Wind über Ammeroog (3)
Windelgeschichten.org präsentiert: Wind über Ammeroog (3)
Was bisher geschah: Als Kind hatte Vivienne oft mit ihrer Familie ihren Urlaub auf der Nordseeinsel Ammeroog verbracht. Ihre Kollegin Marita hat Zugang zu einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung auf der Insel und überlässt es ihr für ein paar Tage, damit sie sich eine Auszeit nehmen kann. Sie hat nicht nur das Haus, sondern die ganze Siedlung für sich allein. Auf Viviennes drei Kinder, Nina, Rike und Stella, passt ihre Schwester Anita auf. Am Strand erreicht Vivienne ein Anruf von Anita: Eine Sturmflut steht bevor. Auf dem Weg zurück zum Ferienhaus kommt ihr ein Mann entgegen, mit dem sie einen verstohlenen Blick tauscht, aber kein Wort wechselt.
Die Haustür lag auf der dem Festland zugewandten Südseite, so dass Vivienne einmal um das Haus herumgehen musste um sie zu erreichen. Sie drehte den altmodisch überdimensionierten Messingschlüssel im Schloss um, und knarzend schwang die Eichentür auf. Als sie die Tür wieder hinter sich schloss, fühlte es sich merkwürdig an, als ob etwas fehlte. Nichts zerrte mehr an ihr, und sie musste keine Ausgleichsbewegung machen, wenn sie stillstehen wollte. Es war angenehm warm. Sie hatte, ehe sie ging, die Heizung fast voll aufgedreht. Sie hatte Zweifel an der Leistungsfähigkeit des seit wer weiß wie vielen Wochen nicht genutzten Systems gehabt und wollte sicher gehen, dass sie nicht in eine unterkühlte Behausung zurückkehren würde. Nun war es selbst für ihren Geschmack zu mollig, aber das war natürlich besser als andersherum.
Sie hörte immer noch das Pfeifen des Windes draußen, aber es hatte überhaupt nichts Bedrohliches mehr. Es war ein atmosphärisches, nicht abstellbares Hintergrundgeräusch geworden, wie das Ticken der großen Standuhr, die die Eigentümer im Wohnbereich platziert hatten oder das sonore Drehen der Trommel des Wäschetrockners im Badezimmer, den Vivienne vor ihrem Spaziergang angestellt hatte.
Der große Raum, in dem sie nach dem Eintreten stand, nahm gut die Hälfte der Hausfläche ein. Er gliederte sich in je nach Zählweise zwei oder drei Bereiche: Zu ihrer Rechten lag der Küchenbereich, der mit seinem pastellblau gekachelten Boden einen deutlich Kontrast zu dem Dielenboden aus dunkler Eiche bildete, der den Untergrund des restlichen Raumes bildete. Links von der Küche stand ein sehr großer Esstisch, an dem bis zu einem Dutzend Personen Platz finden konnten, also fast doppelt so vielen, wie das Haus Betten bereithielt. Er war offensichtlich darauf ausgerichtet, dass sich jederzeit auch Gäste aus den Nachbarhäusern zu den Mahlzeiten einfinden konnten. Der linke Teil des Raumes wurde schließlich von einem großen Wohnbereich eingenommen. Es wurde dominiert von einem sehr großen Ecksofa, das schon bessere Tage gesehen hatte, und flankiert wurde von zwei mächtigen Sesseln, die sogar noch stärker durchgesessen wirkten. Sie waren so arrangiert, dass sie einem großen Fernsehtisch gegenüberstanden. Vor Jahren musste dort einmal ein riesiger Röhrenfernseher gestanden haben, aber nun hatte doch soviel Moderne Einzug gehalten, dass er durch eine Flachbildvariante ersetzt worden war. Der neue Fernseher wirkte auf dem großen Tisch ein wenig verloren, obwohl er ebenfalls nicht als klein zu bezeichnen war und links von ihm ein BluRay-Player und rechts von ihm eine Spielkonsole standen (Vivienne hatte keine Ahnung, wie aktuell sie war). Marita hatte Vivienne bereits vorgewarnt, sich fast entschuldigt, dass die Wohnzimmereinrichtung veraltet war – als ob man bei irgendwelchen Großeltern zu Besuch wäre – aber Vivienne hatte nur gelächelt und gesagt, dass das überhaupt nicht schlimm sei. Ganz im Gegenteil, es passte zu ihren Plänen, was sie Marita natürlich nicht verriet.
An der Nordwand schließlich, also an der, die der Haustür gegenüberlag, befanden sich die vier Türen, die zu den einzelnen Zimmern abgingen. Die Tür ganz rechts führte zu dem größten der Räume, dem elterlichen Schlafzimmer, in dem ein Doppelbett stand und von dem aus zwei große Panoramafenster einen wahrhaft tollen Blick boten: Das eine nach Norden zum Strand, das andere auf den wilden Ostteil der Insel (dieses Haus war das am östlichsten gelegene bewohnbare Gebäude auf der ganzen Insel). „Es ist herrlich dort“, hatte ihr Marita gesagt, „du wirst es lieben, morgens dort aufzuwachen und den Sonnenaufgang über den Dünen zu sehen.“
Vivienne glaubte Marita, dass der Ausblick dort wunderbar sein musste, aber sie hatte es nicht für angebracht gehalten, ihr Nachtlager in dem Zimmer aufzuschlagen.
Die zweite Tür von rechts führte ins Badezimmer, und die beiden Zimmer daneben boten weitere Schlafmöglichkeiten. Das ganz links war das kleinste, dort stand nur ein einziges Bett. Anscheinend hatte es einmal zusammen mit dem Zimmer daneben ein einziges größeres gebildet, aber dann hatte jemand eine Wand hindurch gezogen und so ein neues Zimmer geschaffen.
Das zweite Zimmer von links war interessanter.
Es war das, in dem Vivienne sich eingerichtet hatte.
Das Kinderzimmer. Zwei Einzelbetten standen dort, eines vor dem Fenster nach Norden, eines an der zum Badezimmer gelegenen Wand. Vivienne war recht zielstrebig darauf zugesteuert. Sie hatte gesehen, dass Marita dafür gesorgt hatte, dass auf dem Doppelbett im Elternschlafzimmer Bettwäsche bereit lag, aber sie hatte sie ignoriert. Sie hatte für sich selbst welche von zu Hause mitgebracht, alte, in der Nina seit Jahren nicht schlief. Das Motiv war das kräftige Blau eines Nachthimmels, auf dem freundliche große gelbe Sterne aufgestickt waren, dazu der Mond, mehrmals, sowohl sichelförmig als auch in voller Pracht, aber immer mit einem lustigen, lachenden Gesicht. Nina hatte sich schon vor langem von der Bettwäsche getrennt, weil sie ihr zu kindisch geworden war. Vivienne hingegen hatte sie immer gemocht und es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen oder wegzugeben. Jetzt wusste sie, wofür sie sie aufgehoben hatte.
Ihr Herz klopfte stärker. Alles, was sie bis jetzt getan hatte, war normal. Es waren alles Dinge, die sie nach ihrer Rückkehr arglos Marita, Anita oder ihren Töchtern erzählen könnte, und alle würden nur freundlich lächeln und nicken und denken, dass sie eine eher langweilige Person war und einige besonders langweilige Tage verbracht hatte.
Über das, was sie nun tun wollte, würde sie zu niemandem je ein Wort verlieren. Sie würde dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen.
Ihren zu dünnen Mantel hatte sie unbewusst ausgezogen, als eine eingeübte Handlung, die man eben macht, wenn man ein Haus betreten hat. Sie merkte es erst, als sie ihn an einen der Bügel in der kleinen Garderobe hängte – wo er drei anderen Mänteln Gesellschaft leistete, die zwar allesamt besser für das Wetter geeignet waren, von denen aber der eine zu groß für Vivienne war, der zweite zu hässlich, und der dritte zu groß und zu hässlich. Unter normalen Umständen hätte sie jetzt Schritte in das Haus getan und irgendetwas normales getan. Sie wäre hinüber zur Küchenzeile gegangen und hätte sich einen Tee gemacht. Oder sie hätte sich eines der Bücher aus ihrer Reisebibliothek genommen und es sich auf dem am wenigsten durchgesessenen Polster im Wohnzimmer gemütlich gemacht.
Sie tat nichts von alledem.
Sie zog den Reißverschluss der Strickjacke herunter und knöpfte sich die dünne Bluse auf. Als sie die Kleidungsstücke beiseite legte, waren sie kalt. Der Wind hatte jede Körperwärme aus ihnen hinaus gepustet, und so fühlte sich Vivienne auch. Ihr würde bald wärmer werden, tröstete sie sich. Die schöne weiße Stoffhose faltete sie vorsichtig zusammen, ebenso wie den Rest der Oberbekleidung. Es war ihr immer wichtig gewesen, sorgfältig mit ihren Sachen umzugehen. Das war schon lange, bevor sie Kinder hatte, so, aber seitdem sie Erziehungsverantwortung trug, legte sie besonderen Wert darauf, ein gutes Beispiel abzugeben. Zu ihrem Bedauern hatte dies bei keiner ihrer Töchter verfangen.
Ihr BH und Slip waren in einem Violett-Ton gehalten, der bei den meisten Menschen gewagt, wenn nicht geradewegs unvorteilhaft ausgesehen hätte. Ihr stand er. Hätte sie vorhin den Mann am Strand mit ins Haus genommen, hätte sie sich darauf verlassen können, dass er bei dem Anblick von ihr in diesem Set nicht Nein gesagt hätte.
Sie nahm sie ab und legte sie zu den anderen Sachen. Es fühlte sich merkwürdig an, nackt in einem fremden Haus zu sein. Es war unanständig, und Vivienne bekam den Anflug eines schlechten Gewissens, als ob sie die Großzügigkeit ihrer Gastgeber missbrauchte, wenn sie sich außerhalb eines der dafür vorgesehenen Zimmers ohne Kleidung zeigte, selbst wenn niemand da war, der sie sehen konnte. Als Vivienne merkte, dass sie das dachte, musste sie lachen. Sie wusste selbst, wie absurd es war, dass sie darüber Gewissensbisse bekam, sie aber doch extra hierher gekommen war, um noch einen ganz anderen Plan umzusetzen.
Sie nahm den Stapel auf und ging in ihr Zimmer. Als sie eintrat, sprang ihr gleich wieder das dominierende Möbelstück ins Auge.
Das Bett.
Sie hatte nicht damit gerechnet, eines wie dieses hier vorzufinden. Marita hatte nichts davon erwähnt. Natürlich nicht. Warum auch? Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, was Vivienne geplant hatte, und wenn sie es erfahren hätte, hätte sie entsetzt ihr Angebot zurückgezogen und sich in eine andere Abteilung versetzen lassen, um nicht mehr mit dieser Geisteskranken zusammenarbeiten zu müssen. So war Viviennes ursprünglicher Plan gewesen, einfach eines der Betten im Kinderzimmer zu nehmen; ein einfaches, vielleicht laienhaft zusammengeschustertes schmuckloses Bett, das eigentlich zu klein für eine erwachsene Person wie sie war. Darin hätte sie sich wohl gefühlt und das hätte ihr auch gereicht. Als sie am frühen Vormittag, nachdem sie ein freundlicher Mann aus dem Ort mit seinem Quad hergebracht hatte, das Zimmer zum ersten Mal betrat, fand sie auch genau zwei solcher Betten vor, und mit Vorfreude wollte sie sich bereits daran machen, es zu beziehen, als ihr Blick zur Seite fiel und sie etwas an der Wand lehnen sah, das aus vielen runden und länglichen Holzelementen bestand. Sie ahnte, was es war, wollte aber ihr Glück nicht im ersten Moment wahrhaben. Erst, als sie es sich näher ansah, verstummten ihre Zweifel. Es war ein zusammengeklapptes Gitterbett.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich so etwas hier vielleicht finden ließe. ‚Bleib ganz ruhig‘, dachte sie, ‚das ist ein richtiges Bett, für richtige Kinder, ganz kleine. Nicht für so ein dummes altes Ding wie du, das bloß noch einmal so tun möchte als ob.‘
Es hielt sie trotzdem nicht davon ab, es hervorzuziehen und einmal aufzubauen. Wieso denn auch nicht? Es gab ja nichts Dringendes zu tun. Vivienne war sich sicher, dass es einen schnellen und einfachen Weg geben musste, das Bett aufzuklappen, aber was auch immer er sein mochte, er blieb ihr verborgen. Sie hatte schon immer zwei linke Hände in handwerklichen Dingen gehabt, und Marita anzurufen und sich helfen zu lassen stand völlig außer Frage, also brauchte sie etwas mehr als eine Dreiviertelstunde, ehe sie alle Haken gelöst, an den richtigen Stellen gezogen und Teile ineinander gesteckt hatte, und sie machte drei Kreuze, dass sie nicht versehentlich etwas abgebrochen hatte, das wäre nämlich später nur schwer zu erklären gewesen.
Das aufgebaute Bett war klein, natürlich. Die anderen Betten waren auch klein, aber immer noch groß genug, dass sie dort ausgestreckt Platz finden würde. Hier wäre das sicher nicht der Fall. Aber war das überhaupt notwendig? Sie nahm beim Schlafen ohnehin eine Fötushaltung ein, und den zusätzlichen Raum in der Breite, den sie dafür benötigte, schien das Bett zu bieten. Sie fand die zugehörige Matratze schnell unter einem der anderen Betten, hievte sie nicht ohne Mühe über die obere Querlatte, und ließ sie auf das Lattenrost plumpsen. Als sie einsteigen wollte, gelang es ihr nicht auf Anhieb. Sie konnte zwar ein Bein über die Querlatte schwingen, aber sie erreichte nicht mit dem Fuß die Matratze. So lang und für ihr Alter gelenkig ihre Beine auch waren, das Gitter war für sie zu hoch, und sie musste erst den Schemel von der Garderobe holen, um diese Hürde zu nehmen.
Es fühlte sich unglaublich an, als sie Probe lag. Die Matratze war in einem guten Zustand, nicht neu, aber allem Anschein nach nur sehr selten benutzt. Vivienne nahm ihre typischen Schlafpositionen ohne große Mühe ein. Sie stieß zwar beim Umdrehen immer wieder einmal gegen einen der Stäbe, aber das fühlte sich überhaupt nicht beengend an. Es war eher wie ein Stück Sicherheit. Wie das Wissen, dass da ein Griff ist, an dem sie sich in der Not halten kann. Als Vivienne sich auf den Rücken drehte, sah sie zu allen vier Seiten die Streben aufragen. Zu jeder Seite war sie von der Außenwelt abgeschirmt. Hier war sie sicher.
Sicher vor allem.
Als sie wieder hinauswollte, bekam sie einen kurzen Schrecken, als sie merkte, dass sie auf der Innenseite ja gar nicht den Schemel zur Hilfe hatte, aber dank der Matratze war das Gitter von innen nicht so hoch, und sie schaffte es auch ohne Hilfe auszusteigen. Das Bett hatte den Test bestanden.
Jetzt, mehrere Stunden später, durchfuhr sie ein wohliger Schauer, als sie es sah. Sie hatte es bezogen, und Ninas alte Nachthimmelbettwäsche ergänzte es wunderbar. Am liebsten hätte sie sich direkt hineingelegt, aber das wäre natürlich hochgradig unangebracht. Sie war eine erwachsene Frau, sogar keine ganz junge mehr, und nackt auch noch dazu. Sie hatte in dem Bett nichts zu suchen.
Noch nichts.
Sie öffnete den Kleiderschrank, legte den Stapel mit ihrer Kleidung in einem Fach ab und zog es wieder zu. Sie würde sie heute nicht mehr brauchen, und morgen vielleicht gar nicht. Sie brauchte jetzt etwas anderes. Ihr Herz begann heftiger zu pochen, als sie sich niederkniete, ihre dunkle Reisetasche zu sich zog und sie öffnete. Was sie gesucht hatte, sprang ihr sofort ins Auge, und das gefiel ihr überhaupt nicht. Wenn irgendjemand anderes aus irgendeinem Grund die Tasche geöffnet hätte, hätte er es ebenso gesehen, und sie hätte nicht gewusst, wie sie hätte erklären sollen, dass sie vier Windeln in Erwachsenengröße mit sich führte. Sie nahmen einfach zu viel Platz ein. Das hatte Vivienne bereits missfallen, als sie das Paket abgeholt hatte. Es war so groß gewesen, dass sie es unmöglich in ihrem Reisegepäck hätte unterbringen können, ohne eine aufmerksamkeitserregend große Zahl an Reisetaschen mit sich zu schleppen. Bereits auf dem Parkplatz, auf dem die Paketabholstation stand, an die sie hatte liefern lassen, machte sie es auf und warf drei der Windeln direkt weg in den nächstgelegenen Mülleimer (zu dem Zeitpunkt war sie sich ohnehin noch nicht sicher gewesen, ob die Windeln Teil des Plans sein sollten)). Ein paar Tage später warf sie noch einmal zwei weg, als sie überschlagen hatte, wie viele sie benötigen würde (natürlich hatte sie sie nicht direkt im Hausmüll entsorgt, sondern in einem öffentlichen Mülleimer in angemessener Entfernung von ihrem Haus); dann, beim Packen, noch einmal zwei, als sie zunächst nicht den Reißverschluss ihrer Tasche zubekam. Zum Schluss waren es nur noch vier, nicht mal die Hälfte des ursprünglichen Paketinhalts, und Vivienne war sich nicht sicher, ob das zu wenig waren oder vier zu viel.
Bis zu diesem Moment war sie sich unschlüssig gewesen, ob sie sie wirklich anziehen sollte. Es war nicht so, dass sie seit langem ein unausgesprochenes, ständig wachsendes Bedürfnis hatte, einmal wieder Windeln zu tragen. Es war eher, dass sie dachte, dass Windeln zu dem, was sie vorhatte, dazugehörten. Wenn sie es tat, dann sollte sie es richtig tun, und dazu gehörten Windeln. Sie wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war. Er hatte sich in ihr Unterbewusstsein geschlichen, sie hatte sich einen Versand im Netz gesucht und sie einfach bestellt. Erst jetzt, wo der Moment gekommen war, an dem sie sich eigentlich anziehen müsste, wurde ihr bewusst, was sie da gleich tun würde. Sie nahm eine der Windeln und fuhr mit dem Daumen über die Außenseite. Es war nicht die erste Windel, die sie in ihrem Leben in den Händen hielt, bei Gott nicht, sie war dreifache Mutter. Aber bei dieser hier war es etwas anderes. Diese hier würde sie nicht einer anderen Person anlegen, weil die noch zu klein und unerfahren im Leben war, um zu wissen, wie man ein Klo benutzt. Diese hier würde sie sich selbst anlegen, einer erwachsenen Frau, die fest im Leben stand und erfolgreich im Beruf war. Sie war im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und der Kontrolle über Schließmuskel und Blase. Sie brauchte keine Windel.
Sie würde sie dennoch tragen.
Vivienne benötigte etwas Zeit um herauszufinden, wie sie sich die Windel am besten selbst anlegte. Zunächst hatte sie es im Stehen versucht, in dem sie sich den hinteren Teil an den Po presste und den vorderen unter den Beinen hindurchzog, aber dann verrutschte ihr alles, wenn sie versuchte, die Klebestreifen zusammenzupressen. Schließlich legte sie sich auf den Boden, so wie sie vor Jahren ihre Kinder auf die Wickelablage gelegt hatte, und fixierte die Windel durch ihr Körpergewicht. Eigentlich ging dies nun besser, aber als sie dieses Mal den Klebestreifen heranziehen wollte, machte sie eine unabsachtliche Reflexbewegung mit dem Becken und der Streifen riss. Verärgert starrte sie auf das unnütze Stück Plastik in ihren Händen. Die Windel war hin. Da waren es nur noch drei.
Vivienne legte die nicht mehr verwendbare Windel in eine Plastiktüte, die sie extra zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und nahm sich eine neue aus ihrer Tasche. Dieses Mal war sie vorsichtiger, als sie die Streifen verschloss. Es fühlte sich merkwürdig an, als sie sich vom Boden erhob. Die Unterwäsche, die sie normalerweise trug, spürte man kaum. Das, was sich jetzt zwischen ihren Beinen befand, war ein Fremdkörper, eine Behinderung, ein weicher Klotz, von dem Vivienne O-Beine bekam.
Als sie ging, streifte bei jedem Schritt die Windel an den oberen Enden ihrer Schenkel entlang und raschelte leise. Zum ersten Mal musste Vivienne kichern. Es war nicht das stoffliche Gefühl, dieses Ding um ihren Unterleib zu spüren. Es war die Absurdität des Ganzen. Es war über vierzig Jahre her, dass sie das letzte Mal Schritte in einer Windel gemacht hatte, und einige davon hatte sie hier auf Ammeroog getan, in einem anderen Haus, mit ihrer Mutter, ihrer damals noch ganz kleinen Schwester Anita, und mit ihrem Papa.
Im Elternschlafzimmer musste sie erst das Licht anknipsen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Auf dem Doppelbett lag immer noch unangetastet die Bettwäsche. Vivienne machte sich eine mentale Notiz, die Wäsche wenigstens zu waschen, damit es nachher so aussah, als hätte sie in dem Zimmer übernachtet, in dem jeder normale Erwachsene übernachtet hätte.
Direkt gegenüber dem Bett stand ein großer doppelflügliger Wandschrank, und in beide Türen war großzügig ein Spiegel eingelassen, so dass sie zusammen wie ein einziger, noch größerer wirkten. Vivienne stellte sich vor ihn.
Sie war überrascht, wie gelassen ihr Eindruck ausfiel. Sie hatte erwartet, rot vor Scham anzulaufen, wenn sie sich so sehen würde. Vielleicht hätte sie den Anblick nicht ertragen und wäre weggegangen, im extremen Fall hätte sie sich gedacht: „Was mache ich hier für einen Quatsch?“ und sich die Windel wieder abgenommen. Aber dem war nicht so. Die Person vor ihr im Spiegel war immer noch sie selbst. Eine Frau von achtundvierzig Jahren, mit einem Körper, dem man ansah, dass sie lange Jahre gut auf ihn achtgegeben hatte, an dem sich nun aber auch unvermeidlich die Zeichen der Zeit zeigten. Die Frau im Spiegel sah nachdenklich aus, sehr nachdenklich, irgendwie skeptisch und ein wenig traurig. Sie trug dezentes Make-Up und ihre Haare waren einfach hochgesteckt, beides Angewohnheiten aus dem Alltag, die sie hier eigentlich hätte ablegen können, weil es hier niemanden gab, auf den sie einen guten Eindruck machen musste, außer sich selbst. Sie hatte etwas Elegantes, Erhabenes, Kontrolliertes. Sie hatte das immer an sich gemocht. Sie fand, dass man ihr ansah, dass sie auf der Arbeit eine Führungsposition innehatte. Sie hatte eine natürliche Autorität, die sie nie ganz verlor. Selbst jetzt nicht. Sie hatte zwar eine Windel an, aber sie war immer noch sie selbst. Sie griff sich in die Haare und löste die Nadel. Ihre rotblonden Haare fielen herab, bis knapp unter Schulterhöhe. Es war eigenartig. Irgendwie war dieser Akt entblößender gewesen als sich ihrer Kleidung zu entledigen oder eine Windel anzuziehen. Sie wirkte nun viel weniger streng. In dem Gesicht der Frau im Spiegel änderte sich etwas. Sie atmete unruhig, ihr Mund öffnete sich leicht und ängstlich. Sie war immer noch dieselbe, aber mit einem Mal konnte man erahnen, wer sie früher gewesen war, als junge Frau oder als Teenagerin, als das Leben noch groß und überwältigend war.
Es ging in die richtige Richtung. Es fehlte nur noch eins.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Find ich toll wie die Emutionen von Vivienne in der Geschicht gut erzählt und dargelegt werden! Dadurch wird es zwar etwas langatmiger in den Abschnitten, aber nicht uninteressant. Freu mich schon auf den nächste Teil. Mur das Sie zu Beginn Ihrer Reise die Windel entsorgt hat und nicht bei seite getan, war nicht so doll.
Ich finde, dass das Wegwerfen sehr schön klar gemacht gat, dass ihre Unternehmung kein Alltag für sie ist und sie sich dafür auch schämt. Daher auch das aufwendige Verfahren mit den Windeln. Mir gefällt das in der Umsetzung sehr gut.
Es hätte nicht gepasst, wenn sie die Windeln aufgehoben hätte. Vivienne will sie nur auf der Insel tragen, und selbst da war sie sich nicht ganz sicher.
Aber sie kann sich ja jederzeit neue kaufen 😉
Gefällt mir gut, aber du musst langsam das Erzähltempo erhöhen. Ich freue mich sehr auf den nächsten Teil, denn bis hierhin finde ich die Idee und Umsetzung sehr schön.
Das werde ich bei einer Überarbeitung auf jeden Fall beherzigen. Was ich verraten kann ist, dass in späteren Teilen – wenn auch vielleicht nicht direkt im nächsten – mehr passiert. Ich bin gespannt, wie die ankommen.
Das Erzähltempo passt doch super gut zu dieser Geschichte. Das Interessante passiert hier doch im Inneren der Hauptfigur – und das braucht einfach diesen erzählerischen Raum zur Entfaltung.
Mir gefällt diese Geschichte außerordentlich gut..