When 2 become 1 (13)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (13)
Anmerkung vom Autor:
Nach einer etwas längeren Pause freue ich mich, euch den 13. Teil der Geschichte vorzustellen. Falls sich jemand fragt, wie lange sie noch dauern wird? Lange. Ihr werdet Nic auf jeden Fall noch bis zu seinem Schulstart in Kanada begleiten. Und das wird in ca. einem Jahr sein. Das Storyboard der Geschichte steht, aber natürlich sind noch nicht alle Teile geschrieben. Ich freue mich jederzeit über Kritik, brauche aber keine Vorschläge, wie sich die Geschichte, bzw. die Charaktere entwickeln könnten. Weil das Storyboard wie gesagt bereits fertig ist.
Viel Spaß!
Beginn der Geschichte:
Den Sirup ins Kind zu bekommen war gar kein Problem. Das Zeug war pappsüß und Nic war schwer begeistert von dem Getränk mit der lustigen Farbe. Den süßen Zahn konnte er nur von seinem Vater haben, meine Mutter und ich waren eher die herzhafte Fraktion. Kaum hatte Nic den letzten Tropfen im Mund, aktivierte Padme den tragbaren EEG-Sender an Nics Hüftgurt. Die Aufzeichnung lief wieder, wir konnten uns jetzt frei in der Klinik bewegen. Normalerweise dauerte es bis zu 30 Minuten, bis die Substanz im Sirup ihre Wirkung zeigte. Und ich wusste genau, wo ich mit Nic diese nächsten 30 Minuten verbringen wollte: im Adlerhorst. Ein etwas außergewöhnlicher Name für eine Einrichtung, die überall anders einfach nur Kantine heißt. Aber unsere Kantine war, wie fast jeder Raum hier, auch nichts von der Stange. Das Restaurant lag auf dem Dach des Gebäudes und war für Personal, Patienten und deren Angehörigen zugänglich. Dort oben war schon immer eine Kantine gewesen. Langweilig und steril. Aber gesegnet mit einer sensationellen Aussicht. Also hatten wir den Glas-Pickel auf dem Dach mit jeder Menge Holz, grüner Farbe und sonstigem Deko-Zeug zu einem spektakulären Adlernest umgestaltet. Einziger Nachteil des Adlerhorsts: Patienten im Rollstuhl bekam man hier nur schwer rein. Deshalb hatten wir unten ja den Dschungel gebaut. Der war im Fall der Fälle sogar groß genug für Patienten, die ihr Bett nicht verlassen konnten. Nic war aber zum Glück mobil genug. Außerdem würde das Treppensteigen dafür sorgen, dass sich der Wirkstoff aus dem Sirup schneller in seinem Körper verteilte. Also, vier Stockwerke nach oben.
Kurz bevor wir ins Treppenhaus abbogen, steckte ich Nic wieder in die Tweed-Latzhose. Es war kalt im Treppenhaus und ich konnte wirklich sehr gut darauf verzichten, dass sich Nics angeschlagenes Immunsystem gleich am zweiten Tag eine Erkältung einfing. Dank der Druckknöpfe an den Hosenbeinen war das eine Aktion, die nur wenige Sekunden dauerte. Gleichzeitig kontrollierte ich auch, ob die EEG-Sensoren alle noch an ihrem Platz waren und das System Daten sendete. Tat es. Ich nickte zufrieden. “Wollen wir los?” Wollten wir. Also, vier Stockwerke nach oben. Nic schlug sich tapfer, aber bereits beim zweiten Treppenabsatz war deutlich zu sehen, wie schwach er noch war. Und wie sehr die Nägel, Schrauben und Metallplatten in seiner Hüfte seine Beweglichkeit tatsächlich einschränkten. Ich ahnte wie dick der Ordner mit den Stabilisierungs- und Kräftigungsübungen sein würde, den uns die Physios mit auf den Weg geben würden. Langweilig, soviel stand fest, würde uns in den nächsten Wochen und Monaten nicht werden.
Also ich Nic 10 Minuten später half, die schwere Glastür zum Adlerhorst zu öffnen, war er quasi am Ende seiner Kräfte. Ich hätte ihn problemlos auf den Arm nehmen können, das kam für ihn aber nicht in Frage. Diese Treppen wollt er selbst bezwingen. In dem Schnaufer, den er produzierte, als ich ihn nach erfolgreicher Treppen-Besteigung auf einen der etwas erhöhten Kinderstühle setzte, lag dann auch nicht nur Erschöpfung, sondern auch ein gewisser Stolz. Gut so. Immer her mit dem Kampfgeist.
Im Adlerhorst war noch nicht viel los, die drei Servicekräfte hatten also jede Menge Zeit für uns. Ich orderte für Nic eine Apfelschorle und für mich ein alkoholfreies Radler. Das hatte ich mir verdient,fand ich. So eine klassische Krankenhaus-Kantine funktionierte natürlich per Selbstbedienung. Der Adlerhorst war aber keine normale Kantine. Das war ja auch kein normales Krankenhaus. Wir brauchten das Restaurant vor allem, um unsere Patienten auf ihr Leben “nach” der Klinik vorzubereiten. Viele hatten nie gelernt, sich im Alltag zurecht zu finden. Deshalb gab es im ganzen Haus verteilt fast alles, was einem im echten Leben auf der Straßen so begegnen konnte. Ampeln, Geldautomaten, Getränkeautomaten, Ticketschalter und eben auch ein Restaurant. Nic war schwer beeindruckt. Von der Ausstattung des Adlerhorsts. Aber natürlich auch von der Aussicht. Man konnte an schönen Tagen die Berge sehen. Meine Berge. Der Grund, warum ich in Canada “hängen” geblieben war. Heute war definitiv nicht der allerbeste Tag für einen grandiosen Blick in die Whistler Mountains. Die Sonne hatte sich zwar bis hier runter durchgekämpft, dennoch waren eigentlich viel zu viele Wolken unterwegs, um die Berge einen wirklich grandiosen Auftritt hinlegen zu lassen. Ein schneller Blick auf Nic verriet mir aber, dass es das komplett anders sah. Ich machte mir ein bisschen Sorgen um seine Augen. Wie weit konnte man die Dinger aufreißen, bevor ernsthafte Schäden blieben? Nic war ganz eindeutig mehr als beeindruckt. Er war im topfebenen Schleswig-Holstein aufgewachsen, die höchste Erhebung waren Windräder hinter Haus gewesen. Nannte man sowas bereits Kulturschock? Gut möglich. Und wie gesagt, so richtig viel zu sehen gab es gar nicht. Wie würde mein kleiner Bruder reagieren, wenn er heute Abend mein Haus zu sehen bekäme, in dessen Richtung er lustigerweise die ganze Zeit unwissentlich blickte. Und was hieß da eigentlich mein Haus? Seins. Unseres!
Steven hatte mir vor wenigen Augenblicken eine Kurznachricht geschickt, die nur ein einziges Zeichen enthielt: Den nach oben gereckten Daumen. Fertig. Sie waren also wirklich fertig. Steven und seine Frau Raissa hatten gemeinsam das Haus auf die Ankunft von Nic und mir vorbereitet. Also vor allem auf die Ankunft von Nic. Die wichtigsten Umbauarbeiten waren bereits vor Wochen erledigt worden. Im Grunde war das Haus nicht groß. Ein kleines Holzhaus aus mächtigen Blockbohlen, das sich tief in eine Senke duckte. Sehr schlicht eingerichtet und aufgemotzt mit jeder Menge teurem Hightech-Spielzeug für Leute mit ein klein wenig zu viel frei verfügbarem Budget. Mein Haus war die einzige Extravaganz, die ich mir leistete. Es war wie gesagt eigentlich klein. Aber technisch auf dem allerneusten Stand. Meine “Hütte”, wie ich das kleine Chalet nannte, war komplett autark. Strom erzeugte ich selbst aus Sonne, Wind und Biomasse. Die Wärmegewinnung lief über Geothermie. Wasser lieferte ein Brunnen unterm Haus. Eine innovative Mini-Kläranlage bereitete das Abwasser auf. Ich war mein eigener Herr und konnte dort wochenlang Zeit verbringen, ohne das Haus zu verlassen. Dennoch war die Hütte so positioniert, dass ich im Winter nur fünf Minuten brauchte, um eine öffentliche Skipiste zu erreichen. Ansonsten gab es noch eine für Außenstehende nicht zu findende Zufahrt für Autos und Lieferfahrzeuge und eine unscheinbare Materialseilbahn. Etwas abseits befand sich eine unterirdische Garage, in der sich zwei Geländewagen, ein paar Quads und eine kleine Armada an Ski-Doos befand. Alle elektrisch. Von oben sah man dem annähernd 20 Hektar großen Grundstück nicht an, dass darauf überhaupt jemand lebte. Und das war auch gut. Ich mochte keine Publicity. Auf lange Sicht würde die Abgeschiedenheit wahrscheinlich für Nic ein Problem werden. Er musste ja irgendwann zu Schule, würde älter werden. Hoffentlich Freunde finden. Aber das würde sich alles ergeben. Für die nächsten Monate war die Abgeschiedenheit genau das, was Nic und ich brauchten. Ruhe und Zeit, um zueinander zu finden. Als Kleinst-Familie neu zu starten.
Weil es sonst viel zu eng geworden wäre, hatten wir Nics Zimmer einfach ans Haus angebaut. Zusammen mit zwei Gästezimmern und zwei Badezimmern. Aus ganz pragmatischen Gründen. Und vor allem, weil Raissa darauf bestanden hatte. Ihr Argumente waren schon irgendwie stichhaltig. Wir würden in den nächsten Wochen und Monaten Besuch bekommen. Viel Besuch. Vor allem von Steven, Raissa und ihren Kindern. Die brauchten aber vielleicht maximal das Badezimmer. Aber auch von jeder Menge Therapeuten, die Nics Weg zurück ins Leben begleiten würden. Den Alltag würde ich regeln, keine Frage. Aber ab und an mussten Therapien angepasst und verändert werden. Und dafür würden einige Kollegen ins Haus kommen und im Zweifel auch mal über Nacht bleiben.
Eines der Bäder war nur von Nics Zimmer aus erreichbar. Wie alle anderen Zimmer sah es aus, als wäre es aus dem Fels gewachsen. Rohes Holz, grober Stein und viel Naturmaterialien prägten alle Zimmer. Ich mochte diesen rauen Charme. Steven und Raissa eigentlich auch. Und doch hatten sie sich nach der offiziellen Abnahme der Räume vielsagende Blicke zugeworfen. Eltern-Blicke. Ich konnte damals nur sehr wenig damit anfangen. Inzwischen war ich ein ganzes Stück weiter und wusste, dass Kinder andere Dinge brauchten, als die, die ich hatte einbauen lassen. Deko-Kram hätte ich das früher genannt, was Steven und Raissa für Nics Ankunft vorbereitet hatten. Heute sah das etwas anders aus. Ich war echt gespannt, wie mein neues, kinderfreundliches Zuhause denn jetzt aussehen würde.
Ein schmaler Durchgang verband Nics Welt mit meinem Schlafzimmer. Zwischen unseren beiden Räumen befand sich eine kleine Nische, die usprünglich so eine Art Server-Raum gewesen war. Steven und Raissa hatten die Kammer zu einem Wickelplatz umgebaut, nachdem klar war, welche Bedürfnisse Nic zumindest am Anfang haben würde. Es gab dort einen breiten Wickeltisch, ein großes Waschbecken und einen kleinen Schrank mit vier Schubladen, in der die wichtigsten Wechselsachen untergebracht werden konnten. Neben meinem riesigen Holzbett befand sich jetzt ein kleiner hölzerner “Anbau”, der ein bisschen aussah wie ein Vogelnest. Ich wollte lange nicht einsehen, warum Nic ein zweites Bett brauchen sollte. Aber Raissa hatte darauf bestanden. Und ich tat es inzwischen auch. Nic würde wahrscheinlich eine ganze Weile brauchen, bis er es alleine in seinem Zimmer aushalten würde. Es war alles fremd für ihn. Alles. Da sollte er zumindest in der Nacht meine Nähe spüren können.
Als wir vor drei Tagen aufgebrochen waren, war das Haus aus baulicher Sicht fertig. Und jetzt hatte auch Raissa grünes Licht gegeben. Jetzt war das Haus ein Zuhause. Statt kühler Eleganz dominierte jetzt warme Behaglichkeit, ohne dass das Haus auch nur eine Winzigkeit an Schlichtheit verloren hatte. Nic würde hier reichlich Anreize finden, um zu spielen. Zu toben. Zu klettern. Oder sich zu verstecken. Ich musste mich dafür künftig strecken, um an meine sündhaft teuren Kochmesser zu kommen. Die befanden sich jetzt in luftiger (kindersicherer) Höhe. Streichhölzer gabe es ebenfalls nur noch in Erwachsenen-Reichweite und auch der offene Kamin war jetzt kein lebensgefährlicher Kinderfresser mehr. Dieser wohntechnische Neubeginn war auch für mich extrem spannend. Neu eingerichtet kannte ich mein altes zu Hause selbst nur von Bildern. Und ich konnte mir nach dem Erlebnis im Adlerhorst lebhaft vorstellen, welchen Eindruck die Hütte auf Nic machen würde.
Bei aller Euphorie und Aufregung: So weit waren wir ja noch nicht ganz. Erstmal wollte ich mit Nic Essen. Dann ging’s zu den Physios. Dann zum Professor und dann stand noch das alles entscheidende “Theaterspiel” mit der Endermann an. Alleine der Gedanke daran bereitete mir schlechte Laune. Während ich meinen Gedanken freien Lauf ließ und wir auf unsere Getränke warteten, vermied ich es ganz bewusst, Nic zu lange in die Augen zu sehen. Er hatte die Gabe, über die Augen Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen. Und je näher sich diese Menschen standen, desto intensiver konnte dieser Kontakt sein. Theoretisch war er noch zu jung um in mir zu “sehen”, was mich wirklich beschäftigte. Aber theoretisch war es auch ausgeschlossen, dass Menschen auf diese Art und Weise miteinander kommunizierten. Also: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. An Nics Haltung, seinen Gesten und seiner Mimik konnte ich erkennen, dass das alles bis jetzt ganz gut lief. Da saß kein Achtjähriger aus dem Lehrbuch, der Faxen machte, plapperte und nicht stillsitzen konnte. Nic war das Gegenteil. Er saß kerzengerade in dem Kinderstuhl. Saß auf seinen Händen. Den Kopf ein bisschen zu weit eingezogen. Er war angespannt, daran bestand kein Zweifel. Aber er war wach. Seine Augen waren wachen. Sein Blick verriet eine Neugier, die da vor 24 Stunden noch nicht da war. Und mehr brauchte es im Augenblick nicht, um mich glücklich zu machen. Jetzt musste ich nur noch aus dem kleinen Mann herausbekommen, was er essen wollte. Er würde es mir nicht sagen, so viel stand fest. Aber ehrlich gesagt hatte ich auch keine Lust, ständig Dinge für ihn zu entscheiden. Nicht, wenn es um solche Banalitäten ging, wie das Essen. Vom Gefühl her hätte ich ihm Nudeln mit Fleisch bestellt. In einer möglichst fettigen Soße. Und hinterher was Pappsüßes. Dieser spindeldürre Körper schrie nach Kalorien. Aus therapeutischer Sicht wären aber Vollkornnudeln besser. Möglichst wenig Fett. Und dazu jede Menge tierische Eiweiße, idealerweise Fisch. Das Problem war Nics angeschlagener Darm. Wobei ich mir mit dem Professor in diesem Punkt schnell einig geworden war: Hauptsache Nic aß. Reichlich. Egal was. “Mehr als ein ordentlicher Durchfall kann dabei nicht passieren”, hatte Professor Eissler gesagt. “Und wir reden von einem Kind, das aktuell eh noch rund um die Uhr auf Windeln angewiesen ist!”. Und damit war das Thema Essen auch abgehakt.
“Du hast Hunger, oder?” fragte ich Nic, als wir beide unsere Gläser zur Hälfte geleert hatten. Nach einer kurzen Pause kam immerhin ein scheues Nicken. “Gut, dann machen wir das jetzt so: Ich nehme mir die Karte und mache überall bei den Speisen ein blaues Kreuz, die ich essen möchte. Vorspeise, dann die Hauptspeise und dann das Dessert. Dann bist du dran und machst überall dort grüne Kreuze, was du essen möchtest. Okay?” Wieder das scheue Nicken, das allerdings beinahe in Nics eingeschüchtertem Gesichtsausdruck unter ging. Genau deshalb hatte ich vorgesehen, vorzulegen. Ich würde versuchen, so “teuer” wie möglich zu wählen. Nic sollte und musste sehen, dass er sich nicht zurückhalten musste! Ich entschied mich also für einen Wildkräutersalat mit Elchschinken als Vorspeise, Flusskrebse mit frischer Pasta und zum Nachtisch eine feine Créme Brulée. Ein bisschen to much für so ein Mittagessen, keine Frage. Aber ich wollte Nic aus der Reserve locken. Und das gelang. Ich hatte für uns beide ganz bewusste eine Karte mit deutscher Übersetzung bestellt, war mir aber noch nicht so ganz sicher, wie gut Nic wirklich Lesen konnte. Es reichte aber auf jeden Fall um zu erkennen, dass ich voll zugeschlagen hatte. Als er mir die Karte mit seiner Wahl über den Tisch schob, konnte ich mir ein Lachen fast nicht verkneifen. Lesen konnte der Knabe auf jeden Fall. Aber ganz offensichtlich hatte er die allermeisten Gerichte noch nie in seinem Leben gehört. Und genau deshalb hatte er sich zu Vorspeise für ein paar Mozzarella-Sticks entschieden, würde sich zum Hauptgang eine Pizza Funghi und als Dessert einen Erdbeerbecher servieren lassen. Eine gute Wahl, wenn man acht Jahre alt war, fand ich. Vorsorglich orderte ich für uns beide jeweils kleine Portionen. Wir hatten ja auch nichts gewonnen, wenn wir nach dem Mittagessen bei den Physios erstmal kollektiv ins Schnitzelkoma fielen.
Für Nic hätte ganz sicher auch die Miniversion der kleinen Portion gereicht. Er war quasi bereits nach den Käse-Sticks satt. Die Pizza schaffte er nur zur Hälfte und von den vier Kugeln Eis endeten drei als bunte Soße im Glasschälchen. Trotz der vergleichsweise kleinen Portion, Nic war offensichtlich satt. Und seine Klamotten reif für den Vollwaschgang. Nach einem kleinen Ketchup-Unfall mit den Käsesticks war dann auch noch ein Stück Pizza auf seiner Latzhose gelandet. Was das anging, war er dann wahrscheinlich doch ein ganz normaler Achtjähriger. So richtig lustig fand ich die Sache aber nicht. Zumindest nicht aus Sicht eines Therapeuten. Die Klamotten interessierten mich nicht. Ich machte mir Sorgen über die vielen kleinen Bewegungseinschränkungen, die ich wahrgenommen hatte, als ich Nic beim Essen zusah. Nic aß wie ein Dreijähriger. Mangelnde Erziehung konnte ich ausschließen. Unsere Mutter war in diesem Punkt mehr als unnachgiebig. Die Ausfälle mussten sich nach der Explosion entwickelt haben. Das würden wir im Auge behalten müssen. Wie so vieles.
In der Zwischenzeit hatte sich der Adlerhorst gut gefüllt. Neben diversen Mitarbeitern kamen vor allem viele Angehörige unserer Patienten hierher, entsprechend bunt war das Publikum. Ein Großteil der Patienten saß allerdings nicht so brav an den Tischen wie Nic, sondern tobte durch durchs Restaurant. Zu Fuß, in Rollstühlen oder auf kleinen Fahrzeugen, die überall verteilt waren. Ziel der ganzen Tour war fast immer ein abgesetzter Bereich, der wie ein Art Mini-Indoorspielplaz gestaltet war. Neben diversen Kletter- und Tobemöglichkeiten gab es dort auch Ecken, in denen Kreativität gefragt war. Nic hatte sich seit unserer Ankunft keinen Millimeter bewegt. Aber ich konnte sehen, dass er jedes Detail des Spielplatzes mit den Augen scannte. Aufspringen und mitmachen? So hätte die Sache wahrscheinlich noch vor 7 bis 8 Monaten ausgehen. Der Nic von heute traute sich allerdings nicht einmal richtig den Kopf in die Richtung des Trubels zu drehen. Wieviel Gewalt musste dieser kleine Kerl erfahren haben, um ihn so zu verändern. Ein unauffälliger Blick auf die Uhr, dann war klar: Wir hatten noch ein bisschen Luft. In knapp 20 Minuten war unser Termin bei den Physios. Nic konnte also noch 15 Minuten von der Leine, die es zumindest für mein Dafürhalten gar nicht gab. Demonstrativ orderte ich einen doppelten Espresso, holte mein Smartphone aus der Tasche und warf ihn mehr oder weniger ins kalte Wasser. “Ich muss kurz mit der Firma telefonieren, Nic. Meinst du, du findest da hinten was zum Spielen?” Schöpferische Pause. Wahrscheinlich glaubte der Arme, dass ich ihn veräppeln wollte. Deshalb legte ich gleich nach: “Ich bleibe hier sitzen, du kannst mich immer sehen, okay? Viel Spaß!” Augen aufs Smartphone, wichtig auf dem Display rumtippen und alle guten Geister anflehen, dass der Stoß ins kalte Wasser nicht ein wenig zu schwungvoll war… War er nicht. Nach der nächsten Kunstpause kletterte Nic vorsichtig vom Stuhl und und schlich unsicher in Richtung Kinderland. Erst fast in Zeitlupe, dann immer schneller, um schließlich mit wackeligen Bewegungen durch das dicke feste Netz zu klettern, mit dem das Restaurant vom Kinderbereich abgetrennt war.
Als ich mich, zwei doppelte Espressi später, betont langsam in Richtung des des Sieleparadieses bewegte, fand ich meinen Ketchup- und Pizzaverklebten Bruder bei den Konstruktionsspielzeugen. Versunken in seiner Welt. Um ihn herum zwei, drei andere Jungs, die ebenfalls die abenteuerlichsten Konstruktionen zusammengeschraubt hatten. Gesprochen wurde dabei nicht viel. Eigentlich gar nichts. Und doch hatten die drei ein ziemlich beeindruckendes Zwischending aus Parkhaus, Tankstelle und Sternenzerstörer gebaut. Wofür man sowas braucht, erschloss sich mir nicht wirklich. Aber sie nahmen ihre Missionen sehr ernst! Das war schön zu sehen, auch wenn ich Nic jetzt aus seinem Spiel reißen musste. Viel Widerstand leistete er nicht. Ins Stocken kam unser Rückzug erst, als bei Nic auf dem Weg zum Kletternetz am Ausgang alle Dämme brachen. Ihm wahrsten Sinne des Wortes. Der süße Sirup, den Padme und ich ihm eingeflößt hatten, entfaltete jetzt seine maximale abführende Wirkung. Pünktlich auf die Minute. Rund 40 Minuten nachdem Nic das Zeug geschluckt hatte, meldete einer der Sensoren maximale Betriebsamkeit. Der Signalton, den mein Smartphone von sich gab, war eindeutig: Nic würde sehr schnell eine frische Windel brauche. Mindestens. So deutlich das Signal aus der Windel war, so stumm blieben die Sensoren auf Nics Haut. Minimale Aktivitätssignale. Selbst wenn er die volle Kontrolle über seinen Schließmuskel, bzw. seine Bläse hätte sah es im Augenblick nicht danach aus, dass seine Nerven die dafür nötigen Informationen lieferten. Noch so ein Thema, das uns wahrscheinlich noch lange begleiten würde.
Selbst durch die dicke Latzhose konnte ich sehen, wie Nics Darminhalt komplett in der Windel landete. Ich lief direkt hinter ihm, hörte das Schmatzen, als sich die feuchte weiche Masse in der Windel ausdehnte, hörte das Zischen, als der Superabsorber mit Urin geflutet wurde. Und Nic? Der balancierte extrem konzentriert über eines der Taue, das zum Ausgang führte. Kein Zögern. Kein Innehalten. Kein Stirnrunzeln. Ich war selbst kein ganz untalentierter Schauspieler, aber es war ausgeschlossen, diese Art von Kontrollverlust wegzulächeln. Vor allem für einen Achtjährigen. Nic spürte definitiv nicht, was mit seinen Ausscheidungen passierte. Erst als wir gemeinsam vor dem Lift standen, der uns nach unten bringen sollte, blickte Nic irritiert an seinen Körper nach unten. Vielleicht war es sein eigener Geruch, der ihn ablenkte. Oder das Gewicht der Windel zwischen seinen Beinen. Oder es waren die feuchten Flecken, die sich in seinem Schritt, am Po und an der Innenseite seiner Beine abzeichneten. Die Seni lief aus. Das überraschte mich nicht wirklich. Nic aber schon. Die nasse Strumpfhose konnte sich auf der Haut nicht gut anfühlen. “Das war der Saft, den du vorher getrunken hast, Nic!”, versuchte ich ihn ins Bild zu setzen. “Alles nicht schlimm! Wir haben noch genügend Zeit, um dich umzuziehen, bevor wir eine Runde mit den Physiotherapeuten turnen werden!” Keine Ahnung, ob er eine Vorstellung davon hatte, was ein Physiotherapeut war. Aber ganz offensichtlich gab es zumindest keine negativ besetzten Erinnerungen. Denn abgesehen vom etwas steifen, breitbeinigen Gang wirkte Nic fast schon entspannt.
Als der Aufzug mit mit sanftem Ruck im richtigen Stockwerk stoppte und die Tür mit einem sanftem “Pflopp” aufglitt, hatte uns der Klinikalltag wieder. Das grelle Licht der LED-Beleuchtung, der omnipräsente Duft nach hochwirksamen Desinfektionsmittel, der Kunststoffboden, der bei jedem Schritt quietschte. Wir konnten unser Krankenhaus so bunt anmalen wie wir wollten, aber eine Klinik blieb eine Klinik. Und auch Nic nahm die Veränderung war. Ging vom einen auf den anderen Moment steifer. Unsicherer. Zog den Kopf ein, ließ die Schultern hängen. Krallte sich mit seiner Hand in meine. Es wurde Zeit, dass wir hier rauskamen. Nic brauchte aber erstmal eine frische Windel und neue Klamotten. Ich hatte im Spezial-Rucksack von Raissa alles dabei, was wir brauchten. Was fehlte, war ein Wickeltisch. Den gab es in unserer Klinik natürlich in jeder Toilette, allerdings halfen mir die jetzt nicht weiter. Die wickeltische in den öffentlichen Toiletten waren natürlich auf Babys ausgerichtet und nicht auf Patienten in Nics Größe. Deshalb bog ich auch nicht nach links zu den nächsten Toiletten ab, sondern ging einen Abzweig später nach links und öffnete mit meiner Chipkarte die Tür zu einem WC, das auf die Bedürfnisse von Menschen und Gästen im Rollstuhl ausgerichtet war. Dort fand sich neben einer Spezialtoilette und einem höhenverstellbaren Waschbecken auch eine separate ebenerdige Dusche sowie ein großer, elektrisch höhenverstellbarer Wickeltisch. Ich schickte Nic mit einem kurzen Handbewegung zum Waschbecken, um sich die gröbsten Tomatensoßen-Reste aus dem Gesicht zu waschen. Das hätte ich auch gleich auf dem Wickeltisch machen können. Aber das entsprach nicht meiner Überzeugung, Nic trotz seiner unbestreitbaren Probleme und Defizite so viel Eigenständigkeit wie möglich einzuräumen. Er nickte stumm und schlurfte in Richtung Waschbecken, ich drehte mich zum Wickeltisch und hörte ein paar Sekunden später ein Plätschern aus Nics Richtung. Schien also zu funktionieren. Ich griff zeitgleich zu einer Plastikflasche, in der eine grüne Flüssigkeit schwappte, sprühte damit den Wickeltisch ein und wischte anschließend das ganze Teil damit ab. Ich war sicher nicht hysterisch in Sachen Infektionsrisiko, aber wir waren hier immerhin in einem Krankenhaus. Und hier galten eben Regeln. Auch für mich. Sofort stieg mir der typische Geruch in die Nase. Manche Menschen mochten den Duft. Ich gehört nicht dazu. Schnell zog ich eine weiche Einweg-Unterlage aus Zellstoff aus einem Spender an der Wand und bedeckte damit die Wickelunterlage aus Plastik. Dann ließ ich warmes Wasser in das kleine Porzellanbecken neben dem Wickeltisch laufen, weichte Einweg-Tücher darin ein und legte eine frische Seni-Windel aus dem Rucksack bereit. Konnte also fast losgehen, es fehlt nur noch der Hauptdarsteller. Der stand mittlerweile hinter mir. Mit sauberem Gesicht. einem gewissen Stolz in den Augen. Und einem klatschnassen Oberkörper. Hätte mich auch gewundert, wenn das viele Wasser, das ich gehört hatte, wirklich im Waschbecken gelandet wäre. Ein Problem war das nicht, Nics Klamotten mussten eh komplett gewechselt werden.
Ich öffnete deshalb mit knappen Bewegungen die beiden Riegel seiner Latzhose und ließ das nasse Ding einfach zu Boden plumpsen. Dann kam das nasse Longsleeve. Viel trockener wurde es darunter aber auch nicht. Sein grüner Body hatte ebenfalls unter der Aktion “sauberes Gesicht” gelitten. Und den Rest hatte die Seni erledigt, die mehr oder weniger in alle Richtungen ausgelaufen war. Selbiges galt auch für die Tom&Jerry-Strumpfhose. Das gute Stück war wahrscheinlich nicht mehr zu retten. Routiniert streifte ich mir Einweg-Handschuhe über, zog Nic die Hausschuhe aus, schälte ihn aus Strumpfhose und Body und platzierte ihn anschließend vorsichtig auf dem Wickeltisch. Er kannte die Prozedur inzwischen und war super-kooperativ. Die arme Seni hatte der Wucht von Nics Darminhalt wenig entgegenzusetzen gehabt. Sowohl am Rücken, als auch zwischen den Beinen hatte sich die braune Pampe ihren Weg nach draußen gesucht, außerdem war einiges an Urin an Nics Beinen nach unten gelaufen. Schön war das nicht, aber an seinem allerersten Tag hatte Nic deutlich schlimmer ausgesehen. Ich öffnete die Klebestreifen, wischte die gröbsten Spuren ab und ließ das so entstandene Paket mit einem ekligen “Pflomp” im Mülleimer verschwinden. Dann kamen die warmen nassen Tücher zum Einsatz, die ich im Waschbecken eingeweicht hatte. Damit wusch ich Nics Windelbereich, seinen Rücken und die Beine sehr gründlich. Seine Haut sah wieder ganz gut aus, wenn man mal die Narben außer Acht lässt. Ich trocknete ihn gründlich ab und verteilte anschließend dennoch eine Schicht der Spezialcreme des Professors auf Nics Po und rund um seine Genitalien. Dann griff ich in Nics Kniekehlen, zog seinen Po nach oben und platzierte eine frische Windel unter ihm. Vorderteil zwischen den Beinen nach oben ziehen, Klettbänder platzieren, Windelbündchen ausrichten. Fertig. “So, alles wieder frisch!”, kommentierte ich mein Werk. Nic wirkte irgendwie erleichtert, auch wenn ich mir inzwischen zu 100% sicher war, dass er nicht gespürt hatte, was da alles in die Windel gegangen war. Aber er hatte ja keine Probleme mit seiner Nase. Und alleine der Unterschied beim Geruch reichte offensichtlich aus, um Nics Stimmung deutlich zu verbessern. Fehlten noch ein paar Klamotten. Ich angelte den Rucksack aus einer Ecke unterm Wickeltisch und holte lediglich den gelben Body und die grün-grau gemusterte Strumpfhose heraus. Mehr würde er bei den Physios auf keinen Fall brauchen. Dann noch die Hausschuhe. Die stellte ich neben Nic auf die Wickelunterlage. “Kannst du selbst, oder?” Ein pflichtbewusstes Nicken. Konnte er natürlich.
Ich brachte dann noch den Wickelraum zurück in den Ursprungszustand, desinfizierte noch einmal Wickeltisch und Waschbecken und war fünf Minuten später mit Nic auf dem Weg zum Physio-Team unserer Klinik. Klingt nach kleiner Turnbude, war aber das genaue Gegenteil. Was wir hier flapsig schlicht die “Physios” nannten, war eine kleine Spezialklinik in der Klinik. Ein Team aus Orthopäden, Physiotherapeuten, Psychomotorikern und Sport-Therapeuten kümmerten sich ganzheitlich um ihre Patienten. Das reichte von den klassischen Haltungsübungen bis hin zur Anpassung hochmoderner Or- und Prothesen. Mein Smartphone vibrierte stumm und signalisierte mir auf dem Display, dass Behandlungsraum 4 für uns reserviert war. Ich schob Nic durch die offene Tür und setzte ihn auf eine der vier Behandlungsliegen, die alle höchst unterschiedlichen Zwecken dienten. Viel anzufangen war mit ihm in diesem Augenblick eh nicht. Ich konnte sehen, dass er langsam müde wurde. Kein Wunder, der Tag war lang. Und er war nach wie vor erschreckend schwach. Außerdem war er komplett damit beschäftigt, die ganzen Eindrücke in sich aufzunehmen, die in diesem Raum auf ihn einströmten. Konnte ich verstehen. Denn nicht nur für Laien sah es hier aus, wie in einem Indoor-Spielplatz. Ohne lustige Deko, allerdings. Unterschiedliche Matten, Haken, Tücher, Rollen, Klettertürme, Bälle und Motorik-Spielzeug war über den gesamten Raum verteilt. Kleine und große Displays zeigten nicht nur den Namen und die Krankenakte des jeweils aktiven Patienten. Weil ein Hinweisschild es verlangte, zog ich erst meine Schuhe aus und befreite dann Nic von den Hausschuhen.
Quasi im selben Moment trat ein freundlich aussehender älterer Mann durch eine Nebentür, der mir ungefähr bis zu den Schultern ging, dabei aber fast doppelt so breit war, wie ich. Sein schneeweißer Haarkranz, das faltige Gesicht und eine winzige Brille, die an einem grünen Band um seinen Hals baumelte, waren sein Markenzeichen und hatten vor vielen Jahren seinen Spitznahmen begründet: Professor Brille. Eigentlich hieß er Franz Sprüngli, war Schweizer und auch kein Professor, sondern Arzt. Orthopäde, um genau zu sein. Der Beste, wenn es um die langwierige Behandlung von Kindern ging. Ein Mensch, der sein Umfeld in Sekunden auf seine Seite zieht und Vertrauen aufbaut. Alleine durch seine Anwesenheit. Im folgte sein körperliches Gegenstück. Ein blonder Hühne mit kantigem Gesicht. Stahlblauen Augen und militärischem Haarschnitt. Dass er vor allem beim weiblichen Klinikpersonal nur “The Doorman” hieß, der “Türsteher”, war nicht weiter überraschend. Wurde seinem Wesen aber nicht annähernd gerecht. Juri Koloviakov kam aus Estland, war Physiotherapeut und in so ziemlich jeder Form der körperlichen Mobilisierung ausgebildet. Außerdem war er Experte in Sachen Gang- und Bewegungsanalyse. Wenn er nicht bei uns jungen Patienten wieder auf die Beine half, kümmerte er sich um kanadische Spitzensportler. Er arbeitete ausschließlich mit Professor Brille zusammen und betrat niemals einen Raum in dem sich ein Patient befand, alleine. Er wusste um die mehr als einschüchternde Wirkung seines Körpers. Im Gespräch mit beiden bekam man schnell das Gefühl, in den allerbesten Händen zu sein, auch wenn man mit zwei Profis sprach, die irgendwie die Stimmen vertauscht hatte. Dr. Sprüngli sprach mit einem donnernden Bass, während Juri mehr oder weniger piepste wie ein Kanarienvogel. Ich kannte beide seit vielen Jahren und war unfassbar erleichtert, dass gerade dieses Team sich um Nic kümmern würde. Ich umarmte beide herzlich und stellte mich dabei bewusst so, dass Nic jede meiner Bewegungen beobachten konnte. Vor allem im Fall von Juri war es wichtig, dass Nic von Beginn an Vertrauen spürte. Denn Juri würde der sein, der in den nächsten 120 Minuten mit Nic “arbeiten” würde. Ihn berühren musste. Und das ging nur, wenn Nic das auch zuließ. “Ich schlage vor, du nimmst Nic zu Beginn auf den Schoß!”, brummelte Professor Brille ruhig. “Dann besprechen wir in aller Ruhe, was wir in den nächsten Stunden tun werden!” Ich nickte, nahm Nick auf den Arm und folgte Dr. Sprüngli und Juri zu einem großen Bildschirm. Dort setzte ich mich in einen bequemen Stuhl und sorgte dafür, dass Nick auf meinem Schoß Platz fand, dabei aber jederzeit die Situation und den Bildschirm im Blick hatte. Dabei konnte ich spüren, wie aufgeregt er war. Sein Herz pochte gegen meine Brust, seine Handflächen waren nass vor Schweiß. Keine Überraschung. Fremde Menschen, eine fremde Umgebung. Das ließ niemanden kalt. Ich legte eine Hand auf seinen Oberschenkel und hielt ihn mit dem anderen Arm fest umschlungen. Alles gut. Ich bin da. Wie erfolgreich mein Versuch war, Nic ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, war schwer zu sagen. Sein Herzschlag fühlte sich für mich nach wie vor einen Tick zu hektisch ab. Aber immerhin konnte ich spüren, dass er sich nicht weiter verkrampfte.
Dr. Sprüngli öffnete Nics Patientendatei und ließ sich die Befunden des CTs, die Einschätzungen des Professors und alte Röntgenbilder aus Deutschland anzeigen. Nichts, mit dem Nic etwas anfangen konnte. Und genau deshalb ging es ihm und Juri erstmal darum, Nic aus dieser passiven in eine aktive Rolle zu bekommen. “Die vielen Untersuchungen sind blöd, oder?” richtete Professor Brille das Wort an Nic und erwischte ihn damit völlig unvorbereitet. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Und bekam genau das Gegenteil serviert. Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, nickte Nic. Ein kurzes, scheues Nicken. Wahrscheinlich war es die Ausstrahlung von Doktor Sprüngli. Oder die durchweg positiven Erfahrungen, die Nic in den letzten beiden Tagen mit mir und allen Klinik-Mitarbeitern gemacht hatte. Weiß der Teufel. Aber er war offensichtlich bereit, sich dem Doc ein winziges Stück zu öffnen. Ich lief Gefahr, hier und jetzt wegen einer Sauerstoff-Unterversorgung ins Koma zu fallen, aber ich wollte diesen Augenblick auf gar keinen Fall stören. Durch Atmen, zum Beispiel. “Das kann ich mir vorstellen. Aber so wie ich das sehe, machst du das bis jetzt wirklich super!”. Der Professor vermied es, Nic überlange in die Augen zu sehen und war auch sonst in Gestik und Mimik komplett defensiv ausgerichtet. Ein Profi eben. “Und weißt du was, Nic?” Stille. Aber neugierige Kinderaugen. “Hier wird’s lustig! Oder Juri?” Jetzt wurde es spannend. Juri konnte nicht defensiv. Das war ausgeschlossen, mit dem Gesicht eines Türstehers und dem Körper eines Profi-Wrestlers. “Stimmt!”, piepste es aus dem Riesen-Körper. Eigentlich eine rasend komische Situation. Ein unbedachter Lacher hätte jetzt aber unabsehbare Folgen. Ich biss mir also auf die Zunge und verfolgte des perfekt ausgeführte Theaterstück, das der Doktor und Juri ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal aufs Parkett legten. “Wir spielen eigentlich die ganze Zeit!”, kicherte Juri. Der drehte sich unmittelbar darauf um 180 Grad, sprintete zu einem “zufällig” bereitliegenden Schaumstoff-Fußball und ballerte ihn mit einem beherzten Tritt in eine Zimmerecke, wo eine Tor-Begrenzung auf die Wand gemalt war. Anschließend ausgelassener Torjubel. “Stimmt schon irgendwie!”, brummelte der Doktor. “Sowas machen wir hier wirklich den ganzen Tag!” Nic war hin und weg. Ich grinste. Noch ein, zwei Minuten, dann würden sie ihn knacken. Da war ich mir ganz sicher. Juri kam zurück, den Ball in eine seiner riesigen Pranken gestopft. “Spielst du eine Runde mit?” Mir blieb beinahe das Herz stehen. Das war jetzt schon ein bisschen sehr schnell gegangen. “Keine Sorge Josh”, wandte er sich dabei an mich. “Wir machen nicht lang und wissen sehr genau, was wir Nic zumuten können. Ist das okay?” Ich hasste rhetorische Fragen. Die hier musste aber sein. “Ähm, klar. Macht ruhig. Ich muss eh noch was mit dem Doktor besprechen!”. Das war alles, nur nicht gelogen. Auch wenn in mir Gefühle, Ängste und Sorgen Achterbahn fuhren. “Wunderbar!”, brummte es aus der Richtung des Professors. “Es wäre aber gut, wenn du die Strumpfhose ausziehen könntest, Nic! Das ist hier sonst zu rutschig. Und auch der Body kann weg!” Aus einem Reflex heraus hob ich Nic von meinem Schoß, griff in den Hüftbund seiner Strumpfhose und wollte sie ihm ausziehen, als Juri mir plötzlich seine riesige Hand auf die Schulter legte und mich ganz ruhig darauf hinwies, dass Nic das doch sicher selbst konnte. Uff. Der nächste Klopper. Es war überhaupt keine Frage, dass ein Achtjähriger in der Lage war, sich eine Strumpfhose selbst auszuziehen. Aber Juri sprach hier über einen schwerst traumatisierten Jungen, der nur hauchdünn dem Tod von der Schippe gesprungen war. Zum Glück sprang mein Verstand rechtzeitig wieder an. Trotz Trauma, Schnuller und Windel: Nic war acht Jahre alt. Er konnte es zumindest versuchen. Ganz ohne Hilfestellung wollte ich ihn dann aber doch nicht lassen. Ich griff mit der anderen Hand ebenfalls in den Bund seiner Strumpfhose, zog sie ein Stück nach unten und öffnete mit einer schnellen Bewegung die drei Druckknöpfe zwischen seinen Beinen. “Du schaffst das, Nic!”, flüsterte ich ihm ins Ohr, als er zögerlich aber ohne erkennbaren Zweifel mit Juri zu einer niedrigen Bank ging und sich dort die Strumpfhose auszog. Elegant war anders. Aber es klappte. Beim Body war’s ähnlich. Ohne die fiesen Knöpfe war das ja eigentlich nur ein etwas längeres T-Shirt. Ein bisschen zupfen hier, etwas zerren dort, dann flog das Teil zur Strumpfhose. Juri bot Nic ein “High Five” an, in das mein kleiner Bruder extrem vorsichtig einschlug. Ich sah ihm an, welche Kämpfe in ihm tobten. Hier der kleine Draufgänger, dem bis vor einem Jahr kein Weg zu weit gewesen war, um eine Runde Kicken zu können. Und dort die zerbrochene Seele, die sich vor lauter Angst sogar weigerte, zu sprechen. Für den Moment hatte der Fußball die Oberhand gewonnen. Ich war Psychologe. Ich wusste, dass das binnen Sekunden umschlagen konnte. Und gerade deshalb flehte ich inständig darum, dass der Moment möglich lange andauern würde.
Also Juri begann, mit Nics Zustimmung (und Hilfe) bunt schillernde Klebepunkte auf dem kleinen Körper zu verteilen, fiel bei mir endlich der Groschen, wozu diese ganze Fußball-Aktion dienen sollte. Es ging um eine Bewegungs-Detailanalyse mit Hilfe von Kameras und einem Echtzeit-Computersystem. Die Kameras erfassten nicht Nic als Person, sondern stellen lediglich die Position der Klebepunkte dar. Über einen längeren Zeitraum aufgezeichnet, ließen sich damit komplexe Bewegungsmuster analysieren und Auffälligkeiten genau zuordnen. “Willkommen in unserem Alltag!”, nuschelte der Professor in seinen nicht vorhandenen Bart. Er hatte mir offensichtlich angesehen, dass es gerade “klick” gemacht hatte. Mit einer lässigen Swipe-Bewegung wechselte er das Bild auf dem Display. Statt der Patienten-Daten tanzten jetzt weiße, nur mit einer dünnen Linie verbundene Punkte durch den ansonsten schwarzen Raum. Ein Strichmännchen, das ganz offensichtlich Aufwärmrunden drehte. Das passte zu dem Bild, das meine Augen lieferten. “20 Minuten vertrauter Sport liefern alles, was wir über Fehlstellungen und körperliche Defizite wissen müssen”, erklärte Professor Brille, während der nach seiner Brille tastete, ohne dabei den Monitor aus den Augen zu lassen. “Juri gestaltet das wie eine Mini-Trainingseinheit: Aufwärmen, Dehnübungen, Trockenübungen mit und ohne Ball und zum Schluss ein kleines Spiel! In Kombination mit den Bilder aus dem CT und den übrigen Daten wissen wir in gut einer Stunde, worauf es in den nächsten sechs Monaten bei Nic ankommen wird!” Ich nickte tief beeindruckt. Auch, weil selbst ich auf dem Display sah, dass Nic sich definitiv nicht rund bewegte. Die Bewegungsabläufe stimmten, aber irgend etwas störte die Symmetrie. “Es ist die Hüfte!”, half mir der Doktor weiter, während er vier Punkte rund um Nics Körpermittelpunkt mit einer schnellen Geste markierte. Jetzt lief der ausgewählte Bereich in Zeitlupe ab und enthüllte, was mich gestört hatte: Bei jedem dritten oder vierten Schritt knickte Nics Hüfte auf der linken Seite leicht ein. “Zu 100% kommt das von einer der eingebrachten Titanschrauben”, diagnostizierte der Doktor. “Hätte mich auch gewundert, wenn das nicht der Fall gewesen wäre.” In den nächsten Minuten markierte Doktor Sprüngli weitere auffällige Bereiche an Nics Körper. Ich sah irgendwann nicht mehr hin. Ganz sicher nicht, weil mein Interesse nachgelassen hatte. Im Gegenteil. Der Grund war Nic. Also, der echte Nic. Nicht sein Strichmännchen.
Der kleine zerbrechliche Nic blühte auf dem Spielfeld nämlich komplett auf. Zumindest gemessen an den Maßstäben, die für einen Achtjährigen gelten, dessen Hüfte nur noch von Titanplatten und -Schrauben zusammengehalten wird. Ein blinder mit Krückstock konnte sehen, dass er bei fast jeder schnellen Bewegung Schmerzen hatte. Dass bestimmte Bereiche seiner Körpers noch nicht in der Geschwindigkeit funktionierten, wie er es gewohnt war. Deshalb dauerte es eine ganz Weile, bis Juri herausgefunden hatte, ab welcher Größe Nic Bälle fangen konnte. Nic war offensichtlich sehr gut darin, die Flugbahn von Gegenständen vorauszusehen. Er wusste, wohin so ein Ball flog. Aber weder seine Arme, noch seine Beine waren in der Lage, schnell genug zu reagieren. “Psychomotorisch hängt er mindestens vier Jahre hinterher. Eher fünf”, trug Professor Brille in eine Tabelle ein. Ich war ehrlich schockiert. Was wiederum den Doktor überraschte. “Josh, es ist ein Wunder, dass Nic zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon wieder laufen kann! Und vergiss mal die Psychomotorik. Die kriegen wir mit einer intensiven Therapie wieder hin. Entscheidend ist, dass ich mir inzwischen fast sicher bin, dass alles was ich hier sehe, mehr oder weniger therapierbar ist. Nicht alles kurzfristig. Einiges erst nach ein paar Eingriffen. Aber therapierbar!” Jetzt war ich wieder schockiert. Sagte mir der Doc hier gerade, dass Nic ernsthaft wieder gesund werden würde? “Ja, das sage ich!”, brummelte er. “Zumindest aus orthopädischer Sicht!” Die Nachricht war in ihrer Schlichtheit kaum zu überbieten. Und raubte mir dennoch den Atem. Ich hatte schlagartig einen Klos im Hals. Und Tränen in den Augen. Für mich war klar gewesen, dass ich meinen Bruder zu mir holen würde. Pflegefall hin oder her. Und jetzt sah es so aus, dass wir beide nicht nur als Familie zusammenwachsen konnten, sondern aus uns beiden ein ziemlich wilder Männer-Haushalt werden konnte. Das war so viel mehr, als ich nach den vielen Rückschlägen der letzten Monate zu hoffen gewagt hatte.
Nic und Juri hatten in der Zwischenzeit Aufwärmphase, Dehn- und Trockenübungen hinter sich gebracht und wechselten jetzt zum 11-Meter-Schießen. Nics war in diesem Moment kaum wiederzuerkennen. Seine Augen leuchteten. Das Schneckenhaus, in das sich seine Seele zurückgezogen hatte, war für diesen kleinen Moment durchsichtig geworden. Er war da. War für einen winzigen Augenblick er selbst. Ich konnte mich daran kaum sattsehen. Juri sich im Tor platziert und füllte den Kasten mehr oder weniger komplett aus. Nic platzierte den Ball in einiger Entfernung und nahm Anlauf. Viel zu viel Anlauf. Als er losrannte, war da wieder die einknickende Hüfte, waren die Schmerzen. Aber er rannte. Er wollte diesen Ball ins Tor hämmern. Wollte es mit jeder Faser seines geschundenen Körper. Da war er wieder. So ein magischer Moment. Ich konnte sehen, wie ein Teil seiner bleischweren Hülle Risse bekam. Konnte spüren, wein das erste Steinchen einer tonnenschweren Last bröckelte. Jeder Schritt, den Nic da gerade rannte, brachte ihn und uns ein winziges Stück zurück ins Leben. Ich hört seinen nackten Füß auf der weichen Matte aufpatschen, hörte das Knistern seiner Windel und hörte einen erleichterten Schnaufer, als Nic mit all der Kraft, die ihm noch zur Verfügung stand, den großen Schaumstoff-Ball in Juris Richtung trat. Der hätte die Kugel lässig fangen können. Tat er aber nicht. Er blieb stehen und ließ den Ball gegen den Pfosten klatschen. Eine Niederlage für Nic? Im Gegenteil. “Mensch, das war knapp!”, schnaufte Juri erleichtert. “Da hätte ich echt keine Chance gehabt!”. Er war nicht nur ein großartiger Physiotherapeut, sondern auch ein brillanter Schauspieler. Die perfekte Mischung für Nic. Der stand komplett erschöpft und ein bisschen verloren und Raum und suchte mit seinen Augen Halt. Und genau den konnte ich ihm bieten. Ich sah ihm in die Augen, legte all meinen Optimismus und Zuneigung in diesen Kontakt. Mit Erfolg. Nic kam langsam auf mich zu. Strahlte. Ohne dabei einen Ton von sich zu geben. Das war jetzt aber auch nicht wichtig. Er schlang die Arme um meinen Hals und klammerte sich an mir fest. “Hast du das gesehen!?”, drang es aus jeder Faser seines Körpers. “Ich kann’s noch!”. Ich schluckte. “Klar hab ich das gesehen, mein Großer!”, flüsterte ich ihm ins Ohr. “Das war der Knaller!”
So schnell die Euphorie gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Nic fiel in meinen Armen regelrecht in sich zusammen. Die Körperspannung, die ihn noch vor wenigen Sekunden größer und fitter hatte wirken lassen, als er in der Realität war, verschwand. Was blieb war dieser magere Achtjährige in meinen Augen. Und ein kleines, helles Flackern in seinen Augen. Unser Stern der Hoffnung.
So ein grundlegender Wechsel der körperlichen Verfassung war keine Überraschung für mich. Und für Professor Sprüngli und Juri schon gar nicht. Wir hatten besprochen, dass Nic jetzt noch mindestens 45 Minuten von Juri passiv behandelt werden sollte. Mit einer Mischung aus Dehn-Übungen sowie Elementen aus der Vojta-Therapie und der Bobath-Methode. Ziel war es, Nics Körperbewusstsein und Koordination zu fördern. Insgesamt konnte das alles deutlich sanfter ausfallen, als wir befürchtet hatten. Denn Nic war zwar in einem insgesamt miserablen körperlichen Zustand, litt aber nicht unter großflächigen körperlichen Ausfällen.
Vor allem vor den Vojta-Elementen hatte ich etwas Bammel. Die bei der Vojta-Therapie durch gezieltes Drücken ausgelösten Bewegungsmuster, waren nicht immer angenehm. Und vor allem für ältere Patienten sogar verstörend, weil ein Körper im Laufe der Behandlung unabhängig vom Willen des Patienten zwei Bewegungskomplexe ausführt: Reflexkriechen und Reflexumdrehen. Bewegungsmuster, die die Grundlage für praktisch alle Bausteinen der menschlichen Fortbewegung bilden. Aber eben auch unangenehm, weil nicht selbst gesteuert. Meine Skepsis war zum Glück unbegründet. Nachdem ich Nic vorsichtig auf eine weiche Behandlungsliege gelegt und mit ihm besprochen hatte, was in den nächsten Minuten passieren würde, blieb er ruhig. Er kannte ja nun Juri. Und würde sich problemlos von ihm berühren lassen. Juri war schlau. Er zog kein knallhartes Therapieprogramm durch, sondern kombinierte die “anstrengenden” Elemente immer wieder mit angenehmen Griffen und Übungen. So blieb Nic entspannt. Und ich damit auch. Ich konnte nicht sagen, dass er Juris Behandlung vielleicht sogar genoss. Aber ganz offensichtlich hatte er auch kein Problem damit. Mehr war nicht wichtig. Ich konnte mich also in aller Ruhe zusammen mit Doktor Sprüngli auf die Auswertung der Untersuchungsergebnisse konzentrieren. Wir positionieren uns dabei so, dass Nic mich jederzeit im Blick hatte, erstmal aber nicht hören konnte, was wir besprachen. Die wichtigsten Erkenntnisse hatte der Doc mir ja bereits vorhin mitgeteilt: Zentral für Nics motorische Entwicklung war seine geflickte Hüfte. Die war zwar so weit stabil, durch die unter großem Zeitdruck ausgeführten Not-Operationen aber gefährlich schief fixiert. Außerdem war Nics linkes Hüftgelenk in Mitleidenschaft gezogen worden. In beiden Fällen half nur eine korrigierende Operation, die aber frühestens in zwei Monaten erfolgen konnte. Nic musste erst körperlich stabiler werden. Deutlich zunehmen. Außerdem hatte er nach wie vor viel zu viele Medikamenten-Reste im Körper. Das Problem: Nach der OP würde Nic fast 14 Tage in einem Gipsbett verbringen müssen. Alleine die Vorstellung daran drehte mir fast den Magen um. Ich hatte inzwischen die Hoffnung, dass Nic in acht Wochen mindestens 5 Kilo schwerer sein würde. Und mindestens doppelt so fit, bzw. beweglich. Und das dann wieder alles auf Null zurücksetzen und ihn für zwei Wochen ans Bett fesseln? Das war grausam. Doktor Sprüngli war da aber sehr klar. “Wir haben keine Alternative! Wenn wir alles so lassen wie es ist und Nic lediglich mit Schmerzmitteln behandeln, laufen wir gefahr, dass Nic spätestens mit dem Einsetzen des Wachstumsschubs zur Pubertät hin im Rollstuhl sitzt oder mindestens ein neues Hüftgelenk braucht!” Ich spürte, wie die Verantwortung, die ich für Nic empfand, offiziell aber erst in wenigen Stunden hatte, bereits jetzt schwer auf meinen Schultern lastete. Ich schloss die Augen. Atmete tief durch und nickte. “Wir ziehen das durch, Doc!” Er schloss darauf hin Nics Akte auf dem Bildschirm und schickte das ganze Paket digital zurück ins System. “Der Professor wird dir alles mitgeben, was du von unserer Seite aus zu tun hast: Übungen, Termine, usw. Juri wird nächste Woche zwei Mal zu euch hochkommen und schauen, ob das mit der Therapie zu Hause klappt. Der nächste Kontrolltermin hier in der Klinik ist erst in vier Wochen nötig!” Ich wusste, dass ich mir das nicht merken musste. Der Professor würde mir alle wichtigen Daten und Termine in meinen Cloud-Kalender schicken.
Als ich Nic bei Juri aufgabelte war mein kleiner Bruder erstmal sichtlich enttäuscht, dass das hier alles schon zu Ende sein sollte. Juri hatte zum Abschluss mehr oder weniger auf Wellness-Behandlung umgeschaltet. Entsprechend entspannt war Nic. Er hatte den Körperkontakt genossen. Hatte viel zu lange auf positive Berührungen verzichten müssen. Und ich wusste, wie wichtig die für ihn waren. Weil ich unsere Mutter kannte. Die war in allem, was sie getan hatte, stets strukturiert und “aufgeräumt”. Sie liebte die Ordnung. Aber sie liebte auch ihre Kinder. Sie war klar in ihrer Erziehung. Ihre Grenzen waren extrem weit gesteckt, aber für ihre Kinder mehr als gut erkennbar. So war es bei mir gewesen. Und so war es auch bei Nic bis zu ihrem Tod. Auch er sollte und durfte sich ausprobieren. Sollte unangepasst sein. Durfte rebellieren. Aufbegehren. Über die Stränge schlagen. Aber er durfte auch jederzeit zu ihr kommen, wenn ihm das alles eine Nummer zu groß war, er übers Ziel hinausgeschossen, sich selbst dabei verloren war. Dann war da unsere Mutter. Ihre Umarmung. Ihre Wärme. Ihre Streicheleinheiten. Ich wusste genau, was Nic fehlte. Weil ich das Glück gehabt hatte, diese Erfahrungen viel länger machen zu dürfen, als er. Ich hob ihn langsam von der Liege, war Juri einen dankbaren Blick zu und schloss Nic in die Arme. Er klammerte sich nicht mehr an mich, wie ein Ertrinkender, sonder eher wie ein kleines Äffchen. Das Nähe und Wärme braucht. Beides konnte ich ihm geben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Seni schwer zwischen seinen Beinen baumelte. Alles andere hätte mich auch überrascht. Juri hatte es geschafft, dass Nic sich entspannte. Und das galt eben auch für seine Blase. Ich wollte ihn eh wickeln, bevor wir uns auf den Weg zum Professor machten. Der war als nächstes dran. Eigentlich standen ja noch die Psychologen auf dem Programm. Darauf wollte der Professor aber verzichten. Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse waren eindeutig und den noch ausstehenden Intelligenztest konnte auch ich mit Nic machen. Psychologe war Psychologe. Damit konnten wir die halbe Stunden Zeitverzug wieder reinholen, die wir seit dem Vormittag mit uns rumschleppten und hatten so einen Stunde Luft zwischen dem Termin beim Professor und dem Transfer zum Flughafen, wo Juli zum letzten Mal auf Franziska Endermann treffen würde. Auf eine ziemlich gestresste Franziska Endermann. Denn in den letzten beiden Tagen war so ziemlich alles schief gelaufen, was man sich nur vorstellen konnte. Ich könnte mir ein böses Grinsen nicht verkneifen, wollte aber auf keinen Fall, dass Nic davon etwas mitbekam. Es würde später auch so schon schwer genug für ihn werden.
Juri zeigte mir den Weg zu einem Wickeltisch, der in einer Ecke des Behandlungszimmer hinter einem Vorhang untergebracht war. Er zog eine Einmal-Wickelunterlage von der Rolle an der Wand und legte sich auf die gepolsterte Oberfläche des Tisches. “Braucht ihr warmes Wasser?” fragte er professionell? Ich schüttelte nur kurz den Kopf. Das würde locker mit den Feuchttüchern gehen. Ich legte Nic auf die leise knisternde Unterlage und stellte meinen Rucksack auf einen Stuhl neben dem Tisch. Mit zwei Handgriffen hatte ich die Dose mit der Zaubercreme, ein Päckchen Feuchttücher und eine frische Windel daraus hervorgezaubert und neben Nic platziert. Fehlten noch die grün-grau gemusterte Strumpfhose, das grüne Longsleeve-Shirt mit Sesamstraßen-Aufdruck und die blaue Jeans-Latzhose. Das war, für meinen Geschmack ein sehr schlichtes Outfit, wenn man mal bedachte, dass Nic darin endgültig in sein neues, besseres Leben starten würde. Raissa, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, hatte es sogar schäbig genannt. Aber: Auch der schlichte Look beim finalen Übergabetermin gehörte zur Inszenierung. Nichts sollte darauf hindeuten, dass wir Nics Gesundheitszustand, seine geistige Leistungsfähigkeit und seine Entwicklungschancen grundlegend anders einschätzten, als die Endermann. Wäre das der Fall gewesen, dann würde sie Nic wieder mit nach Deutschland nehmen. Das Recht dazu hatte sie. Zumindest theoretisch. Sie hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Nic als sabberndes, schwer erziehbares Explosionsopfer für immer wegzusperren, mit Medikamenten ruhig gestellt. Also musste sie bei der Übergabe auch ungefähr diesen Nic zu sehen bekommen. Wir hatten uns entschieden, als Wohltäter aufzutreten und der Endermann glaubhaft zu versichern, dass Nics Gesundheitszustand noch viel hoffnungsloser war, als wir ihre Unterlagen hatten entnehmen können. Für diesen Fall wären wir nämlich berechtigt, Nic wieder zurückzuschicken. Sozialsysteme konnten grausam sein. Als Wohltäter war ich aber dennoch bereit, das Sorgerecht für Nic zu übernehmen und alle Kosten der Unterbringung in einem geschlossenen Pflegeheim zu tragen. Wir halfen ihr, das Problem Nic loszuwerden. Wenn sie diesen Köder schluckte, wäre das der offizielle Anfang von Nics und meinem neuen Leben. Aus zwei Brüdern würde wieder eine Familie werden. Und Franziska Endermann würde sich in einen Alptraum verwandeln.
Autor: DerBeobachter (eingesandt via E-Mail)
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Ich bin so froh, dass die Geschichte weitergeht und freue mich bereits jetzt auf weitere Folgen;)
War wieder völlig fasziniert.
Danke für die Geschichtd
Unglaublich wie gut du schreibst!!
Man sieht und liest eindeutig, da war bzw kann nur ein Profi am Werk gewesen sein!!
Ich freue mich immer wenn ich lese dass es einen neuen Teil gibt.
Für gewöhnlich lass ich alles stehen und liegen um dann die Gelegenheit zu nutzen und die Story zu lesen!
Ich habe mich auch sehr gefreut einen neuen Teil von Nic zu lesen
Das mit dem E-Book ist eine tolle Idee!
Moin wieder ein sehr gefühlvoller neuer Teil ich danke Dir und hoffe das es genau so weiter geht