Wind über Ammeroog (2)
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Was bisher geschah: Als Kind hatte Vivienne oft mit ihrer Familie ihren Urlaub auf der Nordseeinsel Ammeroog verbracht, und noch immer denkt sie gerne an diese Zeiten zurück. Heute ist sie zurück, aber alleine. Auf ihre drei Kinder, Nina, Rike und Stella, passt ihre Schwester Anita auf. Am Strand erreicht Vivienne ein Anruf von Anita: Eine Sturmflut steht bevor. Vivienne macht sich zurück auf den Weg zu ihrem Ferienhaus.
Der Wind hatte noch einmal aufgefrischt und fröstelnd zog Vivienne den Kragen ihres Mantels enger, aber das half nicht viel. Der Mantel bestand nur aus einer Polyesterschicht mit einem spärlichen Stoffinlay. Er war zu dünn. Er war gemacht für das Übergangswetter in der Stadt, und Vivienne hatte ihn nicht aufgrund seiner Wetterfestigkeit entstanden, sondern weil ihr der Schnitt und der angenehm ruhige Violettton gefallen hatten. In der Stadt, das musste man dem Mantel zugestehen, hatte er Vivienne auch immer warmgehalten. Hier, an der Nordseeküste, kurz vor einer Sturmflut, schützte er kaum. So gut wie jeder, der ihn nun entgegenkam, hatte sich in Parkas mit Wollkrägen oder einen der ortsüblichen Friesennerze gehüllt, und Vivienne erntete nicht wenige mitleidige Blicke.
Überhaupt: Ihr kamen die Menschen nun entgegen. Sie liefen alle in die andere Richtung. Vorhin, als sie noch auf den Ort zugegangen war, hatte sie nur anfangs noch Leute getroffen, die auf dem Weg in den Osten waren, um eine große Runde zu drehen, aber bald niemanden mehr. Niemand ging mehr nach Osten. Nur sie tat das.
„Sie gehen in die falsche Richtung“, rief ihr eine Frau fortgeschrittenen Alters im Vorübergehen zu, „wenn sie weitergehen, werden sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück in Ammeroog sein!“
Vivienne bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln für die Warnung, sagte etwas wie „Danke. Es ist schon gut.“ und ging weiter. Hinter sich hörte sie noch für kurze Zeit, wie die Frau mit ihrem Mann diskutierte, ob man diese unangemessen gekleidete Frau denn nicht eindringlicher warnen sollte, aber schon bald verschluckte der Wind die Worte und Vivienne hörte nichts mehr von dem Paar. Sie hatte ein etwas schlechtes Gewissen, dass die beiden sich jetzt unnötig Sorgen machten. Sie hätte natürlich einfach erklären können, dass ihr Ferienhaus sehr abgelegen lag, aber das wollte sie nicht. Marita hatte gesagt dass die Insulaner auf die kleine Siedlung und ihre Besitzer nicht sonderlich gut zu sprechen waren, und Vivienne wollte nach Möglichkeit Streit vermeiden.
*
Eigentlich bestand die Siedlung aus ganz normalen Ferienhäusern, so wie sie auch im Westteil zu finden waren. Die Besonderheit war ihre Lage: Sie waren etwas erhöht gebaut worden, etwa drei Meter über dem Meeresspiegel, an einer dünnen Stelle der ohnehin schmalen Insel, so dass man zwar in kurzer Zeit am Strand auf der Nordseite war, aber einen sehr guten Blick über das Wattenmeer auf der Südseite hatte. Die Lage war wie geschaffen für die Errichtung einer kleinen Siedlung. Sie hatte jedoch einen gewaltigen Nachteil: Sie war illegal errichtet worden. Um sie herum war alles als Naturschutzgebiet ausgewiesen, und es wäre nicht möglich gewesen, Zufahrtsstraßen oder Leitungen zur Ver- und Entsorgung zu verlegen, ohne gegen eine Vielzahl von Auflagen zu verstoßen. Allerdings kannte irgendwann, Mitte der sechziger Jahre, ein einflussreicher und moralisch nicht allzu gefestigter Herr namens Brevers, der auf dem Festland mit einer Spedition zu einer nicht unbedeutenden Menge Geld gekommen war, den zuständigen Baudezernenten sehr gut, und so konnte er sich mit unlauteren Mitteln eine Baugenehmigung für ein Feriendomizil erschleichen. Um den Betrug nicht sofort auffliegen zu lassen, durfte die Genehmigung kein auffälliger Einzelfall bleiben, und so wurden weitere Anträge bewilligt und zwischen dem Frühherbst 1967 und Sommer 1968 die Bauarbeiten an den fünf Häusern zumindest aufgenommen, ehe ein Inspektor die Unrechtmäßigkeit der Zulassungen erkannte. Sehr zum Unmut der Insulaner und einiger Naturschutzverbände jedoch bedeutete dies nicht, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen wurden. Es wurden nicht einmal Baustopps verhängt. Der Dezernent schaffte es, die Schuld auf einen Sachbearbeiter abzuwälzen, der ihm angeblich veraltete Bestimmungen hatte zukommen lassen, und ein sehr teurer Anwalt hatte überzeugend dargelegt, dass die Bauarbeiten so weit fortgeschritten waren, dass ein Baustopp der Umwelt größeren Schaden zufügen würde als eine sachgerechte Fertigstellung.
Also wurden die fünf Häuser zu Ende gebaut. Die alteingesessenen Inselbewohner waren fassungslos. Viele von ihnen waren entsetzt über den Schaden, der der Natur entstand, andere empfanden es als tiefe Ungerechtigkeit, weil sie selbst auch gerne gebaut hätten; in jedem Fall staute sich viel Wut bei ihnen auf. Es gab einige Ventile, über die sie sich entladen konnte: Um den Hausbesitzern das Leben so schwer wie möglich zu machen, verweigerte die Inselverwaltung alles, was ihr möglich war. Rohr- und Kabelleitungen wurden nicht gelegt, ein bereits in der Planungsphase befindlicher asphaltierter Weg ersatzlos gestrichen (der Einspruch eines Anwalts, dass die Häuser für Rettungsfahrzeuge erreichbar bleiben mussten, wurde mit dem Verweis abgelehnt, dass notfalls immer ein Hubschrauber landen könne). Die Hausbesitzer waren über diese unterlassene Bereitstellung an Grundversorgung wiederum ihrerseits empört, insbesondere da die Gemeinde hatte durchklingen lassen, die Wohnnutzung eben aufgrund der fehlenden Versorgung zu untersagen. Als unmittelbare Folge schlossen sich die Besitzer zusammen und fanden Wege, die fehlende Infrastruktur selbst zu errichten. Es wurde eine gemeinsame Klärgrube errichtet, ein Generator aufgestellt und jemand schaffte es sogar, eine Meerwasserentsalzungsanlage zu besorgen, die einige Jahre in Betrieb war, ehe sich herausstellte, dass es völlig ausreichte, den Niederschlag zu sammeln und aufzubereiten. Ein Entsorgungsplan wurde zusammengestellt, der festlegte, wann welcher Haushalt dafür verantwortlich war, den Müll zur Halde auf dem Festland zu bringen. Es war ein kleines Wunder, aber die fünf Haushalte überstanden die Versuche der Inselverwaltung, der ungeliebten Siedlung den Garaus zu machen.
Über die Jahre entspannte sich die Situation etwas. Die Bewohner der fünf Häuser hielten so gut es ging Abstand zum Rest der Insel, bei diesen kühlte allmählich die Erbostheit ab und wich einer bitteren Antipathie, die aber kaum zu Vorschein kam, da die Bewohner, wenn sie einmal die Siedlung verließen, als gewöhnliche Touristen wahrgenommen wurden, die sie in gewisser Hinsicht ja auch waren. Zumeist aber blieben sie in der Siedlung, nicht nur weil sie die gemeinsam erlebte Situation zusammengeschweißt hatte, und nicht nur, weil alles andere doch etwas weit weg lag, sondern auch, weil zwischen den Parteien echte, freundschaftlich-nachbarschaftliche Verhältnisse gewachsen waren.
Es war nicht so, dass die Häuser dauerhaft bewohnt waren (obwohl es über die Jahrzehnte schon vorkam, dass sich jemand dort über Wochen oder Monate aufhielt), aber zu den üblichen Ferienzeiten ergab es sich schnell, dass mehrere Familien gleichzeitig anwesend waren, und wenn alle fünf da waren, wurden Bänke am Strand aufgebaut und kleine Feste gefeiert. Die Kinder spielten in den Dünen und dem Klettergerüst samt Schaukel, das in Brevers‘ Garten aufgestellt war; die Erwachsenen hielten sich an fangfrischen Krabben und ihren gut sortierten Hausbars schadlos. So kamen sie immer wieder zusammen, lange Jahre, die Siebziger, die Achtziger, die Neunziger über, bis ins neue Jahrtausend. Man hatte Anteil aneinander, sah sich gegenseitig aufwachsen und alt werden, private Schicksalsschläge und berufliche Erfolge wurden miteinander geteilt, und die einstigen Erbauer segneten, einer nach dem anderen, das Zeitliche und vererbten die Häuser weiter. Alle blieben in Familienbesitz, kein einziges wurde je verkauft. Es war nie eine Regel unter den fünf Parteien vereinbart worden, dass keine Veräußerung stattfinden durfte, vielmehr ergab es sich ganz natürlich, dass keiner Seite jemals der Gedanke kam, sich von ihrem Feriendomizil zu trennen – das äußerste war, dass mal die Besitzurkunde auf einen nahen Verwandten überschrieben wurde, der dann einen symbolischen Freundschaftspreis überwies. Auch vermietet wurden die Häuser nie. Sie wurden immer nur von den Familien oder ihren guten Freunden aufgesucht. Und irgendwann heiratete einer der Enkel eines der Bauherrn Marita, und so wurde auch sie in den Kreis der Hausbenutzer aufgenommen.
*
Vivienne war ganz baff gewesen, als Marita ihr das alles gesagt hatte, einmal nach der Arbeit, an einem verregneten Abend in einem Café. Sie fand es aufregend. All die Urlaube, die sie dort verbracht hatte, und sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sich in den Dünen ein Geheimnis verbarg.
„Glaub nicht, dass ich allen davon erzähle“, hatte Marita gesagt und von ihrem Cappuccino genippt, „und dich möchte ich auch darum bitten, möglichst Stillschweigen zu bewahren. Im Büro wusste bis heute niemand davon. Du bist jetzt die erste, der ich das sage.“
„Warum denn nicht?“, hatte Vivienne gefragt, „da ist doch nichts Schlimmes dabei. Warum soll das denn ein Geheimnis bleiben?“
„Aus verschiedenen Gründen: Zum einen will ich es nicht an die große Glocke hängen, dass ich Zugang zu einem wunderbar gelegenen Ferienhaus an der Nordsee habe. Ich habe keine Lust, ständig gefragt zu werden, ob ich es vielleicht vorübergehend vermiete. Die Antwort wäre sowieso nein. Und was ich partout nicht möchte ist, dass irgendjemand neidisch wird. So was kann ich gar nicht gebrauchen.“
Vivienne schüttelte sich kurz bei dem Gedanken. Im Grunde mochte sie die Atmosphäre im Büro, aber Marita hatte recht: Es gab im Kollegenkreis einige Kandidaten, die Probleme hätten, einer Kollegin den Zugang zu einem Luxusobjekt zu gönnen.
„Und außerdem“, fuhr Marita fort, „besteht unter allen, die Zugang zu dem Haus haben, eine gewisse Verschwiegenheit. Das ist keine Regel, eher eine unausgesprochene Übereinkunft. Vielleicht stammt das noch aus der Zeit, als man auf der Insel angefeindet worden war, wenn man sich als der Siedlung zugehörig zu erkennen gegeben hat, ich weiß es nicht genau. Jedenfalls ist es eine nach außen verschlossene Gemeinschaft, und das färbt schnell ab, wenn man in sie aufgenommen wird.“
„Klingt ja fast unheimlich.“
„Das sollte es nicht. Es ist keine Sekte oder so. Es sind einfach nur fünf Parteien, die hin und wieder gemeinsame freie Tage miteinander verbringen.“
Vivienne entspannte sich. „Also gut. Ich habe verstanden. Aber dann verrat mir eins: Warum erzählst du mir das?“
„Kannst du dir das nicht denken?“ fragte Marita. Vivienne konnte es sich denken, aber sie zögerte, den Gedanken auszusprechen. Sie wäre sich dabei unverschämt vorgekommen. Marita erlöste sie: „Ich will dir anbieten, dass du dort ein paar Tage verbringen kannst.“
„Das kann ich nicht annehmen.“ Vivienne hatte keine Sekunde mit ihrer Antwort gezögert.
„Doch, natürlich. Warum denn nicht?“
„Das ist doch ein viel zu großer Gefallen. Dafür werde ich mich nie revanchieren können.“
„Das sollst du auch schön bleiben lassen. Fahr dahin und nimm dir ein paar Tage Auszeit. Hast du nicht selbst gesagt, dass für einen kurzfristigen Trip sonst überall die Preise zu hoch sind?“
„Ja“, sagte Vivienne, „schon, aber … mir ist nicht ganz wohl dabei, das anzunehmen.“
Marita beugte sich leicht vor und sah Vivienne mit sorgenvoller Miene an. „Bitte mach es, Vivienne. Nicht bloß um deines Willen. Du hast uns allen einen riesigen Schrecken eingejagt. Ich will das nicht noch einmal erleben müssen.“
„Meinst du ich etwa?“
„Dann sind wir uns also einig. Du brauchst eine Auszeit. Hat der Arzt nicht gesagt, dass du dich schonen sollst?“
„Ja. Das hat er.“ Und in Gedanken fügte sie hinzu: ‚Weil ihm sonst nichts besseres eingefallen ist. Ich bin nicht überarbeitet.‘
„Dann nimm es an. Bitte.“
Marita flehte fast, und Vivienne bekam beinahe ein schlechtes Gewissen, dass sie sich zierte. Schließlich nahm sie das Angebot an. Sie hätte niemandem erklären können, warum sie es nicht tat. Einige freie Tage würden ihr gut tun. Sie würde aber, das hatte sie erklärt, nur für zwei Nächte bleiben. Länger hätte sie wirklich nicht von ihrer Familie getrennt sein wollen. Marita war damit zwar nicht ganz glücklich und versuchte Vivienne auf einen längeren Zeitraum heraufzufeilschen, aber Vivienne blieb in diesem Punkt hart, und letztlich gingen die beiden Frauen jeweils mit dem guten Gefühl auseinander, zumindest in einem Punkt nicht nachgegeben zu haben.
Auf dem Nachhauseweg fühlte Vivienne, dass es richtig war, in diesem Punkt nicht hart geblieben zu sein, und als sie durch das Busfenster die dunklen und nassen Straßen sah, glimmte in ihr die erste Vorfreude auf die Stille der Insel auf.
Ammeroog.
Sie war lange nicht mehr dort gewesen, und sie hatte lange nicht mehr an die Insel gedacht. Nun kamen die ersten alten Erinnerungen wieder hoch an die Zeit, die sie dort als Kind verbracht hatte. Sie war glücklich gewesen, das wusste sie noch. Es war eine sorglose Zeit. Vielleicht war es doch keine dumme Idee, dorthin zu fahren.
*
Am nächsten Tag auf der Arbeit nahm Marita sie kurz beiseite.
„Es klappt alles“, sagte sie, „ich habe in den Kalender geschaut. Das letzte Septemberwochenende ist noch frei.“
Marita hatte Vivienne erzählt, dass ein IT-affines Mitglied einer der anderen Familien ein Kalendersystem aufgesetzt hatte, dass es jeder berechtigten Person erlaubte, ein Haus für einen gewünschten Zeitraum zu buchen, und auch die Belegung der anderen Häuser einzusehen. Vivienne hatte ihren bevorzugten Reisezeitraum mitgeteilt, und Marita wollte prüfen, ob etwas verfügbar wäre. Anscheinend mit Erfolg.
„Das ist doch super!“ sagte Vivienne.
„Ja, nicht wahr? Es ist schon ein bisschen ungewöhnlich: Eigentlich ist fast immer jemand dort, aber das Wochenende war noch komplett frei. Also wirklich komplett. Auch keines der anderen Häuser ist belegt.“
„Ach? Ist das so?“
„Ja. Das stört dich doch nicht, oder?“
„Nein“, sagte Vivienne, „natürlich nicht.“
Es störte Vivienne.
Auch wenn sie gar nicht vorgehabt hatte, lange Diskussionen zu führen oder angenehme Abende in Gesellschaft zu verbringen, ein kurzes Gespräch über den Gartenzaun (oder was auch immer dort die Grundstücke voneinander abgrenzte) wäre angenehm gewesen, und ihr schwanten, dass es viele Dinge gab, die passieren konnten und dass es überaus beruhigend wäre, jemanden in ihrer Nähe zu wissen, insbesondere wenn dieser jemand sich mit den Gegebenheiten vor Ort auskannte.
An dem Abend legte sie sich schlafen mit dem Vorsatz, dass, wenn sie morgen noch Zweifel hätte, sie Marita doch absagen sollte.
Als sie aber am nächsten Morgen aufwachte, waren ihre Bedenken eher geringer geworden. Sie machte sich ja doch nur verrückt, dachte sie. Es wäre doch nur für zwei oder drei Nächte. Was sollte denn da passieren? Am nächsten Tag hatten sich ihre Bedenken noch einmal verringert. Am darauffolgenden Tag noch einmal. Und an dem Tag darauf kam ihr erstmals der Gedanke, dass es gut sein könnte, dass dort niemand war.
*
Mittlerweile hatte Vivienne die Siedlung an der alten Scheuermanndüne fast erreicht. Es wurde auch Zeit. Sie hatte es genossen, sich ordentlich durchpusten zu lassen, aber jetzt war es langsam genug. Ihr kam es vor, als würde ihre Kleidung keinen Schutz mehr bieten, als würde die Luft durch Mantel, Strickjacke und Bluse durchgehen als wäre es nichts. Im Gesicht, dem einen Teil ihres Körpers der nicht von mindestens einer Stoffschicht bedeckt war, wurden ihr feine Wassertropfen wie Stecknadeln in die Haut getrieben. Es war kein Regen. Regen war für später angesagt, und er würde noch kommen und das nicht zu knapp. Die Tropfen in ihrem Gesicht wehte der Wind herüber von den weißgischtigen Wellenkronen, die wild an den Strand brachen. Vivienne fasste sich an den Kragen ihrer Kapuze und zog ihn enger, aber die Natur spürte sie keinen Deut weniger.
Die Sichtweite war erheblich geringer als noch vor einigen Minuten, und sie nahm weiter ab. Etwa hundertfünfzig Meter vor ihr begannen der Strand, das Meer und das Wasser sich aufzulösen und wurden zu einem grauen Gemisch der Elemente, an dessen Rand der Wind den Strandhafer nervös zucken ließ. Sie sah, wie Schlieren aus Sand, Wind und Wasser sich mal schneller, mal langsamer bewegten und immer neue Formen bildeten, ehe sie wieder auseinanderflossen.
Vivienne beunruhigte dies. Seit dem Vorfall im Büro gefiel es ihr überhaupt nicht, nicht deutlich sehen zu können. Sie beruhigte sich mit einem Blick nach rechts zu den Dünen, wo sie die Vegetation klar ausmachen konnte. Es lag nicht an ihr, dass die Sicht undeutlich war. Und Schwindelgefühl hatte sie auch keins. Nein, hier waren die Elemente im Spiel. Viviennes Sinne waren intakt, und sie würde auch das verwitterte kleine Holzschild sehen, das man nicht wahrnahm, wenn man nicht darauf achtete, und das den Trampelpfad zwischen Strand und Siedlung markierte.
Sie blickte wieder auf das Sturmpanorama vor sich, und sie sah, wie da etwas war, eine Form, ein Umriss, der sich nicht wieder auflöste, sondern der stärker wurde, Kontur annahm, und sich schließlich aus dem Grau löste. Es kam auf sie zu. Jemand. Ein Mensch, und er kam ihr entgegen. Erst jetzt fiel Vivienne auf, wie lange sie niemanden mehr gesehen hatte, bestimmt seit fünfzehn Minuten nicht mehr. Natürlich. Jeder musste sich beeilen, rechtzeitig wieder zurück im Ort zu sein. Nicht mehr lange, und es würde hier nicht bloß ungemütlich, sondern lebensgefährlich sein. Sie wäre auch gleich in ihrem Haus und im Trockenen, aber was war mit dieser Person, die ihr da entgegenkam?
Es war ein Mann, das erkannte sie jetzt. Auch er schien gedacht zu haben, dass es bei diesen Wetterverhältnissen ausreichte, seine gute Stadtkleidung anzulegen, allerdings bestand diese bei ihm aus einem schweren langen Mantel, der aussah, als ob er nicht unwesentlichen Schutz bot. Aber, was Vivienne insbesondere auffiel: Er sah gut aus. Der Mann hatte ein grundsätzliches Stilgespür, und als sie sich näherkamen, stellte Vivienne nicht mit Missfallen fest, dass er auch sonst keinen schlechten Eindruck machte. Sie schätzte ihn auf etwa Anfang fünfzig, also wenige Jahre älter als sie selbst, und seine Haare hatten diesen schönen graumelierten Ton, der es ihr immer schon angetan hatte. Er war eine angenehme Erscheinung.
Als er so nahe war, dass Vivienne die Züge in seinem Gesicht lesen konnte, erkannte sie, dass er andersherum ähnlich zu denken schien. Das abgekämpfte, aber warme Lächeln, das er ihr zuwarf, tat ihr gut, und sie bemühte sich es zu erwidern. Unter normalen Umständen wäre es ihr unangenehm gewesen, einem fremden Mann in der Einsamkeit zu begegnen, aber er war so deutlich als Leidensgenosse zu erkennen, dass sie keine Bedrohung spürte. Im Gegenteil, sie fühlte eine gewisse Verbundenheit zu ihm. Sie fragte sich, was er so spät noch hier draußen machte, wieso er erst so viel später als alle anderen den Rückweg in den Ort antrat. Vielleicht hatte er sich in der Zeit vertan? Vielleicht war ihm gar nicht bewusst, welche Wetterlage in Kürze eintreten würde?
Für einen kurzen Moment kam ihr der Gedanke in den Kopf, ihn anzuhalten und anzubieten, nicht weiterzugehen. Sie übernachte in einem Haus, hier gleich in den Dünen, es sei noch Platz und von ihm doch verantwortungslos, sich am Strand dem aufkommenden Sturm auszusetzen. Sie sei außerdem ganz allein in ihrer Behausung und würde sich, gerade in so einer stürmischen Nacht, sicherer fühlen wenn ihr jemand Gesellschaft leistete. Würde er vielleicht … ?
Sie schüttelte den Gedanken ab.
Ihr derzeitiger Beziehungsstatus hätte es erlaubt, etwas körperliche Nähe hätte ihr gut getan, und an einem anderen Tag hätte sie es vielleicht auch getan. Heute aber hatte sie andere Pläne.
Leicht, so dass sie hoffte, dass er es nicht merkte, lenkte sie ihre Schritte ein wenig nach rechts, um einen so großen Abstand zwischen ihren und seinen Weg zu bringen, dass, wenn sie einander passierten, er ihr würde zubrüllen müssen, damit sie ihn hörte. Sie wollte nicht mit ihm reden oder sogar stehenbleiben.
Es lief wie erwünscht. Sie gingen aneinander vorbei, ließen sich nicht aus den Augen, und gerade als sie auf der selben Höhe waren, nickte er ihr einmal erkennbar, freundlich und unaufdringlich zu, und sie lächelte etwas freundlicher. Hier draußen passierten die beiden einander, zwei Dummköpfe, die besser täten, an einem anderen Ort zu sein.
Dann ging sie weiter.
Vorbei.
Er würde der letzte lebende Mensch sein, den sie heute gesehen hatte, schoss es ihr durch den Kopf. Der Gedanke löste zwei entgegengesetzte Reaktionen aus: Zum einen spürte sie ein nicht unangenehmes vorfreudiges Kribbeln, zum anderen, an einer anderen Stelle ihres Körpers, wurde ihr etwas bange. Sie drehte sich noch einmal nach dem Mann um. Sie erschrak leicht, als sie sah, dass er sich genauso nach ihr umgedreht hatte, ebenso wie sie ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Er lächelte nicht mehr. In seinem Gesicht lag nun etwas anderes, etwas, das vorher nicht da gewesen war.
Besorgnis.
Rasch wandte Vivienne den Blick wieder nach vorn und beschleunigte ihren Gang. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, dass er sie ansprach. Und natürlich hätte er einen sehr guten Grund dazu, noch einen ganz anderen als dass er sie anscheinend ebenso attraktiv fand wie sie ihn. Wenn sie sich schon Sorgen machte, dass er noch so einen weiten Weg bis in den Ort hatte, was müsste er sich dann für Sorgen machen, dass sie in die entgegengesetzte Richtung ging! Eigentlich war es ja schon fast verantwortungslos von ihm, sie nicht aufgehalten zu haben. Sie wollte aber nicht, dass er sie anhielt.
Nervös ging ihr Kopf nach rechts, hin zu den Dünen, ob dort schon der morsche Wegweiser in Sicht käme.
Sie hätte ihn fast übersehen.
Sie hatte erwartet, dass er irgendwo vor ihr auftauchen würde, noch in einigen Dutzend Metern Entfernung, und sie wollte den Blick gerade wieder abwenden, als sie das Schild in den Augenwinkeln registrierte. Es war bereits auf einer Höhe mit ihr. Die Begegnung mit dem Mann hatte sie so abgelenkt, dass sie fast am Eingang zur Siedlung vorbeigelaufen wäre. Ihr schauerte bei diesem Gedanken. Wie weit wäre sie dann gelaufen? Hätte sie dann den Weg zurück angetreten? Hätte sie den Wegweiser doch noch gefunden? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie in Panik geraten wäre.
Rasch schlug sie einen nahezu rechtwinkligen Richtungswechsel ein, und erst nach einigen Schritten fiel ihr ein, wie merkwürdig das auf den Mann wirken musste, wenn er ihr immer noch hinterhersah. Was war das für eine merkwürdige Frau, die sich bei diesem Wetter plötzlich in die Dünen verdrückt, müsste er sich ja denken. Sie riskierte einen Blick zur Seite. Er war immer noch in Sichtweite, aber zu ihrer Beruhigung sah und ging er wieder geradeaus.Die Begegnung war vorüber.
Erst als Vivienne fast am Wegweiser angekommen war, konnte sie den schmalen Pfad zwischen den wild zuckenden Strandhaferhalmen ausmachen. Zunächst stieg er an, fast vier Meter, bis an den höchsten Punkt der Scheuermanndüne, die verhinderte, dass die Häuser vom Strand aus gesehen werden konnten. Es war beschwerlich ihn durch den Sand, der unter ihren Füßen rutschte, hochzustaksen, und als sie die Spitze erreicht hatte, brauste der Wind noch um einiges stärker als unten am Strand. Wild zerrte er an ihrer Kleidung, und sie begann zu fürchten, dass, wenn eine starke Böe käme, sie sich nicht auf den Beinen halten könnte. Aber dennoch blieb sie ruhig, denn nun konnte sie die fünf Häuser der kleinen Siedlung sehen. Sie waren keine hundert Meter von ihr entfernt, und in einer Form angeordnet, die man grob als Kreis bezeichnen konnte, so dass es zwischen ihnen einen freien Platz gab. Das Haus von Marita, in dem Vivienne ihr Quartier bezogen hatte, war das zweitkleinste und in einem freundlichen Rotton gestrichen. Wie bei den anderen war sein Dach mit Reet gedeckt. Ein Baustoff, den man, wenn man ihn das erste Mal sieht, belächelt, weil er so dürftig und behelfsmäßig wirkt; aber jetzt, wo die Naturgewalten an ihm rütteln, liegt er fest und unbeeindruckt auf den Dächern. Morgen früh, wenn der Sturm vorbei wäre, würde Vivienne sich umsehen, welche Schäden er hinterlassen hatte, aber sie war sich sicher, dass sie minimal ausfallen würden.
Der Pfad führte nun wieder etwa anderthalb Meter herab in einen kleinen Kessel, in dem die Häuser lagen, und als sie ihn hinuntertrat, war es, als hätte jemand ein Fenster geschlossen. Die Düne brach den Wind, und hier heulte er nur halb so laut und zerrte nur mit halber Gewalt an den Haferähren. Sie atmete durch. Sie würde sicher nach Hause gelangen.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Tolle Geschichte
Ich finde deinen Stil gut, finde es schön, wie du die Geschichte aufbaust und das alle erwachsen sind. Ich bin sehr interessiert wie es weiter geht. Aber (ja es kommt ein aber) kürz bitte den Teil über die Siedlung ein. Ich habe den jetzt nur Überflogen und nicht den Eindruck irgendetwas verpasst zu haben. Es ist langatmig und nicht von Interesse. Das wichtigste darüber kann knapp abgehandelt werden und spielt nur eine Rolle, wenn es den weiteren Verlauf der Geschichte beeinflusst (Kausalität beachten). Bleib dran, es wird gut, du musst nur hier und da ein bisschen nachschleifen.
Hallo,
ich möchte mich der Meinung von BIC anschließen !
Schöner Stil und Handlung mit Erwachsenen finde ich auch sehr gut !
Aber auch ich fand einige Passagen etwas langweilig, aber vielleicht ergeben diese Teile im weiteren Verlauf doch noch Sinn, wie es der Kommentar vom Autor vermuten lässt !
Ich bleibe erst einmal bei der Geschichte dabei und gebe 4,5* 😊 🍀 …..
Das hat definitiv mein Interesse geweckt! Bin zwar kein riesiger Fan von älteren Protagonisten, aber dies ist mal ne gute Abwechslung zu der ewigen Schule Schule Schule Schule…
Ich finde es beeindrucken, wieviel Details Du in die Geschichte legst. Immer aus Sicht der Protagonisten. Da kann ich mich gut reindenken. Bin gespannt wie es weiter geht.
Vielen Dank für eure Rückmeldungen! Es freut mich natürlich immer zu hören, wie es euch gefällt.
@Lukas: Du hast neulich ja geschrieben, dass du normalerweise nicht kommentierst. Ich weiß es zu schätzen, wenn du es trotzdem tust. Danke.
@Bic: Hm, interessant. Mir hatte es Spaß gemacht, den Teil zu schreiben, deswegen hatte ich noch gar nicht das Verlangen da viel rumzukürzen. Es stehen ein paar Sachen darin, die später noch von Bedeutung sind, und es war mir wichtig zu erklären, wieso der Rest der Geschichte so weit ab vom Schuss spielt, aber vielleicht hätte ich da tatsächlich mehr kürzen können.
@Prost: Ich habe versucht, etwas zu schreiben, was ich hier noch nicht gelesen habe. Ich hoffe, es hat geklappt.
@Burli: Danke! Ich hoffe, es gefält dir auch weiterhin.
Wenn da Dinge drin stehn, die später wichtig werden, hat es ja seine Daseinsberechtigung. Vielleicht ging es ja nur mir so.
Das Spaß beim Schreiben ist leider kein Indikator. Du würdest dich wundern, wie viele Szenen bei Escortbaby rausgeflogen sind und die haben auch alle Spaß gemacht (mir zumindest)😉