Florians Schatten (8)
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Annette:
Nach dem herzlichen Abschied von Diana und Manfred stiegen wir ins Auto, um die Heimfahrt anzutreten. Während Markus den Wagen startete, schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Es waren etwa 30 Minuten Fahrt bis nach Hause, aber der Abend war noch lange nicht vorbei. Im Bus lagen die Möbel für Florians Zimmer, die wir noch zusammenbauen mussten, sowie die Einkäufe – all die Dinge, die wir für ihn besorgt hatten. Vorfreude mischte sich mit Müdigkeit. Es würde ein langer Abend werden, aber ein schöner und bedeutungsvoller.
Markus konzentrierte sich auf die Straße, während der Abend ruhig vor uns lag. Nach ein paar Minuten Stille fragte ich: „Und? Wie fühlst du dich jetzt, wo es ernst wird?“
Er blieb einen Moment still, bevor er antwortete. „Ich hatte nicht bedacht, wie viel eigentlich daran hängt, als ich dir vor Jahren von meinem Wunsch erzählt habe, einem Pflegekind ein Zuhause zu geben.“ Seine Stimme war ruhig, aber ich hörte den Ernst darin. „Das wurde mir erst in den letzten Monaten bei all den Infoveranstaltungen und Schulungen klar. Ich habe zwischendurch wirklich daran gezweifelt, ob wir das schaffen können.“
Diese Worte trafen mich unerwartet. Er hatte mir das bisher nie gesagt, obwohl wir sonst über alles redeten. Ich drehte meinen Kopf zu ihm, auch wenn er wegen der Straße nicht zurückschauen konnte. „Wirklich?“ fragte ich leise, meine Überraschung konnte ich schwer verbergen.
Er nickte leicht und fuhr fort: „Ich habe dir nichts davon erzählt, weil du so begeistert warst. Ich konnte sehen, wie sehr du dir das wünschst. Du hast regelrecht gestrahlt, wenn du darüber gesprochen hast. Aber ich habe gemerkt, dass ich damit zu kämpfen hatte. Heute Nachmittag habe ich lange mit Manfred gesprochen und ihm alles erzählt, was mich bewegt.“
Ich hörte aufmerksam zu. Seine Stimme war gleichmäßig, aber ich spürte, dass diese Worte tief aus seinem Inneren kamen. „Manfred hat mir zugestimmt, dass es eine Herausforderung wird. Er hat nichts beschönigt. Es wird uns sicher viel Kraft und Nerven kosten. Aber er hat auch gesagt, wie wichtig es ist, dass es Menschen wie uns gibt. Er meinte, für die Kinder, die man aufnimmt, tut man alles – genau wie für die eigenen leiblichen Kinder. Und das hat mich überzeugt.“
Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Ich weiß selbst, wie es ist, als Kind nicht ins Raster zu passen. Wie du weißt, habe ich im Heim viel durchgemacht. Ich habe gesehen, was passiert, wenn niemand für einen da ist.“ Seine Stimme klang jetzt leiser, fast nachdenklich. Ich wusste, wie schwer diese Erinnerungen für ihn waren. Oft hatten wir über seine Kindheit gesprochen – über die schlimmen Dinge, die er im Heim erlebt hatte, und wie lange er gebraucht hatte, um das zu verarbeiten.
Ich dachte daran, wie weit er es gebracht hatte. Trotz all der Herausforderungen war er ein einfühlsamer und starker Mann geworden. Wir waren jung Eltern geworden, er gerade einmal 20 und ich 19, als Sebastian zur Welt kam. Gleichzeitig hatten wir den Hof meiner Großeltern übernommen, der damals finanziell kaum auf stabilen Beinen stand. Wir hatten fast keine Rücklagen, und das wenige Geld was meine Eltern beigesteuert haben floss in notwendige Investitionen. Doch Markus hatte mit unermüdlichem Fleiß und Durchsetzungsvermögen dafür gesorgt, dass wir heute zwei Angestellte hatten und den Hof erfolgreich führten.
Markus riss mich aus meinen Gedanken, als er weitersprach: „Manfred hat mir erzählt, wie er und Diana ihre Pflegekinder immer wie eigene Kinder behandelt haben. Er sagte, für die eigenen Kinder tut man alles – egal, welche Hindernisse man überwinden muss. Das hat mir einen neuen Blickwinkel eröffnet. Ich freue mich jetzt darauf, unser neues Familienmitglied zu Hause willkommen zu heißen. Ich möchte ihm ein guter Vater sein. Und weißt du, was ich mir wünsche? Dass er uns eines Tages Mama und Papa nennt, so wie die Kinder von Manfred und Diana.“
Diese Worte berührten mich tief. Markus sprach selten so offen, und ich spürte, wie sehr er sich auf diese neue Aufgabe einließ. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und drückte ihn leicht. „Das wird er, Markus. Und wenn nicht gleich, dann irgendwann. Aber er wird es fühlen. Wir werden ihm zeigen, dass wir immer für ihn da sind.“
Er nickte, ohne mich anzusehen, weil er sich auf die Straße konzentrieren musste. Doch ich sah, wie sich seine Schultern entspannten, und wusste, dass wir auf dem richtigen Weg waren – nicht nur auf der Straße nach Hause, sondern auch in unserem neuen Leben mit Florian.
Zuhause angekommen, parkte Markus den Wagen auf dem Hof, stieg aus und warf einen Blick in Richtung der Ställe und Anlagen. „Ich schau kurz nach, ob alles in Ordnung ist,“ sagte er und machte sich zügig auf den Weg. Ich nickte und begann, alles, was ich allein tragen konnte, ins Haus zu bringen.
Die Einkaufstaschen mit Florians neuen Sachen stapelte ich im Eingangsbereich. Während ich sie auspackte, schnitt ich die Etiketten ab und sortierte die Kleidung nach Farben für die Waschmaschine. Es war fast meditativ, ein Moment der Ruhe nach einem langen Tag. Bald hatte ich zwei Wäschekörbe vorbereitet, bereit für die erste Ladung am nächsten Morgen.
Markus kam zurück, als ich gerade den zweiten Korb fertiggestellt hatte. „Und, wie sieht es aus?“ fragte ich ihn, während ich die Körbe zur Seite stellte.
„Elfi und Erik haben alles im Griff,“ antwortete er zufrieden. „Die Tiere sind versorgt, und das Kühlhaus läuft auch einwandfrei. Alles in bester Ordnung. Wollen wir jetzt die Möbel aus dem Auto holen?“
Ich nickte, unterbrach meine Arbeit und folgte ihm hinaus. Gemeinsam trugen wir die Möbelbauteile in Florians zukünftiges Zimmer. Die Freude darüber, bald alles einzurichten, machte die Schlepperei leichter. Als ich mir den Raum ansah, stellte ich mir vor, wie es sein würde, wenn alles fertig war. Der Gedanke, dass Florian hier bald sein eigenes kleines Reich haben würde, zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Doch ich wusste, dass wir heute nicht alles schaffen würden.
Markus begann mit dem Bett, während ich mich weiter um Florians Kleidung kümmerte. Ich sortierte die Sachen und programmierte die Waschmaschine für den nächsten Morgen. Danach ging ich zu Markus, um ihm beim Zusammenbauen des Bettes zu helfen. Wir arbeiteten schweigend, aber in einem vertrauten Rhythmus. Das Geräusch von Schrauben und Holz erfüllte den Raum.
Als das Bett schließlich stand, sahen wir uns an – beide erschöpft, aber zufrieden. „Das reicht für heute,“ sagte ich lächelnd. Markus nickte zustimmend, und wir machten das Licht im Zimmer aus.
Normalerweise war der Sonntag unser einziger Tag in der Woche, an dem wir ausschlafen konnten – zumindest, wenn keine Erntezeit war. Landwirtschaft kennt keine regulären Arbeitszeiten, und Tiere und Natur machen keinen Unterschied zwischen Werktagen und Feiertagen. Aber wir wussten beide, dass auch dieser Sonntag früh beginnen würde.
Völlig geschafft legten wir uns ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis der Schlaf uns übermannte. Die Gedanken an den nächsten Tag, an Florian und an all das, was vor uns lag, waren da – aber sie waren warm und hoffnungsvoll.
Am nächsten Morgen klingelte der Wecker erst um sechs – für uns war das fast wie Ausschlafen. Ich fühlte mich voller Tatendrang, bereit, den Tag zu beginnen. Markus – nun, Markus war ohnehin immer voller Energie. In all den Jahren gab es nur wenige Tage, an denen ich ihn jemals anders erlebt hatte.
Eine Ausnahme war das dritte Jahr, nachdem wir den Hof übernommen hatten. In dieser Zeit holte ihn seine Vergangenheit ein. Markus hatte lange die Schatten seiner Kindheit ignoriert, doch irgendwann waren sie so überwältigend geworden, dass er sich dem nicht mehr entziehen konnte. Es war eine dunkle Phase – für ihn, für mich und für uns als Familie. Doch Markus hatte den Mut, sich Hilfe zu holen. Über ein Jahr lang besuchte er regelmäßig einen Therapeuten, um das zu verarbeiten, was ihm in seiner Kindheit und Jugend widerfahren war.
Trotz allem hatten wir den Hof weiter am Laufen gehalten. Es war eine schwierige Zeit, aber wir gaben nie auf. Der Hof und vor allem Sebastian waren unser Anker. Ich denke, es war letztlich der Gedanke an Sebastian, der Markus vor dem Schlimmsten bewahrte. Die kleinen Momente mit unserem Sohn, in denen er Markus zum Lächeln brachte, waren wie Lichtblicke in der Dunkelheit.
Heute, so viele Jahre später, war Markus ein anderer Mensch. Die dunklen Wolken seiner Vergangenheit hatten sich verzogen, und an ihrer Stelle war ein gestärkter, einfühlsamer Mann getreten. Während ich mich im Halbdunkel des frühen Morgens anzog, wusste ich, dass wir heute – mit Florian – ein neues Kapitel begannen. Dieses Mal würden wir nicht nur für uns und unseren Sohn kämpfen, sondern auch für einen kleinen Jungen, der eine Familie brauchte, genauso wie Markus einst jemanden gebraucht hatte.
Nachdem Markus und ich schnell geduscht und uns für den Tag fertig gemacht hatten, bereitete ich das Frühstück vor. Während Markus bereits draußen auf dem Hof unterwegs war – vermutlich, um die Tiere zu versorgen und sicherzustellen, dass alles lief, wie es sollte –, stellte ich Teller, Besteck und Tassen auf den großen Esstisch. An den Sonntagen frühstückten immer alle gemeinsam, die anwesend waren, ob Familie oder Helfer. Markus hatte Elfi und Erik am Freitag gebeten, uns an diesem Wochenende zu unterstützen, und so freute ich mich, dass wir heute Morgen zusammen mit ihnen am Tisch sitzen konnten. Diese Tradition brachte etwas Gemeinschaft in unseren oft arbeitsreichen Alltag und half uns, kurz innezuhalten, bevor der Tag richtig begann.
Ich deckte den Tisch für vier Personen, legte frische Brötchen in einen Korb und stellte Aufschnitt, Käse und Marmelade bereit. Die Kaffeemaschine brummte leise im Hintergrund, und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee verbreitete sich in der Küche. Es war einer dieser Momente, in denen die Hektik des Alltags kurz zur Ruhe kam und man einfach das Zusammensein genießen konnte.
Nach etwa 20 Minuten hörte ich Schritte und gedämpftes Lachen vom Hof her. Die Küchentür öffnete sich, und Markus kam zusammen mit Erik und Elfi herein. Ihre Gesichter waren wie immer von der frischen Morgenluft gerötet, und sie begrüßten mich herzlich.
„Morgen, Annette,“ sagte Erik mit einem breiten Lächeln. Er war seit drei Jahren bei uns und hatte sich von Anfang an gut eingefügt. Mit seiner jugendlichen Energie und seinem frischen Wissen aus der Ausbildung war er eine große Bereicherung für den Hof. Ich war froh, dass er sich damals für uns entschieden hatte. Seine Begeisterung für die Arbeit und sein Verantwortungsbewusstsein waren nicht selbstverständlich.
„Guten Morgen, Annette,“ sagte Elfi mit ihrer gewohnt herzlichen Stimme, während sie sich die Hände an einem Tuch abtrocknete. Sie hatte schon frühmorgens mit Markus gearbeitet, doch ihre Energie schien unerschöpflich. Elfi war seit zehn Jahren bei uns, eine echte Institution auf dem Hof. Früher hatte sie selbst einen Hof betrieben, musste ihn aber aus finanziellen Gründen aufgeben. Ihre Erfahrung war unschätzbar, und ich hoffte inständig, dass sie uns noch viele Jahre erhalten blieb.
Mit ihren 60 Jahren war Elfi immer noch beeindruckend fit, sowohl körperlich als auch geistig. Manchmal staunte ich darüber, wie sie uns alle bei der Arbeit in den Schatten stellte – und das mit einem Scharfsinn, der ihresgleichen suchte. Aber am meisten liebte ich ihren Humor. Ihre Kommentare und Anekdoten brachten uns oft zum Lachen und lockerten selbst die stressigsten Tage auf.
„Das riecht ja gut,“ sagte Elfi, während sie sich an den Tisch setzte und mich schelmisch ansah. „Na, Annette, was hast du diesmal ausgeheckt? Oder hat Markus dich heute in Ruhe machen lassen?“
Ich lachte. „Heute durfte ich alleine schalten und walten, aber das kann sich ja schnell ändern.“
Die drei setzten sich an den Tisch, und wir begannen, das Frühstück zu genießen. Es war eine Mischung aus lockerem Gespräch, ein paar Geschichten von der Arbeit der letzten Woche und, natürlich, Elfis typischem Humor. Diese Momente, so einfach sie waren, erinnerten mich daran, warum ich unsere kleine Gemeinschaft so schätzte. Es war mehr als nur Arbeit – es war ein Miteinander, das den Hof zu einem Zuhause machte.
Elfi grinste verschmitzt, während sie sich eine zweite Scheibe Brot schmierte. „Na, also wenn hier bald ein kleiner Mann einzieht, dann hoffe ich, dass ihr mich nicht übergeht und mir rechtzeitig Bescheid sagt, wenn ich Babysitter spielen darf. Ich kann nämlich hervorragend Geschichten erzählen – wenn auch manchmal mit etwas… kreativer Ausschmückung.“ Sie zwinkerte mir zu und fügte hinzu: „Aber wehe, er mag keine Kühe. Das geht auf diesem Hof nämlich nicht.“
Alle lachten, und Markus schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass Florian schnell lernt, Kühe zu lieben – spätestens, wenn du ihm deine Geschichten erzählst, Elfi.“
„Oh, das hoffe ich doch,“ erwiderte sie mit gespielter Empörung. „Ein Kind, das Kühe nicht mag, könnte ich nicht ertragen! Aber im Ernst, ich freu mich wirklich. Es wird bestimmt schön, wieder Kinderlachen auf dem Hof zu hören.“
Nach diesem Moment der Heiterkeit wurde das Gespräch etwas ernster. Ich räusperte mich. „Wir wollten euch nur vorwarnen, dass die nächsten Tage etwas anders ablaufen werden. Es gibt noch einiges, das wir für Florian vorbereiten müssen. Wir haben gestern schon einen Anfang gemacht, aber es liegt noch viel vor uns. Markus und ich entschuldigen uns schon mal im Voraus, falls wir euch mehr als sonst beanspruchen.“
Erik winkte ab. „Ach, macht euch keine Sorgen. Das kriegen wir schon hin. Schließlich hilft man sich doch gegenseitig. Ihr macht auch immer alles möglich, wenn wir mal Hilfe brauchen oder einen Termin haben.“
Elfi nickte zustimmend. „Genau, und wenn ich dafür ein paar Nächte die Kühe überreden muss, leiser zu muhen, dann mach ich das. Alles für unseren neuen Hofbewohner.“
Nachdem wir das Frühstück beendet hatten, räumten wir gemeinsam den Tisch ab. Es tat gut zu wissen, dass wir auf Elfi und Erik zählen konnten. Ihre Gelassenheit und Unterstützung nahmen uns eine große Last von den Schultern. Während ich die letzte Tasse in die Spülmaschine stellte, dachte ich über Elfis Worte nach. Ihre Bemerkung über die Kühe brachte mich zum Lächeln. Sie hatte so eine Art, alles leichter zu machen, selbst wenn die Tage lang und die Arbeit schwer war.
Während Markus und ich uns in Florians zukünftiges Zimmer zurückzogen, spürte ich eine Mischung aus Vorfreude und leichter Überforderung. Ich schaute mich um, betrachtete die Kartons, die wir gestern Abend noch hereingetragen hatten. Es gab noch so viel zu tun, aber ich wollte, dass alles perfekt war, bevor Florian ankam.
„Also, womit fangen wir an?“ fragte Markus und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
„Der Schrank,“ antwortete ich und deutete auf die Kartons. „Wenn wir den geschafft haben, wirkt der Rest wie ein Kinderspiel.“
Markus nickte und öffnete die Kartons. Gemeinsam nahmen wir die Teile heraus und legten sie sortiert auf den Boden. Ich griff nach der Bauanleitung, die obenauf lag, und begann, die Schrauben, Dübel und Bretter zuzuordnen. Es fühlte sich fast wie ein Ritual an, etwas gemeinsam zu schaffen, Schritt für Schritt, Stück für Stück. Dabei spürte ich, wie sich die Anspannung des Morgens langsam löste. Ich wusste, dass Markus nicht nur körperlich arbeitete – er ließ sich auch emotional immer mehr auf die Situation ein. Das machte mich glücklich.
Während wir die ersten Bretter zusammenschraubten, warfen wir uns hier und da einen Scherz zu. „Ich hoffe, das Ding bleibt stehen,“ murmelte Markus, als er die letzte Schraube am unteren Teil des Schranks festzog.
„Ach, ich werde dir schon helfen, es zusammenzuhalten,“ antwortete ich mit einem Lächeln. Es war nicht nur als Scherz gemeint – ich wollte wirklich, dass wir ein Team bleiben, für Florian und für uns.
Nachdem der Schrank endlich stand, wischte ich mir die Hände an meiner Jeans ab und betrachtete unser Werk. Es war ein einfacher Schrank, nichts Besonderes, aber ich stellte mir vor, wie Florian seine kleinen Sachen darin verstauen würde. Dieser Gedanke machte mich glücklich.
„Eine Pause wäre jetzt nicht schlecht,“ sagte ich schließlich, als ich mich auf die Fensterbank setzte. Markus nickte und verschwand in die Küche, um uns etwas zu trinken zu holen.
Während ich allein im Zimmer war, ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Es war noch lange nicht fertig, aber man konnte schon erahnen, wie gemütlich es werden würde. Ich stellte mir vor, wie Florian hier saß, vielleicht mit einem Buch in der Hand oder auf dem Boden spielte. Der Gedanke erfüllte mich mit Wärme. Ich wollte, dass er hier ein Zuhause findet, einen Ort, an dem er sicher sein und einfach Kind sein konnte.
Mein Blick wanderte zu den Kisten, die ich noch sortieren wollte. Ich erinnerte mich daran, dass ich nach der Pause die erste Ladung Wäsche aufhängen musste. Die Körbe standen bereits bereit, und es fühlte sich gut an, wenigstens eine Kleinigkeit abzuhaken. All diese kleinen Vorbereitungen hatten etwas Beruhigendes – ein Schritt nach dem anderen, bis alles an seinem Platz war. Es war, als ob ich mit jeder Aufgabe, die ich erledigte, ein Stück mehr Sicherheit für Florian schaffen konnte.
Markus kam mit zwei Gläsern Limonade zurück und reichte mir eines. „Prost,“ sagte er und lächelte.
„Prost,“ erwiderte ich. Wir stießen an, und für einen Moment fühlte es sich an, als würde die Zeit stillstehen. Trotz der Arbeit und all der Dinge, die noch vor uns lagen, war ich glücklich. Ich hatte das Gefühl, dass wir auf dem richtigen Weg waren – für uns und für Florian.
Florian:
Als ich erwachte, war es still im Zimmer. Ein wenig Licht schimmerte durch die Rollläden und warf weiche Muster an die Wände. Ich blinzelte, noch ganz verschlafen., und spürte etwas in meinem Mund. Reflexartig griff ich danach und hielt den Schnuller in der Hand, den ich gestern Abend benutzt hatte. Ich starrte ihn einen Moment lang an. Das Gefühl, daran zu nuckeln, war irgendwie schön gewesen – beruhigend. Aber gleichzeitig fühlte ich mich ein bisschen komisch, fast so, als sollte ich das nicht. Es war mir peinlich.
Nach kurzem Überlegen entschied ich, den Schnuller auf den Nachttisch zu legen. Doch der Gedanke, dass jemand ihn dort sehen könnte, gefiel mir nicht. Also öffnete ich die kleine Schublade am Nachttisch und legte ihn hinein. Sicher verstaut. Die Schublade klickte leise zu, und ich richtete mich auf.
Langsam stieg ich aus dem Bett. Dabei spürte ich die schwere Windel zwischen meinen Beinen. Dieses Gewicht erinnerte mich daran, dass ich es nicht schaffe, trocken zu bleiben. Es war mir unangenehm, aber ich versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben. Doch dann spürte ich es wieder: das bekannte Drücken. Ich wusste, dass ich es nicht rechtzeitig bis zur Toilette schaffen würde, also ließ ich es einfach los. Es war nicht viel, und diesmal blieb die Windel dicht – ein kleiner Trost.
Ich griff nach Pandi, meinem Stoffpanda, der neben mir im Bett gelegen hatte. Er war weich und vertraut, und ich drückte ihn fest an mich. Mit ihm in der Hand lief ich zum Fenster. Ich wollte die Rollläden hochziehen, damit mehr Licht ins Zimmer fiel. Das Band, an dem ich ziehen musste, war etwas zu hoch für mich, aber ich wollte es trotzdem versuchen. Mit Pandi unter dem Arm streckte ich mich so weit ich konnte und bekam das Band gerade eben zu fassen. Ich zog daran, aber es bewegte sich kaum. Also versuchte ich es noch einmal, diesmal mit mehr Kraft.
Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir. „Warum legst du deinen Panda nicht kurz beiseite und nimmst beide Hände?“ Erschrocken drehte ich mich um und sah Leni, die im Türrahmen stand und mich anlächelte. Sie hatte ihre Arme verschränkt und beobachtete mich mit einem amüsierten, aber warmen Blick.
„Ich will Pandi nicht loslassen,“ murmelte ich, drehte mich schnell wieder um und zog weiter an dem Band. Es war mir peinlich, dass sie mich so sah – wie ich mich mit Pandi abmühte und die Rollläden kaum bewegen konnte. Aber ich wollte es trotzdem allein schaffen.
Leni kam näher und streckte plötzlich einen Arm über mich hinweg. Mit einem kräftigen Ruck zog sie das Band, und die Rollläden ratterten nach oben. Das Zimmer wurde von Licht durchflutet. Ich hielt Pandi noch fester an mich gedrückt und blieb stumm.
„Geschafft,“ sagte sie und klang dabei fast ein bisschen stolz. Ich drehte mich zu ihr um und sah, wie sie mich freundlich anlächelte. „Manchmal ist es okay, sich helfen zu lassen, weißt du?“
Ich sagte nichts, sondern blickte verlegen zu Boden. Innerlich war ich froh, dass sie da war. Sie hatte es einfach gemacht, ohne mich auszulachen oder mir das Gefühl zu geben, ich hätte versagt.
Leni beobachtete mich kurz, bevor sie mit einem warmen Lächeln meinte: „Mama schläft noch. Wie wäre es, wenn wir schon mal den Frühstückstisch decken?“
Ihre Frage überraschte mich, aber die Idee gefiel mir sofort. Ich hatte zwar keinen Hunger, aber der Gedanke, etwas tun zu können, machte mich irgendwie glücklich. „Darf ich auch mithelfen?“ fragte ich schüchtern.
Leni nickte. „Natürlich! Aber zuerst solltest du deine Windel wechseln.“
Sofort senkte ich verlegen den Blick. Es war mir wieder einmal peinlich, obwohl ich wusste, dass es niemandem hier etwas ausmachte. Leni schien das zu merken, denn sie legte ihre Hand sanft auf meinen Kopf. „Das ist wirklich nichts Besonderes, Flori. Ich trage nachts auch noch welche, und Nathanael hat bis er 11 war tagsüber oft noch welche gebraucht.“
Ich wusste, dass Leni und sogar Nathanael – der immer so selbstbewusst wirkte – ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, aber es fiel mir schwer, mir das wirklich vorzustellen. Es war ein seltsames Gefühl, fast ein bisschen tröstlich, aber auch beängstigend. Würde ich auch so lange Windeln brauchen? Der Gedanke machte mich unsicher.
„Kannst du die Windel schon selbst wechseln?“ fragte Leni plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken.
„Ich weiß nicht,“ antwortete ich zögerlich.
„Trägst du eine richtige Windel oder eine zum Hochziehen?“ fragte sie ruhig.
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. „Eine zum Kleben,“ murmelte ich leise.
Leni hockte sich vor mich, sodass unsere Augen auf einer Höhe waren. „Weißt du, wo die Windeln im Badezimmer sind?“
Ich nickte.
„Gut,“ fuhr sie fort. „Dort findest du auch welche zum Hochziehen. Geh einfach ins Badezimmer, mach die Klebewindel ab, dusch dich kurz, und zieh dann eine von den Hochziehwindeln an. Ich lege dir frische Kleidung aufs Bett. Wenn du fertig bist, komm einfach in die Küche, okay? Dann kannst du mir helfen.“
Ich nickte erneut, unsicher, ob ich das alles wirklich alleine schaffen würde. Trotzdem machte ich mich langsam auf den Weg ins Badezimmer.
Im Badezimmer zog ich zuerst meine Schlafanzughose und mein Oberteil aus. Einen Moment lang stand ich unschlüssig da. Wohin mit den Sachen? Es fühlte sich seltsam an, weil sie trocken waren. Zuhause war meine Kleidung am Morgen oft nass gewesen, und ich hatte immer versucht, sie heimlich in die Waschmaschine zu stecken oder in meinem Zimmer zu verstecken. Später hatte ich sie unauffällig unter die schmutzige Wäsche in der Waschmaschine gemischt, damit niemand es bemerkte und ich keinen Ärger bekam.
Nach kurzem Zögern legte ich die Kleidung schließlich auf den Hocker. Es fühlte sich fremd an, sie einfach so dazulassen, aber ich wusste nicht, wohin sonst.
Dann öffnete ich vorsichtig die Klebewindel. Der erste Streifen löste sich leicht, der zweite war etwas hartnäckiger, aber schließlich bekam ich ihn ab. Die Windel rutschte schwer zu Boden. Schnell hob
ich sie wieder auf und versuchte, sie zusammenzurollen, so wie ich es gestern gesehen hatte. Es sah eher aus wie ein zerknülltes Handtuch, aber sie passte in die Öffnung des Windeleimers.
Ich stieg unter die Dusche und drehte das Wasser auf. Das warme Wasser fühlte sich wie eine Umarmung an, und die Seife, die Diana mir hingestellt hatte, roch wieder so toll. Es war ein frischer, beruhigender Duft, den ich nicht kannte, aber mochte. Ich nahm mir Zeit, mich gründlich zu waschen. Es war, als würde das Wasser alles Schwere von mir abspülen.
Als ich fertig war, griff ich nach dem Handtuch, das über der Heizung hing. Es war warm und weich, so anders als die muffigen und kratzigen Handtücher, die ich von Zuhause gewohnt war. Ich wickelte mich ein und blieb einen Moment einfach so stehen. Das fühlte sich gut an.
Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, öffnete ich den Schrank mit den Windeln. Dort lagen viele verschiedene Packungen ordentlich nebeneinander gestapelt: bunte Packungen mit Tieren darauf, einige mit großen Zahlen und andere mit schlichten Mustern. Einen Moment lang schaute ich auf die Reihen, unsicher, welche ich nehmen sollte.
Mein Blick blieb an einer Packung hängen, deren Windeln ähnlich aussahen wie die, die ich gestern getragen hatte – zumindest fast. Das Motiv war anders: Statt eines Bären war ein Nilpferd darauf abgebildet. Ich nahm eine Windel aus der Packung und hielt sie einen Moment in der Hand. Sie fühlte sich weich und angenehm an, anders als die Klebewindeln. Es war ein gutes Gefühl, sie selbst aussuchen zu können.
Vorsichtig zog ich die Hochziehwindel an. Sie saß zwar nicht so gut wie die Klebewindeln, aber sie passte. Und vor allem hatte ich sie ganz allein angezogen, ohne Hilfe. Das gab mir ein kleines Gefühl von Stolz.
Mit der Windel bekleidet ging ich zurück in mein Zimmer. Auf dem Bett lagen die Sachen, die Leni hingelegt hatte: eine Jeans, ein Pulli mit einem kleinen Bagger darauf und frische Socken. Ich schaute die Sachen kurz an und lächelte. Es waren schöne, neue Sachen – keine alten oder kratzigen Kleidungsstücke, die ich von irgendwoher bekam.
Ich zog mich an und achtete dabei darauf, dass die Windel nicht verrutschte. Das Hochziehen der Jeans über die Windel fühlte sich ungewohnt an, aber es ging. Der Pulli war warm und weich, und ich mochte das Bild des Baggers darauf. Es war, als wäre er nur für mich gemacht worden. Ich fühlte mich… wohl.
Fertig angezogen schlüpfte ich in meine Hausschuhe und lief die Treppe hinunter. In der Küche sah ich Leni, die gerade Teller in den Händen hielt. Sie blickte zu mir und lächelte. „Da bist du ja. Bereit, mit anzupacken?“
Ich nickte eifrig. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich wirklich nützlich – und das fühlte sich richtig gut an.
Leni reichte mir die Teller, und ich stellte sie vorsichtig auf den Tisch. Dabei bemerkte ich, dass nur drei Teller da waren. „Warum nur drei Teller?“ fragte ich neugierig.
Leni lächelte, während sie den Kühlschrank öffnete. „Nathanael und Papa sind schon früh los, sie sind beim Fußball. Die beiden haben bereits gefrühstückt.“ Sie deutete auf das Babyphone auf der Arbeitsplatte. „Papa hat es mir mitgebracht, damit Mama länger schlafen kann. Er meinte, ich höre dich sowieso, wenn du wach wirst.“
Ich nickte, froh, dass ich jetzt helfen konnte. Leni holte eine Dose Wurst und ein Glas Marmelade aus dem Kühlschrank. „Hier, die kannst du schon mal auf den Tisch stellen,“ sagte sie. Ich trug die Sachen vorsichtig hinüber und platzierte sie neben den Tellern.
„Willst du die Brötchen auf das Backblech legen?“ fragte Leni, als sie die Packung öffnete.
„Ja, das mache ich!“ rief ich begeistert.
Leni holte einen kleinen Tritt aus der Ecke, damit ich besser an die Arbeitsfläche kam. Ich kletterte darauf und begann, die Brötchen ordentlich auf das Blech zu legen. Jedes bekam seinen Platz, und ich schob sie vorsichtig hin und her, bis alles genau richtig war.
„Gut gemacht!“ lobte Leni, als ich fertig war. Sie nahm das Blech und schob es vorsichtig in den Ofen. „So, jetzt brauchen die Brötchen ein bisschen. Möchtest du schon etwas trinken?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wasser,“ murmelte ich leise.
Leni runzelte die Stirn. „Wirklich? Wasser zum Frühstück? Du kannst auch Saft, Kakao oder Milch haben.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wasser ist okay,“ wiederholte ich leise.
Sie kniete sich vor mich hin und sah mich an. „Flori, du darfst sagen, was du möchtest. Es ist alles da, und niemand wird dir etwas vorhalten.“
Ihre Worte klangen einleuchtend, aber ich fühlte mich trotzdem unsicher. Ich blieb bei meiner Wahl, und sie brachte mir ein Glas Wasser. Als sie es vor mich stellte, lächelte sie warm. „Wenn du später doch etwas anderes möchtest, sag einfach Bescheid.“
Ich nickte dankbar. Innerlich war ich froh, dass sie nicht weiter darauf bestand. Es fühlte sich gut an, dass sie mich verstand.
Ich war gerade dabei, die Messer auf den Tisch zu legen, als ich Schritte aus dem Flur hörte. Die Geräusche ließen mich innehalten, und ein leises Kribbeln lief über meinen Rücken. Kurz darauf öffnete sich die Küchentür, und Diana trat lächelnd ein. Sie sah aus, als hätte sie richtig gut geschlafen. „Guten Morgen, ihr zwei,“ sagte sie mit ihrer gewohnt warmen Stimme.
Leni, die gerade die Butter aus dem Kühlschrank geholt hatte, drehte sich sofort um und lief zu Diana. Ohne zu zögern schlang sie die Arme um sie und drückte sich fest an sie. Diana lachte leise, strich ihr über den Kopf und sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich blieb wie angewurzelt stehen und schaute zu.
Dieses Bild – Leni, wie sie so selbstverständlich Diana umarmte, und Dianas liebevolle Reaktion – ließ etwas in mir zusammenziehen. Es fühlte sich an wie ein kleiner Stich, tief drinnen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals meine Mama so umarmt zu haben. Eigentlich konnte ich mich gar nicht daran erinnern, meine Eltern jemals umarmt zu haben. Vielleicht, weil es nie dazu gekommen war. Vielleicht, weil ich es nicht verdient hatte. Der Gedanke ließ mir die Kehle eng werden.
Ich senkte den Blick und schob ein Messer ein Stück weiter über den Tisch, versuchte mich zu beschäftigen, damit ich nicht weiter darüber nachdenken musste. Aber die Gedanken ließen mich nicht los. Vielleicht war ich einfach nicht gut genug gewesen. Ich hätte mich mehr anstrengen müssen, hätte besser sein müssen. Wenn ich meinen Eltern nur gezeigt hätte, dass ich etwas kann, dann hätten sie vielleicht… ja, vielleicht hätten sie mich dann auch einmal so angesehen wie Diana jetzt Leni.
„Florian?“ Dianas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Kopf und sah, dass sie mich anschaute, mit einem Ausdruck von Besorgnis und Wärme. „Alles in Ordnung? Was hast du denn?“ fragte sie sanft. Dann lächelte sie. „Darf ich dich auch umarmen?“
Ihre Frage brachte mich aus dem Gleichgewicht. Eine Umarmung? Von Diana? Ich mochte sie schon irgendwie, aber sie war ja nicht meine Mama. Und eine Umarmung – das war etwas, das sich für mich fremd anfühlte. Bei Annette auf dem Arm hatte es schön und sicher gewirkt, aber jetzt… jetzt wusste ich nicht, was ich fühlen sollte. Es war, als ob ein Knoten in mir war, den ich nicht lösen konnte.
Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Oh nein. Nicht hier. Nicht vor Diana. Nicht vor Leni. Ich konnte einfach nicht. Ohne ein Wort zu sagen, drehte ich mich um und ging an ihnen vorbei aus der Küche. Ich hörte Diana noch etwas sagen, aber ich war zu aufgewühlt, um darauf zu achten. Meine Füße trugen mich automatisch die Treppe hoch, und ich flüchtete in das Zimmer.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, liefen mir die Tränen heiß über die Wangen. Ich lehnte mich gegen die Tür und ließ mich langsam auf den Boden sinken. Hier war ich sicher. Hier musste ich mich nicht zusammenreißen oder so tun, als wäre alles in Ordnung. Die Gedanken rasten in meinem Kopf, und die Tränen wollten nicht aufhören. Gleichzeitig fühlte ich mich ein bisschen erleichtert, allein zu sein. Niemand sah mich hier, niemand konnte mich beurteilen. Ich zog die Knie an meine Brust, legte den Kopf auf die Arme und ließ meinen Gefühlen freien Lauf.
Es klopfte leise an meiner Zimmertür, und ich hörte Dianas Stimme. „Florian, darf ich reinkommen?“ fragte sie vorsichtig.
Ich zog die Knie noch fester an meine Brust und wischte mir schnell mit dem Ärmel übers Gesicht, auch wenn die Tränen immer weiterkamen. Meine Stimme war zittrig und gebrochen, als ich antwortete: „Nein!“
Ich wollte nicht, dass sie hereinkam. Ich wollte nicht, dass sie mich so sah. Ich wollte einfach allein sein.
„Okay, ich verstehe das,“ sagte Diana nach einer kurzen Pause, und ihre Stimme klang weder böse noch enttäuscht. Sie sprach ruhig, fast sanft, als sie hinzufügte: „Wenn ich dir helfen kann, sag bitte Bescheid. Auch wenn du irgendwann darüber reden möchtest. Ich möchte, dass du weißt, dass du uns alles erzählen kannst, was dich beschäftigt oder bedrückt. Niemand wird dich auslachen, und niemand ist böse auf dich. Wir wollen nur, dass es dir gut geht.“
Ihre Worte drangen durch die Tür zu mir, und für einen Moment fühlte ich mich nicht mehr ganz so allein. Trotzdem konnte ich nichts sagen, nichts erwidern. Ich blieb still, mit dem Gesicht auf meine Knie gepresst, und wartete, ob sie noch etwas sagen würde.
Nach ein paar Minuten hörte ich, wie sich ihre Schritte von der Tür entfernten und langsam die Treppe hinuntergingen. Es war, als hätte sie verstanden, dass ich jetzt Zeit für mich brauchte. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, aber auch schwer – als hätte ich eine Chance verpasst, die ich nicht greifen konnte. Doch für jetzt war ich froh, allein zu sein.
Nach einer Weile klopfte es erneut an der Tür, diesmal sanfter als zuvor. „Florian, ich habe hier etwas zu trinken für dich. Darf ich reinkommen?“ fragte Diana leise.
Meine Tränen waren inzwischen versiegt, doch ich fühlte mich immer noch leer. Ohne etwas zu sagen, stand ich auf, ging langsam zum Bett und setzte mich. Meine Augen wanderten zum Fenster. Ich wollte nichts sagen, wollte nicht einmal hinsehen. Stattdessen ließ ich meinen Blick nach draußen schweifen und suchte nach etwas, das meine Gedanken ablenken konnte.
Draußen stand ein Baum, dessen kahle Äste ich vom Bett aus sehen konnte. Ein kleiner Vogel hüpfte von Ast zu Ast, wohl auf der Suche nach Futter. Es war so schön still. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, ein Vogel zu sein – einfach wegzufliegen, alles von oben zu sehen, frei zu sein. Ob Vogelmamas ihre Kinder liebhaben? Kümmerten sie sich immer um sie, egal, was passierte?
Diana unterbrach meine Gedanken, ihre Stimme drang leise durch die Tür. „Florian, ich komme jetzt rein. Wenn du das nicht möchtest, dann sag es mir bitte.“
Ich blieb stumm und reagierte nicht. Vielleicht wollte ich, dass sie ging, aber ich konnte es nicht sagen. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlte, also sagte ich einfach gar nichts. Nach einem Moment öffnete sie vorsichtig die Tür und trat leise ein. Ich spürte ihre Anwesenheit, auch wenn ich sie nicht ansah.
Ohne ein Wort zu verlieren, kam sie näher und setzte sich neben mich auf das Bett. Ich starrte weiter aus dem Fenster, meinen Blick fest auf den kleinen Vogel gerichtet, der jetzt auf einen anderen Ast hüpfte. Ich sagte nichts, und Diana schien zu warten. Es war still zwischen uns, nur die Spannung des Moments lag in der Luft.
Diana durchbrach die Stille, während sie ebenfalls aus dem Fenster blickte. „Das ist ein Bergfink,“ sagte sie ruhig. „Der überwintert bei uns. Im Sommer lebt er in Skandinavien, aber im Winter kommt er hierher, weil es wärmer ist.“ Sie hielt inne, bevor sie mich leise fragte: „Magst du Vögel?“
Ich konnte nicht antworten. Es war gerade so beruhigend, dem kleinen Vogel zuzusehen und nicht an alles andere denken zu müssen. Vögel waren frei, sie konnten wegfliegen, wann immer sie wollten. Trotzdem dachte ich nach. Ich mochte alle Tiere. Zuhause hatten wir keine Haustiere, aber Papa hatte immer gesagt, dass er irgendwann wieder einen Hund kaufen würde. Nur war das nie passiert, weil in der Wohnung keine Tiere erlaubt waren.
Plötzlich fiel mir ein Zoobesuch aus dem Kindergarten ein. Dort durfte ich einen Hasen streicheln. Sein Fell war so weich, fast wie Watte. Das war eine der wenigen schönen Erinnerungen, die ich an früher hatte.
Diana kniete sich vor mich und hielt mir eine Trinkflasche hin. „Florian, möchtest du etwas trinken?“ Ihre sanfte Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. Ich schaute kurz in ihre Augen, dann auf die Flasche, nahm sie und trank einen kleinen Schluck. Es schmeckte süß und fruchtig. Obwohl es mir gefiel, setzte ich die Flasche wieder ab und reichte sie ihr zurück.
„Geht es wieder?“ fragte sie leise.
Ich nickte nur leicht. Es war einfacher, als etwas zu sagen.
„Möchtest du mir erzählen, was dich beschäftigt?“ fragte sie vorsichtig.
Ich schüttelte den Kopf. Die Worte blieben mir im Hals stecken, selbst wenn ich es gewollt hätte.
„Okay,“ sagte sie verständnisvoll. „Kommst du in die Küche und isst eine Kleinigkeit zum Frühstück?“
Ich überlegte kurz, dann stand ich langsam auf. Wortlos folgte ich ihr aus dem Zimmer. Meine Gedanken waren immer noch bei Zuhause. Bei Papa, bei den Dingen, die hätten sein können, aber nie waren. Ich wollte Diana nicht enttäuschen, so wie ich andere enttäuscht hatte, also ging ich mit. Aber die Schwere in meinem Inneren blieb, auch wenn ich es nicht zeigen wollte.
Als wir in die Küche kamen, sah ich Leni am Tisch sitzen. Ihr Gesichtsausdruck war irgendwie anders – sie sah mich an, fast besorgt, aber sie sagte kein Wort. Ihr Teller stand noch unbenutzt vor ihr, genauso wie der von Diana. Hatten sie die ganze Zeit nichts gegessen, nur weil ich nicht da war? Ein leises Unbehagen stieg in mir auf. War das meine Schuld? Vielleicht war Leni jetzt böse auf mich, weil sie nicht essen durfte. Aber sie sah nicht böse aus, eher… geduldig. Ich konnte nicht genau sagen, warum, aber das machte mich noch nervöser.
Diana zog einen Stuhl neben Leni zurück, und ich setzte mich langsam darauf. Ohne ein Wort nahm Diana neben mir Platz. Jetzt saß ich in der Mitte, zwischen den beiden. Das Gefühl, so eingekreist zu sein, war erst ein wenig unangenehm. Ich fühlte mich klein, obwohl sie beide nichts taten, was das erklärte.
Plötzlich spürte ich, wie Leni mir sanft über die Haare strich. Kurz erschrak ich und zuckte zusammen, aber ihre Hand war so leicht und ruhig, dass ich nicht zurückwich. Es fühlte sich… schön an. Eine Art von Berührung, die ich nicht kannte, aber die mich trotzdem beruhigte. Es war, als wollte sie mir sagen, dass alles in Ordnung war, auch wenn sie nichts sagte. Ich war unsicher, was ich damit anfangen sollte, also blieb ich einfach still.
„Was möchtest du essen?“ fragte Diana schließlich mit einer sanften Stimme. Ihre Worte klangen so ruhig, dass ich mich ein wenig entspannte. Aber ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger, doch ich wollte sie nicht enttäuschen.
Diana wartete geduldig, und als ich nichts sagte, fügte sie hinzu: „Magst du ein Marmeladenbrötchen?“
Ich nickte leicht. Es war mir eigentlich egal, was ich aß, aber ich wollte, dass sie aufhörte, mich anzusehen und weitere Vorschläge zu machen. Wahrscheinlich würde sie mir sonst noch lange aufzählen, was alles auf dem Tisch stand. Ein Marmeladenbrötchen war okay. Es war etwas Einfaches, und ich wollte einfach, dass alles normal wurde.
Als ich das Brötchen zur Hand nahm und vorsichtig einen Bissen wagte, bemerkte ich, wie Leni und Diana gleichzeitig aufzuatmen schienen. Es war, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich etwas esse. Ohne ein Wort begannen sie, sich ebenfalls ein Brötchen zu schmieren.
Ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus. Die beiden hatten tatsächlich auf mich gewartet – die ganze Zeit. Und ich hatte nur an mich gedacht, an meine eigenen Gefühle und Gedanken. Es tat mir irgendwie leid. Ich hatte ihnen Unannehmlichkeiten bereitet, und trotzdem schienen sie kein bisschen böse zu sein.
Warum waren sie so lieb zu mir, hier in diesem Haus? Ich verstand es einfach nicht. Niemand war jemals so geduldig und freundlich zu mir gewesen. Es war fast zu viel, um es zu begreifen. Während ich langsam meinen nächsten Bissen nahm, fragte ich mich, ob ich das jemals zurückgeben konnte – dieses Gefühl, willkommen zu sein, auch wenn ich selbst so schwierig war.
Diana wandte sich an mich, als ich gerade den letzten Bissen von meinem halben Brötchen kaute. „Möchtest du noch eine Brötchenhälfte?“ fragte sie freundlich. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich das halbe Brötchen schon aufgegessen hatte. Es hatte fast unbemerkt geklappt – ich hatte einfach mechanisch gegessen, ohne groß nachzudenken. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. Ich hatte keinen Hunger mehr.
„Okay,“ sagte Diana sanft. „Aber trink bitte noch etwas, ja?“
Ich griff nach dem Glas Wasser, das Leni mir vorhin hingestellt hatte. Es stand genau vor mir, als hätte sie gewusst, dass ich es irgendwann brauchen würde. Ich nahm einen kleinen Schluck, gerade genug, um Dianas Bitte zu erfüllen, und stellte das Glas wieder vorsichtig zurück.
Die beiden aßen noch weiter, und ich beobachtete sie dabei. Sie sprachen leise miteinander, aber ich hörte nicht genau hin. Ich wollte sie nicht stören, wusste aber auch nicht, was ich machen sollte. Einfach aufzustehen und wegzugehen traute ich mich nicht – es fühlte sich unhöflich an. Also blieb ich sitzen, die Hände auf meinem Schoß gefaltet, und wartete darauf, dass sie fertig wurden. Es war ein seltsames Gefühl, zwischen ihnen zu sitzen und zu merken, dass sie mich einfach dabeihaben wollten, ohne etwas von mir zu erwarten.
Diana wandte sich zu mir, während sie ihr Brötchen fertig kaute, und fragte: „Gibt es etwas, was du heute gerne machen möchtest?“
Ich sah sie überrascht an. Mit dieser Frage hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Was ich gerne machen möchte? So etwas hatte mich noch nie jemand gefragt. Die Leute hatten mir immer gesagt, was ich tun soll – aber nie gefragt, was ich wollte. Für einen Moment wusste ich gar nicht, wie ich darauf reagieren sollte.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein,“ murmelte ich leise. Es war einfacher, das zu sagen, als mir etwas auszudenken.
Aber tief in mir wusste ich, was ich wollte. Ich wollte eigentlich zurück in mein Zimmer gehen und wieder mit den Autos spielen. Oder am nochmal das Spiel am Computer spielen, das Nathanael mir gezeigt hatte – das war so toll gewesen. Aber Nathanael war ja nicht da, und der Computer war in seinem Zimmer. Ich traute mich nicht, einfach zu fragen, ob ich spielen durfte.
Also sagte ich nichts weiter und senkte den Blick, um Dianas fragenden Augen auszuweichen. Es war sicher besser so.
„Wollen wir heute Nachmittag einen Ausflug machen?“ fragte Diana nach einer Weile weiter. „Ich möchte nachher mit Annette telefonieren, vielleicht kommt sie ja auch mit?“
Ein Ausflug. Das klang so seltsam in meinen Ohren, fast wie ein Fremdwort. Sowas haben wir früher nie gemacht. Es gab nur diesen einen Geburtstag von meiner Tante, zu dem wir einmal mit dem Zug gefahren sind. Sie wohnte in einer großen Stadt, und an dem Tag schimpften Mama und Papa nicht so viel mit mir wie sonst. Das war das einzige Mal, an das ich mich erinnern konnte, dass wir gemeinsam irgendwohin gefahren sind.
Aber die Rückfahrt… die war furchtbar. Ich hatte bei meiner Tante zu viel getrunken und es nicht rechtzeitig zur Toilette geschafft. Im Zug hatte ich dann in die Hose gemacht. Mama und Papa waren so wütend. Sie haben mich angeschrien, und ich musste mit der nassen Hose nach Hause laufen. Es war kalt, und meine Beine brannten von der Nässe. Die ganze Zeit über haben sie sich gestritten und über mich aufgeregt, und ich fühlte mich, als wäre ich das Problem gewesen.
Die Erinnerung war unangenehm, und ich senkte den Blick auf meine Hände, die ich nervös im Schoß drehte. Ein Ausflug mit Diana und Annette würde sicher nicht so sein, aber die Gedanken daran machten mich trotzdem unsicher. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich. Es war einfacher, als etwas Falsches zu sagen.
Diana, die mittlerweile mit ihrem Frühstück fertig war, lächelte mich an und sagte: „Du hast vorhin so schön mit Leni den Tisch gedeckt. Ich kümmere mich um das Abräumen. Du gehst bitte Zähne putzen und Händewaschen, und wenn du möchtest, kannst du dann ein bisschen spielen gehen. Ich telefoniere in der Zwischenzeit mit Annette und sage dir dann Bescheid, was wir heute Nachmittag machen, okay?“
Ich nickte, ohne viel darüber nachzudenken. Ich wollte niemanden enttäuschen, schon gar nicht Diana. Außerdem hatte ich bei dem Gedanken an Annette ein seltsames Gefühl, das ich nicht genau beschreiben konnte. Es war, als würde allein ihre Erwähnung etwas Warmes in mir auslösen – ein Gefühl, das sich gut anfühlte.
Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und ging nach oben. Dort angekommen, wusch ich mir schnell die Hände und putzte meine Zähne, wie Diana gesagt hatte. Danach ging ich direkt in mein Zimmer. Ich nahm die Kiste mit den Autos aus dem Schrank, und dann setzte ich mich auf den Teppich und begann, sie langsam herumzuschieben. Es war beruhigend, einfach mit den Autos zu spielen, so wie gestern. Hier oben war ich für einen Moment allein mit meinen Gedanken, und das fühlte sich gut an.
Annette:
Wir waren gerade dabei, Florians Schrank fertig zu stellen. Markus zog gerade die Schrauben an, während ich die Schubladen überprüfte, ob sie richtig passten. Es war fast fertig, und ich freute mich darauf, dass Florian bald eine richtig tolles Zimmer bekommen würde.
Plötzlich hörte ich das Klingeln meines Handys aus dem Flur. Ich stand auf, wischte mir die Hände an meiner Hose ab und ging schnell zur Garderobe, wo mein Handy immer lag, wenn wir zu Hause waren. Ein Blick auf das Display zeigte mir, dass es Diana war. Ein leises Unbehagen breitete sich in mir aus, als ich abhob.
Während das Freizeichen ertönte, malte ich mir bereits die schlimmsten Szenarien aus: Wollte Florian keinen weiteren Kontakt mehr zu uns? Musste er vielleicht zurück zu seinen Eltern, weil das Jugendamt das so entschieden hatte? Oder – noch schlimmer – wollte er vielleicht sogar selbst zurück? Ich wusste, dass ich mir diese Sorgen nicht machen sollte, aber sie kamen einfach.
Dann ertönte Dianas Stimme, ruhig und freundlich, wie immer. „Hallo Annette, wie geht es euch?“
Ich atmete kurz ein, um meine Gedanken zu ordnen, und antwortete: „Uns geht es gut, danke. Ist etwas mit Florian?“ Meine Stimme verriet meine Anspannung, auch wenn ich versuchte, sie zu verbergen.
Diana blieb ruhig, aber ihre Worte ließen mein Herz einen Moment schneller schlagen. „Er hatte eine schwierige Nacht und auch der Morgen war bisher nicht ideal,“ erklärte sie.
„Was ist passiert?“ fragte ich sofort, während sich mein Brustkorb enger zusammenzog.
„Mach dir bitte keine Sorgen,“ begann sie beruhigend. „Er hatte heute Nacht einen Albtraum. Das ist bei seiner Vergangenheit und den aufregenden letzten Tagen völlig normal. Selbst Kinder ohne seine Erfahrungen haben das nach intensiven Erlebnissen immer mal wieder.“
Ich nickte, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Die Erinnerung kam mir sofort: Auch Sebastian hatte damals nach aufregenden Tagen manchmal Albträume gehabt, besonders nach seinem ersten großen Ausflug mit der Schule. Ich wusste, dass Diana recht hatte, aber der Gedanke, dass Florian so kämpfen musste, tat mir weh.
Diana fuhr fort: „Heute Morgen wollte er mir eine Freude machen und hat zusammen mit Anna-Lena das Frühstück vorbereitet. Das war auch super gelungen. Aber als Anna-Lena mich dann umarmte – was bei uns eine ganz normale Begrüßung ist – hat ihn das irgendwie schwer getroffen.“
Ich schluckte. Ihre Worte ließen die Sorge in mir größer werden. „Warum?“ fragte ich leise.
„Auch das ist etwas, das ich schon oft erlebt habe,“ erklärte Diana geduldig. „Jedes Pflegekind bringt einen Rucksack voller eigener Erfahrungen mit, und manchmal lösen ganz alltägliche Situationen Reaktionen aus, mit denen man einfach nicht rechnet.“
Ich spürte die Tränen in meinen Augen brennen, hielt sie aber zurück. Ich wollte stark sein – für Florian.
„Der Grund, warum ich anrufe,“ fuhr Diana fort, „ist, dass ich ihn gerne auf andere Gedanken bringen möchte. Ich plane, heute Nachmittag einen kleinen Ausflug mit ihm zu machen, bei dem es nur um ihn geht. Es wäre schön, wenn du mitkommen könntest.“
Mein erster Impuls war, sofort alles stehen und liegen zu lassen und zu ihm zu fahren. Aber ich wusste nicht, ob das jetzt wirklich helfen würde. „Wohin möchtest du mit ihm fahren?“ fragte ich schließlich.
„Das ist der Grund, warum ich jetzt schon anrufe,“ erklärte Diana. „Ich würde gerne mit ihm in den Zoo fahren. Aber wegen der Winterzeit hat dieser nur bis 16 Uhr geöffnet.“
Ich verstand sofort, worauf sie hinauswollte. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es bereits 11:30 Uhr war.
„Ich könnte es schaffen, wenn ich gleich losfahre,“ überlegte ich laut. „Ich ziehe mich noch schnell um, und dann fahre ich los.“
Diana klang erleichtert. „Das wäre toll, Annette. Ich glaube, das würde ihm gut tun. Danke, dass du dir die Zeit nimmst.“
„Natürlich,“ sagte ich ohne zu zögern. „Florian ist mir wichtig.“
Als ich das Gespräch beendet hatte, lehnte ich mich kurz an die Garderobe und atmete tief durch. Ein Ausflug in den Zoo – das klang nach einer wunderbaren Idee. Ich hoffte, dass es Florian wirklich half, ein bisschen abzuschalten und Freude zu empfinden. Dann ging ich zurück zu Markus, um ihm Bescheid zu geben, dass ich los musste. Der Schreibtisch würde warten müssen.
Markus sah mich überrascht an, als ich ihm Bescheid gab. „Wollten wir nicht heute Abend zusammen zu ihm fahren?“ fragte er mit einem leicht irritierten Blick.
Ich nickte, spürte aber, dass ich schnell erklären musste. „Diana hat angerufen. Florian hatte heute Nacht einen Albtraum, und der Morgen war auch nicht leicht für ihn. Sie möchte ihn ein bisschen ablenken und hat vorgeschlagen, mit ihm in den Zoo zu fahren. Sie glaubt, dass es ihm helfen könnte, und ich denke, sie hat recht.“
Markus legte den Schraubenzieher beiseite und hörte mir aufmerksam zu. „Du fährst also jetzt schon zu ihnen?“ fragte er, diesmal ohne Vorwurf, nur nachfragend.
„Ja,“ antwortete ich ruhig. „Ich weiß, dass wir eigentlich später gemeinsam hinwollten, aber ich denke, es ist wichtig, dass wir ihm jetzt zeigen, dass wir für ihn da sind.“
Markus nickte langsam, sein Blick wurde weicher. „Das macht Sinn. Es ist gut, dass er weiß, dass er nicht allein ist. Ich bleibe hier und mache die restlichen Möbel fertig. Vielleicht kann ich dann noch die Wäsche aufhängen.“
Ich lächelte dankbar. „Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht? Ich möchte nicht, dass du dich übergangen fühlst.“
Markus winkte ab. „Annette, ich bin froh, wenn ich etwas mit meinen Händen zu tun habe.
Auf dem Weg zu Diana gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Hatte Markus sich wirklich nicht übergangen gefühlt? Er hatte zwar Verständnis gezeigt, aber ich hoffte, dass er sich nicht ausgeschlossen vorkam. Doch wenn ich genauer darüber nachdachte, wusste ich, dass Markus nicht der Typ war, der lange darüber grübelte. Er war froh, wenn er etwas tun konnte, etwas Konkretes mit seinen Händen. Schon immer hatte er es gehasst, einfach nur irgendwo zu sitzen und zu reden. Das war nie seine Stärke gewesen.
Außer bei Sebastian. Als er noch klein war und Markus ihn zum Spielen auf den Arm nahm, war er ein völlig anderer Mensch. Dann konnte er die Zeit anhalten, einfach da sein und lachen, so voller Geduld, wie ich es sonst selten bei ihm erlebt habe. Damals war ich oft überrascht, wie einfühlsam und ruhig Markus in diesen Momenten wurde. Vielleicht war es genau das, was ich mir jetzt für Florian wünschte – dass er irgendwann dieses Gefühl von Geborgenheit mit uns erleben konnte.
Ein sanftes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich mich daran erinnerte, wie Sebastian mit seinen Bauklötzen auf dem Wohnzimmerboden saß und Markus sich daneben hockte, um mit ihm Türme zu bauen. Dabei hatte er sich nie beschwert, auch wenn Sebastian die Türme immer wieder umwarf. Er hatte einfach mitgemacht, wieder und wieder, bis beide vor Lachen kaum noch konnten. Ich hoffte, dass Markus diese Art von Bindung auch zu Florian aufbauen könnte. Doch ich wusste auch, dass das Zeit brauchte.
Als ich bei Diana ankam, wurde ich an der Haustür von Leni empfangen. „Hallo Annette,“ begrüßte sie mich mit einem warmen Lächeln. „Mama ist in der Küche. Florian ist oben in seinem Zimmer und spielt.“
Ich nickte dankbar und trat ein. Die vertraute Wärme des Hauses empfing mich sofort, und ich spürte, wie ein Teil meiner Anspannung nachließ. „Danke, Leni,“ sagte ich leise. „Ich gehe kurz zu Diana.“
In der Küche fand ich Diana, die gerade dabei war, einen Rucksack zu packen. Sie sah auf, als sie mich hörte, und lächelte. „Annette, schön, dass du da bist. Ich habe Florian gesagt, dass wir nachher losfahren. Er war ein bisschen überrascht, aber ich denke, er freut sich.“
Ich trat näher und sah den Rucksack an. „Hast du schon alles, was wir brauchen?“ fragte ich, um mich nützlich zu machen.
Diana nickte. „Ich habe Snacks, Getränke und ein paar Taschentücher eingepackt. Und für den Fall der Fälle auch eine Reservehose und Windeln für Florian. Man weiß ja nie.“ Ihr Blick war ruhig, aber ich spürte, dass sie nichts dem Zufall überlassen wollte.
„Das ist gut,“ sagte ich. „Wie geht es ihm jetzt?“
Diana zögerte kurz, bevor sie antwortete. „Er wirkt ein bisschen ruhiger, aber ich glaube, er hat immer noch viel im Kopf. Er hat sich oben mit seinen Autos zurückgezogen. Vielleicht kannst du ihm ja kurz Hallo sagen, bevor wir losfahren.“
Ich nickte und lächelte leicht. „Ich gehe zu ihm.“
Oben vor Florians Zimmer klopfte ich vorsichtig an die Tür. „Florian? Darf ich reinkommen?“
Nach einem kurzen Moment hörte ich seine leise Stimme. „Ja.“
Ich öffnete die Tür und sah ihn auf dem Teppich sitzen, umgeben von Autos, die er in einer langen Schlange angeordnet hatte. Sein Kopf schnellte zu mir hoch, und für einen Moment schien er nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. „Hallo, Florian,“ sagte ich sanft. „Diana hat mir erzählt, dass du ein bisschen gespielt hast. Das sieht toll aus.“
Florian sah kurz auf seine Autos, dann wieder zu mir. „Das ist eine Rennstrecke,“ murmelte er. „Die fahren alle ins Ziel.“
Ich ging ein paar Schritte ins Zimmer und setzte mich auf den Boden, mit etwas Abstand zu ihm, um ihn nicht zu bedrängen. „Das ist eine richtig lange Strecke. Hast du ein Lieblingsauto?“ fragte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen.
Er zögerte, bevor er ein rotes Auto hochhob und es mir zeigte. „Das hier.“
„Das sieht schnell aus,“ sagte ich mit ehrlicher Begeisterung. „Ist das der Gewinner?“
Florian nickte langsam und stellte das Auto wieder zurück in die Schlange. „Ja. Immer.“
Ich lächelte. Es war ein kleiner Moment, aber ich spürte, dass er sich ein bisschen öffnete. „Diana hat mir gesagt, dass wir nachher einen kleinen Ausflug machen. Sie hat mir erlaubt, mitzukommen. Ist das okay für dich?“
Florian sah mich an, seine Augen voller Unsicherheit. Dann nickte er leicht. „Wohin?“
„In den Zoo,“ antwortete ich. „Ich war schon lange nicht mehr dort. Aber ich weiß, dass es dort viele Tiere gibt. Vielleicht können wir zusammen die Elefanten besuchen. Oder hast du ein Lieblingstier, das du sehen möchtest?“
Er dachte einen Moment nach, dann sagte er leise: „Tiger.“
Ich lächelte. „Tiger sind beeindruckend. Vielleicht können wir einen sehen. Was meinst du?“
Er nickte wieder, diesmal ein wenig entschlossener. „Okay.“
Fortsetzung folgt…
Und denkt dran: Feedback ist wie Pizza – je mehr verschiedene Beläge (also Meinungen), desto besser schmeckt das Ergebnis! Also haut in die Tasten, ich freue mich auf eure Ideen und Anmerkungen!
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Es ist wieder unfassbar, wie Du dich in die geschundene Kinderseele hineinversetzen kannst. Auch die anderen Protagonisten sind sehr einfühlsam beschrieben. Auch das Leni jetzt eine bedeutendere Rolle bekommen hat passt wunderbar. Ich freue mich auf die nächsten Teile!!