Wind über Ammeroog (14)
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Was bisher geschah: Vivienne hat von ihrer Kollegin Marita Zugang zu einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung auf der Nordseeinsel Ammeroog bekommen, wo sie nun allein Urlaub macht. Auf ihre drei Kinder, Nina, Rieke und Stella, passt ihre Schwester Anita auf. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt Vivienne , dass eine Sturmflut bevorsteht. Zurück im Haus erfüllt sie sich geheime Wünsche: Sie zieht sich eine Windel und ein Eichhörnchenkostüm an und rennt vor lauter Übermut in ihrer Windel hinaus in den Sturm. Gerade, als sie sich zurück im Haus schlafen gelegt hat, hört sie plötzlich ein Klopfen: Es sind Stella und Lukas, zwei junge Wanderer, die von Viviennes Aufzug höchst überrascht sind. Obwohl sie sich schämt, behält sie ihr Kostüm an. Sie lernt die beiden näher kennen. Am nächsten Morgen hat der Sturm sich gelegt und Vivienne stellt fest, dass ihr Kostüm zerrissen ist. Am Strand vertraut sie sich Stella an: Der Grund für ihren Urlaub und ihr Verhalten ist, dass sie seit einem dramatischen Vorfall auf der Arbeit fürchtet, einen Hirntumor zu haben. Der Moment wird jäh von einem Anruf von Marita unterbrochen. Als sie sich während des Gesprächs unbeobachtet fühlt, pinkelt sie in ihre Windel, wobei sie von Lukas und Stella erwischt wird. Im Anschluss an das Gespräch gesteht Lukas ihr unter vier Augen, dass er sie scharf findet. Auch dieses Gespräch wird von einem Anruf unterbrochen: Dieses Mal ruft Anita an.
„Hallo? Anita?“
„Vivi?“ Die Stimme am anderen Ende war schrill. „Vivi, bist du das?“
„Natürlich bin ich das. Du hast ja meine Nummer gewählt, und sonst ist niemand hier.“ Gleich im ersten Satz hatte sie eine Lüge erzählt. Es würde sicher nicht die letzte bleiben.
„Um Gottes Willen!“ Anita schrie fast ins Telefon. „Warum meldest du dich denn nicht? Wir sitzen hier auf glühenden Kohlen, weil wir auf ein Lebenszeichen von dir warten! Hast du denn nicht gesehen, dass wir angerufen haben?“
„Nein“, sagte Vivienne, „entschuldige, ich war gerade eben draußen und habe mir die Sturmschäden angesehen. Wenn ihr angerufen habt, muss ich das Klingeln überhört haben. Außerdem hatte ich keine Ahnung, dass das Netz wieder da ist.“ Das klang plausibel, aber Anita war noch nicht beruhigt.
„Sturmschäden? Bitte sag mir, dass es dir gut geht!“
„Ja, natürlich, ich …“ Im Hintergrund rauschte die Klospülung. Vivienne hoffte, dass Anita nichts davon mitbekommen hätte. Vergebens. Die Sinne ihrer Schwester waren gerade sehr sensibel.
„Was war das?“ fragte sie.
„Das war …“
„War das eine Klospülung?“
„Also, das war … „ Dieses Mal war es schwierig auf eine überzeugende Lüge zu kommen. „das … ich hatte doch gesagt, dass es Sturmschäden gab. Einer ist an der Wasseraufbereitungsanlage. Da kommt jetzt manchmal ein ganzer Schwall, ohne dass jemand den Abzug betätigt hat.“
Jemand. Eine komische Formulierung, wenn sie doch ganz alleine da war.
„Ohje! Das musst du unbedingt Marita sagen.“
Hinter sich hörte Vivienne, wie der Badezimmerschlüssel gedreht wurde. Vivienne rannte durch die noch offene Haustür nach draußen. Ohne die Decke war es bedeutend unangenehmer. Komisch. Vorhin war sie ohne sie hinausgegangen und es hatte ihr nichts ausgemacht, jetzt, nachdem sie sie einmal getragen hatte, wollte sie sie nicht mehr missen.
„Ja“, sagte Vivienne, „mache ich gleich. Ich wusste ja nicht, dass das Netz wieder steht.“ Lügen zogen Lügen nach sich. Wenn sie gesagt hätte, dass sie schon mit Marita telefoniert hatte, hätte Anita gewusst, dass Vivienne die entgangenen Anrufe gesehen hatte.
„Also nochmal: Dir geht es gut?“
‚An meinem Eichhörnchenkostüm ist der Schwanz abgerissen, darum habe ich jetzt nur noch eine Windel an. Die habe ich aber gerade vollgepinkelt, deswegen müsste sie mal gewechselt werden. Vielleicht frage ich den jungen Mann, den ich letzte Nacht durchs Schlüsselloch ausspioniert habe, ob er mich wickelt. Er meinte, er findet mich scharf.‘ Das wäre die ehrliche Antwort gewesen. Es war offensichtlich, dass Vivienne ihrer jüngeren Schwester eine andere geben musste.
„Ja, doch. Das hatte ich doch schon gesagt.“ sagte sie, während sie auf und ab ging. Bewegung half gegen die Kälte. Nur um ihren Unterleib spürte sie Wärme, die zwar feucht, aber nicht unangenehm war.
„Ich will doch nur sichergehen.“ sagte Anita.
„Sag mir lieber: Wie geht es euch?“
Anita schnaubte, so lächerlich fand sie die Frage. Immerhin, sie klang jetzt beruhigter. „Uns geht‘s gut. Bei dir hat es doch Böen bis 220 km/h gegeben!“
„220? Mein Gott! Ich wusste nicht, dass das soviel war!“
„Aber gemerkt, dass es windig war, hast du schon, oder?“
„Das kann man wohl sagen! Nicht zu knapp. Ich habe den Wind die ganze Nacht gehört.“
„Die ganze Nacht? Konntest du nicht einschlafen?“
„Ich … bin nochmal wach geworden.“
„Du Ärmste! Aber Hauptsache, dass es dir gut geht.“
„Ja, zum dritten Mal jetzt. Und wenn bei euch auch alles in Ordnung ist …“
Vivienne hatte den Satz begonnen ohne die Absicht ihn auch zu beenden. So wie sie Anita kannte, würde ihre große Schwester sie ohnehin nicht ausreden lassen, sondern erneut bekräftigen, dass es allen gut gehe, nicht mal der kleine krumme Apfelbaum im Garten hätte nennenswerten Schaden genommen, aber Nina vermisse ihre Mutter sehr und würde gerne mit ihr sprechen, ob sie sie vielleicht einmal ans Telefon holen sollte?
Aber Anita unterbrach sie nicht. Stattdessen kam durch den Handylautsprecher ein nervöses Schweigen. Etwas stimmte nicht.
„Was ist los?“, fragte Vivienne, „Da gibt es doch etwas, oder?“
Anita atmete hörbar ein. „Weißt du, eigentlich wollte ich es dir nicht erzählen. Du bist da auf deiner Insel und sollst dich erholen und du nicht mit Dingen herumplagen, die warten können.“
Jede Faser in Viviennes Körper spannte sich an. Sie ging hinüber zu der Südwand des Hauses, das gerade am nächsten war, und stellte sich so, dass der Wind möglichst wenig zu hören war. Ihr war auch gleich ein bisschen weniger kalt.
„Anita! Was ist los?“
„Nichts Dringendes. Nichts, was nicht warten kann, bis du zurück bist. Ich kann mich solange darum kümmern. Es ist nur so, dass ich, so wie ich dich kenne, du es wahrscheinlich gleich erfahren möchtest.“
Vivienne versteifte sich, und sogleich bildete sich eine Gänsehaut auf ihren stressempfindlichen Oberschenkeln. Sie zitterte in ihrer Windel. „Anita. Bitte sag mir, was los ist. Ist etwas mit einer meiner Töchter?“
„Es geht um Rieke.“
Ihre mittlere. Die schwierige. „Ist alles in Ordnung mit ihr?“
„Ja doch! Ich habe doch schon gesagt, dass es uns allen gut geht. Das war nicht gelogen. Aber … heute morgen bin aufgestanden und wollte Brötchen holen gehen. Ich bin es gewohnt, dass ich als Erste wach bin …“ Oh ja, daran konnte Vivienne sich gut erinnern, dass Anita auch als Kind selten länger als bis acht geschlafen hatte. Mit dem Alter war das, soweit Vivienne es mitbekommen hatte, nur schlimmer geworden und Anita stand bereits gegen sechs auf. „… und deswegen war ich überrascht, als ich auf dem Weg zur Haustür ein Geräusch aus Riekes Zimmer gehört habe. ‚Wie schön?‘, hatte ich noch gedacht, ‚endlich eine andere Lerche in der Familie.‘ Also habe ich angeklopft. Vielleicht hätte ich misstrauisch werden sollen, als sie einige Sekunden gebraucht hatte, um „Ja?“ zu sagen, aber ich war wirklich ganz ahnungslos. Also habe ich den Kopf zur Tür hereingesteckt und sie gefragt, ob sie vielleicht einen Wunsch hat, was ich ihr vom Bäcker mitbringen soll, oder vielleicht sogar mitkommen will. Aber sie hatte nur freundlich gelächelt und verneint.“
Vivienne konnte sich nicht mehr zurückhalten. „Daran stinkt doch alles! Rieke ist nie und nimmer um sechs Uhr schon wach! Und wenn, dann ist sie bestimmt alles andere als gut gelaunt!“
„Ich würde dir diese Geschichte ja auch nicht erzählen, wenn da nicht noch was käme. Ich wollte nämlich gerade wieder die Tür schließen, da höre ich plötzlich ein Rascheln. Das kam aber nicht vom Bett her, in dem Rieke lag, sondern von ganz nah. Von neben dem Türrahmen. Also machte ich die Tür ganz auf, drehte mich um und du ahnst nicht, was ich da gesehen habe?“
„Ich ahne es. Aber ich hoffe, dass ich daneben liege.“
„Also, so, wie ich es erzähle, ist es vermutlich eindeutig, aber in dem Moment war ich völlig perplex.“
„Ein Junge also, ja?“
„Naja, nicht nur.“
Vivienne stutzte. „Was? Zwei Jungen?“
Anita lachte. „Nein, das meine ich nicht. Ich meine: Es war nicht einfach ein Junge. Er war außerdem nackt.“
Vivienne stöhnte. „Oh Gott! Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist.“
„Doch, wirklich! So etwas würde ich mir nicht ausdenken. Ich dachte, ich sehe nicht recht. Da stand so ein Teenager in der Ecke meines Gästezimmers, mit hochrotem Kopf und presste sich beide Hände vor sein bestes Stück. Er sah mich mit einem Blick an als würde er erwarten, dass ich gleich eine Schimpftirade sondergleichen abfeuern würde.“
„Hast du das nicht gemacht?“ fragte Vivienne. Sie hätte es Anita durchaus zugetraut.
„Nein“, sagte sie, „das konnte ich nicht. Ich war einfach sprachlos. Und außerdem tat er mir irgendwie leid. Er sah wirklich aus wie ein Häufchen Elend.“
„Anita, das tut mir wirklich leid, dass das passiert ist.“
„Ach Quatsch! Ich muss mich entschuldigen, dass das vorgekommen ist, als ich auf sie aufgepasst habe.“
„Einigen wir uns darauf, dass Rieke sich entschuldigen sollte. Hast du schon mit ihr geredet?“
„Ja“, sagte sie, „aber nicht sofort. Als ich ihren Besuch gesehen habe, hatte sie angefangen zu kreischen, dass ich rausgehen soll. Weil mir die ganze Sache auch sehr unangenehm war und ich dachte, dass der arme Junge sich doch erst mal etwas anziehen soll, bin ich dieser charmanten Bitte nachgekommen. Irgendwann später hat er dann das Zimmer verlassen und sich sehr schnell verabschiedet. Angezogen hat er übrigens einen ganz anständigen Eindruck gemacht. Ich bin dann zu ihr ins Zimmer gegangen und habe ihr klargemacht, dass ich gerne darüber informiert bin, wer sich in meinem Haus aufhält.“
„Wie hat sie es aufgenommen?“
„Zerknirscht, aber einsichtig. Nun, in gewisser Weise einsichtig.“
„Was meinst du damit?“
„Sie sagt, dass du schuld bist an der Situation.“
„Ich!“ rief Vivienne ungläubig aus. Rieke brachte sie nochmal ins Grab.
„Ja. Wenn du nicht ihr nicht verboten hättest … ich glaube, ich muss dir das nicht erklären, was sie sich da zu ihrer Verteidigung zusammengeschustert hat. Ich habe ihr schon gesagt, dass es Quatsch ist.“
Vivienne atmete tief durch. „Okay, es reicht“, sagte sie, „jetzt gib sie mir bitte. Ich muss mich dringend mit ihr unterhalten.“
„Natürlich. Einen Moment.“
Vivienne hatte keinesfalls vergessen, dass sie gerade nichts als eine Windel anhatte, aber das hier war wichtig und duldete keinen Aufschub. Sie musste ihrer erzieherischen Rolle gerecht werden. Es war ja kein Videoanruf. Rieke würde nicht sehen, dass ihre Mutter wie ein Baby herumlief.
Durch den Hörer raschelte es, und entfernt waren die Stimmen von Anita und Rieke zu hören, die sich gerade noch eine kleine Diskussion lieferten. Vivienne verstand nicht, was gesagt wurde, aber Riekes Ton war unverkennbar patzig. Warum konnte sie sich nicht benehmen?
Endlich knisterte es und ihre mittlere Tochter antwortete. „Ja?“
„Rieke?“
„Ja?“
„Stimmt es, was deine Tante mir da gerade erzählt hat?“ Es war nicht einfach, Schärfe in die Stimme zu legen, während die Beine zitterten. Vor innerer Anspannung begann Vivienne wieder auf- und abzugehen.
„Weiß ich doch nicht, was sie dir erzählt hat.“
Also wollte Rieke, dass ihre Mutter es laut aussprach. „Ich denke, du kannst dir schon sehr gut vorstellen, was sie mir erzählt hat. Hattest du heute Nacht einen Jungen auf deinem Zimmer?“
Rieke schnaubte. „Ja. Und wenn? Ist doch meine Sache.“
„Nein, es ist nicht deine Sache! Es ist das Haus deiner Tante, damit fängt es an, und da lädst du nicht ohne zu fragen irgendwelchen Besuch ein. Und vor allen Dingen bestimme ich, ob bei dir jemand über Nacht bleiben darf! Und erst recht ein Junge!“
„Mama, jetzt sei nicht so prüde!“
„Bitte, was?“
„Ich bin sechzehn, Mama! Ich bin kein kleines Kind mehr! Ich bin alt genug, um einen Freund zu haben.“
Vivienne nahm sich alle Mühe sich zusammenzureißen. Es gelang ihr nicht gut. „Rieke, du wirfst Sachen durcheinander! Ich verbiete dir nicht, einen Freund zu haben! Es geht darum, dass du ihn auf dein Zimmer schmuggelst und es verheimlichst!“ Zum Schluss war sie lauter geworden, als sie gewollt hatte. Sie wollte eine Mutter sein, die ihre Kinder nicht anschrie, aber bei Rieke wusste sie manchmal nicht anders weiter.
„Das stimmt überhaupt nicht“, sagte Rieke, und auch ihre Stimme wurde lauter, „ich habe gestern gefragt, ob ich ausgehen darf und ihr habt es verboten!“
„Sag mal, merkst du überhaupt, was für einen Stuss du da redest? Ausgehen und mit einem Jungen rummachen sind zwei völlig verschiedene Dinge! Und außerdem hattest du eine klare Ansage bekommen und an die hattest du dich auch zu halten!“
„Habe ich ja! Ich bin zu Hause geblieben und er ist zu mir gekommen!“ In Riekes Stimme klang etwas wie Stolz mit, als wäre sie zufrieden mit sich über diese krumme Argumentation.
„Es reicht! Sobald ich wieder da bin, hast du zwei Wochen Hausarrest.“ Vor Wut passte Vivienne nicht genau auf, wo sie hintrat und streifte mit der Wade eine Stranddistel. Ihr entfuhr ein Schmerzensschrei, der aufgrund ihrer Gemütsverfassung aber eher wie ein Wutschrei klang. Rieke ignorierte ihn so oder so.
„Zwei Wochen? Das kannst du nicht machen!“
„Erzähl mir nicht, was ich machen kann!“ Vivienne rieb sich den schmerzenden Unterschenkel. Kein Blut war zu sehen, nur eine Schramme, aber die tat weh.
„Du kannst mir keinen Hausarrest geben! Ich bin kein Kind mehr!“
„Ich kann das sehr wohl, vor allem, wenn du dich kindisch benimmst!“
„Wie bitte? Ich bin kindisch, weil ich mit Jungen rede?“
„Reden? Nach dem, was Anita erzählt hat, ist es wohl kaum beim Reden geblieben, oder?“
„Nun, wenn du es genau wissen willst: Ich habe mit Elias wirklich gestern über Politik gesprochen.“
„Lüg mich nicht an.“
„Nein, wirklich. Wir haben lange über die Auswirkungen der Energiekrise auf die Finanzmärkte gesprochen.“
„Das habt ihr?“ Vivienne war für einen Moment wirklich überrascht. Sie hätte nicht gedacht, dass Rieke sich für einen Jungen begeistern konnte, der sich für derart trockene Themen interessierte. Und dass sie ihn nicht davon ablenkte.
„Ja.“
Vivienne war etwas die Kontrolle über das Gespräch entglitten. Es war Zeit, sie wieder an sich zu reißen. „Und das konnte er am besten, nachdem er sich ausgezogen hatte?“
„Mama!“ Rieke schrie fast vor Empörung, und nicht gänzlich unberechtigt. Der Satz ging wirklich unter die Gürtellinie.
„Es ist nicht nur beim Reden geblieben“, sagte Vivienne, „und das wissen wir beide. Und das ist es, womit ich ein Problem habe.“
„Mama, du verstehst das nicht!“
„Was soll das denn jetzt heißen?“
„Du verstehst das nicht, wie das ist, jung zu sein.“
Vivienne blickte an sich herab und betrachtete das weiße Ding, das um ihren Unterleib geklebt war.
„Ich glaube, ich verstehe es besser als du denkst.“ sagte sie.
„Ja? Ich glaube du verstehst es gar nicht! Sonst würdest du das einsehen, dass eine Sechzehnjährige ein bisschen Spaß haben will! Und dass sie das mit einem achtzehnjährigen Jungen will! Wieso kannst du mir das nicht gönnen?“
Achtzehn. Riekes Freund – was hatte sie gesagt, wie er heiß? Ach ja, Elias – war achtzehn. Ein Jahr jünger als Lukas. Vivienne und ihre heftig rebellierende Tochter hatten beide Verehrer im selben Alter.
„Gönnen? Was hat das denn jetzt damit zu tun? Hör mir mal gut zu, ich …“
„Du bist doch nur neidisch, weil ich einen Freund habe!“
Vivienne blieb abrupt stehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Rieke hatte versucht, ihr wehzutun. Sie an einer empfindlichen Stelle zu treffen. Und Vivienne würde lügen, wenn sie sagen würde, dass Rieke das nicht gelungen war. Sicher: Nachdem das letzte Jahr ihrer Beziehung mit Hannes nicht gut gewesen war – wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, war es sogar ein erheblich längerer Zeitraum gewesen – war es ihr leicht gefallen, die Vorzüge zu genießen, die ein partnerloses Leben bietet. Und später, als sie Verabredungen mit Männern hatte, da hätte durchaus mehr entstehen können, aber oft war sie es gewesen, die von etwas, das über mehrere Abende hinausging, Abstand genommen hatte.
Die letzten Wochen hatten ihre Sicht auf die Dinge aber verändert. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie jemanden an ihrer Seite gehabt hätte, der sie unterstützt hätte. Sicher, sie hatte ihre Töchter und ihre Schwester, gute Freundinnen und ihre Kollegen, aber wie viel besser wäre es alles mit einem Partner zu ertragen gewesen. Und wie viel einfacher wäre es jetzt. Aber jetzt war es zu spät. Wer würde eine Zukunft mit einer Todgeweihten planen wollen?
Ja, Rieke hatte es geschafft, ihr wehzutun, auch wenn sie nicht gewusst hatte, wie sehr. Vivienne versuchte sich daran zu erinnern, als sie antwortete.
„Sag mal, was fällt dir ein, so mit mir zu reden?“ In ihrer Stimme lag kaum Wut. Die Verletztheit war zu schwer.
„Es ist doch so. Jetzt habe ich einen Freund und du hast keinen, und damit kommst du nicht klar.“
Vivienne hatte die leise Hoffnung gehabt, dass Rieke sofort merken würde, dass sie zu weit gegangen war und sich entschuldigen würde. Rieke hatte sie jedoch auch in dieser Hinsicht enttäuscht.
„Das ist doch Quatsch! Wenn ich wollte, könnte ich doch …“ Vivienne fluchte über sich selbst. Sie hätte nicht anfangen sollen, sich zu verteidigen.
Rieke unterbrach sie mit einem Lachen. „Ja, mit irgendwelchen alten Knackern über sechzig vielleicht!“
Vivienne schnaubte. „Ach, meinst du?“
„Ja!“
„Du meinst, dass ich keine Chance mehr bei einem Achtzehnjährigen hätte?“
Zum ersten Mal schien Rieke um eine Antwort verlegen. Vom anderen Ende der Leitung war nichts zu hören.
„Meinst du das?“ fragte Vivienne.
„Mama, was soll das?“ Rieke klang nicht mehr wütend. Eher angeekelt oder besorgt.
„Glaubst du, dass ich da aus dem Spiel bin? Ich sage dir mal was: Mir hat vor ziemlich kurzer Zeit ein Neunzehnjähriger gesagt, dass er mich scharf findet.“
„Was?“ Jetzt klang Rieke geradezu beängstigt.
„Ja. Und bislang hatte ich gedacht, dass er zu jung für mich ist. Aber jetzt, wo ich höre, dass meine Tochter glaubt, dass ich keine Chance bei jemandem wie ihm hätte: Vielleicht überlege ich es mir anders. Vielleicht fange ich was mit ihm an. Dann können er und ich und du und dein Elias ein Doppel-Date machen. Und vielleicht freunden sich unsere Freunde dann an. Wäre das nicht schön?“
„Mama, hör auf!“
„Wieso soll ich aufhören? Du hast mich doch erst auf die Idee gebracht?“
„Das ist widerlich! Hör auf!“
Riekes Ekel war unüberhörbar. Es war gemein von Vivienne, das auszukosten, aber als Antwort auf ihre verletzenden Worte tat es gut, und als erzieherische Maßnahme konnte sie es gerade noch so vertreten.
„Widerlich? Ich fände das süß. Und er findet mich überhaupt nicht widerlich.“
„Oh Gott, Mama, ich …“ Rieke stoppte abrupt. „Scheiße, bist du da mit einem Callboy auf der Insel?“
Damit hatte Vivienne nicht gerechnet. „Was?“
„Machst du dir da ein launiges Wochenende mit einem männlichen Prostituierten … oh Mama, das ist echt so … und du kaufst ihm ab, was er dir sagt?“
„Was zur … nein, Rieke, ganz bestimmt nicht! So was mache ich nicht! Wie kommst du auf so eine Idee!“
„Wie kommst du auf die Idee, so was zu sagen?“
„Hör mal, du bist diejenige von uns beiden, die sich unerhört benimmt. Da darf ich mir das vielleicht auch mal herausnehmen.“
Jetzt hatte sie Rieke den Wind völlig aus den Segeln genommen. „Lass das bitte. Bitte! Nie wieder.“
„Das überlege ich mir noch. Wenn du dich weiter so benimmst, mache ich das vielleicht nochmal. Und vielleicht lege ich mir dann wirklich einen jungen Liebhaber zu.“
„Warte, dass dir ein Neunzehnjähriger gesagt hat, dass er dich scharf findet, war doch gelogen, oder?“ Rieke klang alarmiert.
Vivienne genoss es mehr als angemessen gewesen wäre, dass sie ihre ungehobelte Tochter so in die Schranken verwiesen hatte.
„Vielleicht. Vielleicht nicht.“ sagte sie mit einem süßlichen Unterton.
Rieke machte ein schwer zu deutendes Geräusch.
„Vielleicht ist es jemand, den du kennst.“
Jetzt schrie Rieke doch am anderen Ende der Leitung auf und Vivienne musste sich verkneifen, nicht laut loszulachen. „Bah! Nein! Hör auf!“
„Schon gut, schon gut“, sagte Vivienne, „ich höre auf. Pass auf, ich lege jetzt auf. Es bleibt bei den zwei Wochen Hausarrest. Und von nun hörst du auf deine Tante, ja?“
Rieke grummelte irgendetwas. Sie fand es immer noch ungerecht, aber die Lust auf eine weitere Diskussion mit ihrer Mutter war ihr nun gründlich vergangen.
„Ja?“ fragte Vivienne noch einmal nach.
„Ja.“
„Gut. Dann lege ich jetzt auf. Bitte grüße deine Schwestern von mir. Ich habe euch alle lieb.“
„Ja, Mama. Mach ich.“
Das war das Freundlichste, was sie erwarten konnte nach diesem Gespräch. Es war den Umständen entsprechend gut gegangen. Vivienne legte auf und wollte das Handy einstecken, als sie merkte, dass das einzige, wo sie es hin stecken konnte, eine eingenässte Windel war.
Richtig. Die trug sie immer noch.
Und zwar schon lange. Jetzt, wo sie nicht mehr vom Gespräch mit ihrer Tochter abgelenkt war, merkte sie, wie sehr sie sich abgekühlt hatte. Vorhin hatte sich der von ihr befeuchtete Stoff noch wie eine wärmende Hülle um ihre empfindlichste Stelle gelegt, ein Telefongespräch später war es klamm geworden. Eiligen Schrittes ging sie zurück zum Haus.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Schön das es docheine weitere Episode Deiner Geschichte gibt. Das es eine so schlagfertige geworden ist, hätte ich nicht gedacht. Aber schön es dennoch zu lesen. Bin gespannt wie es nun weiter geht bei Vivien. Ich denke aber neu wickeln wird wol nicht’s mehr. Dazu dürfte Sie meines Erachtens zu emotional abgelenkt sein.
Für ein tolles Kapitel
Sie mein Kleinkind Ein Baby kann noch nicht laufen
Freue mich auf das nächste Kapitel