Kopf. „Ach, Florian… Du darfst mir immer sagen, wenn du Hilfe brauchst. Es ist nicht schlimm, das passiert. Du musst nicht traurig sein, ja?“
Ich nickte wieder. Ich wollte stark sein, aber es war so schwer.
Dann lächelte Annette sanft. „Ich freue mich, dass du es diesmal rechtzeitig auf die Toilette geschafft hast.“ Ihre Stimme klang stolz, als hätte ich etwas Gutes getan. Das Gefühl war ungewohnt. „Und wir üben das mit der Windel noch mal, dann kannst du sie auch selbst anziehen, okay?“
Ich nickte noch einmal, während sie mich auf mein Bett hob.
Annette legte mir eine frische Windel an und holte frische Kleidung aus meinem Schrank. Als ich wieder angezogen war, nahm sie mich auf den Schoß. Ohne nachzudenken, kuschelte ich mich an sie. Ihr Arm hielt mich fest, und ihre Hand strich sanft über meinen Rücken.
„Geht es wieder?“ fragte sie leise.
Ich nickte. Es fühlte sich beruhigend an, so hier zu sitzen. Annette war warm und geduldig. Es war, als ob sie mich verstand, ohne dass ich alles erklären musste. Ich wusste nicht, ob ich es verdient hatte, aber in diesem Moment wollte ich einfach nur hier bleiben.
Annette strich mir immernoch sanft über den Rücken. „Wollen wir wieder runter zu Sebastian?“
Ich spürte, wie sich ein kleiner Kloß in meinem Hals bildete. Sebastian schien okay zu sein, aber nach meinem Missgeschick vorhin fühlte ich mich unwohl. Vielleicht dachte er jetzt, dass ich ein Baby war? Ich wollte nicht, dass er mich so sah.
Ich hob vorsichtig den Kopf und sah Annette an. „Darf ich mit meinem Lego spielen?“ fragte ich leise, ich hatte Angst, dass sie nein sagen könnte.
Annette lächelte mich warm an. „Ja, mein Schatz, das darfst du.“
Ein kleiner Stein fiel mir vom Herzen. Lego war sicher. Es war einfach. Und wenn ich baute, musste ich nicht nachdenken, ob ich etwas falsch machte.
„Wenn du etwas brauchst, meldest du dich, okay?“
Ich nickte.
Sanft setzte Annette mich auf den Boden, und kaum dass meine Füße den Teppich berührten, begann ich, meine Legokiste auszuräumen. Die bunten Steine klackerten leise aufeinander, als ich nach den richtigen suchte. Mein Herz schlug wieder ruhiger.
Ich griff nach einem roten Stein, dann nach einem blauen, setzte sie zusammen und baute weiter an meiner Eisenbahn. Ich mochte das Gefühl, etwas zu erschaffen. Hier gab es keine Fehler, niemand sagte mir, was ich tun musste. Hier war ich sicher.
Doch tief in mir nagte noch immer ein kleines Gefühl von Unsicherheit. Ob Sebastian wohl wirklich nichts dagegen hatte, dass ich oben blieb? Ob er mich komisch fand nach vorhin? Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf die Steine.
Sebastian:
Ich war fast fertig mit dem Tisch abräumen. Gerade stellte ich den letzten Teller in den Geschirrspüler, als Mama wieder in die Küche kam.
„Du bist ja schon fertig,“ bemerkte sie mit einem anerkennenden Blick.
„Ja, war ja nicht viel. Den Kuchen hab ich in eine Dose gepackt, er steht im Kühlschrank,“ erwiderte ich und schloss die Spülmaschine.
Mama lächelte. „Danke, mein Großer.“
Ich blinzelte kurz. ‚Mein Großer?‘ Das hatte sie gestern schon am Telefon gesagt. Es fühlte sich fast ungewohnt an. Wahrscheinlich lag es an Florian – seit er hier war, war Mama völlig im Mama-Modus. Ich grinste innerlich – nicht, dass ich etwas dagegen hatte.
„Wo hast du Florian gelassen?“ fragte ich beiläufig.
„Er wollte mit seinem Lego spielen. Ich glaube, er braucht kurz einen Moment für sich,“ antwortete Mama mit einem sanften Unterton.
Ich runzelte die Stirn. „Hast du nicht gesagt, dass er eine Windel trägt?“
„Ja, die trägt er auch,“ erklärte sie. „Er war nur kurz für ein größeres Geschäft auf dem WC und hat mir danach nicht Bescheid gesagt, dass er eine frische braucht.“
Ich seufzte leise. „Das hat ihn ganz schön mitgenommen, oder?“
Mama nickte. „Ja. Versetz dich mal in seine Lage.“
Ich dachte kurz darüber nach. Florian sah so klein aus. Wenn Mama mir nicht gesagt hätte, dass er in die zweite Klasse geht, hätte ich ihn für ein Kindergartenkind gehalten. „Er sieht wirklich jünger aus. Hätte ich es nicht gewusst, hätte ich ihn für vier oder fünf gehalten.“
Mama schmunzelte. „Ging mir genauso. Und du bist nicht der Erste, der das sagt. Aber sag es ihm lieber nicht – es ist ihm so schon unangenehm genug, dass er Windeln braucht.“
„Ja, keine Sorge. Ich hatte sowieso nicht vor, es zu erwähnen,“ beruhigte ich sie.
Mamas Blick wanderte zum Flur. „Ist Pierre jetzt mit euren Sachen losgefahren?“
„Stimmt, keine Ahnung,“ sagte ich und ging nachsehen. An der Tür standen unsere beiden Reisetaschen und ein großer Beutel. „Nein, er hat die Sachen hier abgestellt.“
Ich schnappte mir den Beutel mit der Schmutzwäsche und brachte ihn in den Hauswirtschaftsraum. Während ich die Sachen aus der Waschmaschine in den Wäschekorb sortierte, fiel mir ein kleines T-Shirt in die Hände. Es war wirklich winzig. Das Motiv zeigte einen kleinen T-Rex, der zu brüllen schien – allerdings eher niedlich als furchteinflößend. Ob ich in seinem Alter auch noch so etwas getragen habe? Ich kann mich an diese Zeit irgendwie nicht mehr erinnern.
Nachdem die Waschmaschine lief, schnappte ich mir die Reisetaschen und trug sie nach oben in mein Zimmer. Sie waren nicht allzu schwer, aber unhandlich, also balancierte ich sie geschickt, um die Tür mit dem Fuß aufstoßen zu können. Während ich die Taschen abstellte, hörte ich Schritte hinter mir. Mama war mir gefolgt.
„Ich habe eure Sachen in einen Wäschekorb gepackt und auf den Trockner gestellt“, sagte ich beiläufig, während ich die Taschen ein Stück zur Seite schob, damit sie nicht im Weg lagen.
Mama lächelte mich kurz an. „Danke, ich hänge sie gleich auf.“
„Ist bei dir und Pierre alles gut?“ fragte sie beiläufig.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ja, soweit. Wir haben halt kaum Zeit füreinander. Ich muss viel lernen, und in der Zeit geht Pierre seinen Hobbys nach.“
Mama sah mich prüfend an. „Ich war nur verwundert, dass du nicht mit nach Hof gefahren bist.“
Ich seufzte. „Ich hatte keine Lust, jetzt nochmal loszufahren. Die dreieinhalb Stunden hierher haben mir gereicht für heute.“
Mama nickte verstehend.
„Außerdem wollte ich doch meinen kleinen Bruder kennenlernen.“
Ein warmes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Das ist lieb, aber du musst ihm Zeit geben.“
„Dabei würde ich mir gerne sein Zimmer anschauen. Bin gespannt, was ihr aus dem Gästezimmer gemacht habt.“
Mama überlegte kurz. „Du kannst ja bei ihm anklopfen. Vielleicht hat er nichts dagegen, wenn du ihm beim Bauen zuschaust. Oder – noch besser – du könntest ihm helfen. Das wäre eine gute Möglichkeit, das Eis zu brechen.“
Ich dachte kurz nach. „Ja, das klingt gut.“ Dann grinste ich und zog eine kleine Schachtel aus meiner Reisetasche hervor. „Ich hatte noch das hier.“ Ich hielt Mama einen Karton mit einem Lego City Abschleppwagen hin.
Mamas Augen leuchteten kurz auf. „Oh, ich glaube, darüber wird er sich freuen! Hoffentlich war das nicht zu teuer.“
Ich winkte ab. „Nein, war unter 20 Euro.“
„Okay, dann versuch mal dein Glück.“
Ich nahm den Karton und machte mich auf den Weg zu Florians Zimmer. Vielleicht konnte ich ihm ja eine kleine Freude machen.
Die Tür des ehemaligen Gästezimmers war nur angelehnt. Trotzdem klopfte ich vorsichtig an. Ich wollte Florian nicht erschrecken oder den Eindruck erwecken, einfach so hereinzustürmen.
Durch mein Klopfen öffnete sich die Tür ein Stück weiter, aber Florian reagierte kaum. Er saß auf dem Fußboden, umgeben von bunten Legosteinen, und war tief in sein Bauprojekt vertieft. Nur kurz wanderte sein Blick zu mir, dann wieder zurück auf die Lego-Anleitung vor ihm.
„Darf ich reinkommen?“ fragte ich vorsichtig.
Er zuckte leicht mit den Schultern, eine wortlose Zustimmung, aber auch keine wirkliche Einladung. Ich nahm es als „meinetwegen“ und trat leise ein.
Als ich mich umsah, fiel mir auf, wie neutral das Zimmer wirkte. Ich hatte es mir… anders vorgestellt. Vielleicht bunter, lebendiger – kindlicher eben. Aber die Wände waren immer noch weiß, kahl und ein wenig karg. Irgendwie wirkte es nicht wirklich nach einem Kinderzimmer, eher wie ein Raum, der erst noch zu einem Zuhause werden musste.
Mein Blick wanderte zu einem der Regale, und ich erkannte einige meiner alten Spielzeugtraktoren. Ich musste schmunzeln – Mama hatte sie also doch aufgehoben. Aber sonst? Nichts wirklich Persönliches. Keine Poster, keine Bilder, nichts, was zeigte, dass Florian hier wirklich „angekommen“ war. Einzig das Lego auf dem Boden und ein kleiner, flauschiger Plüschpanda auf seinem Bett erinnerten daran, dass hier ein Kind wohnte.
Aber er war ja auch erst eine knappe Woche hier. Vielleicht brauchte er einfach Zeit.
Mein Blick fiel wieder auf Florian, der noch immer am Boden hockte, tief konzentriert auf sein Lego. Er blätterte in der Aufbauanleitung und suchte scheinbar die richtigen Teile zusammen. So vertieft, wie er war, erinnerte es mich an meine eigene Kindheit. Ich wusste genau, wie es sich anfühlte, mit nichts als Lego um sich herum in eine kleine eigene Welt abzutauchen. Selbst in den letzten Jahren hatte ich ab und zu noch mit Lego gebaut – auch wenn ich inzwischen Lego Technic bevorzugte.
Ich ließ mich langsam auf den Boden sinken, achtete aber darauf, etwas Abstand zu lassen.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Wieder nur ein leichtes Schulterzucken. Er sagte nichts, blätterte einfach weiter in seiner Anleitung.
Also blieb ich sitzen, beobachtete ihn still und versuchte, ihn nicht aus seiner Konzentration zu reißen. Ab und zu warf er mir einen kurzen Blick zu, wandte sich dann aber sofort wieder seinem Lego zu, als hätte er Angst, dass ich ihn irgendwie stören könnte.
Er schien noch nicht sicher zu sein, was er von mir halten sollte. Und das war okay. Ich wusste, dass er Zeit brauchte. Vielleicht konnte ich ihm ja zeigen, dass ich nicht nur der „große Bruder“ war, sondern auch jemand, mit dem er einfach in Ruhe bauen konnte.
Ich wartete einen Moment, dann schob ich vorsichtig die kleine Schachtel, die ich mitgebracht hatte, in seine Richtung.
„Ich hab dir was mitgebracht,“ sagte ich leise.
Er hielt in seiner Bewegung inne, blickte erst auf den Karton, dann zu mir. Seine Augen verrieten Überraschung – vielleicht auch ein wenig Misstrauen.
Aber dann griff er langsam nach der Packung und betrachtete sie genauer.
Ich hoffte, das war ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Florian:
Was will Sebastian jetzt hier? Will er mir sagen, dass ich doch runterkommen soll? Oder dass ich ihm nicht seine Mama und seinen Papa wegnehmen soll?
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten würde. Ich wollte ja niemandem etwas wegnehmen. Aber vielleicht dachte er das trotzdem? Vielleicht mochte er es nicht, dass ich jetzt hier war?
Und warum fragte er überhaupt, ob er in mein Zimmer kommen darf? Es gehört doch seinen Eltern. Ich wohne hier nur, es ist nicht wirklich mein Zimmer. Wenn er reinkommen will, kann ich es ihm doch nicht verbieten.
Jetzt sitzt er da. Einfach so. Und schaut mich an.
Er beobachtet mich. Denkt er jetzt, dass ich ein Baby bin, weil ich vorhin eine nasse Hose hatte?
Mein Bauch fühlte sich komisch an. Ich mochte es nicht, wenn jemand mich so ansah. Ich versuchte, mich weiter auf mein Lego zu konzentrieren, aber mein Kopf war voll mit diesen Gedanken.
Dann schob er mir plötzlich etwas hin. Ein kleiner, bunter Karton.
„Ich hab dir was mitgebracht,“ sagte er leise, fast vorsichtig.
Ich blinzelte. Lego? Von Sebastian?
Meint er das ernst? Ist das wirklich für mich? Wirklich?
Ganz vorsichtig nahm ich die Schachtel und betrachtete sie. Ein Lego City Abschleppwagen.
Ich sah wieder zu ihm. Er lächelte mich an.
„Willkommen in der Familie, Florian.“
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Meinte er das wirklich so? Sah er mich jetzt als Teil seiner Familie? Oder sagte er das nur, weil Annette es ihm gesagt hatte?
Ich schluckte und fragte vorsichtig: „Ist der für mich?“
Sebastian nickte. „Ja, Mama hat mir erzählt, dass du Lego magst.“
Ich nickte zurück.
„Danke!“ sagte ich leise.
Sebastian setzte sich ein bisschen bequemer hin. „Ich hab auch gerne mit Lego gespielt, als ich so alt war wie du. Und weißt du was? Ich baue auch heute noch gerne mit Lego!“
Ich starrte ihn an. Das konnte doch nicht sein. Er war doch groß. Große machen doch nur Erwachsenensachen. Ich hatte seine Lego-Bauwerke in seinem Zimmer gesehen, aber ich dachte, die hatte er als Kind gebaut.
Dass er wirklich noch mit Lego baute… das konnte ich nicht glauben.
Sebastian sah mich mit einem Lächeln an. „Glaubst du mir nicht?“
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, warum, aber irgendwie konnte ich es nicht. Es war so seltsam – er war so groß, so anders. Und doch saß er hier und redete mit mir, als wäre es das Normalste auf der Welt.
„Darf ich mit bauen?“ fragte er nach einer kurzen Pause.
Ich erstarrte für einen Moment. Darf er? Es war mein Lego. Annette hatte es mir gekauft. Aber… ich hatte ja auch seine alten Traktoren bekommen. Und eigentlich wäre es schon gut, wenn wir schneller fertig würden. Ich wollte ja, dass die Eisenbahn bald fahren konnte.
Also nickte ich schließlich und begann weiter an meiner Lok zu arbeiten.
Sebastian griff nicht einfach wahllos nach Teilen, sondern fing an, mir genau die Steine zurechtzulegen, die ich für den nächsten Schritt brauchte. Erst war ich überrascht, dann erleichtert – so ging es wirklich schneller. Ich musste nicht mehr ewig suchen, sondern konnte mich ganz aufs Zusammenbauen konzentrieren.
Die Lok nahm langsam Gestalt an. Ich befestigte vorsichtig das Führerhäuschen, während Sebastian die kleinen Räder zusammensetzte. Immer wieder zeigte er mir, wo die nächsten Teile hingehörten. Es war komisch… aber es fühlte sich gut an.
Es war nicht so, dass er mir reinredete oder alles besser wusste. Er half einfach. Und je länger wir bauten, desto mehr merkte ich, dass ich nicht mehr so angespannt war. Ich musste nicht mehr darüber nachdenken, ob ich etwas Falsches sagte oder tat.
Der erste Waggon war fertig, und jetzt fingen wir mit dem zweiten an – ein Güterwagen mit einem kleinen Kran darauf.
„Hier, das ist für das Seil,“ sagte Sebastian und reichte mir ein winziges rundes Teil.
Ich nahm es vorsichtig und setzte es an die richtige Stelle. Es passte perfekt.
Gerade als ich mich über unser Tempo wunderte, klopfte es an der Tür. Annette steckte den Kopf ins Zimmer.
„Na, ihr beiden?“
Ich schaute auf. Vorhin hatte ich noch gedacht, dass Sebastian mich vielleicht gar nicht mochte. Jetzt saß er einfach neben mir und half mir beim Bauen, als wäre es das Normalste auf der Welt.
„Wir sind mit der Lok schon fertig,“ erklärte ich, ohne groß nachzudenken. „Jetzt bauen wir den zweiten Waggon mit einem Kran.“
„Wenn wir so weitermachen, ist die Bahn bald fertig,“ fügte Sebastian mit einem zufriedenen Ton hinzu.
Annette schmunzelte. „Sebastian, deine Wäsche ist fertig. Ich würde sie ja aufhängen, aber so wie ich dich kenne, möchtest du das bestimmt selber machen?“
Sebastian schaute auf. „Ja, da hast du recht.“ Dann wandte er sich mir zu. „Ich bin kurz Wäsche aufhängen, Florian.“
Damit stand er auf und verschwand aus dem Zimmer.
Ich blieb sitzen, sah ihm kurz nach und sah dann zu ihr.
Annette setzte sich auf die Bettkante und sah mich mit einem Lächeln an. „Ihr seid ja schon richtig vorwärts gekommen.“
Ich nickte und zeigte stolz auf die kleine Lego-Schachtel mit dem Abschleppwagen, die neben mir lag. „Ja, Sebastian kann das voll gut. Und er hat mir das hier geschenkt.“
Annette lächelte warm. „Das ist doch toll. Und siehst du jetzt, dass dein großer Bruder nicht böse zu dir ist?“
Ich senkte verlegen den Blick und nickte langsam.
Aber tief in mir blieb ein kleiner Zweifel. Auch wenn ich mir immer noch nicht sicher sein konnte.
Mama und Papa konnten auch lieb zu mir sein. Und im nächsten Moment war alles anders.
„Ist Pierre Sebastians bester Freund?“ fragte ich plötzlich. Der Gedanke war mir gerade erst in den Sinn gekommen, und ich konnte ihn nicht einfach wieder loswerden.
Annette sah mich an und lächelte. „Oh, ja, so könnte man das sehen.“
Ich runzelte die Stirn. „Und warum ist er dann zu seiner Mama gefahren?“
„Das weiß ich nicht genau,“ antwortete sie. „Aber Pierre wohnt mit Sebastian in München und war genauso lange nicht hier wie er. Vielleicht wollte er einfach auch mal seine Mama besuchen.“
Ich dachte einen Moment darüber nach. „Und wieso kommt er dann wieder?“
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Es wäre viel schöner, wenn er nicht wiederkommt. Ich mochte ihn nicht. Und ich war mir sicher, dass er mich auch nicht mochte.
Annette lächelte weiterhin, als wüsste sie nichts von meinen Gedanken. „Sebastian und Pierre haben sich einfach sehr, sehr gern. Deswegen schläft Pierre lieber bei Sebastian als zu Hause.“
Ich überlegte kurz. „Ich hab Paul auch gern. Kann er dann auch bei mir schlafen?“
Annette lachte leise und schüttelte den Kopf. „Ja, Paul darf gerne mal bei dir übernachten – wenn seine Mama nichts dagegen hat. Aber erst, wenn du dich hier ein bisschen eingewöhnt hast.“
Ich nickte langsam. Das klang fair. Aber dann kam mir noch ein anderer Gedanke, und ich verzog das Gesicht. „Aber ich will nicht, dass Paul mich auch küsst!“
Annette lachte wieder. Warum lachte sie schon wieder? Ich verstand nicht, was daran so lustig war.
„Nein, keine Sorge,“ sagte sie schmunzelnd. „Sebastian und Pierre sind ein Paar. So wie Markus und ich. Oder so wie deine Mama und dein Papa.“
Ich blinzelte verwirrt. „Aber… das sind doch zwei Jungs?“
„Ja,“ sagte Annette ruhig. „Und das ist völlig in Ordnung. Manchmal verlieben sich Jungs in Jungs und Mädchen in Mädchen. Das ist genauso normal, wie wenn sich ein Junge und ein Mädchen lieben.“ Sie strich mir sanft über den Kopf. „Aber darüber musst du dir jetzt noch keine Gedanken machen. Später kannst du selbst entscheiden, mit wem du zusammen sein oder heiraten möchtest – Hauptsache, ihr habt euch lieb.“
„Muss man sich lieb haben, um zu heiraten?“
Annette schmunzelte. „Du stellst heute aber viele Fragen.“ Dann wurde ihr Blick etwas ernster. „Ja, ich denke schon, dass man sich liebhaben muss, um zu heiraten.“
Ich schwieg.
Ob sich Mama und Papa auch liebhaben?
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Warum streiten sie dann so oft?
Ein unangenehmer Gedanke schlich sich in meinen Kopf. War es wegen mir? Bin ich schuld, dass sie sich nicht mehr liebhaben?
Ob es ihnen jetzt besser geht, weil ich nicht mehr da bin?
Vielleicht streiten sie sich jetzt weniger. Vielleicht haben sie sich jetzt wieder lieb. Ohne mich.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Und was, wenn Markus und Annette auch irgendwann wegen mir streiten? Wenn sie dann auch böse auf mich sind? Wenn ich hier alles kaputt mache, so wie bei Mama und Papa?
Ich versuchte, den Gedanken wegzuschieben, aber er blieb hängen, schwer wie ein Stein in meinem Bauch.
Plötzlich riss Annette mich aus meinen Grübeleien.
„Hey, Erde an Florian?“ Ihre Stimme war sanft, aber ich konnte hören, dass sie merkte, dass ich wieder in Gedanken versunken war. „Über was denkst du nach?“
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte es nicht aussprechen.
Bevor sie weiter nachfragen konnte, klang eine Stimme durch den Hausflur:
„Schatz, bist du oben?“
Annette stand auf und ging zur Tür. „Ich bin hier oben bei Florian.“
Es klang nach Markus.
„Ich bin jetzt soweit durch. Ich fahre nochmal schnell zum Hans und hole die Bratwürste.“
„Okay, fahr vorsichtig,“ rief Annette zurück. Dann wandte sie sich wieder mir zu.
„Willst du mir beim Salat helfen? Oder lieber weiterspielen?“
Ich schluckte. Was soll ich machen? Ich wollte unbedingt mein Lego fertig bekommen. Ich wollte, dass die Bahn endlich fährt. Aber… wenn ich nicht helfe, ist Annette dann enttäuscht? Mag sie mich dann nicht mehr?
Ich stand auf. „Ich helfe beim Salat.“
Annette lächelte, und ich war froh, dass ich mich fürs Helfen entschieden hatte.
„Wir machen Kartoffelsalat,“ erklärte Annette, während sie ein Schneidebrett auf die Arbeitsplatte legte. „Die Kartoffeln habe ich schon gekocht.“
Sie griff nach einem Kochbuch im Regal, blätterte kurz darin und schlug dann eine Seite auf.
„Hast du schon mal Kartoffeln gepellt?“ fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
„Na, dann lernen wir das heute,“ sagte sie aufmunternd und stellte das Kochbuch vor mich hin. „Aber zuerst: Magst du das Rezept einmal vorlesen?“
Ich schaute auf die Seite. Die Buchstaben verschwammen ein wenig vor meinen Augen. Trotzdem begann ich langsam zu lesen.
„K… Kar— Kartoffelsalat mit… Essig und Öl.“
Bis hierhin ging es noch. Ich holte tief Luft und las weiter.
„Man… nimmt… ein… ein… Kil— Kilog…“ Ich stockte. Das Wort war zu lang.
„Kilogramm,“ half Annette mir.
„Kilogramm fest— festko… festkochende Kartoffeln,“ las ich weiter.
Ich versuchte, konzentriert zu bleiben, aber schon beim nächsten Satz verhaspelte ich mich wieder. „Man… gibt… äh… zwei… Ess— Esslöffel… ähm… Es… Essig und… und… eine halbe… ähm…“
Annette legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Soll ich es dir vorlesen?“
Ich nickte schnell, aus Angst, sie könnte vielleicht genervt sein. Doch statt dessen lächelte sie nur und begann, das Rezept in ruhigem Ton vorzulesen. Dabei zeigte sie mit dem Finger auf die Worte, damit ich mitlesen konnte.
Ich hörte aufmerksam zu. Dieses Mal verstand ich viel mehr.
„So, dann legen wir los,“ sagte sie. Sie nahm eine Kartoffel und zeigte mir, wie man die Schale vorsichtig mit den Fingern abziehen konnte.
„Die Schale geht ganz leicht ab, weil die Kartoffeln noch warm sind,“ erklärte sie.
Ich nahm eine Kartoffel in die Hand und versuchte es selbst. Zuerst war es ungewohnt, aber mit ein bisschen Übung bekam ich es hin.
„Sehr gut, Florian!“ lobte Annette mich.
Nach und nach schälte ich immer mehr Kartoffeln, und Annette schnitt sie in dünne Scheiben.
„So, was kommt als Nächstes?“ fragte sie mich, als wir alle Kartoffeln fertig hatten.
Ich überlegte kurz. Ich wusste es!
„Jetzt kommt der Essig und das Öl dazu,“ sagte ich sicher.
Annette grinste. „Richtig! Du hast ein super Gedächtnis.“
Sie ließ mich den Essig und das Öl abmessen und in die Schüssel geben. Danach kamen noch Zwiebeln, Senf, Salz und Pfeffer dazu. Immer wieder fragte sie mich, was als nächstes drankam, und jedes Mal wusste ich es, ohne ins Rezept zu schauen.
„Du merkst dir das echt gut, Florian,“ sagte sie anerkennend, während sie alles vermischte.
Ich fühlte mich ein bisschen stolz.
„So, jetzt probieren wir mal,“ meinte sie schließlich und hielt mir einen Löffel mit dem fertigen Kartoffelsalat hin.
Ich nahm vorsichtig einen Bissen. Der Salat schmeckte anders, als ich erwartet hatte – ein bisschen säuerlich vom Essig, aber irgendwie lecker.
„Schmeckt gut,“ sagte ich, und Annette lachte zufrieden.
Während wir zusammen in der Küche standen, bemerkte ich plötzlich, dass Sebastian auf einem Stuhl am Tisch saß und uns beobachtete. Er sagte nichts, schaute nur still zu.
Ich wusste nicht, wie lange er schon da war, aber es fühlte sich nicht unangenehm an. Vielleicht… vielleicht war es gar nicht so schlimm, mit ihm zusammen hier zu sein.
„Wollt ihr oben weiterbauen?“, fragte Annette und lächelte mich an. „Du hast mir schon super geholfen.“
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf sagen sollte. Mir machte das Bauen Spaß, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mich vor der Arbeit zu drücken, wenn ich jetzt einfach wieder spielen gehen würde. Ich sah zu Sebastian, der mich aufmunternd ansah. „Also, ich hätte jetzt Zeit“, sagte er. „Wir können aber auch auf den Hof und mal nach den Kühen schauen.“
Das klang gut. Beim letzten Mal war ich nur ganz kurz mit Annette bei den Kühen gewesen. Ich mochte Tiere, aber ich wusste nicht, ob sie mich auch mochten. Trotzdem reizte es mich, noch einmal in den Stall zu gehen.
„Dann könnt ihr gleich die Kartoffelschalen mitnehmen“, sagte Annette und deutete auf eine Schüssel mit den übrig gebliebenen Schalen.
Sebastian grinste. „Willst du die Kartoffelschalen an die Kühe verfüttern?“
Ich blinzelte überrascht. „Essen Kühe Kartoffelschalen?“
„Ja, die lieben Kartoffelschalen, wirst schon sehen.“
Annette nickte. „Wenn ihr in den Stall geht, muss Florian aber eine andere Hose anziehen.“
Ich sah sie fragend an. Warum eine andere Hose? War meine nicht gut genug? Hatte ich irgendwas falsch gemacht? Annette drehte sich zu Sebastian. „Kannst du ihm aus seinem Schrank eine Hose rausholen? Es müsste eine grüne Engelbert-Strauß-Latzhose sein. Ich stelle dir Gummistiefel an die Tür.“
Ich schluckte und folgte Sebastian nach oben. Während wir gingen, wurde ich nervös. Was, wenn er mir helfen wollte, die Hose anzuziehen und dabei meine Windel sah? Ich wollte nicht, dass er das bemerkte. Zum Glück schien er sich gar nichts dabei zu denken und wühlte kurz in meinen Sachen. „Mama hat an alles gedacht. Mensch, die ist wie immer auf alles vorbereitet“, sagte er schmunzelnd und zog eine grün-schwarze Latzhose hervor. „Zieh die an und komm dann runter. Ich ziehe mir auch schnell etwas anderes an.“
Ich war froh, dass ich mich nicht vor ihm umziehen musste. Nicht, dass er noch meine Windel sah. Schnell streifte ich meine Hose ab und legte sie ordentlich auf meinen Stuhl. Sie war ja noch sauber und kaum getragen. Dann zog ich die Latzhose an. Die Hosenträger waren viel zu lang. Ich bekam sie zwar hin, aber sie hingen mir von den Schultern und schlackerten bei jeder Bewegung.
Als ich nach unten lief, folgte Sebastian kurz darauf. Er trug auch eine Latzhose, aber in komplett grün. „Die Hosenträger müssen wir aber noch einstellen“, meinte er und griff einfach an meine Träger, um sie zurechtzuziehen. Ich hielt ganz still, während er daran herumzog. Es war mir unangenehm, aber ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte. Zum Glück war er schnell fertig. „So, jetzt passt das.“
An der Tür standen grüne Gummistiefel. „Ich glaube, das sind deine“, meinte er.
Ich setzte mich auf den Boden und zog sie an. Sie waren etwas klobig, aber passten gut. Gerade als ich fertig war, fragte Sebastian: „Was für eine Jacke soll er anziehen?“
„Bringe ich gleich“, antwortete Annette. „Ich entferne gerade das Etikett.“
Ich sah zu ihr hoch. Eine neue Jacke? Für mich? Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder unwohl fühlen sollte. Annette kaufte so viele neue Sachen für mich. Bestimmt denkt sie irgendwann, dass ich zu viel koste. Mama und Papa haben immer gesagt, dass ich mit dem zufrieden sein soll, was ich habe. Zu viele neue Sachen sind teuer und verschwenderisch.
Kurz darauf kam Annette mit einer blauen Jacke auf mich zu und half mir hinein. Der Stoff fühlte sich glatt und gummiartig an, ganz anders als die Jacke, die ich sonst immer getragen hatte. Auf dem Stoff waren ganz viele Wale abgebildet. Ich strich mit den Fingern darüber und fand die Oberfläche seltsam angenehm.
„Die kann man, wenn sie schmutzig wird, schön abwischen“, erklärte Annette mit einem Lächeln und reichte mir dann einen kleinen Eimer mit den Kartoffelschalen. „So, dann kann es losgehen.“
Ich nahm den Eimer und schluckte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
_______
Als ich die Tür öffnete, war es draußen schon dunkel. Und kalt. Sebastian ging voraus, aber ich zögerte.
Es war so dunkel. Zwar brannte überall Licht an den Gebäuden, aber dennoch war es mir unheimlich. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit. Morgens, wenn Annette mit mir zum Auto ging, war es nicht so schlimm. Außerdem war Annette immer bei mir.
Gerade in diesem Moment fuhr ein Auto auf den Hof. Ich hielt den Atem an, bis ich erkannte, dass es das Auto von Annette und Markus war.
„Schau, da kommt Papa“, sagte Sebastian.
Langsam lief ich die Treppe nach unten. Sebastian warf mir einen Blick zu. „Alles gut? Hast du Angst im Dunkeln?“
Ich schüttelte den Kopf, blieb aber stehen. Ich wollte es nicht vor ihm eingestehen. Bestimmt denkt er eh schon, dass ich ein Baby bin.
„Na dann komm“, meinte Sebastian und wandte sich wieder dem Auto zu.
Markus stieg gerade aus. „Na, ihr beiden? Wo wollt ihr denn hin?“
„Wir bringen die Kartoffelschalen zu den Kühen“, erklärte Sebastian.
„Ah, sehr gut. Die Tür vom Stall klemmt im Moment ein bisschen wegen der extremen Kälte.“
Sebastian nickte und streckte mir seine Hand entgegen. „Komm, lass uns schnell in den Stall gehen, nicht dass wir hier noch festfrieren.“
Zögerlich ergriff ich seine Hand. Es fühlte sich komisch an, im Dunkeln über den Hof zu laufen. Ob es hier Monster oder Wölfe gab? Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken.
Am Stall angekommen, musste Sebastian an der Tür ziehen. Ich beobachtete ihn neugierig.
„Weißt du, warum die Tür bei Kälte klemmt?“, fragte er mich.
Ich schüttelte den Kopf.
„Der Rahmen ist aus Metall und zieht sich bei Kälte zusammen. Die Tür ist aber aus Kunststoff und verändert sich nicht. Deshalb klemmt sie ein bisschen“, erklärte er. „Das lernst du später in Physik.“
Ich staunte. Es war genauso, wie Annette gesagt hatte – Sebastian wusste einfach alles.
Drinnen stieg mir sofort dieser kräftige Geruch nach Tieren in die Nase – eine Mischung aus warmem Heu, feuchter Erde und dem leicht süßlichen Duft von Kühen. Beim ersten Mal hatte mich der Geruch fast erschlagen, als ich mit Annette hier war, aber jetzt war er irgendwie vertrauter. Nicht unbedingt angenehm, aber auch nicht unangenehm. Einfach … so, wie es hier eben roch.
Es war wärmer als draußen, aber nicht wirklich warm. Der Boden bei den Kühen war mit Stroh bedeckt, und ich konnte das dumpfe Schmatzen und gelegentliche Muhen hören. Die Kühe standen in ihren Boxen – große, braune Tiere, einige mit sanften Augen, andere, die ein bisschen neugierig zu uns herüberschauten. Ich trat ein Stück näher, hielt mich aber trotzdem dicht bei Sebastian.
Es waren nur so wenige Kartoffelschalen und so viele Kühe.
„Möchtest du den Kühen die Schalen geben?“, fragte mich Sebastian.
Ich überlegte kurz. „Wenn wir die Schalen einfach hier reinkippen, bekommt doch nur eine Kuh etwas und die anderen nicht?“
Sebastian lachte. „Ja, das stimmt. Wir können sie aber auch einzeln füttern.“
Er nahm eine Schale, ging zu einer Kuh und hielt sie ihr auf einer flachen Hand hin. Sie schleckte sie einfach auf.
„Wichtig ist, dass du die Schale auf der flachen Hand hältst, damit sie nicht versucht, sie mit den Zähnen zu nehmen“, erklärte er. „Willst du es mal versuchen?“
Ich schluckte. Davor hatte ich Angst. Was, wenn ich es falsch machte und die Kuh aus Versehen meine Hand abbiss?
Ich schüttelte den Kopf.
„Komm, ich helfe dir. Es passiert nichts, versprochen!“
Ich zögerte. Ich würde es ja schon gerne versuchen, aber ich traute mich nicht.
Sebastian streckte seine Arme aus. „Komm, ich hebe dich hoch und helfe dir beim Füttern.“
Ich zögerte. Er war nicht Annette, auch wenn er nicht böse zu mir war.
„Komm, ich beiße nicht“, sagte er mit einem Lächeln.
Als ich immer noch nicht zu ihm kam, seufzte er. „Na gut, ich will dich nicht zu etwas zwingen, was du nicht möchtest.“ Damit senkte er die Arme wieder. „Lass uns etwas näher ran gehen.“
Ich folgte ihm zu den Kühen. Er nahm noch eine Schale und sagte: „Schau“, dann reichte er es derselben Kuh. Diese schleckte es wieder mit ihrer Zunge auf.
„Aber die anderen Kühe haben noch nichts bekommen“, meinte ich.
„Stimmt.“ Sebastian nahm eine weitere Schale und hielt sie der nächsten Kuh hin. Es sah lustig aus, wie die Kühe sie aufschleckten. Die Tiere schauten uns an, als wollten sie mehr. So gingen wir Stück für Stück vor dem Gatter entlang, bis nur noch wenige Schalen übrig waren.
„Willst du es nicht doch mal selbst probieren? Bisher hat mich auch keine Kuh gebissen“, scherzte Sebastian.
Ich wollte ja schon gerne, aber ich war immer noch ängstlich, was die Kühe anging. Dann kamen wir zu einer Kuh, die kleiner war als die anderen.
„Schau mal, das Kalb ist nicht so groß. Vielleicht willst du es hier versuchen“, schlug Sebastian vor.
Ich nickte vorsichtig, nahm ein Stück Schale aus dem Eimer und stellte ihn auf den Boden. Dann ging ich näher an das Geländer – aber zögerte wieder.
Sebastian hockte sich neben mich, nahm vorsichtig meine Hand und zeigte mir, wie ich sie halten sollte. Dann führte er meine geöffnete Hand langsam zur Kuh. Ich war nervös und spürte, wie es wieder warm in meiner Windel wurde.
Die Kuh kam näher und streckte ihre Zunge raus. Ich wollte schon zurückweichen.
„Warte, sie tut dir nichts“, sagte Sebastian beruhigend.
Dann schleckte die Kuh die Schale einfach auf. Es kitzelte und war warm – ein komisches Gefühl. Trotzdem zog ich schnell meinen Arm zurück, nicht dass sie doch noch zubeißt.
„Und, war das so schlimm?“ fragte Sebastian.
Ich schüttelte den Kopf. „Das hat gekitzelt! Und die Zunge war ganz warm!“ sagte ich aufgeregt.
„Willst du nochmal?“
Ich nickte. Ich wollte es nochmal probieren. Ich nahm eine neue Schale, aber die nächste Kuh war wieder groß.
„Soll ich dich diesmal hochheben, damit du besser drankommst?“ fragte Sebastian.
Ich zögerte, nickte dann aber. Er hob mich hoch. „Du bist ja leicht!“ lachte er.
Dann half er mir mit dem anderen Arm, die Kuh zu füttern. Diesmal hatte ich nicht so viel Angst. Die Zunge war größer, aber das Gefühl war dasselbe. Es machte Spaß. Als die Schalen leer waren, ließ er mich wieder runter. Meine Hand war jetzt ganz klebrig von den Zungen der Kühe.
„Ich möchte wieder ins Haus“, sagte ich zu Sebastian.
„Ja, das ist eine gute Idee“, antwortete er.
Wir liefen zurück zur Tür, und ich hielt den kleinen Eimer in der Hand.
„Hilfst du mir dann wieder beim Lego?“, fragte ich.
Sebastian überlegte. „Ich glaube, dass es dann bestimmt Abendbrot gibt. Papa hat bestimmt schon den Grill angeschmissen.“
„Was ist ein Grill?“, fragte ich neugierig.
Sebastian schaute mich erstaunt an. „Du weißt nicht, was ein Grill ist?“
Ich schüttelte den Kopf – ich wusste es wirklich nicht.
„Damit kann man etwas grillen, zum Beispiel Fleisch oder Gemüse. Stell dir ein Gitter aus Metall vor, darunter ist es ganz heiß – entweder durch Holzkohle oder durch eine Gasflamme. Es gibt auch Elektrogrills, aber Papa benutzt immer Gas“, erklärte er, während wir nach draußen gingen.
Hier war es wieder so kalt und dunkel. Ich fröstelte ein wenig.
„Wollen wir mal schauen, wo Papa mit dem Grill ist?“, fragte Sebastian.
Ich konnte mir immer noch nicht so richtig vorstellen, wie das aussah, also nickte ich.
Wir gingen nicht zur Haustür, sondern um das Haus herum. Diesen Teil kannte ich noch nicht.
„Ist der Grill nicht im Haus?“, fragte ich vorsichtig.
Sebastian lachte. „Nein, der steht bestimmt hinterm Haus im Garten.“
Ich blieb stehen. „Ich … ich will doch lieber rein“, murmelte ich.
Sebastian sah mich nachdenklich an. „Kann es sein, dass du im Dunkeln doch nicht so gerne bist?“
Ich nickte vorsichtig.
Sebastian hob mich hoch. „Na komm, wir schauen uns den Grill kurz an, und dann gehen wir rein, okay?“
Ich nickte wieder. Irgendwie fühlte ich mich doch sicher bei ihm. Vielleicht hatte Annette recht – er war wirklich lieb zu mir.
Sebastian trug mich zügig auf dem Arm hinter das Haus. Unter einem überdachten Bereich stand Markus an einem schwarzen Grill, aus dem leichter Dampf aufstieg. Als wir ins Licht traten, blickte er auf und lächelte uns entgegen.
„Hat bei den Kühen alles geklappt? Haben sie die Schalen gegessen?“, fragte Markus.
„Ja, hat super geklappt!“, antwortete Sebastian. „Florian wusste nicht, was ein Grill ist. Er will ihn sich mal anschauen.“
Damit reichte Sebastian mich an Markus weiter und übernahm eine lange Zange, mit der er die Würstchen drehte.
Markus, der mich nun auf dem Arm hielt, erklärte: „Schau mal, dort unten aus der roten Flasche kommt Gas. Weißt du, was das ist?“
Ich schüttelte wieder den Kopf. Irgendwie wusste ich nichts von den Sachen, die sie mich fragten.
Sebastian dachte kurz nach. „Gas ist so ähnlich wie Luft, man kann es nicht sehen. Aber es riecht komisch, damit man es bemerkt. Es kommt tief aus der Erde, und Erwachsene holen es da raus, damit wir damit kochen oder heizen können. Wenn man es anzündet, gibt es eine Flamme, die richtig heiß wird.“
Ich hörte aufmerksam zu. Jetzt verstand ich es ein bisschen besser.
Markus nickte. „Genau. Und weil Gas gefährlich sein kann, muss man damit ganz vorsichtig umgehen. Deshalb darfst du niemals an so einer Flasche herumspielen.“
„Mit Feuer darfst du auf keinen Fall spielen“, mahnte er.
Das wusste ich aber schon. Im Kindergarten hatten wir einen Feuerwehr-Tag, und in der Schule hatten wir das auch nochmal gelernt.
Markus setzte mich ab und sagte: „Geht am besten schon mal rein, es ist kalt. Ich bin gleich fertig.“
Annette öffnete eine Tür, die direkt ins warme, gemütliche Wohnzimmer führte.
„Seid ihr fertig draußen?“, fragte sie und sah uns an.
„Ja, und ich glaube, Florian hat heute auch etwas Neues gelernt!“, meinte Sebastian grinsend.
Annette lächelte mich an, während ich auf sie zulief, froh, endlich ins Haus zu können. Doch gerade als ich die Türschwelle übertreten wollte, schüttelte sie sanft den Kopf.
„Du kannst hier nicht rein!“, sagte sie mit einem freundlichen, aber bestimmten Ton.
Ich blieb abrupt stehen und blinzelte verwirrt. Warum nicht? Habe ich etwas falsch gemacht? Wieso darf ich plötzlich nicht mehr ins Haus? Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in mir aus. Hatte ich mich irgendwie schlecht benommen?
Bevor meine Gedanken weiter kreisten, erklärte Annette: „Ihr wart im Stall. Du musst vorne rein.“
Erleichterung mischte sich mit meiner Verwirrung, und ich sah zu Sebastian, der schmunzelte.
„Begleitest du Florian?“, fragte Annette ihn.
Sebastian grinste und hob mich spielerisch wieder auf den Arm. „Ich hätte ihn doch nicht alleine gehen lassen!“
Annette lachte und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, da hat jemand den kleinen Bruder bekommen, den er sich früher immer gewünscht hat.“
Sebastian trug mich wieder um das Haus herum bis zur Eingangstür. Dort setzte er mich vorsichtig neben den Schuhen ab und zwinkerte mir zu.
„Zieh dich aus, und dann gehen wir Hände waschen, ja?“
Ich schaute zu ihm hoch und nickte. Ob er dachte, dass ich das nicht alleine kann? Ich bin doch schon groß! Trotzdem zog ich brav meine Jacke aus und stellte meine Schuhe ordentlich daneben. Dann lief ich ins Gäste-WC, das direkt neben der Garderobe lag.
Ich drehte den Wasserhahn auf und spürte das kalte Wasser auf meinen Händen. Schnell griff ich nach der Seife und rieb meine Hände damit, bis es schön schäumte. Das fühlte sich irgendwie toll an, und die Seife roch richtig gut.
Plötzlich stand Sebastian hinter mir. „Das klappt ja super mit dir!“ sagte er und grinste.
Ich drehte mich zu ihm um und hob den Kopf. „Ich bin ja schon groß!“ sagte ich stolz.
Sebastian lachte leise. „Ja, das bist du. So habe ich das auch nicht gemeint.“ Dann strubbelte er mir durch die Haare.
Ich duckte mich weg und rannte schnell ins Wohnzimmer zu Annette.
„Hast du dir die Hände gewaschen?“ fragte sie sofort, als ich ins Zimmer kam.
„Ja, gerade eben!“ antwortete ich schnell und hielt ihr meine Hände zur Beweis hoch.
„Super!“ sagte sie lächelnd.
Sebastian kam kurz darauf hinterher, und wir setzten uns gemeinsam an den Tisch. Diesmal saß er neben mir, aber irgendwie störte es mich nicht mehr so wie am Anfang.
Markus kam mit einer großen Schüssel von draußen herein, stellte sie auf den Tisch und meinte: „Ich bin gleich wieder da.“ Dann verschwand er in Richtung Flur.
Annette goss mir etwas Wasser ein und gab einen dunklen Saft dazu. Markus kam zurück, setzte sich hin und fragte Sebastian: „Hat sich Pierre bei dir gemeldet?“
„Nein,“ antwortete Sebastian. „Aber Pünktlichkeit war ja noch nie seine Stärke. Fangt am besten schon an, ich warte noch kurz – vielleicht kommt er ja gleich.“
Annette öffnete die Schüssel, und der Duft der warmen Würstchen stieg mir sofort in die Nase. Sie rochen so gut, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. Sie legte mir eine Wurst auf den Teller und gab mir einen Löffel von dem Kartoffelsalat dazu.
„Brauchst du Ketchup dazu?“ fragte sie.
Ich schaute auf meinen Teller. „Weiß nicht…“ murmelte ich.
„Du kannst auch Senf probieren,“ schlug Markus vor.
„Oder beides,“ meinte Sebastian.
Ich nahm vorsichtig ein Stück Wurst und pustete kräftig darauf, bevor ich es in den Mund steckte. Sie war richtig heiß! Aber sie schmeckte genauso gut, wie sie roch. Ich aß sie komplett ohne Ketchup oder Senf.
Markus lachte. „Wenn ich das dem Hans erzähle, dass ein Siebenjähriger seine Wurst lieber pur genießt, freut ihn das bestimmt.“
Ich aß auch den Kartoffelsalat und trank meinen Saft aus.
„Möchtest du noch etwas?“ fragte Annette.
Ich schaute auf die Würstchen. Eigentlich war ich schon satt, aber sie schmeckten wirklich lecker.
„Möchtest du erstmal nur eine halbe?“ fragte Annette sanft.
Ich nickte, und sie schnitt eine Wurst durch, bevor sie mir eine Hälfte auf den Teller legte. Ich aß sie auch noch, auch wenn ich bei den letzten Bissen kämpfen musste. Mein Bauch war jetzt richtig voll.
„Ich glaube, wir sollten jetzt öfter grillen,“ sagte Markus mit einem schmunzeln.
„Das würde dir gefallen,“ meinte sie.
„Ja, daran könnte ich mich gewöhnen,“ grinste Markus.
„Wenn du das jeden Tag hättest, würde es langweilig werden,“ warf Sebastian ein.
„Ich merke schon, ihr könnt es mir nicht recht machen!“ Markus tat gespielt beleidigt, und alle lachten.
Dann hörte ich Geräusche aus dem Flur.
„Ich glaube, Pierre kommt,“ sagte Annette.
Als Pierre ins Wohnzimmer trat, wurde ich wieder nervös. Sein Blick wanderte kurz zu mir, dann zu Sebastian. Er sagte nichts, setzte sich aber neben ihn.
Ich gähnte. Plötzlich fühlte sich mein Körper schwer an. Die Müdigkeit griff nach mir.
„Ich glaube, da ist jemand reif fürs Bett,“ sagte Annette schmunzelnd. „Gehst du schon mal Zähne putzen? Ich komme gleich nach.“
Ich schaute sie an. „Liest du mir noch eine Geschichte vor?“
„Wenn du auch ein Stück liest,“ sagte sie mit einem Lächeln.
Ich nickte und lief schnell nach oben.
Als ich an der Tür angekommen war, rief Sebastian mir nach: „Schlaf gut, Florian.“
Ich drehte mich nochmal um. „Du auch.“
Dann lief ich weiter ins Bad und putzte mir schnell die Zähne.
Gerade als ich fertig war, kam Annette ins Badezimmer.
„Gehst du noch schnell duschen?“ fragte sie sanft.
Ich sah sie an. Eigentlich hatte ich keine Lust, aber ich wollte sie nicht enttäuschen. Also zog ich meine Sachen aus.
Annette nahm mir die Hose ab. „Den Rest kannst du in die Wäsche schmeißen. Haare brauchst du heute nicht waschen.“
Ich nickte und stieg schnell unter die Dusche.
Als ich wieder herauskam, hielt mir Annette bereits ein Handtuch hin. Danach half sie mir beim Anziehen meines Schlafanzugs.
„Warum ziehe ich mich nicht in meinem Zimmer um?“ fragte ich neugierig.
„Weil wir heute Sebastians Freund als Gast haben,“ erklärte sie ruhig. „Ich möchte nicht, dass du nackt über den Flur läufst, wenn andere da sind, okay?“
„Okay,“ antwortete ich und gähnte erneut.
„Ich freue mich auf die Geschichte…“ murmelte ich. „Hoffentlich muss ich nicht so viel lesen.“
Zusammen gingen wir in mein Zimmer. Annette machte mir auf dem Bett die Windel um, und ich kuschelte mich unter meine Decke. Ich hätte sie gerne gefragt, ob ich wieder bei ihr schlafen darf, aber sie hatte ja gestern gesagt, dass das eine Ausnahme war.
Annette hatte bereits ein Buch bereitgelegt und reichte es mir mit einem warmen Lächeln. „Der größte Schatz der Welt“ stand auf dem Einband, verziert mit einer bunten Illustration. Sie schlug eine Seite auf und wartete geduldig, bis ich begann zu lesen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und setzte langsam an. Doch schon nach den ersten Sätzen geriet ich ins Stocken. Manche Wörter kannte ich nicht, andere las ich falsch, und manchmal musste ich ganz von vorne anfangen. Meine Stimme klang unsicher, und je mehr ich mich bemühte, desto mehr fürchtete ich, Fehler zu machen. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, und war kurz davor, frustriert aufzugeben.
Doch Annette blieb geduldig. Sie lächelte ermutigend und sagte sanft: „Du gibst dir so viel Mühe, das finde ich richtig toll. Möchtest du, dass ich übernehme?“
Erleichtert nickte ich. Sofort fühlte sich mein Brustkorb weniger eng an, und ich ließ das Buch sinken. Annette begann ruhig und melodisch vorzulesen, ihre Stimme war angenehm weich. Ich lauschte aufmerksam, ließ mich von der Geschichte mitnehmen und spürte, wie meine Anspannung langsam wich.
Während sie las, zog ich meinen Pandi eng an mich und kuschelte mich in seine weichen Arme. Ohne nachzudenken, steckte ich mir den Daumen in den Mund. Das beruhigte mich, doch nur einen Moment später spürte ich, wie Annette mir sanft über den Kopf strich.
„Möchtest du vielleicht lieber den hier?“ fragte sie liebevoll und hielt mir meinen Nuni hin.
Ich hob den Blick und zögerte kurz, dann nickte ich leicht. Dankbar nahm ich den Nuni entgegen und steckte ihn in den Mund. Sofort fühlte ich mich sicherer, geborgener.
Annette las weiter, ihre Stimme wurde zu einem beruhigenden Klangteppich. Ich schloss die Augen, spürte die Wärme, die von ihr ausging, und kuschelte mich näher an sie. Der Nuni, Pandi und Annette – sie alle gaben mir ein Gefühl von Sicherheit.
Noch bevor sie die nächste Seite aufschlug, glitten meine Gedanken davon. Die Worte vermischten sich mit meinen Träumen, und ehe ich mich versah, war ich in einen tiefen, friedlichen Schlaf gesunken.
Annette:
Florian war während des Vorlesens ganz langsam in den Schlaf geglitten. Zuerst hatte er sich noch an mich gekuschelt, seinen Nuni im Mund und Pandi fest im Arm. Seine Augen wurden schwerer, seine Atemzüge gleichmäßiger, und schließlich spürte ich, wie sein kleiner Körper ganz entspannt wurde. Ich verstummte, ließ das Buch offen auf meinem Schoß liegen und betrachtete ihn einen Moment lang.
Eine warme Welle der Zuneigung durchströmte mich. In so kurzer Zeit war er mir so unglaublich ans Herz gewachsen. Dieser kleine Junge, der so viel durchgemacht hatte, lag nun in meinem Arm, völlig entspannt und friedlich schlafend. Ich strich ihm sanft über die Stirn und hauchte ihm einen leichten Kuss darauf. „Schlaf schön, mein Kleiner“, flüsterte ich leise, fast ehrfürchtig, als könnte ich mit meiner Stimme diesen kostbaren Moment zerstören.
Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung, ohne ihn zu wecken. Ich stand langsam auf, nahm die Decke und zog sie behutsam über ihn, sodass er es warm und gemütlich hatte. Ein leiser Seufzer entwich ihm, als er sich im Schlaf noch ein wenig zur Seite drehte. Ich beobachtete ihn noch einen Moment, dann nahm ich das Buch und legte es auf seinen Schreibtisch.
Bevor ich das Zimmer verließ, ließ ich die Tür einen Spalt weit offen, damit ich ihn im Notfall hören konnte. Dann schlich ich mich leise hinaus und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer.
Dort saßen Markus und Sebastian noch am Tisch, und Pierre hatte seinen Teller inzwischen auch fast geleert. Alle drei sahen mich erwartungsvoll an.
„Schläft er?“ fragte Markus leise.
Ich lächelte und nickte. „Ja, wir haben noch eine Geschichte gelesen… oder zumindest versucht. Er ist schon auf der zweiten Seite eingeschlafen.“
Markus grinste. „So viel Neues heute. Kein Wunder, dass er so schnell eingeschlafen ist.“
Ich ließ mich neben ihn auf die Couch sinken. „Ja, es waren wieder viele Eindrücke für ihn. Aber ich bin froh, dass er trotzdem so schnell zur Ruhe kommt.“ Dann wandte ich mich an Sebastian und musterte ihn mit einem wissenden Lächeln. „Er scheint dich zu mögen.“
Sebastian zuckte kaum merklich mit den Schultern, aber in seinen Augen lag eine ehrliche Zuneigung. „Ich mag ihn auch“, gab er zu. „Schade, dass er erst jetzt hier wohnt. Zwei, drei Jahre eher wäre es bestimmt auch schön gewesen, mit einem kleinen Bruder im Haus.“
Ich spürte, wie mein Herz warm wurde. „Das habe ich dir vorhin angesehen“, sagte ich. „Man kann ihn einfach nur liebhaben.“
Sebastian nickte nachdenklich, dann fragte er: „Was habt ihr morgen vor?“
Markus lehnte sich zurück. „Morgen früh kümmere ich mich um den Hühnerstall, der müsste mal wieder ausgemistet werden. Und am Nachmittag wollte ich deinen alten Trettraktor reparieren. Ich dachte, vielleicht kann Florian mir dabei helfen. Ich möchte ihm ein bisschen die Angst vor mir nehmen.“
Ich lächelte zustimmend. „Das ist eine schöne Idee. Ich kümmere mich um das Mittagessen und backe Kuchen für den Nachmittag.“ Dann wandte ich mich an Sebastian. „Wollt ihr euch morgen Vormittag um Florian kümmern?“
Sebastian nickte sofort. „Klar, ich hatte sowieso gehofft, noch etwas Zeit mit ihm verbringen zu können. Sonntagmittag müssen wir ja wieder los, Pierre muss Montag früh arbeiten.“
Ich spürte, wie sich in mir ein wohliges Gefühl breitmachte. Wir waren dabei, eine Familie zu werden – langsam, aber sicher. Florian hatte vielleicht einen schwierigen Start ins Leben gehabt, aber hier, in diesem Haus, würde er Geborgenheit finden.
Während ich mit Markus und Sebastian sprach, wanderte mein Blick immer wieder zu Pierre. Er saß ruhig da, sein Blick auf seinen Teller gesenkt, während er mit der Gabel gedankenverloren im Rest seines Essens herumstocherte. Es war, als wäre er gar nicht richtig anwesend, als würden seine Gedanken weit weg sein.
Ich kannte Pierre gut genug, um zu wissen, dass etwas in ihm arbeitete. Normalerweise beteiligte er sich an Gesprächen, machte Scherze oder gab zumindest eine knappe Bemerkung ab. Doch heute schien er in sich gekehrt, fast abwesend.
Ich ließ meinen Blick zu Sebastian schweifen. Er war ganz in das Gespräch vertieft, doch ich fragte mich, ob ihm Pierres Verhalten ebenfalls aufgefallen war. Ob bei den beiden alles in Ordnung war?
Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber eine leichte Unruhe machte sich in mir breit. Ich wollte nicht einfach darüber hinweg gehen. Vielleicht ergab sich morgen ein ruhiger Moment, in dem ich mit Sebastian unter vier Augen sprechen konnte. Ich wollte ihn nicht bedrängen, aber falls ihn oder Pierre etwas beschäftigte, sollte er wissen, dass er mit mir reden konnte.
Ich nahm mir fest vor, aufmerksam zu bleiben und ihm morgen die Gelegenheit zu geben, sich zu öffnen – wenn er es wollte.
Fortsetzung folgt…
Autor: michaneo | Eingesandt via Mail
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
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Schöne vortsetzung
Ich freue mich schon auf den nächsten Teil
Wiedermal Gut Gelungen Ich freue mich schon auf die Fortsetzung der Geschichte du solltest echt mal mit dem Gedanken werden Bücher zu schreiben und die bei Verlagen einzureichen ich bin mir sicher das die die fölich aus der Hand gerissen werden du hast eine Art zu Schreiben die Richtig in die Welt abtauchen lässt bester Author bisher finde ich
Das sehe ich auch so bester Author absolut Großartig Lg
Wieder ein super toller Teil.
Wundere mich wer da nur einen Stern gegeben hat.
Wieder ein toller weiterer Teil, danke für diese gute Geschichte.
Mach bitte genau so weiter.
Wieder sehr schön, ich hoffe es geht bald weiter.
Wieder ein Teil, der unheimlich einfühlsam geschrieben ist. Deine Geschichte ist und bleibt emotional auf einem unheimlich hohen Niveau und lässt mich auf das nächste Kapitel fiebern!
Super super
Mach bitte weiter so .
Danke
Man sollte Florians Eltern vor Gericht bringen .
Nur eine iddee
Meine Eltern sind nicht verurteilt worden
Aber super
Warze gespannt auf den nächsten Teil Danke
Wie immer ist das Gefühl eine tragende Rolle.
Stets in die unterschiedlichsten Blickwinkel betrachtet.
Ich liebe diese Geschichte Es ist schön zu sehen das er sich mit Sebastian schon so gut versteht ich finde es toll das er Lego so gern hat sehe ich mich selbst den ich liebe Lego auch Lg
Auch diesen Teil habe ich wieder förmlich „verschlungen“! Danke auch für diesen sehr gefühlvoll geschriebenen Teil mit seinen verschiedenen Blickwinkeln. Ich warte gespannt und ungeduldig auf den nächsten Teil.
Ein sehr schöner Teil, man kann sich in alle Charaktere hineinversetzen. Bitte weiter schreiben.
Absolut top, die Beschreibung der Situationen, des Schulalltags, des Ganges in den Supermarkt, der Begegnung neuer Mitmenschen für den Protagonisten und der Gefühle und Gedanken. Ich wünsche dir viel Erfolg beim Übergang des Schreibens von Winter auf Sommer, vom Kleinkind in den Lebensabschnitt eines Jugendlichen und beim Übergang zu einem Erwachsenen. Bislang zogen mich alle Kapitel in den Bann, dass ich eigentlich viel zu spät hier noch zum Lesen am Laptob bin, obwohl ich morgen wieder früh aufstehen muss!