When 2 become 1 (16)
Windelgeschichten.org präsentiert: When 2 become 1 (16)
Jeder Schritt in Richtung Wohnzimmer kostete mich Überwindung. Was, wenn Nic wach wurde? Mich brauchte? Ich konnte ihn doch nicht alleine da liegen lassen, in einer Umgebung, die ihm völlig fremd war! Raissa und Stevens versuchten nicht, mir das auszureden. Warum auch. Es war ganz normal, was ich gerade durchmachte. Steven reichte mir ein Glas Gin Tonic. Das einzige alkoholische Getränk, das ich zu mir nahm. “Lass und auf Nic anstoßen, Josh! Dann besprechen wir, wie die nächsten drei Tage ablaufen sollen. Anschließend verschwinden Raissa und ich nach Hause. Es war ein langer harter Tag für uns alle!” Und so hatten wir das dann auch gemacht. Nach dem dritten Glas wurde ich ruhiger. Und war bereit, zur Tagesordnung über zu gehen. Morgen, darauf hatten Steven und Raissa bestanden, würde uns hier niemand stören. Ein Tag, nur für Nic und mich. Keine Besuche, keine Anrufe, keine Mails. Nur wir beide. Und ein Haus, eine Umgebung, ein Ort, der für Nic komplett unbekannt war. Er sollte Zeit bekommen, sich hier alles anzusehen. Jeden Winkel zu erforschen. Vielleicht aber auch einfach nur, mit mir im Bett rumgammeln. Spielen. Oder aus dem Fenster gucken. Wir würden sehen. Am Tag drauf würden uns Raissa und Emma besuchen. Einen Tag später, so der Plan, würden Nic und ich unseren ersten Ausflug unternehmen. Zu Raissa und Steven. Frühstück bei der Großfamilie. So zumindest die Theorie. Ob wir Nic wirklich schon am dritten Tag mit den fünf Frederikson-Jungs konfrontieren wollten, würden wir sehen.
30 Minuten später waren Steven und Raissa auf dem Weg nach Hause und ich lag frisch geduscht in meinem Bett. Nic hin oder her: Das fühlte sich großartig an. Nach Wochen im Hotel und zum Schluss in der Klinik war der Wechsel in ein vertrautes Schlafzimmer ein Segen. Obwohl ich die Müdigkeit in jeder Faser meines Körper spüren konnte, fand ich nicht so schnell in den Schlaf. Es waren aber nicht die Erlebnisse der letzten Tage, die mich nicht einschlafen ließen. Das hatte ich im Griff. Es war Nics Nähe. Ich konnte ihn spüren, sah das dezente Leuchten seiner Trinkflasche, hörte seinen Atem, roch die Mischung aus Waschmittel und Windelcreme, die von ihm ausging. Er war noch immer in die Patchwork-Decke gewickelt, hatte sich aber um 180 Grad gedreht und einen Arm auf meine Matratze ausgestreckt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das wirklich bequem war, hütete mich aber davor, jetzt an Nic herum zu zerren. Ich positionierte mich so, dass Nic mich nach dem Aufwachen sofort im Blickfeld hatte und strich vorsichtig über seine Hand, die direkt neben mir lag. Jetzt erst fühlte sich das alles langsam richtig an. Freie Bahn für die erste Nacht im neuen Leben.
Es war die Stille, die mich weckte. Das konnte gar nicht anders sein. In der Klinik war es nie ganz ruhig gewesen. Irgendwo piepste da immer was. Und wenn auf den Fluren Ruhe war, fuhr garantiert irgend ein Einsatzfahrzeug von Feuerwehr, Polizei oder Rettungsdienst laut lärmend durch die City. Hier war das anders. Geräusche gab es hier nur, wenn auf der Skipiste nebenan was los war. Also erst ab ungefähr 9 Uhr. Das war aber noch lange hin. Kurz vor sechs hatte mein Körper die Stille offensichtlich nicht mehr ausgehalten. Schon okay. Ich war eh kein Langschläfer. Und ich mochte genau diese Zeit. Die Morgensonne, die hier am Berg um diese Jahreszeit eh nicht mehr war, als ein nettes Glühen in der Dunkelheit, quälte sich stück für Stück den Berg hinauf und würde frühestens in 20 Minuten in der Küche eintreffen. Nochmal 20 Minuten später dann in meinem Schlafzimmer, kurz darauf im Zimmer von Nic. Im Frühjahr rannten um diese Zeit gerne auch mal Eichhörnchen oder Rehe über die Terrasse vor dem Fenster. Jetzt lag da nur eine dicke Isolierschicht aus Schnee, die zusätzlich alles an Geräuschen schluckte, was die Natur so zu bieten hatte. Wie gesagt, ich mochte diese Magie der Ruhe. Es gab Menschen, die nicht mit dieser Art von Einsamkeit und Ruhe klar kam. Da zählte ich explizit nicht dazu.
Nic schien weiter tief zu schlafen und hatte sich im Laufe der Nacht offensichtlich mehrfach durch sein “Nest” gearbeitet und dabei auch gleich die Trinkflasche zur Hälfte geleert. Gut so. Um ihn ja nicht zu wecken, versuchte ich einfach fünf Minuten lang, mich nicht weiter zu bewegen. Was mir sehr schnell selbst albern vorkam. Und es wahrscheinlich auch war. Nic würde wach werden, wenn ich mich auf den Weg in die Küche machte. Oder eben nicht. Ich schlug also entschlossen meine Decke zurück und machte mich auf den Weg in die Küche. Kurzer Blick über die Schulter: keine Bewegung. Entweder war er ein wirklich guter Schauspieler, oder er hatte wirklich viel Schlaf nachzuholen.
Wie sich eine Stunde später zeigte, war es eher Letzteres. Ich hatte mich in der Zwischenzeit nicht nur angezogen und einen wundervollen ersten Espresso in den ersten Strahlen der Morgensonne genossen, sondern auch schon einen Teil des Frühstücks vorbereitet. Ohne genau zu wissen, was ein Siebenjähriger morgens gerne essen wollte. Zum Glück hatte Raissa die Vorratskammer derart reichhaltig bestückt, dass ich wirklich jeden noch so ausgefallenen Wunsch würde erfüllen können. Mehrmals verspürte ich den Drang, zu Nic ins Schlafzimmer zu gehen. Um ihn zu wecken. Oder mindestens nach ihm zu sehen. Allerdings hatte ich auch Raissas Worte im Ohr. Außerdem hatte mich die komplett problemlose Nacht ein bisschen mutiger gemacht. Vielleicht wäre er ja schon selbstbewusst genug, sich selbst den Weg in Richtung Frühstück zu suchen. Ich ließ einfach die Tür ins Schlafzimmer auf und gab mir keine große Mühe, keinen Lärm zu machen. Teller klirrten, Töpfe klapperten und natürlich piepste dann auch irgendwann die elektronische Eieruhr.
Es dauerte dennoch weitere 20 Minuten, bis ich spürte, dass ich nicht mehr alleine war. Ich kam gerade mit ein bisschen frischem Obst aus der Speisekammer zurück, da meinte ich, eine Bewegung im Flur zu spüren. Sehe konnte ich dort noch nichts. Aber nahm wahr, dass da jemand über die massiven Dielen schlich. Leise. Unsicher. Aber neugierig. Egal wie, es war der Wahnsinn. Nic war aufgewacht und nicht einfach nur verängstigt in seinem Bett liegen geblieben. Erkundete seine neue Umgebung. Alles in mir schrie danach, auf ihn zu zu rennen. Ihn in Empfang zu nehmen. Mein Verstand und meine Erfahrung hielten mich aber davon ab. Lass ihn kommen, Josh! Und genau das tat ich. Ich setzte Milch für einen Kakao auf, schnibbelte Obst und fing an, Eier zu verrühren. Und bei jedem Arbeitsschritt wurde Nic für mich ein Stück sichtbarer. Erst die Wuschelfrisur, dann ein Teil seines Gesichts, dann der Oberkörper bis er schließlich komplett im Durchgang zur Küche stand. Eng an einen massiven Baumstamm gedrückt, der den Übergang zur Küche markierte. Er sah ein bisschen aus wie Linus von den Peanuts, hatte natürlich noch den Schnuller im Mund und den ganzen Weg vom Schlafzimmer hierher die Patchwork-Decke hinter sich hergezogen. Ich konnte fast körperlich greifen, wie unsicher er war. Da war aber noch etwas. Neugier. Ein winziger Funke Neugier hatte von seinen Augen Besitz ergriffen. Ich bekam eine Gänsehaut. Hatte mich aber im Griff. “Hast du Hunger?”, fragte ich betont beiläufig und sehr leise. Stille. Gefolgt von einem sehr zaghaften Nicken. “Super, geht gleich los!” Wieder ein Nicken. Dann ein paar Schritte. Und der Hauch eines Lächelns. Nic war auf dem Weg zum Frühstück. Zu unserem ersten gemeinsam Frühstück in unserem zu Hause. So langsam übernahm mein Herz das Kommando und schickte den Verstand aufs Abstellgleis. Und das war auch gut so. Denn eigentlich hätte ich Nic auf jeden Fall noch vor dem Frühstück wickeln müssen. Ich konnte sehen, wie nass seine Windel war. Ohne Body als Begrenzung würde die Seni wahrscheinlich längst auf Kniehöhe baumeln. Auch die Strumpfhose hätte dringend gerichtet werden müssen, links schlackerte ein Teil des Strumpfhosenbeins leer durch die Gegend. Das war mir jetzt aber komplett egal. Die Sachen mussten nachher eh in die Wäsche. Und wenn die Windel auslief, dann lief sie eben aus. Ich wollte jetzt Frühstücken. Mit meinem Bruder. Und genau das taten wir dann auch.
Ich verzichtete darauf, Nic in die letzten Vorbereitungen des Frühstück einzubinden sondern beschränkte mich lediglich darauf, ihm den Schnuller abzunehmen. Er würde in Zukunft noch oft genug helfen dürfen. Müssen. Das war schließlich kein Hotel hier. Und so ein Männerhaushalt konnte trotz aller Toleranz nur dann funktionieren, wenn Nic ebenfalls ein paar Aufgaben übernahm. Aber: Das hatte Zeit. Ich wusste aus meinem Studium, das bereits normale Kinder in Nics Alter nur schwer mit überraschenden Ortswechseln klar kamen. Und Nic hatte nicht nur die Zerstörung seines Elternhauses in den Knochen, sondern war im Anschluss auch durch diverse Kliniken und Pflegeheime geschoben worden, ohne jemals irgendwo die Chance zu haben, anzukommen. Das würde jetzt anders werden. Der Professor hatte vor unserem Abschied nochmal betont wie wichtig es sei, Nic nicht mit Informationen zu überrollen. Er sprach nach wie vor nicht und wir gingen davon aus, dass das ein Schutzmechanismus war, den sein Körper ausgelöst hatte. Nicht zu sprechen reduziert automatisch die Reize, die auf einen einströmen. Weil man selbst weniger Signale sendet und ganz deshalb auch viel weniger zurückkommt. Deshalb war es wichtig, Ansprache und Informationen sorgfältig zu filtern. Nic war sieben Jahre alt, da würde die Neugierde ganz von selbst die Oberhand gewinnen. Bis jetzt schien der Plan aufzugehen.
Und auch Raissa hatte genau richtig gelegen: Auch wenn Nic noch keine 12 Stunden hier war, gab ihm dieses Umfeld Sicherheit. Dieses Haus gab ihm Sicherheit, weil ich mich hier sicher fühlte. Anders war nicht zu erklären, dass er alleine aufgestanden und in die Küche marschiert war. Und auch seinen Platz am Tisch hatte er selbst in Beschlag genommen. Den Kinderstuhl mit der erhöhten Sitzfläche kannte er von zu Hause, genau deshalb hatte ich Raissa gebeten, so einen zu besorgen. Nic war selbst hochgeklettert und hatte neben mir Platz genommen. Eine erstaunliche Wandlung. Noch vor zwei Tagen in der Klinik hatte er keinen Schritt ohne meine Aufforderung gemacht. Aus Sicht eines Psychologen war mir das fast ein bisschen zu schnell, ich würde aber einen Teufel tun, und Nic in irgend etwas bremsen. Und schon gar nicht in seinem Appetit. Der Professor hatte mich darauf hingewiesen, dass Nic extremen Nachholbedarf hatte. Sein Körper hing in seiner Entwicklung fast zwei Jahre zurück und selbst verglichen mit einem normalen fünfjährigen Jungen war Nic zu leicht. Entsprechend reichhaltig sollte ich die Mahlzeiten gestalten, trotzdem aber penibel auf Fett und Zucker achten. Entscheidend war, dass Nic sich ausgewogen ernährte. Also hatte ich schweren Herzens die Nuss-Nougat-Creme weggelassen. War sicherlich auch für mich kein Fehler. Als kleine Entschädigung gab’s Kakao. Das fand ich nur fair. Es zeigte sich aber, wie richtig die Entscheidung war, auf die Schoko-Pampe zu verzichten, denn Nic trank drei Becher Kakao. Ich war mir sicher, dass sich das beim nächsten Windelwechsel rächen würde, aber wahrscheinlich musste er diese Erfahrung selbst machen. Außerdem wanderten noch eine Riesen-Portion Rührei, zwei Vollkorn-Brötchen mit Frischkäse und Salami, ein halber Teller Obst sowie drei Frühstücks-Würstchen in Nics Magen. Zum Glück stand für heute Mittag lediglich eine Suppe auf dem Plan.
Frühstück hin oder her, Nics Augen waren die gesamte Zeit am Tisch über intensiv damit beschäftigt, das neue Umfeld zu erkunden. Zunächst hatte er erst versucht, möglichst unauffällig bis in die letzte Ecke des Wohnbereichs zu sehen, zum Schluss flogen Kopf und Augen nur so hin und her. “Willst du dir nachher das Haus ansehen?”, wollte ich von ihm das Offensichtliche wissen. Ich konnte sehen, dass er sich ertappt fühlte. Ertappt und erleichtert. Ich hatte ausgesprochen, was ihn umtrieb. Natürlich wollte er sehen, wo er hier war. “Gut. Dann schlage ich vor, dass ich erst die wichtigsten Frühstücks-Sachen wegräume, wir dich dann frisch machen und ich dir anschließen das Haus zeige, okay?” Statt des erwarteten Kopfnickens sprang Nic allerdings von seinem Stuhl und zog mich hinter sich her in Richtung Schlafzimmer, an dem wir aber zielsicher vorbeimarschierten, nur um zehn Sekunden später ins Kinderzimmer abzubiegen. Da schau an, er hatte vorhin also nicht nur den Weg in die Küche gefunden, sondern auch “seinen” Raum. Was natürlich weit weniger spektakulär war, als mir das in das im ersten Moment vorkam. Immerhin stand sein Name in großen bunten Holzbuchstaben an der Tür. Er wollte als in sein Zimmer, während ich das Frühstück wegräumte. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Ich ging vor Nic in die Hocke und begann, zumindest mal das schlabberige Strumpfhosenbein zu richten. Wie befürchtet war Nics Windel inzwischen ein gutes Stück an ihr maximales Fassungsvermögen rangerückt und hatte einen Teil der Nässe über die Bündchen abgeleitet, was sich an den dunklen feuchten Linien auf der Strumpfhose rund um Nics Windelbereich ablesen ließ. Optimal war das nicht, aber auf zehn Minuten mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Wichtig war nur, dass das Ding einigermaßen dort saß, wo es hingehörte und ihn nicht beim Spielen oder Klettern störte. “Hör mal her!”, sagte ich leise, während ich am Gummizug der Strumpfhose herumnestelte. “Das hier ist dein Zimmer! Hier kannst du rein und raus, wann du willst! Du musst mich nicht um Erlaubnis fragen, oder so, okay!?” Ich blickte in riesige, erstaunte Kinderaugen und in eine Seele dahinter, die nach wie vor in Aufruhr war. Alles, was hier gerade stattfand, war ein winziger erster Schritt. Ein empfindliches Kerzenflämmchen in einem Sturm aus Dunkelheit und Chaos. Ich sah, wie zerbrechlich dieser kleine Funke Hoffnung war, den ich schon vor dem Frühstück wahrgenommen hatte und trennte deshalb die Verbindung zu Nics Innerstem schnell wieder. Keine Experimente. Kleine Schritte. Nic ging langsam in Richtung der großen Wandnische, in der ein paar Playmobil-Gebäude und Fahrzeuge aufgestellt waren. Playmobil natürlich, das hatte ja schon in der Klinik eine fast magische Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Ich blieb zurück, ging langsam aus dem Zimmer, ohne die Tür hinter mir zu schließen. Nic sollte hören können, was ich in der Küche tat.
Ich ließ mir Zeit in der Küche. Eile, das war etwas, das ich in den nächsten Wochen aus meiner inneren Taktung streichen musste. Nic hatte sein ganz eigenes Tempo und alles, was ihn überrumpelte, gefährdete den Weg zurück in ein geregeltes Familienleben. “Familienleben”. Wie das klang. Die Vorstellung, dass Nic jetzt meine Familie war, fühlte sich nach wie vor so unfassbar gewaltig an. Und gegen gewaltige Herausforderungen halfen nur kleine Schritte.
Ich hatte gerade einen Teller mit frisch geschnittenem Obst bestückt und die Spülmaschine angeworfen, als ich aus Nics Zimmer ein ziemlich lautes Scheppern hörte. Kunststoff, der auf einen Holzboden knallt. Ich kannte das Geräusch, wenn einem die Spielzeug-Kiste aus der Hand fiel. Was ich nicht kannte war der Effekt, den dieser kleine Unfall auf Nic hatte. Also ich ein paar Minuten nach dem Krach in sein Zimmer kam und mit einem Grinsen registrierte, dass sich der Inhalt von zwei kompletten Playmobil-Kisten im ganzen Zimmer verteilt hatte, kippt die Stimmung von der einen auf die andere Sekunde. Statt Mitten im Chaos in sein Spiel versunken zu sein, fand ich Tim hinter seiner Tür, er hatte sich so klein wie möglich gemacht und zitterte am ganzen Körper. Ich sah den kalten Schweiß, der ihm auf der Stirn stand, roch, dass er jetzt deutlich mehr in der Windel hatte als nur den Inhalt seiner Blase, sah die Angst in seinen Augen. Und verstand. Zwei übervolle Playmobil-Kisten, die zu schwer für Nic gewesen waren und ihm beim Herausziehen aus der Hand gerutscht waren hatten gereicht, um ihn völlig aus der Bahn zu werfen. Seine Angst war die Angst vor Bestrafung. Und damit auch die Angst vor mir. Und alleine die Vorstellung, dass Nic Angst vor mir haben könnte reichte aus, um mich fast um den Verstand zu bringen. Was mich rettete, war mein Beruf. Mein Verstand und mein Wissen waren es, die es schaffen, meine Emotionen im Griff zu behalten und eben nicht zu Nic zu rennen, und ihn in die Arme zu schließen. Das wäre sinnlos. Nic hatte im Augenblick vor allem Angst, das durch diese Tür kam und größer war als eine Maus. Was er jetzt brauchte war nicht Trost, sondern Vertrauen. Und das gewinnt man nicht, in dem man als Erwachsener auf ein am Boden liegendes Kind zustürmt. Also ging ich einen Schritt zurück. Brachte Abstand zwischen Nic und mich. Ein Puffer, der ihm Raum zum Atmen lassen sollte. Anschließend setzte ich mich Mitten ins Zimmer. Rein ins Playmobil-Chaos. Ich saß im Schneidersitz und hielt die Hände so, dass Nic alles jederzeit gut überblicken konnte. Er musste sehen können, dass ich keine Gefahr darstellte. Genau diese Erkenntnis war ihm nämlich in den letzten Monaten abhanden gekommen. Oder besser: Aus ihm herausgeprügelt worden. Das vermutete ich zumindest. Irgend jemand hatte Nic körperliche Gewalt angetan. Gemessen an seiner Reaktion musste es ein Mann gewesen sein. Wenigstens das hatte die Endermann ihm nicht selbst zugefügt. Sie hatte es aber offensichtlich auch nicht verhindert. Meine Rachegelüste waren an diesem Punkt allerdings nicht wirklich hilfreich. Denn Nic hatte wie ich die Gabe, Menschen nicht nur über ihr Äußeres wahrzunehmen, sondern ihre Gefühle zu sehen. Diese Fähigkeit war bei Nic noch längst nicht so ausgeprägt wie bei mir. Es reichte aber definitiv um zu “sehen”, wenn jemand in seiner Nähe schlechte Laune hatte. Und Rache war schlecht. Mehr als schlecht. Und damit automatisch angsteinflößend. Also kam das Thema Franziska Endermann wieder in die emotionsdichte Kiste, die ich in mir geschaffen hatte. Fokus auf Nic. Ich musste ihm jetzt ein wenig Zeit geben, erneut den Weg zurück zu mir zu finden. Zu gerne hätte ich jetzt Padma an meiner Seite gehabt, die war in der Lage, solche Situationen schneller in den Griff zu bekommen. Aber Padmes erster Besuch war erst für die nächste Woche vorgesehen. Also musste wir das eben unter uns Männern klären.
Ich verlagerte im Sitzen mein Gewicht ein gutes Stück nach links, um möglichst beiläufig an eine graue Playmobil-Plastikschaufel heranzukommen, die sich tief in meinen Oberschenkel gebohrt hatte. Das war jetzt nicht wichtig. Nur ein wenig schmerzhaft. Während ich wieder eine bequemere Sitzposition einnahm, begann ich parallel, Nic anzusprechen. Der hatte seine Position seit meinem Eintreten nicht verändert. Ich konnte aber spüren, dass er dennoch jeden meiner Atemzüge, jede Bewegungen und jedes Geräusch wahrnahm. Eine verbale Antwort würde ich nicht bekommen, das war klar. Darum ging es aber auch gar nicht. Es war nur wichtig, die kleinen Phasen der Aufnahmefähigkeit nicht zu verpassen, die sich alle paar Minuten bei einem Patienten mit Nics Symptomen zeigten. Wenn ich es schaffte, dass er sich ganz bewusst in meinen Monolog einklinkte, dann konnte ich ihm den Weg aus seiner Verzweiflung zeigen. Fast 15 Minuten sprach ich mit meinem Bruder. Über mich. Mein Leben. Meine neue Beziehung zu ihm und natürlich auch darüber, welche Angst mir das alles machte. Und irgendwann, drang ich zu ihm durch. Nic entspannte sich. Er lag noch hinter seiner Tür, schaffte es aber von Minute zu Minute mehr, seine Angst zu überwinden. Irgendwann setzte er sich dann auf und lehnte sich kurz darauf mit dem Oberkörper gegen die Wand. Kein Schritt, keine unnötige Bewegung. Aber immerhin hatte er es raus aus der Schutzhaltung geschafft. Er beobachtete mich. Erstaunt. Misstrauisch. Unsicher. Seine Augen und sein Verstand sagten ihm, dass von mir keine Gefahr ausging. Aber noch hatte er seine Emotionen nicht wieder im Griff. Die sagten ihm ganz was anderes. Wieder wurde meine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Ich “vertrieb” mir die Zeit, in dem ich weiter erzählte und ganz nebenbei ein Playmobil-Teil nach dem anderen in die Kiste zu legen, die den ganzen Zusammenbruch ausgelöst hatte. Die Aufräumerei brach den Bann. Zumindest hatte ich den Eindruck. Nic setzte sich in Bewegung und rutschte mit kurzen, zögernden Bewegungen auf mich zu. Keine Minute später hatte auch er das erste Teil in die Kiste gelegt. Jede seiner Bewegungen brachte zum Ausdruck, dass er versuchte, sich zu entschuldigen. Diese Haltung machte mich beinahe wahnsinnig. Er hatte das Gefühl, sich bei mir entschuldigen zu müssen. Weil eine dämliche Spielzeug-Kiste runtergefallen war. Kein Siebenjähriger sollte von solchen Ängsten getrieben sein.
Bevor ich Gefahr ließ, meinen düsteren Gedanken wieder allzu viel Raum zu geben, fokussierte ich mich erneut komplett auf Nic. Er war jetzt fast da. War fast wieder zurück aus der Isolation aus Angst, Schmerz und Verzweiflung. Aber dieser letzte Schritt, er kostete ihn unfassbar viel Kraft. Doch er tat ihn. Er sah mir in die Augen. Es fühlte sich beinahe an, als würde er aus der Dunkelheit herausspringen, so intensiv waren die Emotionen, die ihn mir schlagartig in die Arme trieben. Aus dem Sitzen schnellte Nic vor, schlang die Arme um mich und vergrub sein Gesicht tief in meinem Sweatshirt. Ich drückte ihn vorsichtig an mich, hielt mit einer Hand seinen Kopf und schirmte ihn mit meinem restlichen Körper von allem ab, was sich zwischen uns zu drängen versucht hatte. Sein kleines Herz war in Aufruhr und hämmerte gegen seine Brust, er zitterte, obwohl es in Nics Zimmer so war war, wie nirgendwo sonst im Haus. Er war fix und fertig. Weil er wahrscheinlich zum ersten Mal seit vielen jemanden wirklich nah an sich herangelassen hatte. Ein heller Punkt des Vertrauens im tiefen Schwarz. Diesmal aber ein strahlendes Weiß und keine flackernde Kerzenflamme mehr. Die letzten Tage zählten nicht mehr. Da hatte Nic funktioniert und war mir gefolgt, weil ich der letzte Mensch war, zu dem er irgend eine Art von persönlicher Beziehung hatte. Er hatte mir vertraut. Aber mehr aus Selbstschutz, als aus tiefster Verbundenheit. Das war jetzt anders. Wir hatten beide die erste echte Prüfung bestanden und so den Grundstein gelegt für unerschütterliches Vertrauen. Ein Vertrauen das es möglich machen würde, dass aus zwei Brüdern eine Einheit werden konnte.
Ich saß noch eine Weile mit Nic auf dem Arm mitten in seinem Zimmer. Ich spürte, dass ihn die letzten knapp 60 Minuten fast alles an Kraft gekostet hatten, die er in sich hatte. Er durfte aber jetzt auf keinen Fall schlafen. Noch nicht. Vorher musste ich mit ihm ins Bad. Sein Windelbereich war ein einziger matschig-feuchter Alptraum aus Superabsorbern, Zellulose, nasser Baumwolle und dem Geruch von Fäkalien. Das würde mir, würde uns, nicht noch einmal passieren. Ab morgen würde der Tag für Nic auf dem Wickeltisch beginnen. Dann konnte nach dem Frühstück passieren, was passieren musste. Wahrscheinlich waren das solche Prinzipien, die Eltern ab der Geburt ihrer Kinder automatisch entwickelten. Diesen Luxus hatte ich nicht. Nic und ich mussten und würden aus Fehlern lernen.
Der Weg ins Badezimmer war ganz sicher nicht das, was Nic jetzt im Sinn gehabt hatte. Er hing schlaff in meinen Armen und kämpfte damit, die Augen offen zu halten. Bevor ich losmarschiert war, hatte ich ihm gesagt, dass ich jetzt noch ein paar Minuten seine Hilfe brauchen würde. Waschen, Zähneputzen, eine saubere Windel und ein paar frische Klamotten. Danach war Schlaf kein Problem. Nic hatte müde genickt und sich zumindest in den ersten paar Minuten tapfer geschlagen. Die graugrüne Strumpfhose und sein Body waren komplett eingesaut und wanderten in den Müll. Dann riss ich die Klebebänder der Seni auf, zog sie unter Nic vor und ließ das matschige Teil mit einem satten flopp in den Mülleimer fallen. Mit großen Feuchttüchern holte ich den schlimmsten Dreck von Nics Haut und wechselte dann die weiche Zellstoff-Wickelunterlage. Eigentlich wäre er ein Fall für die Badewanne gewesen, aber das war in seinem jetzigen Dämmerzustand hoffnungslos. Als er eingermaßen sauber vor mir lag, ließ ich das Waschbecken neben mir volllaufen, gab reichlich Reinigungs-Lotion ins warme Wasser und wusch Nic anschließend gründlich mit einem weichen großen Waschlappen. Ich sah, wie er die Wärme und die Berührungen genoss. Sah aber auch, dass ihn das noch müder machte. Also drückte ich ihm seine neue elektrische Zahnbürste in die Hand und gab ihm etwas zu tun. Das klappte überraschend gut. Parallel trocknete ich ihn mit einem Handtuch ab und schob ihm fast gleichzeitig eine frische Windel unter den Po. Keine Seni diesmal. Er hatte noch das Riesen-Frühstück samt der Unmengen Kakao im Magen und ich war mir sicher, dass das alles sehr bald in der Windel landen würde. Also eine der Nachtwindeln, die das Team des Professors hier deponiert hatte. “Du wirst selbst merken, wenn die nötig sind!”, hatte er gesagt, als ich wissen wollte, warum die gut funktionierenden Senis nicht ausreichten. Jetzt hatte ich meine Antwort. Nics neue Windel war hellgrün, deutlich dicker als die Seni, verfügte über vier Klebebänder und reichte vorne deutlich weiter nach oben, als die anderen Windeln, die ich kannte. Ich ging nicht davon aus, dass Nic länger als zwei Stunden schlafen würde, dennoch verteilte ich sorgfältig eine Wundschutz-Creme auf der Haut im gesamten Windelbereich. Das konnte nicht schaden. Ich klappte das Vorderteil der Windel mit einem markanten Rascheln hoch und verschloss das Ganze mit den vier Tapes. Nic war inzwischen fertig mit dem Zähneputzen und verdrehte die Augen vor Müdigkeit. Ich setzte ihn aufrecht hin, ließ ihn die Reste des Zahnputz-Schaumes ausspucken und und zog ihm einen langärmligen hellgrünen Body über den Kopf, auf dessen Brust ein bunter Bagger abgebildet war. Baustelle. Genau so fühlte sich unser Leben gerade an. Als nächstes zog ich den Korb mit den Strumpfhosen zu uns heran und bat Nic, sich eine auszusuchen. Das hätte ich auch selbst tun können, ich hatte aber kein gutes Gefühl dabei, Nic sämtliche Entscheidungen abzunehmen. Ich hätte ihm eine der grauen Ski-Strumpfhosen genommen, die Nic von den Zwillingen geerbt hatte. Mein Bruder war aber ganz offensichtlich in Style-Fragen ein wenig pragmatischer und griff zu einer roten Thermo-Strumpfhose mit weißen Feuerwehr-Applikationen. Davon gab es drei Stück im Sortiment, es war also nicht schwer zuzuordnen, woher die stammten. Die Drillinge waren bis heute extreme Feuerwehr-Fans und hatten die Teile nur deshalb hergegeben, weil sie rausgewachsen waren. Und weil sie natürlich den nächstgrößeren Ersatz bekommen hatten. Dann zog ich Nic noch eine von Raissas Spezial-Latzhosen an. Hellblau, ohne Thermo-Innenleben, aber mit den gewohnt bunten Applikationen. Zum Schluss noch ein paar neue Hüttenschuhe, dann war Nic wieder frisch. Und längst eingeschlafen.
Autor: DerBeobachter (eingesandt via E-Mail)
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Du schreibst einfach so gut, sodass die paar tausend Wörter vergehen als wäre es ein kurzes Gedicht. Einfach der Hammer
Einfach super . Eine Verfilmung könnte ich mir gut vorstellen. ?
Eine wunderbare Geschichte. Nicht der Windelteil, weil der nicht im Vordergrund steht, sondern das gesamte. Du schaffst es wunderbar, das Konzept, mit Leuten, die große Vertrauensschwierigkeiten haben, auf den Punkt zu bringen, und die ganzen Gefühle von Angst und Verzweiflung rauszubringen. Sehr emotional und großartig geschrieben – ich würde mich über eine Fortsetzung freuen. Sind da biographische Erfahrungen reingewandert mit „Nick“? (einmal sprichst du übrigens versehentlich von Tim…)